Die Akademie

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Inhaltsverzeichnis

Er genoss diesen Blick auf die Spree und hinüber zum Charlottenburger Schloss seit vielen Jahren. Das Wasser am Bonhoefferufer schimmerte heute grün. Am Himmel zogen dunkle Wolken gemächlich nach Westen. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen, der Herbst hatte sich sonnig angekündigt, als wollte er die Menschen täuschen über seinen Charakter, und dann war er umgeschlagen und brachte Kälte, Regen und Wind, wie es sich gehörte.

Heinrich Walzer stand an der Fensterfront seines großzügigen Büros, wie immer perfekt gekleidet, dunkelgrauer Anzug eines italienischen Edelschneiders, an den Füßen schwarze Maßschuhe aus der Züricher Bahnhofstraße, ein dezent roter Schlips auf hellblauem Hemd, der obere Knopf geschlossen. Walzer wippte auf den Fußballen und straffte seinen Körper. Er hatte ein narbiges Gesicht, späte Spuren einer schweren Akne, eine breite Nase, kurz geschnittene schwarze Haare, darin verwoben graue Fäden. Seine graublauen Augen strahlten Vertrauenswürdigkeit aus. Die meisten beschrieben ihn als einen sympathischen Mann. Und in der Tat war er ein ruhiger Zeitgenosse, zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehörte, dass er zuhören konnte, was seine natürliche Autorität nur unterstrich.

Auf seinem Schreibtisch, Rauchglas auf einem Stahlgestell, links und rechts Stahlcontainer auf Rollen, stand ein zierlicher Bilderrahmen, eine schöne Frau mit langen schwarzen Haaren und zwei hübsche Kinder, lachend.

Er schaute auf die Speedmaster, die er am

»Karl, schön, dass Sie gekommen sind. Bitte.« Walzer hatte eine tiefe Stimme, ohne dass sie dröhnte. Er deutete auf die Sitzecke und ging dorthin.

Der andere, brauner Anzug, braune Haare, braune Schuhe, unscheinbar, kannte sich aus in dem Büro, und er bewegte sich selbstverständlich darin. Sein Nachname war Ammann, ein promovierter Jurist.

Als beide saßen, kam eine Frau herein, in der Hand ein Tablett. Ein Glas mit Wasser, eine Tasse Tee. Die Frau nickte Ammann zu, der nickte zurück, ohne sie wirklich anzuschauen. Sie war zurückhaltend geschminkt und sonst seltsam grau.

»Ich habe den Vierteljahresbericht gelesen«, sagte Walzer freundlich. »Er ist wie immer ein Meisterwerk der Präzision.« Er zog zwei silbrig glänzende Kugeln aus der Jacketttasche und ließ sie zwischen den Fingern einer Hand wandern, ruhig, fast meditativ.

Der andere verzog keine Miene.

»Die Bildungsprogramme laufen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Die meisten Beteiligungen werfen Gewinne ab trotz der Krise. Wir konnten die Zahl unserer Stipendien erhöhen. Es ist eigentlich alles in Ordnung, so, wie im Prinzip seit Ihrem Amtsantritt immer alles in Ordnung war.« Er machte eine kurze Pause. »Vielen Dank, Herr Generalsekretär.« Die Stimme klang jetzt ein bisschen offiziell.

»Ich habe zu danken, Herr Präsident.«

Walzer lächelte, er tat dies sehr einnehmend. »Ein Ärgernis allerdings bleibt. Wir hatten im Vorstand beschlossen, diese Sache der operativen Abteilung zu

Ammann rutschte ein bisschen hin und her, trank einen Schluck Tee und nickte fast versonnen. »Ich glaube, wir müssen uns keine Sorgen machen. Es ist alles vorbereitet.«

Walzer lächelte. »Wie gut, dass wir immer mit so etwas gerechnet hatten.«

»Wie gut, dass Sie mit so etwas gerechnet hatten«, sagte Ammann sachlich. Es war die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger. Nie hatte die Akademie einen besseren Präsidenten gehabt. Ammann erinnerte sich gut an die große Schlacht, wie er sie nannte, als die Fraktionen in der Akademie aufeinandergeprallt waren wie die Streitwagen antiker Heere und keine Zukunft wartete, am Himmel nicht und sonst auch nirgendwo. Bis Walzer, der Neue, zum richtigen Zeitpunkt, eine Minute früher oder später wäre verheerend gewesen, ihnen allen den Weg wies, auch wenn manche ein, zwei Jahre brauchten, um zu begreifen, wohin es ging.

Aber das war graue Vorzeit.

***

»Sie sind doch Herr Stachelmann?«, flüsterte es.

Da stand ein kleiner, dürrer Mann mit einem Knochenschädel vor ihm, auf der erstaunlich großen Nase eine Hornbrille mit dicken, fast milchigen Gläsern. Stachelmann überlegte fieberhaft, wer es sein könnte. Ja, er hatte ihn schon mal gesehen, sie hatten sogar miteinander gesprochen. Irgendwo, irgendwann. Stachelmann erhob sich und reichte dem Mann die Hand. Dessen Händedruck war schwach, und er zog seine Hand schnell zurück, als hätte er Angst, sie zu verlieren.

Von draußen kam ein junger Mann herein, offenbar ein Student. Während er vorbeieilte, um dann nach rechts in den Gang abzubiegen, zog er eine unsichtbare Wolke aus Zigarettenrauch hinter sich her.

»Ich habe gehört, Sie haben die Universität verlassen … man hat ja einiges gehört über Hamburg, diese … Geschichte mit Bohming.«

»Ja, ja«, erwiderte Stachelmann und hoffte, der andere hörte heraus, dass ihn dessen Neugier nervte. Außerdem erinnerte er sich an Bohmings Anmaßung, der seine Assistenten immer ausgenutzt hatte, auch für diesen aufgeblasenen Vortrag. »Das ist ja schon eine Weile her, und ich weiß von den näheren Umständen wenig bis nichts.«

»Ach, wirklich?« Rehmer legte seine Stirn in Falten und schaute Stachelmann mit leicht zur Seite geneigtem Kopf in die Augen.

»Ich war … praktisch schon weg, als das mit Bohming passierte«, log Stachelmann.

»Jedenfalls die Rede, die er hier gehalten hat, die war doch ein bisschen prätentiös. Finden Sie nicht auch?«

»Dann habe ich mich heute Morgen doch nicht getäuscht«, sagte Rehmer.

»Inwiefern?«

»Ich habe Sie im Frühstücksraum erkannt, im Morgenland. Ich übernachte nämlich auch dort.«

Stachelmanns Handy vibrierte in der Hosentasche. Gott sei Dank. Er zog es heraus. »Einen Augenblick, bitte.«

»Ich muss jetzt sowieso los.« Das Handy vibrierte weiter. »Gehen wir doch heute Abend zu dem Italiener.« Er zeigte in Richtung Finckensteinallee. Stachelmann wurde nervös, und er nickte, während er das Gespräch annahm.

»Um acht Uhr! Okay?«, rief Rehmer. »Bis dann!«

»Hallo, Schatz!«

»Hallo, Kleine, wie geht’s?«

»Du fehlst mir«, sagte Valentina mit diesem leicht leidenden Unterton, den sie sich vor einiger Zeit zugelegt hatte. »Wann kommst du?«

»In spätestens einer Woche.«

»Puh!«

»Lass mich die Sache fertig machen, sofern da etwas fertig zu machen ist. Und dann komme ich.«

Warum musste er sich eine Freundin aussuchen, die in Gotha wohnte und Lehrerin war, also festen Arbeitszeiten folgen musste? Er erinnerte sich daran, wie sie eines Tages mit ihrer Reisetasche vor seiner Tür gestanden hatte. Es berührte ihn immer noch.

»Warum ziehst du nicht hierher?«

»Warum lässt du dich nicht nach Hamburg versetzen?«

»Das habe ich schon tausendmal gesagt. Weil ich da keinen kenne. Weil ich hier so tolle Kollegen habe. Weil man ein Thüringer Mädchen nicht in den kalten und menschenfeindlichen Norden versetzen kann, wo es statt Wurst und Knödeln eklige Krabben gibt, und das schon zum Frühstück.« Sie lachte, blitzschnell war ihre Stimmung umgeschlagen. So war sie. Das hatte er lernen müssen. Er lernte es immer noch. Manchmal gestand er sich ein, dass es ihm ungeheuer schwerfiel, sich auf andere Menschen einzulassen, sich auf das Ungewohnte einzustellen, das er zunächst so reizvoll fand. Da war doch immer eine Kluft zwischen ihm und den anderen, und er konnte sie so wenig überschreiten, wie er es zuließ, dass sie überschritten wurde. Das Verrückte war, dass er diese Kluft kannte, dass sie ihn oft störte, ihn hilflos und einsam machte, und dass sie trotzdem blieb. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der es schafft, in einer Menge allein zu bleiben. Dieser Satz hatte sich ihm eingeprägt. Er stammte von Anne, und natürlich hatte sie recht. Wie immer.

»Bist du noch dran?«

»Ja, natürlich.« Wehmut überkam ihn, wie immer, wenn er an Anne dachte. Er würde sie nie loswerden. Das war eines der wenigen Dinge, an denen er nicht zweifelte.

»Also, dann bleibt es dabei«, sagte sie, etwas übertrieben fröhlich.

»Natürlich.«

Die Tür zum Lesesaal öffnete sich, herein trat eine schlanke junge Frau mit halb langen gelockten hellbraunen Haaren. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück und hob lässig die Hand zum Gruß. Esther arbeitete im Kopierraum, er kannte sie lange, und er genoss so etwas wie eine geheime Vorzugsbehandlung, wenn es darum ging, schnell Kopien von Dokumenten zu erhalten. »Ich habe wieder was für dich.« Also wieder Kopien, die nur dazu dienten nachzuweisen, dass er nicht faul war. »Morgen Vormittag im Kopierraum. Ja?«

***

Der Präsident bremste den schwarzen Volvo, der gerade die Hälfte der Luxusklasse mit Ringen, Stern oder Niere gekostet hatte, vor dem Tor, betätigte den Funköffner und fühlte, wie die Last des Tages von ihm abfiel, während sich das Tor lautlos öffnete. So war es an jedem Werktagabend. Nun würde er seine Aktentasche in sein Zimmer stellen und sich dann der Familie widmen. Er verachtete diese Leute, die im Büro nicht fertig wurden oder die gar nicht mehr anders konnten, als zu arbeiten, die Workaholics, die Akten mit nach Hause schleppten und ihre Familien terrorisierten. Nicht so laut, Kinder, Papa arbeitet noch.

Er steuerte den Wagen in die Garage neben den Renault-Van, stieg aus, sah, wie das Tor sich schloss und auch

Jedes Mal, wenn er sie sah, diese zarte Frau, erinnerte er sich, wie er um sie geworben hatte, monatelang, verzweifelt, doch mit der ihm eigenen ruhigen Beharrlichkeit, die alle inneren Regungen überdeckte. Sie hatte am Wochenende im Hinkelstein bedient, der Marburger Kellerkneipe am Marktplatz mit dem drohend an der Decke über dem Tresen hängenden Menhir. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, schien es ihm kaum vorstellbar, dass sie hier nächtelang Bier ausschenkte und Fässer rollte, ohne zusammenzuklappen. Es hatte ihn nach einer Betriebswirtschaftsklausur mit Kommilitonen dorthin verschlagen, und als er sie sah in dem lauten, verrauchten Gastraum,

 

Mehr als vier Monate wartete er jede Wochenendnacht vor dem Hinkelstein und brachte sie nach Hause. Zunächst waren ihre Gespräche eintönig. Genauer gesagt, er fragte in seiner Befangenheit Belangloses, und sie antwortete einsilbig oder gar nicht. Aber sie wehrte sich nicht gegen seine Begleitung, nachdem sie ihn beim ersten Mal ärgerlich angestarrt hatte, um sich abzuwenden und eiligen Schritts nach Hause zu gehen. Da lief er mehr in ihrem Schlepptau als neben ihr. Aber es änderte sich. Er musste sie immer wieder anschauen, ihr Profil war von klassischem Zuschnitt, sie war perfekt. Ihr Gang war geschmeidig und unaufdringlich elegant. In ihrem zarten Körper steckte ungeheuer viel Energie, das spürte er sofort.

Nach drei Wochen begann sie ausführlicher zu antworten. Hatte er zuvor den Eindruck gehabt, dass sie sich zwang, etwas zu sagen, so schien sie jetzt auf seine Fragen zu warten. Vielleicht, so fürchtete er, vielleicht war es ihr sonst öde mit ihm. Er lud sie zum Essen ein, aber das wollte sie nicht. Und er war klug genug, ihr nicht aufzulauern vor dem Mietshaus in der Haspelstraße, wo sie in einer Mansardenwohnung lebte, die zur Straßenseite hin zwei kleine Fenster hatte. Er stellte sich ihre Wohnung oft vor, sie war gewiss ordentlich und sauber und hübsch eingerichtet, aber ein Flokati lag bestimmt nicht auf dem Boden. Er dachte eher an klare Linien, funktionsgerechte Möbel und moderne Malerei an den Wänden.

Nach zwei Monaten wusste er immer noch nicht viel von ihr, außer dass sie Geld verdienen musste,

Eines Nachts erschien sie nicht. Er wartete, bis die Kneipe geschlossen war, verfluchte sich, dass er drinnen niemanden nach ihr gefragt hatte, und erlebte eine verzweifelte Nacht. Er malte sich aus, dass sie weggezogen war, dass sie nun im Ausland lebte, dass er sie nie wiedersehen würde. Aber am nächsten Tag war sie da, und er lachte voller Freude, als sie ihm mit ihrem ernsten Gesicht entgegenkam. Sie sagte kein Wort zur Erklärung, und er fand, dass sie nichts zu erklären hatte. Er hatte kein Recht auf sie, solange sie es ihm nicht eingeräumt hatte. Und doch, erschüttert und erleichtert, wie er gerade war, fragte er sie, ob sie nicht am nächsten Wochenende etwas zusammen unternehmen könnten.

»Ja«, sagte sie sachlich.

 

An jenem Samstag holte er Aurelia vor dem Mietshaus ab, in dem sie wohnte. Sie hatte sich freigenommen im Hinkelstein, wie sie ihm später beiläufig sagte. Er würde sich immer genau erinnern, wie sie pünktlich aus der Haustür trat im blauen Anorak, darunter ein weißes T-Shirt, schwarze Jeans, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sieht unternehmungslustig aus, dachte er. Und sie war es. Er nahm sie in den Arm, und sie ließ es geschehen. Zuvor hatte er es sich nicht getraut. Sie roch aufregend nach Rosen, und es fiel ihm schwer,

Sie fuhren in Walzers Käfer nach Limburg, diese durch und durch schwarze Stadt mit dem alles beherrschenden Dom, und dann an der Lahn entlang nach Gießen. Im trägen Fluss spiegelten sich Bäume und Büsche, am Abend färbte die Sonne das Wasser rot. Unterwegs speisten sie in einem Dorf in einer Gaststätte, und es war schon normal, dass er immer wieder einmal ihre Hand nahm und sie eine Weile hielt. Hand in Hand verließen sie die Gaststätte. Was sie gegessen hatten, wusste er da schon nicht mehr. Seitdem trug er den Zauber eines Tages mit grauem Himmel in sich, aus dem es hin und wieder tröpfelte, bis der Sonnenuntergang alles in seinen Kitsch eintauchte. Die Erinnerung an diese Stunden trübte sich nie, nicht einmal, nachdem er ihre schwarze Seite kennengelernt hatte. Die schwarze Seite, so nannte er das.

***

Plötzlich stand Georgie vor ihm, im Standardoutfit: Mützenjacke, Jeans, Turnschuhe. Er sah dünner aus als sonst, und als Stachelmann das Gesicht seines Freundes musterte, entdeckte er die Spuren des Schlafmangels, die Augen waren kaninchenrot. Zwar hatte Georgie vor ein paar Tagen eher nebenbei gesagt, dass er Stachelmann unterstützen wollte bei dieser trostlosen Restitutionssache Rosenzweig, aber das glaubte Stachelmann erst in diesem Augenblick, als Georgie tatsächlich im Lesesaal des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde aufgetaucht war. Stachelmann deutete auf den Platz neben sich und schob einen Aktenordner hinüber. »Wir suchen Verträge, Briefe mit Zusicherungen oder Ähnliches.«

Georgies Autismusübungen konnten ihn nicht mehr irritieren, er nahm sie hin wie Naturgewalten. Immerhin blätterte Georgie in dem Ordner, und er blätterte nicht nur, sondern las auch, wie Stachelmann in einem von Georgie genau registrierten Seitenblick feststellte. Stachelmann wusste, dass er jetzt keinerlei Kritik andeuten

»Heute Abend bin ich mit einem Kollegen bei dem Italiener auf der anderen Straßenseite verabredet«, flüsterte Stachelmann, um sich Anraunzer von Lesesaalnutzern zu ersparen, die aber nichts daran fanden, andere mit dem Windows-Start-Sound zu beglücken, wenn sie ihre Notebooks einschalteten.

»Ich komme mit«, sagte Georgie. Er war wirklich unberechenbar.

 

Rehmer wartete schon und blickte einen Augenblick verwirrt, als er erkannte, dass Stachelmann nicht allein auftauchte. Er schien unwirsch zu werden, jedenfalls runzelte er die Stirn, und die Augenlider flatterten ein wenig, als weigere er sich, Georgie anzusehen. Doch dann erhob er sich und begrüßte erst Stachelmann und dann Georgie, nachdem dieser ihn als seinen Mitarbeiter vorgestellt hatte. Danach saßen sie schweigend am Tisch. Ein kräftiger Mann mit dickem Bauch erschien, er hielt eine Tafel in der Hand, auf der die aktuellen Gerichte geschrieben standen. Rehmer blinzelte wieder – vielleicht war das seine Masche und hatte nichts mit Georgie zu tun –, dann bestellte er einen gegrillten Wolfsbarsch und einen Pinot Grigio. Beim Wein schloss Stachelmann sich an, entschied sich aber für den Lachs, wogegen Georgie eine Cola bestellte und Spaghetti Bolognese. Daraufhin verschwand der Mann mit der Tafel, und sie schwiegen wieder. Gemurmel, Lachen, Klappern von anderen Tischen füllte den Raum, dann auch zischend die Espressomaschine.

»An was arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«, fragte Stachelmann, um das Schweigen zu brechen.

Rehmer wiegte seinen knochigen Schädel hin und

Stachelmann unterdrückte ein Gähnen. Die Furcht des einen Historikers vor dem anderen Historiker, vor dem geistigen Diebstahl, wie albern. Stachelmann hatte noch nie ein Geheimnis gemacht aus seinen Projekten, und er war noch nie bestohlen worden.

»Und Sie?«, fragte Rehmer.

»Eine Restitutionssache, eine elende Sucherei nach Verträgen und Briefen, die angeblich beweisen, was mein Auftraggeber behauptet. Ohne Grundbucheinträge läuft bei Immobilien kaum etwas, da muss man schon Handfestes auf den Tisch legen. Und das will und soll ich finden. Am Ende geht’s um das liebe Geld, wie immer.«

»Und finden Sie es?«

»Glaube ich nicht.« Stachelmann spürte die Mutlosigkeit, die ihn überwältigen wollte. Gut, er wurde bezahlt für diesen Job, aber Erfolglosigkeit kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Er würde zwar das Honorar für die Suche kassieren, aber er hätte ein schlechtes Gewissen dabei.

»Bei meinem Projekt geht es auch um Geld. Um Millionen, Milliarden vielleicht«, sagte Rehmer plötzlich. Er wiegte wieder den Schädel, als könnte dies seine Aussage noch bedeutender machen.

»Und wann werden Sie darüber schreiben?«

Rehmer hob die Achseln und ließ sie langsam wieder sinken. »Das kann noch Jahre dauern. Ich muss verschlungenen Pfaden folgen, keineswegs nur in Archiven. Keineswegs. Ich bin eigentlich erst am Anfang meiner

Georgie musterte den Mann wie beiläufig und stierte dann auf eine weit entfernte Stelle, die nur in seinem Auge lag. Stachelmann kannte den Blick. Georgie hielt Rehmer offenbar für einen Aufschneider. Das mochte sein. Und Georgie langweilte sich, aber vermutlich hätte ihm in seinem tristen Zustand auch die spannendste Geschichte der Welt bestenfalls ein herzhaftes Gähnen abgenötigt.

»Und was zeichnet sich ab?«, fragte Georgie mit Ungeduld in der Stimme.

»Ein Komplott, ein gigantisches Komplott. Eine der größten Verschwörungen der Weltgeschichte.«

»Hm, das war ja eine Schnarchnase«, brummte Georgie beim Frühstück im Haus Morgenland. »Eine große Verschwörung«, äffte er Rehmer nach. »Millionen, vielleicht Milliarden.«

Stachelmann senkte die Zeitung ein Stück und grinste Georgie über dem Rand an. Immerhin schien sich dessen Laune zu bessern. Er hob die Zeitung wieder und vertiefte sich in die Berliner Landespolitik, also in Fragen, die er ein paar Minuten nach der Lektüre vergessen haben würde. Er senkte die Zeitung wieder ein paar Zentimeter, sodass er Georgie gerade in den Blick bekam, der lustlos auf einem Schinkenbrötchen herumkaute. »Vielleicht ist da ja was dran?«

Georgie schüttelte nur den Kopf.

Der Abend war nicht prickelnd gewesen. Rehmer hatte rätselhafte Bemerkungen über sein großes Geheimnis geraunt, das Essen war gut, und natürlich hatten sie zu viel getrunken, was nach Stachelmanns Meinung allein an Rehmer lag, der einfach zu langweilig war, um einen auf bessere Ideen kommen zu lassen. Er war Dozent an der Leipziger Uni, widmete sich seit einigen Monaten aber nur noch seiner Verschwörung. Der Kollege erschien Stachelmann wie einer von diesen Spinnern, die glaubten, die CIA und womöglich der Mossad, denn Juden hatten ja immer die Finger drin, hätten die Twin Towers zerstört oder die zersetzte Heimatfront hätte dem Kaiser den sicheren Sieg im Ersten Weltkrieg geraubt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Mann angefangen hätte, antisemitische Sprüche abzusondern, aber er hatte

Stachelmann faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Er trank seinen Tee aus, schaute Georgie streng an und sagte mit mahnendem Unterton: »Die Arbeit ruft. Ich geh noch mal aufs Zimmer und dann ins Archiv. Wenn du deine Mitwirkung für erforderlich hältst …«

»Jawoll, mein Führer!«

Georgie sprang auf und salutierte. Dann zog er ab in Richtung Treppe.

 

Draußen pfiff ein kalter Wind, der Himmel war blassblau, das Sonnenlicht fast weiß. Ein Mülllaster dröhnte vorbei und zog eine schwarze Dieselwolke hinter sich her. Auf dem Weg zum Archiv redeten sie kein Wort. Stachelmann schaute auf die Uhr, es war schon nach zehn, er würde gleich zum Kopierraum gehen. Er sagte Georgie, er solle schon mal die Akten im Lesesaal besorgen, er komme gleich nach. Sie gingen aber zunächst in den Aufenthaltsraum, wo sie ihre Jacken und Taschen in Spinden einschlossen, und Georgie besorgte sich am Automaten einen Kaffee, um zu zeigen, dass er selbst sinnvolle Vorschläge als illegitime Anweisungen missverstand und nicht daran dachte, ihnen sofort zu folgen. Wenn überhaupt. Stachelmann verließ den Aufenthaltsraum und ging im langen Flur nach rechts, um wenige Meter weiter links an einer Tür zu klopfen. Es rührte sich niemand im Kopierraum, und er klopfte kräftiger.

***

»Sie verstehen das Problem nicht«, sagte er und klopfte mit den Fingerspitzen ungeduldig auf dem Tisch. »Es geht hier nicht um Kleinscheiß, um Verordnungen, nicht mal um Gesetze, es geht hier ums Ganze.« Er fügte fast pathetisch hinzu: »Um unser Land!«

»Natürlich, Herr Franticek, natürlich. Aber …«

»Nichts aber!« Moritz Franticek stand auf und zeigte sich in seiner Größe. Das machte er gern, weil er wusste, dass seine mächtige Gestalt andere beeindrucken konnte, zumal solche kleinwüchsigen Waschlappen wie diesen Bedenkenträger Schmidt. Horst Schmidt, die Inkarnation des feigen Bürokraten, der schon vor der Geburt an seine Pensionsansprüche dachte und dessen Urangst es war, diese zu verlieren. Der morgens ins Amt hastete und abends pünktlich nach Hause eilte, wo eine verhärmte Ehefrau nach einem Tag des nutzlosen Putzens und Verschönerns das ewig gleiche Abendbrot auf den Tisch stellte, ein Wurst- oder Käsebrot und eine Flasche Bier. Und wo Schmidt aus dem Büro den Langweilerkram erzählte, weil er die Wahrheit nicht erzählen durfte. Davor hätte er sowieso viel zu viel Angst gehabt. Manchmal erschien es Franticek, der Mann bestehe aus seiner Angst und sonst nichts, kein Fleisch, kein Blut. Er

Franticek fuhr mit der Hand durch seine widerspenstigen roten Locken, die hinter der Stirnglatze wuchsen. So tat er seine Verzweiflung kund über den Umstand, dass er mehr mit den Widrigkeiten im Amt kämpfen musste als mit den Feinden draußen. Von denen gab es viele, und er kannte sie alle in ihren wechselnden Verkleidungen und Namen. Er war ein alter Fahrensmann, dem niemand etwas vormachen konnte. Das glaubte er, und das wussten seine Vorgesetzten. Heute Abend würde er sich in eine Kneipe am Domplatz setzen, eine Zigarre rauchen und ein Kölsch trinken, vielleicht auch zwei, bevor er sich in seiner winzigen Zweizimmerwohnung in der Stolkgasse noch einen Weinbrand gönnte und früh schlafen ging. Wer früher schläft, ist länger wach.

***

Das Erste, das ihm einfiel, war: »Scheiße.« Er hatte Tote gesehen, und einmal hatte er einen Menschen erschossen. Stachelmann wusste, wie das war, aber der Tote vor seinen Augen ließ ihm trotzdem den Magen verkrampfen und Hitze aufsteigen. Er war auf einen Schlag schweißnass. Ihm wurde übel. Seine Hand war plötzlich vor seinen Augen, und die Hand zitterte. Vier, fünf Sekunden stand er starr, bis er endlich das Handy aus der Tasche holte und mehr instinktiv die 110 wählte. Er

Er hörte, wie sich Schritte im Gang näherten, und ihn packte die verrückte Idee, der Mörder komme zurück. Aber es war nicht der Mörder, es war die Kopierfrau, die hinter ihm stehen blieb und nichts sagte, wo Stachelmann einen Schrei erwartet hatte.

»Ich habe die Polizei angerufen«, sagte er, aber es war nicht seine Stimme, er quetschte es mehr aus der Kehle. Er starrte immer noch auf Rehmers Leiche.

Esther antwortete nicht. Sie schlich weg.

Stachelmann drehte sich um und trat auf den Gang. Dann schloss er die Tür des Kopierraums und setzte sich daneben auf den Boden. Sofort schoss ihm der Schmerz in Rücken und Knie, und er quälte sich hoch. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er sich nicht entfernen durfte von der Leiche. Er war dazu bestimmt, aufzupassen, dass niemand mehr diesen Anblick ertragen musste außer denen, die es von Berufs wegen taten. Er fürchtete die Reaktionen der anderen, ihre Hysterie, ihr Geschrei, ihr Weinen, sein Erschrecken würde nur wachsen, wenn andere Rehmer sahen. Er fand es grausam, dass ausgerechnet er die Leiche gefunden hatte, und noch grausamer, dass er hier warten musste, neben der Leiche, so empfand er es, obwohl eine Tür zwischen ihnen lag. Das ist nicht gerecht, dachte er, und das war es auch nicht. Ein merkwürdiger Gedanke, gab er sich zu.

Dann stand Georgie neben ihm, er hatte ihn nicht kommen sehen, obwohl er doch so hoffte, dass ihn endlich jemand aus dieser Lage befreite. Die Polizei, die Gerichtsmedizin, er kannte das alles. Wo blieben sie?

Stachelmann schüttelte den Kopf. »Eine Leiche.« Er deutete auf die Tür und hielt Georgie am Oberarm fest, als der zur Tür gehen wollte, um sie zu öffnen. »Glaub mir, du brauchst das nicht zu sehen.«

Georgie befreite sich mit einem Ruck, fast wütend, und öffnete die Tür. Stachelmann hatte den Bruchteil einer Sekunde gehofft, die Leiche liege nicht mehr da und er habe eine Halluzination gehabt. Aber sie lag da, Georgies Körper verdeckte nur einen Teil, und das Gemisch aus Hirnmasse und Blut hatte inzwischen das Tischbein eingeschlossen. Georgie würgte, behielt es aber in sich. Dann wandte er sich ab und schlug die Tür zu. Sie fiel ins Schloss, der Knall schoss durch den Gang. Stachelmann fuhr zusammen, aber der Schreck weckte ihn aus seiner Lethargie.

»Gestern haben wir mit ihm gesprochen, heute Vormittag ist er tot.«

Georgie war grün im Gesicht. »Das ist wie bei der … Mafia«, stotterte er. Und dann: »Das liegt an dir. Immer wenn ich mit dir unterwegs bin, gibt’s eine Leiche.« Er glotzte Stachelmann an, als wäre dieser der Sensenmann.

Stachelmann winkte ab. Er lehnte sich an die Wand gegenüber der Tür.

»Wo ist Esther?«, fragte Georgie.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich da.« Er zeigte auf die Tür zur Damentoilette. Georgie lehnte sich neben Stachelmann an die Wand. Sie schwiegen. Stachelmann versuchte seine Fassung zu finden, doch er fühlte sich wie ausgehöhlt, leer, unendlich leer.

Er hörte eine Autobremse, dann weitere. Blaulicht blitzte durch die Fenster. Schnelle Schritte im Flur, und als sie um die Ecke bogen, sah er die Polizisten. Zwei Männer und eine Frau in Zivil, vier in Uniform.

Die Uniformierten standen unschlüssig herum, bis der Chef sie anwies, den Tatort abzusichern. Sie schlossen die Tür und stellten sich davor auf. Es sah lächerlich aus.

Der Chef ging zu Stachelmann und Georgie. »Wer hat die Leiche gefunden?« Er hatte eine Metallstimme, die gar nicht passte zu seinem fettigen Vollmondgesicht. Und er hatte Fischaugen.

»Wie heißen Sie?«, fragte Stachelmann.

»Weber, Kriminalhauptkommissar.«

»Ich habe die Leiche gefunden. Dr. Josef Maria Stachelmann.«

Weber schaute ihn ein wenig ungläubig an, dann fragte er: »Haben Sie etwas verändert am Tatort?« Es klang so, als ginge er davon aus.

Frau Bestler, die hübsche Archivarin, die Stachelmann schon manches Mal geholfen hatte, kam vorbei, blieb einen Augenblick stehen, hielt die Hand vor den Mund, wandte sich an Stachelmann und sagte nur: »Die Kopierfrau, Esther …«

»Wer sind Sie denn?«, fuhr Weber sie an.

»Bestler, Archivoberamtsmännin«, sagte sie mechanisch.

»Haben Sie etwas gesehen oder gehört? Sind Sie Zeugin?«

Frau Bestler schüttelte nur den Kopf, dann ging sie zurück in Richtung Lesesaal, sie wankte ein wenig, als hätte sie Gleichgewichtsstörungen.

 

»Ein wenig«, sagte Stachelmann.

»Was heißt das?« Unwirsch.

»Ich … wir haben gestern mit ihm gegessen bei dem Italiener.« Er zeigte mit dem Finger dessen ungefähre Lage an.

»Wir?«

»Mein Freund und ich.«

Ein skeptischer Blick.

»Der steht vor der Tür. Stand er jedenfalls vorhin noch.«

»Woher kannten Sie Rehmer?«

»Von hier. Und vorher habe ich ihn kurz auf einem Kongress getroffen.«

»Hat Rehmer gestern oder bei anderer Gelegenheit irgendetwas gesagt, das Ihnen besonders auffiel, das womöglich etwas mit der Tat zu tun haben könnte?«

Darüber hatte Stachelmann schon nachgedacht. »Eigentlich nicht. Er hat von einer Riesensache gesprochen, aber das bezog er auf eine Archivrecherche.«

»Was für eine Recherche?«

»Ich weiß es nicht. Er wollte es nicht erzählen. Ich fand, er übertrieb es ein bisschen mit der Geheimnistuerei.«

»Geheimnistuerei«, wiederholte der Hauptkommissar. Er griff nach einem Bleistift auf dem Schreibtisch und begann damit zu spielen. Dann fragte er: »Haben Sie irgendetwas oder irgendjemanden beobachtet?«

Stachelmann schüttelte den Kopf. »Es muss ein Benutzer oder Mitarbeiter gewesen sein«, fiel ihm ein.

Weber schaute ihn wieder skeptisch an und nickte. »Das ist vermutlich so.« Dann warf er einen Blick zu

»Geheimnistuerei«, sagte er dann, und er kniff seine Augen zusammen, als fiele es ihm gerade wieder ein.

»Das gibt es manchmal bei Historikern«, sagte Stachelmann. »Das sind meistens Wichtigtuer, die spielen sich auf.«

Weber nickte. Er legte den Bleistift zurück auf den Schreibtisch.

»Aber in diesem Fall könnte was dran sein«, sagte Stachelmann. »Vielleicht hat er was herausbekommen? Obwohl, er hatte nichts publiziert, und diese Geheimnistuerei … wie soll da jemand auf ihn kommen?«

»Geben Sie meinem Kollegen Ihre Personalien. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt …« Er schob eine Visitenkarte über den Tisch.

Georgie wartete draußen. »Und? Haben sie dich verhaftet?«, fragte er betont humorig.

»Nein, noch nicht.«

»Irgendwas Erhellendes?«

Stachelmann schüttelte den Kopf. »Fällt dir irgendwas ein, was der Rehmer gestern Abend rausgelassen hat?«

Georgie weitete die Augen. »Das war doch nur Gewäsch.«

»Wirklich?«

***

Franticek war erleichtert. Er betrieb keinen Sport und war bei diesem Bürobasketball daher umso ehrgeiziger. Er notierte den Treffer in dem Block, der an der Seite seines Schreibtisches lag. Heute noch kein Fehlwurf. Immerhin.

Aber sonst herrschte Langeweile, Verwaltungskram, und auch wenn das ganze Land glaubte, der Verfassungsschutz würde Tag und Nacht islamistische Terroristen verfolgen, hatten die meisten V-Männer und ihre Führer oft nichts zu tun. Und wenn, dann infiltrierten sie irgendwelche bedeutungslosen linksradikalen Splittergruppen oder Nazis, die längst so durchsetzt waren mit Spitzeln, dass selbst das Amt oft nicht wusste, wer Nazi war und wer vom eigenen Laden.

Franticek interessierte sich nur für die großen Fälle, das erlaubte ihm seine Position, und er gestattete sonst nur, dass die jungen Leute ihn um Rat fragten. Franticek war nämlich ein Ass, der Mann, der das Projekt Pluto leitete, die geheimste Operation des Bundesamts. Nur durch ihn war alles in ruhige Bahnen gekommen. Ohne ihn hätte es längst die Mutter aller Skandale gegeben, die die Republik tatsächlich erschüttert hätte. Er war stolz auf sich. Aber das hinderte ihn nicht daran, wachsam zu bleiben. Jeden Tag analysierte er die Informationen, die über Pluto bei ihm eingingen. Meistens waren es nur ein, zwei Zeilen, selten mehrere Seiten, zumal seit diese Leute die Sache wieder im Griff hatten.

Er knüllte ein Reisekostenformular zu einer Kugel, zielte kurz, wobei er die Papierkugel in der Hand nach vorne und nach hinten wiegte, und warf endlich.

***

Sie stand einfach da und schrie. Ihr Gesicht war verzerrt, nicht wiederzuerkennen, und aus den Augen quollen Tränen. Die Schreie waren entsetzlich, er hielt sie nicht aus. Als er sie zum ersten Mal gehört hatte, war er in eine Art Schockstarre verfallen, völlig unfähig zu reagieren. Der Ausbruch kam ohne jede Vorwarnung, und dann herrschte im Schlafzimmer nur noch das Schreien. Er wunderte sich, dass ein so zarter Körper solche Laute erzeugen konnte. Dann endete die Schreiphase, und es folgten die Anwürfe. Er sei fremdgegangen, mit dieser Frau soundso, er wisse schon, die hübsche Blonde, die habe er ihr aus Gemeinheit sogar vorgestellt bei diesem Empfang letzte Woche.

Inzwischen wusste er, es hatte keinen Sinn, über diese Anschuldigungen zu diskutieren. Es waren Wahnvorstellungen. Bei den ersten Ausbrüchen hatte er die Tatsachen genannt, alles genau begründet, quasi gerichtsfest, aber es hatte nichts geholfen. Es hatte sie nur misstrauischer gemacht, sofern das möglich war. Er hatte mit seinem besten Freund, einem Tageszeitungsredakteur, mehrfach darüber gesprochen, aber Reinhard Stabel fiel nur ein, dass Aurelia einen Psychologen aufsuchen solle. Tatsächlich schlug Walzer ihr das in einem Augenblick der Verzweiflung vor und erntete nur einen weiteren Ausbruch, nachdem der vorherige gerade erst abgeklungen war. Nein, sie bilde sich das nicht ein, aber das wolle er ihr einreden. Der Psycho solle sie nur abstumpfen lassen, sie vollpumpen mit diesen Präparaten, die ihr die Sensibilität rauben würden, damit sie nichts mehr merke. Sie

***

»Du spinnst«, sagte Georgie in normaler Lautstärke. »Die ist halt schlecht gelaunt.«

»Halt die Klappe«, flüsterte Stachelmann, »wenn du das hier überleben willst. Und außerdem, wenn jemand jeden Tag schlecht gelaunt ist, dann ist das keine schlechte Laune, sondern eine Depression oder was noch Schlimmeres.«

Jetzt war Erika in Sichtweite. Stachelmann schien das Gesicht noch verkniffener als sonst. Ihre Blicke waren kälter als der Nordpol, und die Speisen landeten mit

Sie rückten wieder zwei Schritte nach vorn. Da stieß ihm Georgie den Ellbogen in die Rippen. Der Schmerz war kurz, aber heftig. Bevor Stachelmann ihn anschnauzen konnte, zischte er: »Sie hat den bösen Blick! Den hab ich noch nie gesehen, irre. Hm!«

Komisch, dachte Stachelmann, wie schnell man über einen Mord hinweggehen kann. Erika, das Essen, die Kantine, ihre Besucher, alles war wie immer.

»Was gesagt?«

Stachelmann bedachte kurz die Gefahren der Zentrifugalkraft am Beispiel einer Spaghettigabel, holte sich dann zurück ins Gespräch, aber nicht ohne sich zu wundern, welch absurde Ideen einem ins Hirn geblasen werden konnten. »Ich habe das Gespräch noch einmal rekapituliert und überhaupt nichts entdeckt, das helfen

Holmes,