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Vorbemerkung

Als ich jung war und die Dinge sich in meinem Leben so richtig heftig veränderten, dachte ich manchmal: Eines Tages werde ich ein Buch schreiben. Dieses Buch ist nun meine Geschichte, die ich schon seit Jahren erzählen wollte. Es gibt mir die Gelegenheit, mein Leben zu teilen, in meinen eigenen Worten, aus meiner eigenen Sicht. Die Ereignisse und die Menschen, von denen ich erzähle, sind so beschrieben, wie ich sie erlebt habe. Die Gespräche in diesem Buch versuche ich so wiederzugeben, wie ich sie erlebt habe. Sie sollten generell nicht als wörtliche Zitate verstanden werden, ich halte mich jedoch in jedem Fall an die Kernaussagen, die Stimmung und die Umstände der jeweiligen Unterhaltung.

Hope Solo, Juni 2012

 

Prolog

Ich glaube nicht an Happy Ends, aber vielleicht glaubte meine Mutter daran, damals, als ich geboren wurde. Sie hatte auf der Highschool ein älteres, sehr beliebtes Mädchen gekannt, das Hope hieß und sehr nett zu ihr gewesen war. Für sie stand der Name für Freundschaft und Verbundenheit. Mein Vater sagte, er habe meine Geburt als neuen Anfang empfunden, als Chance, etwas Gutes in einer Welt zu hinterlassen, die ihm fast nichts als Ärger und Unglück gebracht hatte.

Hope. Hoffnung.

Aber Happy Ends gibt es in meiner Familie nicht. Nur traurige Enden und frustrierende Enden oder gar kein Ende. Wir sind darauf gepolt, stets etwas Schlimmes zu erwarten, dass jemand verschwindet oder ein Versprechen bricht.

Ein Paradebeispiel: der 27. September 2007. Da saß ich bei der Frauenfußballweltmeisterschaft in China auf der Bank. Drei Jahre lang war ich Stammtorhüterin der US-Nationalmannschaft gewesen. Wir mussten das weltweit wichtigste Turnier gewinnen, um unsere internationale Führungsrolle zurückzuerobern und uns selbst zu beweisen, dass wir genauso viel draufhatten wie die Weltmeisterinnen von 1999 – das größte Frauenteam der US-Sportgeschichte. Ständig wurden wir mit ihnen verglichen. Das Team, das in dem Sommer nach meinem Highschoolabschluss die Welt des Frauensports für alle Zeiten verändert hatte. Diese Spielerinnen waren nicht nur großartige Sportlerinnen, sondern hatten sich einen überwältigenden Ruf und höchstes Ansehen verschafft, als ganz normale Mädels, die es auf dem Fußballplatz allen zeigten. Sie wirkten wie beste Freundinnen – diesen Mythos zementierte eine Nike-Werbekampagne, in der alle Mädels ihrem Zahnarzt mitteilten, sie wollten zwei Füllungen, aus Solidarität mit einer Mitspielerin, die zu Karies neigte. Und wir standen im ewigen Schatten dieser 99er.

Zwei Monate vor der WM war mein Vater unerwartet gestorben. Ich war emotional angeschlagen, obwohl ich zwischen den Pfosten Stärke zeigte. Wir wurden Erste in unserer Vorrundengruppe und fegten England im Viertelfinale vom Platz. Meine Serie widmete ich meinem Vater: drei WM-Spiele hintereinander ohne Gegentor.

Vor dem Halbfinale gegen die starken Brasilianerinnen verlor ich jedoch meinen Stammplatz. Unser Trainer Greg Ryan bestellte mich zwei Tage vor dem Spiel zu einem Gespräch. Er wollte die beliebte frühere Stammtorhüterin Briana Scurry an meiner Stelle spielen lassen – eine 99erin, die auch im Tor stand, als wir 2004 im Finale gegen Brasilien olympisches Gold holten. Aber das war Vergangenheit; Bri hatte drei Jahre kaum gespielt, während ich Spitzenleistungen ablieferte. Greg beschloss jedoch, sie sei aufgrund der damaligen Erfolge gegen Brasilien die bessere Wahl.

Von der alten Garde waren nur noch wenige dabei, aber Greg behauptete, eine dieser Legenden, Kristine Lilly, habe zusammen mit Abby Wambach, einer jüngeren Spielerin, die sich mit den 99ern verbündet hatte, den Wechsel befürwortet. Ich fühlte mich verraten, besonders von Abby. Es war eine bittere Enttäuschung, aber kein totaler Schock.

 

II

Wie manche Trainer hat auch das Schicksal seine Lieblingskinder. Als Fußballerin erwartete ich stets, nach meinem Einsatz und meiner Leistung auf dem Platz bewertet zu werden. Der Fußball hatte mich in meiner Heimatstadt zum Star gemacht und hielt mir schmerzliche Erfahrungen und harsche Kritik vom Leib. Er machte es mir möglich, dem Osten von Washington zu entfliehen und eine Laufbahn einzuschlagen, die nur wenigen vergönnt ist. Der Sport brachte eine feste Basis und Ordnung in mein Leben, das allzu oft von Drama und Chaos bestimmt gewesen war. Aber selbst die Siege und der wachsende Erfolg konnten meinen Fatalismus, das Gefühl, dass ich keine Kontrolle über mein Leben hatte, nicht überwinden. Der plötzliche Tod meines Vaters – als er nach Jahren der Wirrnis und Selbstzerstörung endlich Ruhe gefunden hatte – war dafür Beweis genug.

In Hangzhou auf der Bank zu sitzen zeigte mir erneut, dass Talent und harte Arbeit nicht genügten. Am Boden zerstört, dachte ich an meinen Vater: Bis zu diesem Spiel hatte ich vor jeder Partie einen Teil seiner Asche im Tor verstreut. Eigentlich wollte er dabei sein und seinem jüngsten Kind zuschauen. Seiner Baby Hope, so hatte er mich immer genannt.

Ich dachte an meine Familie – meine Mutter, meinen Bruder, die Großeltern, meine Tante, die Eltern meiner besten Freunde, meinen Freund, die Verlobte meines Bruders –, die alle im Stadion saßen. Sie waren um die halbe Welt gereist, um mich zu unterstützen. Zum Gedenken an meinen Vater trugen sie schwarze Armbänder. Ich hatte für sie Stärke und Mut zeigen wollen, nun war diese Chance verpasst.

Das Spiel lief von Anfang an katastrophal. Bri wirkte wie eingerostet; als sie bei einem Freistoß herauslief, prallte sie mit der brasilianischen Stürmerin Formiga zusammen. In der 20. Minute wollte unsere Verteidigerin Leslie Osborne einen Eckball wegköpfen, aber der Ball landete hinter Bri im Netz.

Nichts ist demoralisierender als ein Eigentor. Wir lagen 0:1 zurück.

Sieben Minuten später dribbelte Marta – die meistgefürchtete Spielerin der Welt – auf der rechten Flanke und wurde von einer unserer Verteidigerinnen gefoult – sie packte sie an der Hose. Marta entwand sich der Umklammerung und hämmerte den Ball aufs rechte untere Eck. Bri streckte sich und bekam noch die Hand an den Ball, konnte ihn aber nicht um den Pfosten lenken. Der frühere US-Frauentrainer Tony DiCicco kommentierte im Fernsehen, das sei genau die Art Schuss, die Bri einst immer gehalten habe. „Wenn sie in Topform ist, hat sie ihn sicher“, sagte er.

Wir lagen 0:2 hinten, aber es kam noch schlimmer. In der Nachspielzeit der ersten Hälfte sah Shannon Boxx rot, weil sie die brasilianische Stürmerin Cristiane gelegt hatte. Ein umstrittener Platzverweis, aber wenn der Schiedsrichter entscheidet, ist Einspruch zwecklos. Boxx musste runter vom Platz, und wir waren die gesamte zweite Halbzeit eine weniger – zehn gegen elf, 45 Minuten lang.

Ich fühlte mich nicht bestätigt durch das, was da passierte. Ich war verzweifelt und konnte nicht fassen, wie schlecht unser Team spielte – auf jeder Position. Wir konnten es viel besser, das wusste ich.

Im zweiten Durchgang erlebte ich von der Bank aus den totalen Zusammenbruch unseres Teams und des Traums der letzten vier Jahre. In der 56. Minute war unsere Abwehr schlecht postiert, und Cristiane netzte noch einmal ein. Brasilien–USA 3:0.

Ich saß am Rand der Bank, sprachlos und stinksauer, und mein Gesicht trug meine Gefühle zur Schau. Das tut es meistens. Es liegt mir nicht, Dinge zu beschönigen. Fröhlich zu grinsen, während unser Team die schlimmste Pleite seiner Geschichte erlebte – das wäre sinnlos und falsch gewesen.

Irgendwann beugte sich Natasha Kai zu mir rüber und stupste mich an: „He, die Kameras haben dich drauf.“

„Mir egal“, sagte ich. Sollte ich erfreut tun, während wir zerlegt wurden?

Der letzte Schlag kam in der 79. Minute mit einem der schönsten Tore der WM-Geschichte, einem blendenden Spielzug von Marta, die sich den Ball über die Schulter selbst vorlegte, durch unsere Abwehr wirbelte und das 4:0 machte.

Eine Ewigkeit später ertönte endlich der Abpfiff. Die Brasilianerinnen feierten ausgelassen im Mittelkreis. Ich hatte nur eines im Sinn – ich wollte zur Tribüne, wo meine Familie saß, um ihnen für ihre Unterstützung zu danken. Als ich übers Spielfeld ging, kam Abby Wambach zu mir rüber und sah mir direkt in die Augen. „Hope“, sagte sie, „ich habe mich geirrt.“

Ich blickte zu Boden und nickte. Was sollte ich sagen? Der Beweis leuchtete von der Anzeigetafel. Abby umarmte mich kurz und fest, und wir gingen in unterschiedliche Richtungen davon.

Bei Länderspielen verlassen die Spieler das Stadion durch den „Mixed“-Bereich, wo Reporter auf Interviews lauern. Sie stehen auf einer Seite der Metallabsperrungen Spalier, die Spieler gehen auf der anderen Seite vorbei. Unser Pressechef Aaron Heifetz blieb an meiner Seite. Als sich jemand über die Absperrung mir entgegenstreckte, rief Heifetz: „Sie hat nicht gespielt. Sprechen Sie bitte nur mit denen, die mitgespielt haben.“

Wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann, dass ich für mich selbst sprechen und meine Kämpfe selbst ausfechten kann. Ich mag es nicht, wenn mir irgendwer vorschreiben möchte, was ich fühlen, denken oder sagen soll. Wenn ich widerspruchslos hingenommen hätte, was andere mir sagten, wäre mein Leben ein komplett anderes: Ich wäre auf eine andere Schule gegangen, hätte meinen Vater nie wiedergesehen, und meine Mutter wäre mir fremd. Ich hätte mich als Versagerin betrachtet.

Ich wandte mich zu Aaron. „Heif, das entscheide ich selbst.“

Ich trat ans Mikrofon und brach mit einem Mal das ungeschriebene Gesetz, das Sportlerinnen nicht für Aufruhr sorgen dürfen. Wir kritisieren nicht. Wir wagen es nicht, unter die Gürtellinie zu gehen. Unsere Kämpfernatur wird für die Öffentlichkeit gezähmt. „Die Entscheidung war falsch“, erklärte ich mit bebender Stimme, „und ich denke, jeder, der was von Fußball versteht, weiß das.“

Ich sprach in ein Mikrofon, aber meine Worte waren direkt an Greg Ryan gerichtet. „Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ich diese Bälle gehalten hätte“, sagte ich, „und Tatsache ist: Wir schreiben nicht mehr 2004. Jetzt ist 2007, und man muss in der Gegenwart leben. Man lebt nicht von großen Namen. Man kann nicht von der Vergangenheit zehren. Es ist egal, was jemand in einem olympischen Endspiel vor drei Jahren geleistet hat. Was zählt, ist jetzt, das ist meine Meinung.“

Dann wandte ich mich ab und ging davon, und der wütende Heif klemmte sich an meine Fersen. Als wir in den Mannschaftsbus stiegen, rügte er mich scharf, weil ich einen Kommentar abgegeben hatte. Ich sagte ihm, wenn er nicht wolle, dass ich Rede und Antwort stehe, hätte er mich nicht zu den Reportern lassen dürfen.

Ich stieg in den Bus und ging nach hinten zu meinem üblichen Platz bei meinen besten Freundinnen im Team. Die Stimmung war düster, alle standen unter Schock. Wir hatten mehr als drei Jahre kein Spiel mehr verloren. Niemand sagte ein Wort.

„Leute“, stellte ich klar, „ich habe gerade ein Interview gegeben.“

Sie fragten, was ich gesagt hatte.

„Ich habe behauptet, dass ich diese Bälle alle gehalten hätte.“

Jemand sagte: „Au weia, Hope“, aber eher scherzhaft. Carli Lloyd meinte: „Hope, das geht schon in Ordnung.“ Andere Spielerinnen reagierten nicht. Der Bus fuhr los und brachte uns ins Hotel. Damit ist die Sache erledigt, dachte ich. Das Ende eines schlimmen Tages in der Geschichte des US-Fußball.

Aber es war nur der Anfang.

KAPITEL EINS

Ein Leben im Schatten des Smiley

Meine frühesten Erinnerungen sind ein Kaleidoskop des Glücks: ein kleines rotes Haus mit Holzzaun außen rum, meine aufgeschlossene, offenherzige Mutter Judy, mein großer, leutseliger Vater Gerry, mein älterer Bruder Marcus und ich, Baby Hope.

Außen am Zaun, ein Blickfang für Passanten: ein riesiger gelber Smiley. Auf der anderen Seite: ein Garten mit Sandkasten und Klettergerüst. Eine Englische Schäferhündin namens Charlotte. Kaninchen, Schildkröten, Kätzchen. Hinten im Garten spielten wir Ochs am Berg, suchten Ostereier und feierten Geburtstagsfeste. Im Haus hatte sich meine Mutter, eine eifrige Fotografin, eine Dunkelkammer eingerichtet, wo sie Filme entwickelte, und einen Sportraum, um Karate zu trainieren. Ich kuschelte mit meinen Eltern im Bett und sah fern. Abends aß die ganze Familie in der gemütlichen Küche Spaghetti.

Ein Smiley am Zaun, glückliche Menschen im Haus.

Aber wie so oft in meinem Leben ist die Wahrheit ein bisschen komplizierter. Unser Vorgarten war randvoll mit Gerümpel – Plastikspielzeug, Gartengeräte, Fahrräder, eine alte Schrottkarre. Die Nachbarn beschwerten sich, deshalb stellten meine Eltern den Zaun auf, damit man unseren Müll nicht mehr sah. Dass die Nachbarn auf diese Weise eine Art Sieg errangen, passte meiner Mutter nicht, deshalb malte sie das grellgelbe Grinsegesicht, so hoch und breit wie der ganze Zaun. Der Smiley stand nicht für Glückseligkeit. Er war ein großes „Wir scheißen auf euch“ an die Nachbarn.

 

II

Wie waren wir dort hingeraten, in ein Reihenhaus in der Marshall Street in Richland, Washington?

Meine Mutter war aus demselben Grund hingezogen wie die meisten Leute in Richland: wegen der Atomreaktoren. Auf den ersten Blick wirkt Richland wie eine normale nordamerikanische Stadt, mit gepflegten Straßenzügen am Ufer des Columbia River. Aber die Geschichte hinter der unscheinbaren Fassade ist verzwickter; die Stadt entstand im dunklen Schatten des amerikanischen Traums. Im Zweiten Weltkrieg suchte die US-Regierung nach einem entlegenen Landstrich mit reichlich Wasserzufluss und elektrischem Strom für eine streng geheime Abteilung des Manhattan-Projekts. In einer unfruchtbaren Gegend, gut 300 Meilen südöstlich von Seattle, wurde sie fündig. Hanford liegt in der Hochwüste am Zusammenfluss von Columbia und Yakima, nicht weit von den Talsperren Grand Coulee und Bonneville. Dort gab es Wasser, Elektrizität und sonst recht wenig. Der ideale Ort für die erste Plutoniumfabrik der Welt.

Die etwa 1500 Einwohner der kleinen ländlichen Gemeinde Hanford ließ die Regierung zwangsumsiedeln; aus ihrem Ort entstand der 1500 Quadratkilometer große nukleare Campus. Die herbeigeschafften Arbeiter hausten in Zeltbaracken und später in kleinen Reihenhäusern im nahen Richland. Innerhalb weniger Monate wuchs die Belegschaft auf 51 000 Mitarbeiter an. Drei Reaktoren produzierten das Plutonium, das nach Los Alamos transportiert und zum Bau der ersten Atombomben verwendet wurde. Die meisten Arbeiter hatten keine Ahnung, an was sie da mitarbeiteten. Darüber zu sprechen war streng verboten: Nicht mal Ehegatten durften einander erzählen, worin ihr Job in Hanford bestand. Die Einwohner hatten vorgetäuschte Postanschriften in Seattle, verdunkelten nachts ihre Häuser und unterhielten sich im eigenen Heim nur flüsternd. Auf öffentlichen Plätzen standen Schilder: „Leichtsinniges Reden kostet Menschenleben.“

Alteingesessene erzählen überlieferte Geschichten von Nachbarn, die nach einer öffentlichen Plauderei plötzlich verschwanden, ohne sich zu verabschieden. Es scheint, als hätten sich die geheimnisvollen Ursprünge von Richland an den staubigen Ufern des Columbia niedergeschlagen und unser eigenes Leben durchdrungen.

Es war eine patriotische Gegend. 1944 spendete jeder Angestellte der Hanforder Werke einen Tageslohn für den Kauf eines Bombers – einer B-17, die Day’s Pay getauft wurde und mehr als 60 Einsätze über Deutschland flog. Eine Außenmauer meiner Schule zeigt ein riesiges Wandbild des Flugzeugs: Wir nannten uns die „Richland High Bombers“. Die Atombombe, die am 9. August 1945 auf Nagasaki fiel, enthielt Plutonium aus Hanford. Sechs Tage später kapitulierte Japan, und der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Fast überall auf Erden gilt dieser Triumph, vorbereitet an den Ufern des Columbia River, als apokalyptischer Augenblick für die Menschheit. In meiner Heimatstadt feiert man diesen alles vernichtenden Schlag bis heute. Das Wappen meiner Highschool „ziert“ ein Atompilz – auf den Boden unseres Basketballspielfelds gemalt, auf T-Shirts und Schuljacken gedruckt, von Richlander Bürgern energisch gegen gelegentliche Versuche verteidigt, es durch etwas politisch Korrekteres zu ersetzen. Das Motto von Richland lautet: „Proud of the Cloud“ („Stolz auf die Wolke“).

Politische Korrektheit ist in Richland nicht so angesagt. Als ich zur Schule ging, war einer unserer Anfeuerungsrufe am Spielfeldrand: „Nuke ’em, nuke ’em, nuke ’em till they glow!“ („Bewerft sie mit Atombomben, bis sie glühen!“)

Meine Familie war an der Vernichtung von Nagasaki nicht beteiligt. Mein Großvater Pete Shaw diente im Zweiten Weltkrieg bei der Marine und arbeitete in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als Ingenieur für die Nuklearindustrie in Südkalifornien. Hanford blieb jedoch auch im Kalten Krieg in Betrieb, und so zogen Großvater Pete und Großmutter Alice 1969 mit ihren vier Kindern in den Staat Washington. Ihre älteste Tochter, meine Tante Kathy, hielt es nur ein paar Wochen aus. Sobald sie 18 war, verließ sie Richland. Meine Mutter, mit 16 die Zweitälteste und kurz vor ihrem Abschlussjahr an der Highschool, war wegen des Umzugs so verzweifelt, dass sie schon zuvor durchzubrennen versuchte und sich einen kindlichen Fantasieplan von einer Flucht mit ihrem Freund zusammensponn. Der Traum dauerte nur ein paar Stunden – der Freund stand auf eine andere. Als Judy Lynn Shaw aus dem Flugzeugfenster auf die öde braune Landschaft hinunterblickte, stöhnte sie verzweifelt auf: „Was ist das für eine Gegend?“

 

III

Wie kam mein Vater nach Richland? Ich wünschte, ich wüsste die ganze Antwort auf diese Frage.

Hier ist ein Teil davon: Meine Mutter, die als junge Frau nach Everett, Washington, gezogen war, heiratete meinen Vater und wurde mit mir schwanger, als sie ihn im Gefängnis in Washington besuchte, als er gerade eine Haftstrafe absaß. Mein Bruder Marcus war damals noch ein Baby. Meiner überforderten Mutter blieb nichts anderes übrig, als bei ihren Eltern in Richland einzuziehen. Mein Vater folgte ihr nach seiner Entlassung. Schließlich ließen sich die beiden hinter dem Smiley-Zaun nieder, ein paar Blocks von meinen Großeltern entfernt.

Ich kam am 30. Juli 1981, einem heißen, trockenen Hochsommertag zur Welt. An diesem Tag brachte mein Vater seine beiden anderen Kinder aus seiner ersten Ehe aus der Gegend um Seattle zu Besuch nach Richland. Mein Halbbruder David war zwölf, meine Halbschwester Terry neun. Meine Mutter brachte mich, ihr neugeborenes Kind – Hope Amelia Solo –, aus dem Krankenhaus heim in ein chaotisches Haus mit drei Kindern. Besonders ruhig sollte es auch danach nicht mehr werden. David und Terry lebten in Kirkland, Washington, – gleich bei Seattle auf der anderen Seite der Berge – bei ihrer Mutter, die zufällig Judy Lynn Solo hieß. Als meine Mutter mal meinen Vater im Gefängnis besuchte, ließ man sie nicht rein, weil schon eine Judy Lynn Solo da gewesen war – die Mutter von David und Terry. Auch wenn wir verschiedene Mütter hatten, teilten wir vier die Anlagen unseres Vaters: den stechenden Blick, den südländischen Teint, das intensive Gefühlsleben. David und Terry kamen jeden Sommer auf Besuch und fuhren manchmal mit uns zum Zelten. Irgendwann nannten sie meine Großeltern Oma und Opa. Erst als ich viel älter war, wurde mir klar, wie ungewöhnlich es war, dass die beiden Judy Solos gemeinsam Reisepläne, Termine und Einladungen ausarbeiteten, damit wir vier immer mal wieder für kurze Zeit eine Art Kleinfamilie bilden konnten.

David und Terry und die andere Judy Solo waren für mich das erste Indiz dafür, dass mein Vater eine Vergangenheit hatte, die mit meiner Mutter, mir und Marcus nichts zu tun hatte, dass unser Leben nicht einfach aus vier Leuten und einem Schäferhund in einem Reihenhaus bestand. Terry betete mich an. Sie liebte es, mich anzukleiden und meine Haare zu machen. Aber als ich älter wurde, weigerte ich mich. Ich war ein sehr aktives kleines Mädchen, ein echter Wildfang. Ich wollte keine Kleider tragen. Ich stand nicht auf Puppen. Am liebsten spielte ich draußen, trug eine übergroße Orange-Crush-Mütze und machte alles nach, was Marcus tat, meistens irgendwas mit Sport.

Wenn er rannte, rannte ich auch. Er spielte Baseball, also spielte ich ebenfalls Baseball. Fuhr er mit seinem Skateboard, wollte ich auch mit seinem Skateboard fahren – nicht mit meinem, sondern mit seinem; meins war pink und mädchenhaft, seins schnörkellos und cool. Schon als kleines Mädchen war ich tough und stark. Eines Tages trug ich Marcus’ Skateboard auf den kleinen Hügel gegenüber unserem Haus, fuhr runter und krachte in unsere Fahrräder, die in der Einfahrt lagen. Ein Pedal riss mir das Kinn auf. Mein Blut spritzte alles voll. Um mich von den Schmerzen abzulenken, rannte ich im Kreis herum, während mir das Blut durch die Finger lief. Ich musste im Krankenhaus genäht werden.

Marcus und seine Freunde forderten mich heraus, sie alle drei in einem Wagen zu ziehen, und ich schaffte es. Wenn meine Mutter Fahrrad fuhr, lief ich nebenher und unterhielt mich mit ihr, ohne aus der Puste zu kommen. Ich spielte wahnsinnig gern Basketball mit Marcus und David – mein Vater und ich traten gegen sie an, und er musste mich zum Korb hochheben, damit ich einnetzen konnte. Und ich liebte Wiffleball und hasste es, zu verlieren. Ich spielte immer so lange, bis ich gewann.

Zu meinem Glück wuchs ich in einer Zeit auf, in der es lebhaften kleinen Mädchen endlich möglich war, organisiert Sport zu treiben. Bei meiner Großmutter, die als junges Mädchen in Duluth, Minnesota, eine begeisterte Eisläuferin gewesen war, gestaltete sich das noch ganz anders. Ebenso bei meiner Mutter – einer drahtigen, athletischen Frau, die Karate und später Wasserski liebte. In den frühen Achtzigern erlebte der Jugendfußball überall einen Boom. Es war mein erster Sport, und ich fing schon im Kindergarten damit an. Tore zu erzielen war für mich kein Problem, schon mit fünf. Wir waren die Pink Panthers, mein Vater war Trainer. Ich spielte immer im Sturm, dribbelte alle anderen Kinder aus, die offenbar nicht mein Talent und meinen Überblick hatten, und schoss ein Tor. Es fiel mir leicht und machte Spaß.

Wir spielten auf Fußballplätzen am Ufer des Columbia River. Der Fluss prägte unser Leben. Die jugendliche Depression meiner Mutter wegen des Umzugs nach Ost-Washington verflog, sobald sie den Fluss und die lebensfrohen Menschen, die an seinen Ufern lebten, entdeckte. Der Columbia schlängelte sich durch alle Ecken und Nischen des Lebens in Richland: In ihm kühlten wir uns nach dem Fußballtraining ab, wir verbrachten Wochenenden auf Familienbooten, sonnten uns mit Freunden an den Hafenbecken, banden Flöße zusammen und feierten Feste oder sprangen von den Brücken ins tiefe, kühle Wasser. Meine Großeltern besaßen eine Yacht und veranstalteten große Partys auf dem Fluss. Meine Mutter hatte ein kleines Boot; jedes Wochenende fuhren wir flussaufwärts zu den Sanddünen und verbrachten den ganzen Tag dort in der Sommerhitze. Die Erwachsenen grillten und tranken, wir Kinder schossen mit Luftpistolen, fuhren mit Kneeboards die Dünen hinab und ließen uns auf Autoreifen im Wasser treiben.

Meine Mutter arbeitete mittlerweile in Hanford: Sie untersuchte Plutoniumproben in Schichtarbeit – eine Woche Früh-, eine Woche Spät-, eine Woche Nachtschicht. Sie war oft erschöpft. Mein Vater blieb zu Hause und kümmerte sich um Marcus und mich. Hie und da arbeitete er, manchmal als Berater für notleidende Jugendliche. In meinen frühesten Erinnerungen sehe ich meinen Vater als liebevollen, lautstarken, überlebensgroßen Mann – eins neunzig mit gewaltigem Bauch und einem breiten Lachen. Sein Haar war tiefschwarz, die Arme tätowiert – ein Schädel mit gekreuzten Knochen auf dem Bizeps, eine Nixe auf dem einen Unterarm, „Judy Lynn Solo“ auf dem anderen.

Für ihn blieb ich immer Baby Hope. Uns verband etwas ganz Besonderes. Ich ritt auf seinen Schultern und streichelte sein kräftiges schwarzes Haar. Wenn wir auf dem Fußboden miteinander rangen, bebte sein großer runder Bauch vor Gelächter. Er half mir, lesen zu lernen. An Weihnachten verkleidete er sich als Weihnachtsmann. Als Trainer war er sehr beliebt – meine Teamkameraden vergötterten ihn. Er trainierte auch sämtliche Mannschaften meines Bruders – Baseball, Basketball, Fußball –, und alle Kinder liebten Coach Gerry. Sport war seine Leidenschaft: Wir waren Fans der Oakland Raiders, der Red Sox und des Footballteams der University of Washington und damit Außenseiter in einer Gegend, wo man für die Seahawks, die Mariners und die Washington State hielt.

Wenn mein Vater da war, teilten wir uns vor dem Fernseher Fürst-Pückler-Eisbecher – er aß das ganze Erdbeereis. Wir holten uns vom 7-Eleven Donuts mit Puderzucker und Slushs, wobei wir sämtliche Geschmacksrichtungen zu einem süßen Gemisch zusammenrührten. Aber als ich älter wurde, bemerkte ich Risse in meinem idyllischen Leben. Eines Frühlings, als ich bei den Pfadfindern war, verschwand dort die Kekskasse. Manchmal verschwand mein Vater. Eines Morgens ging meine Mutter zu ihrem Auto, und es war weg: mangels Bezahlung beschlagnahmt.

Als ich fünf oder sechs war, standen meine Eltern und mein Großvater eines Nachmittags in der Einfahrt und diskutierten lebhaft. „Komm rein, Hope“, sagte Großmutter, „Martin, du auch.“

Wir saßen am Küchentisch; vor uns lag eine Zaubertafel. „Und was könnt ihr noch alles zeichnen?“, fragte Oma, sobald wir ein Bild fertig hatten. Sie versuchte uns abzulenken von dem, was draußen vor sich ging, aber ich hörte das Gebrüll und wusste, dass Schlimmes im Gange war. Opa Pete war sehr wütend, wie er da vor dem Smiley mit meinen Eltern schimpfte.

Später erfuhr ich, dass mein Vater meinem Großvater das Scheckheft aus dem Haus gestohlen und sich selbst Schecks über 1800 Dollar ausgestellt hatte. Er gestand meinem Großvater, er habe in seinem Büro herumgestöbert, weil er die Gewehre mitnehmen wollte, aber die waren alle weggesperrt. Stattdessen fand er das Scheckheft.

Tags darauf zog mein Vater aus. Ich hatte keine Gelegenheit, mich zu verabschieden – er fragte meine Mutter, ob er mich von der Schule abholen könne, aber ich ging mit einer Freundin mit, und so konnte er sich nur von Marcus verabschieden. Mein Bruder wollte meinem Vater etwas geben, was ihn aufheitern würde, und schenkte ihm den Baseball, mit dem er seinen ersten Homerun geschlagen hatte. Marcus signierte ihn und schrieb das Datum dazu, die Spielrunde und das Ergebnis seines Homerun. Ich machte mir jahrelang Vorwürfe, weil ich mich an diesem Tag nicht von meinem Vater verabschiedet hatte.

Bald darauf wurden wir aus dem Smiley-Haus geräumt. Als wir heimkamen, stand ein Sheriff im Vorgarten und meinte, wir müssten ausziehen. Mein Vater hatte die Raten nie bezahlt, obwohl er meiner Mutter versicherte hatte, er hätte alles bezahlt. Sie hinterlegte Geld auf ihrem gemeinsamen Konto, womit er die Rechnungen bezahlen sollte. Bis heute weiß sie nicht, was aus dem Geld geworden ist.

 

IV

Es gab eine Menge Dinge, die wir von Gerry Solo nicht wussten. Zuallererst war das schon mal gar nicht sein Name. Durch Polizeiberichte fand ich später heraus, dass er Jeffrey John Solo hieß. Vielleicht. Er hatte noch weitere Namen. Einmal deutete er an, sein wahrer Nachname sei DeMatteo. Oder Beyers? Durch eine polizeiliche Untersuchung erfuhren wir Jahre später, dass er zwei Sozialversicherungsnummern hatte. Er sagte, er stamme aus New York, seine Eltern seien in den 1880ern aus Italien eingewandert. Er sei irgendwann vor dem Zweiten Weltkrieg geboren. Er sagte, er habe eine Tante, sei jedoch in einem Waisenhaus in der Bronx aufgewachsen. Er hatte einen Bruder namens Marcus, der, so behauptete er, bei einem Fallschirmsprung in Vietnam ums Leben kam. Vielleicht war er ein Kredithai aus Boston. Möglicherweise hatte er eine zweite Familie in Michigan.

Auch wie er nach Washington kam, ist ein Rätsel. Er machte Andeutungen über seine kriminelle Vergangenheit, über Verstrickungen mit der Mafia. Kann sein. Vielleicht wollte er auch nur, dass alle so was dachten. Vielleicht war er im Zeugenschutzprogramm. Er sagte, er sei Boxer und semiprofessioneller Fußballer gewesen. Er behauptete, bei der Marine gewesen zu sein, und machte Andeutungen über eine Stationierung in Vietnam.

Was wir wussten, war: Er war groß, gesellig und laut. Als junger Mann sah er extrem gut aus, klassisch italienisch und sehr stilvoll. Er trug Lederslipper ohne Socken und strotzte vor Charisma. Seine erste Judy hatte er in den 1960ern kennengelernt, als sie beide bei Boeing arbeiteten, was die Vietnamgeschichte wiederum ziemlich unwahrscheinlich macht. David wurde 1969 geboren, Terry ein paar Jahre danach. Dank Judys Eltern lebten sie auf acht Hektar Grund in Carnation, Washington. Sie hielten Pferde, Schafe, Ziegen, Hühner, Enten und Deutsche Schäferhunde. Zum Wohnen hatten sie eine kleine Hütte, da sich das Haus noch im Bau befand; es wurde 1976 fertig.

Um diese Zeit herum lernte er die zweite Judy kennen. Meine Mutter war kurze Zeit verheiratet gewesen und noch dabei, sich darüber hinwegzutrösten. Sie lebte in Everett, Washington, besuchte die Volkshochschule und gab Karatestunden. Der schwarze Gürtel war damals nicht das einzige Harte an ihr; außerdem arbeitete sie als erste weibliche Strafvollzugsbeamte im Männergefängnis von Monroe. Mein Vater lernte sie im Karatekurs kennen. Sie gingen zusammen was trinken. Sie fand ihn witzig, er fand sie hübsch. Bald darauf war sie mit Marcus schwanger, und sie kauften ein Haus in Marysville mit großen Erkerfenstern mit Blick auf den Puget-Sund. Jetzt hatte er also zwei Familien und vielleicht sogar noch mehr.

Die beiden Judys erfuhren voneinander, als die erste Judy Fotos von meiner Mutter und Marcus im Handschuhfach des Autos fand. Da rief sie meine Mutter an. Als alles aufkam, brachte mein Vater David und Terry in den Woodland-Park-Zoo in Seattle, damit sie meine Mutter und Marcus kennenlernten. Terry war begeistert über ihren neuen kleinen Bruder, David eher verwirrt. Und die beiden Judys waren durch ihre Kinder für immer verbunden – miteinander und mit meinem Vater.

Dann wurde mein Vater wegen des Verdachts der Unterschlagung verhaftet. David, Terry und ihre Mutter wohnten in einem Haus, das mit gestohlenem Geld von Lockheed-Martin finanziert worden war, wo mein Vater damals arbeitete. Man setzte sie auf die Straße, die Möbel wurden als Pfand konfisziert, und mein Vater kam ins Staatsgefängnis von Walla Walla. David, Terry und ihre Mutter zogen nach Kirkland, wo sie einen Job für sechs Dollar die Stunde fand und die Scheidung einreichte.

Auch meine Mutter verlor das Haus am Puget-Sund, das ebenfalls gepfändet wurde, und zog nach Richland. Gegen Ende der Haftstrafe meines Vaters heiratete sie ihn und wurde mit mir schwanger. Bald nach meiner Geburt fing er eine Affäre mit der Frau eines Pastors an. Meine Mutter bekam davon Wind, als die Kreditkartenabrechnungen für Hotelzimmer in Seattle eintrudelten.

Wenn man weiß, was mein Vater mir und Menschen, die mir am Herzen liegen, angetan hat, ist es nicht ganz einfach, zu verstehen, dass ich ihn dennoch liebte. Egal, was er angestellt hat, er war mein Vater. Er hat dazu beigetragen, den Menschen zu formen, der ich bin. Er hat mich mit Liebe überschüttet, aber irgendwie wusste er nicht, wie man es anstellt, ein Ehemann oder Vater oder ein verantwortungsbewusstes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Ja, er war ein Hochstapler, ein Frauenheld. Und ja, er war im besten Falle unzuverlässig, im schlimmsten ein Krimineller.

Hätte ich nicht später meinen Frieden mit ihm gemacht, wäre ich heute noch verbittert und wütend.

 

V

Nach der Zwangsräumung und unserem Umzug in eine Doppelhaushälfte in einer günstigen Gegend von Richland hatten wir noch sporadisch Kontakt mit meinem Vater. Meine Mutter sperrte ihn nicht aus unserem Leben aus, weil sie wusste, wie sehr wir ihn liebten. Er versprach, mit uns Eis essen zu gehen und uns beim Fußball zuzuschauen, und dann tauchte er nicht auf. Ich wartete stundenlang auf ihn. Manchmal gab er mir ein Briefchen mit einem Scheck drin, worauf ich meine Mutter fragte, ob der Scheck gültig wäre. So lernte ich schon als junges Mädchen, nichts für bare Münze zu nehmen.

Eines Nachmittags kam ich von der Schule heim. Meine Mutter war wie immer beim Arbeiten. Aber seltsamerweise kam mein Hund Charlotte nicht zur Tür gerauscht, um mich zu begrüßen. Dann hörte ich ein Geräusch unten im Keller, der noch nicht fertig ausgebaut war. „Komm runter zu mir, Baby Hope“, rief mein Vater.

Ich freute mich wahnsinnig. Marcus kam heim, und wir tollten alle in dem unfertigen Keller herum: wir Kinder, mein Vater und unser Schäferhund Charlotte. Wir balgten uns und hatten jede Menge Spaß. Es war echt toll. Aber uns war allen klar, dass meine Mutter besser nichts davon erfuhr. Er hatte dort unten eigentlich nichts verloren, war eingebrochen und übernachtete auf unserem alten Sofa. Natürlich kam ihm meine Mutter auf die Schliche. Aber anstatt ihn hochkant rauszuwerfen, ließ sie ihn netterweise bleiben, bis er einen anderen Platz zum Schlafen gefunden hatte.

Wenn ich daran zurückdenke, wird mir klar, dass meine Mutter wirklich was Besonderes war. Sie ließ sich einiges bieten, weil sie wusste, dass mein Bruder und ich unseren Vater vergötterten. Obwohl sie selbst eine Menge aufzuarbeiten hatte, war sie immer nachsichtig und gütig. Alles konnte sie jedoch nicht hinnehmen, und im Juli 1989 war das Maß endgültig voll.

Da hatte sie ihre Ehe abgehakt, weil es einen neuen Mann in ihrem Leben gab: Glenn Burnett. Allerdings sorgte das für weitere Spannungen, weil mein Bruder und ich nicht bereit waren, ihn als Ersatzvater zu akzeptieren, und das Verhalten meines Vaters immer unberechenbarer wurde. An einem Wochenende nahm er Marcus ohne Erlaubnis mit nach Seattle und baute an einer Kreuzung einen Autounfall. Marcus trug keinen Sicherheitsgurt und knallte gegen die Windschutzscheibe. Ihm passierte nichts weiter, aber der Sprung in der Scheibe verdeutlichte, wie leichtsinnig mein Vater war. Er wurde wegen telefonischer Bombendrohungen gegen die Genossenschaftsbank von Richland festgenommen, ein Sondereinsatzkommando trat ihm die Tür ein, und sein Name stand in der Lokalzeitung. Seine Spuren zu verwischen war nicht seine Stärke, ob es um Fotos im Handschuhfach ging oder darum, seine Anrufe zurückzuverfolgen. Meine Mutter glaubt, die Nummer mit den Bombendrohungen sollte nur davon ablenken, dass er Geld von ihrem Konto abzweigte.

Nach dieser Verhaftung kam mein Vater im Bali Hi Motel unter und durfte uns dort einen Abend die Woche sehen. Nach einer Weile konnte er sich das Motel jedoch nicht mehr leisten und wohnte im Büro von Chilly Willy, einer Fabrik für Fertiggerichte, wo er einen Teilzeitjob hatte. Als meine Mutter herausfand, dass er dort seine Zeit mit seinen Kindern verbrachte, sprach sie ein Machtwort. Glenn und sie hatten gerade geheiratet und bemühten sich um ein stabiles Zuhause. Dass ihre Kinder bei Chilly Willy auf dem Boden schliefen, kam nicht infrage, auch wenn es uns großen Spaß machte, uns aus dem riesigen Kühlschrank dort zu bedienen und die Schlafsäcke auszurollen.

Als ich sieben Jahre alt war, wollte mein Vater eines Nachmittags, als meine Mutter gerade beim Arbeiten war, mit Marcus und mir zu einem All-Star-Spiel der Little League in Yakima fahren. Marcus war damals elf und sauer, weil er es nicht ins All-Star-Team geschafft hatte, und mein Vater wollte, dass er sich wenigstens das Spiel ansieht. Aber in Yakima kamen wir nie an. Wir fuhren weiter und immer weiter, den ganzen Weg bis Seattle.

Mit unserem Vater die große Stadt zu erleben fanden wir toll. Er sorgte dafür, dass es ein unvergesslicher Ausflug wurde. Es gab Eiscreme und chinesisches Essen, wir besuchten das Space Needle und das Pacific Science Center und wohnten im Hotel. Es war wie Ferien.

Aber daheim in Richland begann damit ein Albtraum. Meine Mutter wartete Stunde um Stunde und begriff letzten Endes, dass ihre Kinder von ihrem unberechenbaren Vater entführt worden waren. Sie war nicht mal sicher, ob wir die Telefonnummer und Adresse des neuen Hauses wussten, in dem wir mit Glenn wohnten. Also lieh sie sich den Truck von meinem Großvater und fuhr nach Seattle, und obwohl es vollkommen zwecklos war, suchte sie in der ganzen Stadt nach uns. Schließlich kehrte sie über die Cascades nach Richland zurück und rief die Polizei an.

Tief in meinem Inneren wusste ich, dass mein Vater meine Mutter und meine Großeltern verletzte, aber gleichzeitig war ich glücklich, mit ihm Zeit zu verbringen. Mit meinem neuen Leben mit Glenn war ich nicht glücklich. Die ständigen Veränderungen machten mich wütend. Ich wusste, dass mein Vater und mein Bruder sich um mich kümmerten. Über die Konsequenzen wollte ich nicht nachdenken.

Nach ein oder zwei Tagen war dann aber alles nicht mehr so lustig. Als ich eines Morgens im Hotel aufwachte, saß mein Vater am Bettrand und sagte: „Baby Hope, du hast gerade eure Mutter verpasst. Sie hat angerufen und gesagt, ihr könnt noch ein paar Tage bleiben.“

Ich hatte das Telefon nicht läuten und ihn nicht sprechen gehört. Mir war klar, dass da was faul war.

Dann kam mitten in der Nacht eine Frau zu uns ins Hotelzimmer. Mein Vater, der dachte, Marcus und ich schliefen, öffnete die Tür einen Spaltbreit und ließ sie rein. Ich wachte auf und sah sie nackt mit meinem Vater am Fußende des Betts. Er lag auf ihr, und sie rutschten langsam auf den Boden. So fest ich konnte, schloss ich die Augen, um zu löschen, was ich gerade gesehen hatte, aber ich hatte Angst, war verwirrt und schämte mich. Morgens stellte ich mich schlafend, bis die seltsame Frau weg war, und erwachte dann theatralisch. Ich war wütend auf meinen Vater und redete nicht mit ihm, sagte ihm aber nicht, wieso. Die „Ferien“ gingen weiter, und ich begriff mehr und mehr, dass wir etwas sehr Falsches taten.

Dann, am 26. Juli – das Datum weiß ich aus dem Polizeibericht –, nahm uns Papa mit zu einer Bank, um einen Scheck einzulösen. Als wir zur Tür reingingen, war er sofort von Polizisten mit gezogenen Waffen umkreist. Entsetzt mussten mein Bruder und ich zusehen, wie sie ihm Handschellen anlegten und ihn in einen Streifenwagen stießen. Dann brachten sie ihn weg, und Marcus und ich standen allein auf der Straße in der großen Stadt, verlassen und verängstigt.

Wie hatten sie meinen Vater erwischt? Es war eine Falle. Man erzählte mir, die nackte Frau in unserem Hotelzimmer habe eine Hassliebe-Beziehung zu ihm gehabt – und ihm manchmal Geld gegeben; ihre Tochter könnte sein Kind sein, aber er erhob nie Anspruch auf die Vaterschaft. Diese Frau wollte ihm eins auswischen, also gab sie ihm einen Scheck zum Einlösen, rief dann meine Mutter an und sagte ihr, wo er war. Meine Mutter wandte sich an die Polizei in Richland, die die Behörden in Seattle alarmierte.

Marcus und ich wurden aufs Polizeirevier gebracht. Dort durfte uns mein Vater sehen. Er weinte, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. „Ich hab Mist gebaut“, stammelte er. „Es tut mir leid.“

Er zog zwei Hundertdollarscheine aus der Hosentasche und reichte sie Marcus. „Kauf dir was“, forderte er, „kauf was für dich und für Baby Hope.“

Marcus schob das Geld zurück. „Du wirst es nötiger brauchen als wir“, sagte er.

In diesem Augenblick wirkte mein Bruder sehr erwachsen.

Das Jugendamt brachte uns aus dem Gefängnis in ein Büro, wo sich Sozialarbeiter um uns kümmerten und uns ein kindisches Malbuch gaben. Voller Zorn über den Beschwichtigungsversuch schob ich es beiseite. Die Erwachsenen wollten mich offenbar glauben machen, alles werde gut, wenn ich ein fröhliches Bild bunt ausmalte.

Schließlich holte uns die andere Judy Solo ab und brachte uns zu sich nach Kirkland. Da hatten wir unsere Parallelleben: Mütter, die Judy hießen, ältere Söhne, jüngere Töchter, all diese scheinbar glücklichen Existenzen, auseinandergesprengt von ein und demselben Mann.

Am Nachmittag fuhr uns die andere Judy nach Ellensburg, auf halber Strecke zwischen Seattle und Richland. Dort trafen wir unsere Mutter. Auf der Rückfahrt nach Richland kochte ich vor Wut. Ich war sauer auf meine Mutter, weil sie uns heimbrachte, sauer auf meinen Vater, der uns angelogen hatte. Sauer auf mich selbst, weil ich einen Fehler gemacht hatte. Wütend auf die ganze Welt.

Ein paar Tage darauf wurde ich acht. Und meinen Vater sollte ich sehr lange nicht mehr sehen.

KAPITEL ZWEI

Gottes zweites Paradies

Das Winseln und Jaulen klang himmelwärts durch die Nachtluft, kroch durch mein Schlafzimmerfenster und unter meine Decke. Klagelaute des Leidens, der Angst und Einsamkeit. Ich hielt es nicht mehr aus, zog ein Sweatshirt und Flip-Flops an und schob das Fenster auf, kletterte auf die Veranda und hinunter in den Garten hinterm Haus, wo Charlotte, unser riesiger Englischer Schäferhund, im Sterben lag.

Wir waren gerade von einem Familienurlaub in Priest Lake zurück, einem Naturschutzgebiet an der Nordspitze von Idaho. Auf der Hin- und Rückfahrt hatten wir – meine Mutter, Marcus, mein neuer Stiefvater Glenn Burnett und ich – unser Boot im Anhänger im Schlepptau dabei. Charlotte war zu groß und zu alt, um mitzukommen. Ein Nachbar sollte sich um sie kümmern, aber als wir zurückkamen, stellten wir fest, dass sich Charlotte während unserer gesamten Abwesenheit nicht von ihrem Platz im Garten gerührt hatte. Unfähig aufzustehen, verfilzt und kraftlos lag sie in ihrem eigenen Dreck.

Ich war neun; Charlotte hatte mich mein Leben lang begleitet. Ich hatte aufrecht stehen gelernt, indem ich mich an ihrem lockigen weißen Fell hochgezogen hatte. Sie war mein Spielgefährte gewesen, mein Beschützer, mein Ruhekissen, solange ich denken konnte, war sie immer da gewesen. Sie war mit uns umgezogen – von dem Smiley-Haus in die billig gemietete Doppelhaushälfte, wo wir nach der Trennung unserer Eltern gewohnt hatten, und in das Haus, wo wir nun mit Glenn lebten.

Der Umzug in die Hoxie Avenue war nicht leicht für sie. Glenn war Jäger und hatte zwei Chesapeake-Bay-Retriever, scharfsinnige, wachsame Hunde, von denen ich vermutete, dass sie Charlotte als Rivalin betrachteten. Sie litt darunter, ihr Heim und ihre Menschen mit anderen teilen zu müssen. Nun lag Charlotte im Sterben. Sie wog fast 50 Kilo und konnte sich nicht mehr bewegen. Meiner Mutter gelang es nicht, sie ins Auto und zum Tierarzt zu bringen. Sie konnte sie nur noch sauber machen, wie sie da lag. Der Tierarzt empfahl, ihr starke Schmerzmittel zu geben, damit sie friedlich einschlafen konnte. Marcus und ich umarmten unseren Hund zum Abschied und weinten. Meine Mutter steckte Charlotte die Tabletten in den Rachen, dann ließen wir sie einschlafen.

Aber die Schmerzmittel wirkten nicht. Sie jaulte und stöhnte, allein gelassen und verängstigt. Draußen in der dunklen Nacht kroch ich auf ihre Decke unter einem Baum, legte mich neben sie und atmete ihren vertrauten muffigen Geruch. „Braves Mädchen, Charlotte“, flüsterte ich, „du bist ein braves Mädchen.“

Ich legte den Arm um sie, und wir schnauften im Gleichtakt. Das Winseln hörte auf, und wir schliefen beide ein.

Stunden später kam meine Mutter raus und fand mich bei Charlotte. Sie schickte mich hinauf in mein Zimmer in mein eigenes Bett.

Als ich morgens aufwachte, war Charlotte nicht mehr da. Glenn hatte ihre Leiche fortgeschafft. Der große Hund, der mit mir und meinem Vater im Garten des Smiley-Hauses gespielt hatte, war tot. Ein weiterer Teil meiner Familie war verloren. Jetzt war mir zum Winseln und Jaulen zumute. Aber ich tröstete mich mit dem Wissen, dass ich in ihren letzten Stunden ihr Leid gelindert hatte. Viele Jahre später fand ich heraus, dass Charlotte nicht im Schlaf gestorben war. Die Schmerzmittel hatten einfach nicht gewirkt. Schließlich hatte Glenn sein Gewehr geholt und Charlotte in den Kopf geschossen.

Als ich das erfuhr, brach ich in Tränen aus. Mein armer, süßer Hund.

 

II

Meine Mutter und Glenn lernten sich beim Bootfahren auf dem Columbia River kennen. Sie liebten den Fluss, waren beide in Richland geboren und arbeiteten in Hanford. Nach all dem Chaos mit meinem Vater musste meine Mutter Glenns beständige, verlässliche Art anziehend finden.

Sie heirateten an einem schönen Märztag 1989 auf dem Columbia River. Ich trug ein gepunktetes Kleid, ebenso wie meine neue Stiefschwester Connie, Glenns Tochter aus erster Ehe, die drei Jahre älter war als ich. Es wurden einfach zwei Boote zusammengebunden, die auf dem Fluss schaukelten. Die Hochzeitsgesellschaft mit Connie, Marcus und mir stieg von dem einen Boot ins zweite, wo die Trauung vollzogen wurde. Um uns herum trieben weitere Boote mit Gratulanten, die das Brautpaar bejubelten und feierten. Stolz und glücklich, bei dem Fest dabei zu sein, ließ ich mich sanft von den Wellen wiegen.

Aber die Harmonie endete an Land. Glenn bekam es mit zwei wütenden, traumatisierten Stiefkindern zu tun, die keine Grenzen kannten. Er versuchte, uns zur Ordnung zu rufen – heute weiß ich, dass er das Richtige tun wollte –, aber Marcus und ich hatten kein Interesse an einem neuen Vater oder neuen Regeln. Unsere Meinung war jedoch nicht gefragt. Mit Glenn war nicht zu spaßen – knapp zwei Meter, über 130 Kilo, die Stimme so grollend und knurrig wie die Lkw-Motoren, an denen er arbeitete. Man fand ihn meistens in der Garage, in einem Carhartt-Overall, beim Waffenputzen und Messerschleifen mit seinen Kumpels. Er stand auf Motocross-Rennen, Schnellboote und Pirschjagen. Seine Präsenz füllte das Terrassenhaus an der Hoxie Avenue. Er gab Marcus und mir schroffe Anweisungen, machte Vorschriften, versuchte ab und zu sogar, uns den Hintern zu versohlen. So waren wir noch nie behandelt worden. Vor Glenn durften wir tun, was wir wollten, waren auf uns gestellte Schlüsselkinder mit einer Mutter, die ständig arbeitete, um uns durchzufüttern. Jetzt hatten wir mehr Ordnung und Stabilität, dafür war unser Zuhause von Spannung und Zorn erfüllt.

Als meine Mutter die ersten Male mit Glenn ausging, lebte mein Vater noch in Richland. Er machte sich über Glenn lustig und äußerte sich abfällig über seine stoische Art, seine Größe und seine Ansichten. Marcus und ich übernahmen seine Verachtung bereitwillig. Wegen Glenn konnten wir immer weniger Zeit mit unserem Vater verbringen, und unsere Mutter ließ uns nicht mehr so gerne zu ihm. Wir verstanden nicht, dass mein Vater selbst dazu beitrug, da er keinen Wohnsitz hatte und immer unberechenbarer wurde: Für uns zählte nur, dass sich etwas verändert hatte, seit Glenn in unser Leben getreten war.

Vier Monate nach der Hochzeit entführte uns unser Vater. Für Marcus und mich war das kein Verbrechen, sondern der verzweifelte Versuch eines liebenden Vaters, Kontakt zu seinen Kindern zu halten, die bei einem anderen Mann lebten.

Mit Glenn gab es aber nicht nur Streitereien. Er nahm mich mit zu einem Kurs für Sicherheitsmaßnahmen für Jäger, wo ich lernte, wie man schießt, eine Ente putzt oder einen Schießstand baut. Wir fuhren mit dem Boot zu den Sanddünen und schwammen mit Autoreifen im Fluss. Ich machte meine Hausaufgaben im Wohnzimmer, während er neben mir saß. Wir aßen gemeinsam in der Küche zu Abend – Mamas Tacos waren unsere Lieblingsspeise. Glenn kaufte Marcus seinen ersten Jagdhund, Hank. Eines Tages fuhr er mit mir Rex holen, einen gelben Labrador, den ein Jäger weggab, weil er für die Jagd zu trottelig und unkoordiniert war. Er wurde mein neuer bester Freund.

Nach seiner Verhaftung in Seattle verschwand mein Vater aus unserem Leben. Er war einfach weg, zurück blieb ein gähnendes Loch.

Die Lücke füllten wir sehr bald mit unserer Feindseligkeit gegenüber Glenn.

 

III

Meine beste Freundin Cheryl und ich stemmten uns so fest wir konnten gegen meine Zimmertür, um Marcus, der auf der anderen Seite dagegenhämmerte und brüllte, nicht reinzulassen. Ich weiß nicht mehr, worüber er so wütend war, aber Marcus drehte regelmäßig durch. Er wollte uns wehtun oder uns wenigstens erschrecken, und wir versuchten verzweifelt und panisch, ihn uns vom Leib zu halten.

Um uns von der Tür wegzukriegen, stocherte Marcus mit spitzen Pfeilen durch den Türspalt auf was auch immer wir an Körperteilen gegen die Tür drückten – unsere Hintern, unsere Füße.

Als sich der Sturm gelegt hatte und Cheryl und ich das Haus verlassen wollten, waren wir noch lange nicht sicher. Mein Zimmer lag am Ende des Flurs, und um zu entwischen, mussten wir an Marcus’ Zimmer vorbei. Er saß an der Tür und zielte mit Dartpfeilen auf uns. Als ich zur Haustür flitzen wollte, bekam ich einen Pfeil in den Hintern. Manchmal schoss Marcus auch mit einer Luftpistole auf mich, was zu Schwielen und blauen Flecken führte.

Das Haus an der Hoxie Avenue war ein einziges Schlachtfeld. Von überall her ertönten Geschrei, Gefluche und Respektlosigkeiten aller Art. Chaos war der Normalzustand. Glenn war außer sich. Ich war wütend. Meine Mutter fing schwer zu trinken an. Und mein Bruder kochte vor Wut.

An dem Tag, als unser Vater in Seattle von der Polizei festgenommen wurde, war Marcus elf und mitten in der Pubertät. Das Erlebnis hinterließ bei uns beiden Narben, aber seine Wunden gingen tiefer. Er entwickelte sich zu einem zornigen, launischen Teenager.

Um die Zeit, als mein Vater verschwand, ging unser ältester Bruder David auf Distanz. Nach der Highschool hatte er in einem Community College im nahe gelegenen Walla Walla Football gespielt, und wir sahen ihn recht oft. Marcus vergö–