Victor Chu

Vaterliebe

Klett-Cotta

Impressum

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© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Sylwia Nowik/Fotolia

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98063-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10954-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

I. Einführung

Mut zu mehr Kontakt zwischen Kindern und Vätern

Der junge und der alte Vater

Vaterferne

Die Krise der Männlichkeit und Väterlichkeit

Junge Männer fallen gegen junge Frauen zurück

Männliche Scham

Umweltzerstörung, männlicher Größenwahn und männliche Destruktivität

Die männliche Natur ist hart und weich: das Yin-Yang-Prinzip

Väterlichkeit als Ausdruck reifer Männlichkeit und männlicher Reife

II. Zur Geschichte der Väter seit den Weltkriegen

Mein Vater

Familie und Zeitgeschichte: Die Weltkriege und ihre Folgen

Transgenerationale Traumatisierungen

Traumatisierte Soldaten

Schuldig gewordene Väter

Kriegskinder

Nachkriegskinder

Zusammenfassung: Auswirkungen der Weltkriege

Den Krieg abschaffen, indem wir den Krieger in uns kultivieren

Die Wut in Mitgefühl umwandeln

Aggressivität, Strenge und autoritäres Verhalten der Väter

Männlicher und weiblicher Narzissmus

Die Liebe und Anerkennung durch den Vater

III. Vorbereitung auf die Vaterschaft

Wozu Kinder? Über den Sinn des Vaterwerdens

Was gewinnt ein Mann, wenn er Vater wird?

Die Entwicklung eines Jungen von der Geburt bis zur Vaterschaft

Das Erlernen von Intimität und Bindungsfähigkeit

Adoleszenz oder Junggesellenzeit – die Vorbereitungszeit fürs Vatersein

Vom Junggesellen zum Vater

IV. Vater werden, Vater sein

Schwangerschaft – Die Entscheidung für oder gegen das Kind

Die Entscheidung gegen das Kind

Der Schwangerschaftsabbruch

Nach dem Schwangerschaftsabbruch

Die Geburt

Das gemeinsame Erleben der Geburt des Kindes

Die erste Begegnung mit dem Neugeborenen

Narzisstische Spiegelung: Vaterstolz und Vaterscham

Der Vater in der Säuglings- und Kleinkindzeit

Die Gorilla-Funktion: Der Vater als Schutz für die Mutter-Kind-Dyade

Triangulierung: Der Vater als das andere Gegenüber fürs Kind

Die spaltende Dreiecksbeziehung – die Kehrseite der Triangulierung

Das soziale Umfeld nach der Geburt

Multitasking: Die familiäre Arbeitsteilung

Hindernisse für eine egalitäre Arbeitsteilung

Der spannende Übergang von der patriarchalischen Ordnung zu einer egalitären Gesellschaft

Traditionelle (patriarchalische) Arbeitsteilung

Egalitäre Arbeitsteilung

Die vielen Entwicklungsstränge während der Elternschaft

Die aktuelle Lebenssituation der Eltern, ihre Lebens- und Familienplanung

Der Alltag mit Baby und Kind(ern)

Die kindliche Entwicklung

Eltern durchleben, parallel zur Entwicklung ihrer Kinder, noch einmal ihre eigene Kindheit

Das Verhältnis zu den eigenen Eltern

Die Paarbeziehung

Die Familientradition

Der Einfluss der Zeitgeschichte

Die aktuelle gesellschaftliche Situation

Der Vater in der ödipalen Phase und der Pubertät

Infragestellung der elterlichen und gesellschaftlichen Normen

Suche nach der eigenen Identität, dem eigenen Lebenssinn und einer spirituellen Anbindung

Die Entdeckung der eigenen Sexualität

Die Midlife-Crisis der Eltern inmitten der Pubertät der Kinder

Parentifizierung in der Pubertät: Das Kind wird zum Berater der Eltern

Der Vater als berufliches Vorbild

Die Bedeutung des Berufs des Vaters für die Kinder

Identifikation mit dem Vater

Der Blick des Vaters aufs Kind

Identifikation und Projektion

Delegation

Die kompensatorische Funktion mancher Berufe

Geld und Selbstwert

Väter und Töchter

»Wie siehst Du mich als Tochter?« – Der Vater formt das Selbstbild der Tochter als Frau

Im Vater findet die Tochter die Bestätigung oder die Ablehnung ihrer Weiblichkeit

Der väterliche Schutz für die Tochter

Die Selbstwürde des Vaters

Die Scheu zwischen Vätern und Töchtern

Vater und Tochter in der Pubertät

Inzest

Der Vater prägt das Bild der Tochter in Bezug auf ihre intellektuellen und technischen Fähigkeiten

V. Vaterferne, Vatermangel und Vatersehnsucht

Sollen wir uns an den Vater anlehnen oder ihn von uns wegschieben?

Vaterferne und ihre Gründe

Die biologische Ungebundenheit des Mannes

Die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie

Das Christentum – eine vaterlose Religion?

Die patriarchalische Gesellschaftsordnung als Versuch, den flüchtigen Mann an die Familie zu binden

Der Niedergang der patriarchalischen Ordnung

Werden Männer und Väter entbehrlich?

Die Bindung des Vaters an die Familie

Die Sehnsucht des Kindes nach dem Vater

Die Faszination des Vaters fürs Kind

Symptome des Vatermangels bei Männern

Symptome des Vatermangels bei Frauen

VI. Die Beziehung zum Vater erneuern

Odyssee und Heimkehr des verlorenen Vaters – oder: Wie können Väter zu ihren Kindern zurückfinden?

Wie kommt es, dass Väter immer wieder, wie einst Odysseus, Frau und Kind verlassen und in die weite Welt gehen? Was könnten die Gründe dafür sein?

Der abgelehnte und zurückgewiesene Vater – oder: Was können erwachsene Kinder tun, um die Beziehung zum Vater wiederherzustellen?

VII. Zerbrochene Familien und alternative Familienformen

Partnerschaft und Elternschaft

Die sexuelle Beziehung der Eltern und ihre Auswirkung auf die Kinder

Krisen in der Paarbeziehung

Herkunft und Identitätsgefühl des Kindes

Familienaufstellungen fragmentierter Familien

Getrennte Eltern, getrennte Familien und Ein-Eltern-Familien

Alleinerziehende Eltern

Versöhnung zwischen den getrennten Eltern

Tiefere Gründe fürs Alleinerziehen

Alleinerziehende Väter

Patchworkfamilien

Transgenerationale Beziehungskonflikte

Wie geht es Kindern in einem Patchwork- oder Stieffamilie?

Einige Empfehlungen an Patchwork-Eltern

Empfehlungen an beide Eltern:

Empfehlungen für das vom Kind getrennten Elternteil (meistens ist es der Vater):

Empfehlungen für den Elternteil, der das Kind bei sich behält und aufzieht (meist ist es die Mutter):

Kuckuckskinder, Kuckuckseltern

Die Mutter

Der biologische Vater

Der Scheinvater

Das Kind

Die Genderfrage – oder: Ist die Familie nur ein Konstrukt?

Zum gesellschaftspolitischen Diskurs über die Vaterrolle

Zum Gender Mainstreaming

Zur Frauen- und Männeremanzipation

Zur Heteronormativität

Zu Ein-Eltern-Familien

VIII. Eltern und Großeltern

Elternsein im Alter

Die Fürsorge für die eigenen Eltern

Wenn wir Großeltern werden

IX. Vaterliebe

Vaterliebe – was sie so kostbar und einzigartig macht

Wieso kann Vaterliebe einem Mann so viel geben?

Vatersein ist etwas ewig Werdendes, nie Fertiges

Was ich mir wünsche

Empfehlungen an Väter

Anmerkungen

Literaturhinweise

Meiner Frau

I. Einführung

Unser jüngster Sohn ist vorgestern nach Neuseeland geflogen – für ein ganzes Jahr. Damit ist unsere Elternzeit zu Ende, zumindest der aktive Teil davon. Dreiunddreißig Jahre sind meine Frau und ich als Eltern gefordert gewesen, so lange reichte die Zeit von der Geburt unserer ältesten Tochter bis zum Erwachsenwerden unseres jüngsten Kindes. Eine lange Zeit. Ein Großteil unseres bisherigen Erwachsenenlebens. Darüber sind wir alt geworden. Als wir gestartet sind, waren wir jung, dynamisch und voller Zuversicht. Wie unschuldige Kinder sind wir ins Elternsein hineingestolpert. Nun sind wir, nach vier Kindern, älter, ruhiger, besonnener geworden. Damals ging es ungestüm ins Erwachsensein. Wir waren froh, das Elternhaus und den ganzen Mief, den ganzen Ballast, der daran hing, hinter uns zu lassen. Heute fühle ich mich selbst im verlassenen Nest zurückgelassen, wie die Hülle eines Kokons, die nicht mehr gebraucht wird. Heute kann ich nachfühlen, wie es meinen Eltern erging, als ich ins Erwachsenenleben aufgebrochen bin.

Das Leben geht nicht linear. Es verläuft spiralförmig. Solange man keine Kinder hat, erscheint das Leben wie eine gerade Linie, die mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Wenn man Eltern wird, merkt man, dass man dorthin zurückkehrt, wo man gestartet ist. Diesmal befindet man sich aber in der komplementären Rolle. Damals waren wir Kinder und hatten Eltern, die uns versorgten und für uns da waren. Heute sind wir die Eltern und sorgen für unsere Kinder. Jetzt sind sie die Jungen, Dynamischen, die vorwärts stürmen, während wir, wie die zweite Stufe einer dreistufigen Rakete, zurückfallen. Die erste Stufe waren unsere Eltern, die schon längst zurück zur Erde gefallen sind. Nun sind wir diejenigen, die zurückbleiben und unseren Kindern viel Glück auf ihrer Lebensreise wünschen.

Wenn wir Eltern werden, realisieren wir, wie sich das Leben fortsetzt, von Generation zu Generation. Nicht wie eine ewig gleiche Wiederholung. Zwar wiederholt sich manches. Wir erkennen in der Art und Weise, wie wir unsere Kinder behandeln, und in den Liedern, die wir unseren Kindern singen, vieles, was wir einst von unseren Eltern aufgenommen haben und nun weitergeben. Aber wir tun etwas Neues, etwas Persönliches hinzu. Wir verwerfen Altes, etwa überkommene Erziehungsmethoden, die wir nicht mehr für zeitgemäß halten, und verleihen dem Elternsein unsere eigene Note. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, dass vieles, was wir als Eltern tun, nicht allein von uns stammt, sondern von ganz weit aus der Vergangenheit herüberweht.

Als »Raketenstufe« fühlen wir uns wie ein Zwischenglied in einer endlos langen Kette. Wir nehmen die Energie von hinten auf, integrieren und verwandeln sie in uns, um sie dann an unsere Kinder weiterzugeben. Und wie eine Raketenstufe können wir spüren, ob die Schubkraft von hinten stark oder schwach ist. Ist sie stark genug, dass wir gut vorwärts kommen und sie weitergeben können? Oder ist sie so schwach, dass wir in unserem eigenen Leben stagnieren und verzagen, kaum fähig, irgendetwas in die Zukunft zu investieren? Die Schubkraft von hinten entscheidet auch darüber, ob wir uns zutrauen, Kinder zu bekommen oder nicht.

Dabei spielt die Vaterliebe eine entscheidende Rolle. Wie wichtig Mutterliebe ist, wissen wir heute hinlänglich. Die Mutter spielt zu Recht die zentrale Rolle im Heranwachsen eines Kindes. Vom Moment der Zeugung an ist sie dem Kind ganz nahe. Dies setzt sich fort in der Schwangerschaft, der Geburt und der Stillzeit. Darüber wird jedoch der Vater oft übersehen, wie auf den Weihnachtsbildern, wo sich alle Aufmerksamkeit aufs Christkind und seine Mutter Maria konzentriert, aber Joseph höchstens als Nebenfigur im Hintergrund zu finden ist.

Ist der Vater wirklich so unwichtig? In der Christusgeschichte wird die Vaterschaft Josephs verleugnet. Jesus stamme von Gott, aus einer Jungfrauengeburt. Joseph sei nur sein Ziehvater, ein gutmütiger Trottel, der bereit ist, sich seiner von wem auch immer geschwängerten Partnerin väterlich (!) anzunehmen und deren Kind großzuziehen. In manchen Darstellungen schaut Joseph aus gebührender Distanz gar skeptisch auf die Anbetung seines Stiefsohnes und dessen Mutter durch die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland. Ihm gilt deren Verehrung nicht, das ist klar!

Die stiefväterliche Behandlung Josephs wirft exemplarisch ein Licht auf die Art und Weise, wie Väter heute im Allgemeinen angesehen werden: Sie werden nicht selten als notwendiges Übel betrachtet. Eine wichtige Beigabe, damit Mutter und Kind materiell versorgt sind. Vielleicht auch noch als männliche Bezugsperson fürs Kind, die aber zur Not durch andere männliche Bezugspersonen ersetzbar sind. Da nicht jedes Kind göttlichen Ursprungs ist, braucht man eben einen irdischen Erzeuger.

Auf eine derartig schmale Bedeutung reduziert, nimmt es nicht wunder, dass viele Väter dazu neigen, sich selbst wegzurationalisieren. Sie versorgen ihre Familie zwar mit dem materiell Notwendigen, aber persönlich treten sie kaum auf. Wie einst Joseph halten sie sich im Hintergrund und überlassen die Kinder der Obhut der Mutter. Manche Väter kümmern sich zwar hingebungsvoll um Mutter und Kind, aber sie tun dies wie ein aufmerksamer Butler, der keine Beachtung für sich zu beanspruchen wagt. Ein Butler ist jemand, der unsichtbar ist, der aber zur Stelle ist, sobald man ihn braucht. Andere Väter trennen sich auf leisen Sohlen von Mutter und Kind und verweigern jegliche Unterstützung. Vatersein betrachten sie als Unfall oder Unglück.

Dabei ist es ein großes Glück, Vater zu sein. Vater zu sein kann den Gipfel darstellen, den ein Mann in seiner Entwicklung erklimmen kann. Aber wie beim Erklimmen eines Berges braucht es Entschlossenheit, Geduld und Durchhaltevermögen. Vater zu sein haben viele Männer nicht am Vorbild ihrer Väter lernen können – weil diese fehlten oder geistig abwesend waren. Es muss dann mühsam durch Versuch und Irrtum erlernt werden.

Wenn ein Vater sich in die Betreuung und Erziehung des Kindes engagiert, hat manche Mutter das Gefühl, er stört. Dann kommt leicht Rivalität zwischen Vater und Mutter auf. Dabei geht es beim Elternsein überhaupt nicht um Wettstreit. Richtiges Vater- und Muttersein kann man nur in Zusammenarbeit erreichen. Mütter und Väter können ihre Aufgabe nur dann vollständig erfüllen, wenn der geschlechtliche Gegenpart ebenfalls zur Stelle ist und seinen Teil beiträgt. Wenn man das andere Elternteil beiseite drängt, wird man leicht zur Übermutter oder zum Übervater. Dann gibt es eine Überversorgung auf der einen und eine Unterversorgung auf der anderen Seite. Für ein Kind gibt es nur beide Eltern. Als Kind seiner Eltern fühlt es sich erst vollständig, wenn es beide bei sich und in sich spürt. Wie Yin und Yang gehören Vater und Mutter zueinander.

Darum ist es so traurig, dass sich heute immer mehr Eltern trennen. Da die Mutter das Kind in sich getragen hat, da sie es ausgetragen und als Baby versorgt hat, hat sie meist die stärkere emotionale Bindung zum Kind. Deshalb bleibt die Mutter in den meisten Fällen nach einer Trennung beim Kind, und der Vater wird zum Gast. Ein Wochenend- oder Urlaubsvater ist aber kein vollständiger Vater. Er fehlt im Alltag des Kindes. Seine Anwesenheit und seine Präsenz fehlen. In der Seele des Kindes entsteht ein Loch, das manchmal bis zu seinem Lebensende weiter besteht und gefüllt werden möchte.

Vaterlosigkeit ist ein Symptom unserer Zeit. Das Patriarchat hat sich, zumindest in Westeuropa, im Laufe der letzten Jahrzehnte allmählich verabschiedet. Wir brauchen ihm keine Träne nachzuweinen. Es hat ausgedient. Aber mit ihm ist auch das Selbstbewusstsein der Männer zusammengebrochen. Als Konsequenz verschwinden die Väter zunehmend aus der Familie. Jungen fallen gegenüber Mädchen in ihrer Leistungsmotivation zurück und zeigen zunehmend apathische oder antisoziale Züge, während immer mehr Mütter sich als Alleinerziehende wiederfinden und ihre Frau zu stehen haben. So war Elternschaft nicht gemeint.

Wir brauchen in der Familie und in der Gesellschaft nicht nur selbstbewusste Frauen, wir brauchen auch selbstbewusste Männer – Männer, die zu ihrer Männlichkeit stehen. Nicht mehr als Macht oder als Dominanz über die Frauen (denn diese sind meist nur Zeichen innerer Minderwertigkeitsgefühle), sondern als klare männliche Kraft, die anders ist als die weibliche. Nicht als Ergänzung, sondern als eigenständige Position.

Dabei können wir das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Wenn Männer keinen guten Vater erlebt haben, wird es ihnen schwer fallen, selbst ein guter Vater zu werden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mir bei unserem ersten Kind vorgenommen habe, alles anders, alles besser zu machen als mein eigener Vater. Aber am Schluss musste ich zugeben, dass ich vieles ähnlich oder genauso wie mein Vater gemacht habe. Außerdem hat mir das Vatersein sehr viel Mühe gemacht. Ich musste es mir quasi aus den Fingern saugen. Ich wollte für meine Kinder da sein, aber in der Realität zog ich mich häufig zurück, überließ vieles meiner Frau, verschwand in der Arbeit – nicht viel anders als mein Vater es einst getan hat.

Aus dieser Erfahrung erwuchs die Erkenntnis: Ich kann nicht einfach aus eigenem Beschluss ein besserer Vater werden. Der Entschluss ist wichtig, aber er ist leider nicht ausreichend. Es war ein Versuch, mich wie einst Münchhausen selbst am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Beginnen musste ich mit dem, wovor ich weggelaufen bin: meinem eigenen Vater. Ich musste mich mit meinem Verhältnis zu ihm auseinandersetzen, ich musste auf die Suche nach meinem Vater und dem Vater in mir gehen. Dort war die Quelle für mein eigenes Vatersein.

Das war eine anstrengende, mitunter schmerzliche Reise in die Vergangenheit. Motiviert haben mich meine eigenen Defizite als Vater. Ich merkte, wie schwer es mir fiel, einfach präsent für meine Frau und meine Kinder zu sein, ohne innerlich mit etwas Drittem beschäftigt zu sein. Ich war zwar äußerlich da, im Gegensatz zu meinem Vater, der nur selten da war, aber innerlich war ich nicht selten abwesend. Ich war nicht voll präsent. Ich war nicht oder nur begrenzt ansprechbar. Ich habe oft nicht auf die Signale meiner Kinder geachtet, habe die subtilen Zeichen ihrer Sehnsucht nach mir und ihrer Liebe für mich übersehen. Ich war überrascht, wenn sie mir zeigten oder sagten, wie wichtig ich für sie bin. Denn ich dachte, ihre Mutter sei ihnen wichtiger.

Gleichzeitig bekam ich mit, wie mein Vater, der während meiner Kindheit kaum anwesend war und mich selten beachtet hatte, mit großer Freude Großvater für meine Kinder war. Wie sehr freute er sich, wenn er uns (sie) besuchte! Zwar war ich nicht eifersüchtig auf meine Kinder, ihnen habe ich den Großvater sehr gegönnt, denn ich kann mich nicht an meine Großeltern erinnern. Aber ich fragte mich: Wieso war er als Vater so anders als als Großvater?

Als ich meine Eltern mit unserem frisch geborenen zweiten Kind, unserem ersten Sohn, besuchte, legte ich ihn spontan meinem Vater in den Arm. Ich wollte, dass er ihn als Erster hält und liebkost (wohl, weil ich es für mich selbst als Kind gewünscht hätte). Aber er erschrak über das Kind in seinen Armen und reichte es blitzschnell, fast reflexartig, an meine Mutter weiter. Über diese Reaktion meines Vaters erschrak ich meinerseits. Ich habe gewollt, dass er meinen Sohn als Erster in den Arm nimmt, noch vor meiner Mutter: Der Sohn übergibt den Enkelsohn an den Großvater. Wie stolz wäre ich gewesen, wenn wir drei Männer zusammengestanden wären! Großvater – Vater – Enkel: Das wäre eine stolze männliche Ahnenreihe gewesen. Allerdings, das spürte ich, war er überhaupt nicht damit vertraut, ein Kind im Arm zu halten und zu wiegen, obwohl er sich von Herzen über das Enkelkind freute. Körperliche Nähe zu einem Baby kannte er wohl nicht. Als meine Mutter unseren Sohn im Arm hielt, stand er stolz daneben und freute sich. Aber er war eindeutig der Zweitrangige, derjenige, der daneben stand und zuschaute, wie seine Frau das Kind liebkoste.

Ich fühlte mich durch diese Szene in meiner Sehnsucht nach meinem Vater sehr enttäuscht. Ich suchte fortan nach den Gründen seiner Scheu vor dem direkten Kontakt mit mir. Dies war der Beginn meines aktiven Zugehens auf meinen Vater. Dies war ein innerer Prozess, der bis heute, viele Jahre nach seinem Tod, andauert. Darüber werde ich im Buch noch mehr berichten.

Wichtig ist hier die folgende Feststellung: je näher ich meinem Vater innerlich kam, desto leichter wurde mir mein eigenes Vatersein. Ich konnte mich mehr und mehr auf meine Kinder einlassen. Mittlerweile fühle ich meinen Vater körperlich in mir. Er umhüllt mich wie ein warmer Mantel. Dies gibt mir Sicherheit und Selbstvertrauen. Ich spüre seine Vaterliebe, und ich kann diese Liebe an meine Kinder weitergeben. So wie ich mich innerlich von ihm beschützt und behütet fühle, so begleite ich meine Kinder in ihr Erwachsenenleben. So wie mein Vater, wenn auch unsichtbar, heute für mich da ist, kann ich für meine Kinder da sein, wenn sie mich brauchen.

Vaterliebe ist etwas Unverwechselbares. Sie kann durch nichts ersetzt werden, weder durch Mutterliebe noch durch die Liebe eines Partners oder einer Partnerin. Ein guter Lehrer oder Mentor kann uns zwar auch ein gutes männliches Vorbild sein, aber er kann uns nicht das Gefühl geben, vom eigenen Vater geliebt und gesehen zu werden.

Der Blick aus den Augen des Vaters dringt tief in unsere Seele hinein. In ihm fühlen wir uns gespiegelt. Er ist das Original, wir sein Abbild. Wir sind zwar keineswegs eine bloße Kopie von ihm, jeder Mensch ist etwas Einzigartiges. Aber wir tragen seine Züge, wir bewegen uns wie er, wir sprechen wie er. Vom Original erkannt und als seine Fortsetzung wahr- und angenommen zu werden, gibt uns ein Gefühl von Identität und Stimmigkeit. Wir fühlen uns bestätigt, so wie wir sind. Natürlich muss in seinem Blick gleichzeitig die Anerkennung sein, dass er uns als eigenständige Person mit eigenen Wünschen und Interessen respektiert. Wenn wir beides erfahren können – dass wir sowohl seine Fortsetzung als auch eine eigenständige Person sind –, können wir getrost ins Leben aufbrechen und unseren eigenen Weg finden.

Wenn ich die Augen schließe und mich daran erinnere, wie er mich angeschaut hat, spüre ich seine Liebe für mich. Er sah mich als seinen Sohn und gleichzeitig als mich, so wie ich bin, und nicht so wie er mich gerne gehabt hätte. Ich erkenne den inneren Prozess, den er als Vater durchmachen musste. Er hat einst, wie jeder Vater, seine Wünsche und Sehnsüchte auf mich projiziert. Er wäre zum Beispiel stolz gewesen, wenn ich Naturwissenschaftler geworden wäre. Ich habe ihn enttäuschen müssen, denn meine Interessen gingen in eine andere Richtung. In seinem Blick spüre ich durchaus seine Enttäuschung darüber. Gleichzeitig sehe ich, dass er mich annimmt, wie ich geworden bin – anders als seine Idealvorstellung, aber unverwechselbar ich selbst. Und dass er mich in meinen Zielen unterstützt, egal, ob diese mit seinen übereinstimmten oder nicht.

Das ist Vaterliebe. Darin ist Zuneigung und Identifikation, Verzicht und Loslassen zugleich. Darin ist die Botschaft enthalten: »Du bist Du – und so wie Du bist, liebe ich Dich. Ich bin Dein Vater, Du bist mein Sohn. Du kommst zwar von mir, aber Du gehst Deinen eigenen Weg, Du lebst Dein Leben. Ich begleite und unterstütze Dich. Ich bin für Dich da, wann immer Du mich brauchst.«

So habe auch ich meinen Sohn fortfliegen lassen. Ich bin traurig, dass er nun flügge geworden ist und geht. »Aber Papa weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr. Wünsch Dir Glück, sagt sein Blick, komm nur bald zurück!«

Mut zu mehr Kontakt zwischen Kindern und Vätern

Dies ist ein Mutmach-Buch. Mut machen möchte ich mir und anderen Vätern, auf unsere Kinder zuzugehen. Gleichzeitig möchte ich mir und anderen Töchtern und Söhnen Mut machen, auf unsere Väter zuzugehen.

Denn nichts fehlt mehr im Verhältnis zwischen Vätern und ihren Kindern als Kontakt. Und nichts tut der Beziehung zwischen Vätern und Kindern so gut wie Kontakt. Mit Kontakt meine ich eine echte zwischenmenschliche Begegnung, von Seele zu Seele – nicht das funktionale Fürs-Kind-Sorgen, nicht Disziplinierung, auch nicht materielle Fürsorge. So wichtig es auch ist, vom Vater Schutz, Beistand und Führung zu erfahren, was Kinder heute von ihrem Vater am dringendsten brauchen, ist die persönliche Beziehung zu ihm.

Wenn ich Männer frage, was für sie im Leben wirklich zählt, nennen die meisten ihre Partnerschaft und ihre Kinder. Das ist schön. Aber wenn ich sie frage, wie viel Zeit sie mit ihren Kindern verbringen, kommt kaum mehr heraus als die üblichen alltäglichen Rituale wie gemeinsames Essen oder ins Bett bringen.

Wenn Kinder das Kostbarste im Leben eines Mannes sind, wieso geben Väter ihren Kindern nicht das Kostbarste, was ihnen zur Verfügung steht? In der heutigen Zeit ist Zeit das kostbarste Gut. Und Zeit verbringen wir mit allen möglichen Arbeiten und Erledigungen, aber viel zu wenig freie Zeit mit unseren Kindern. Mit »freier Zeit« meine ich die nicht funktionale, nicht auf eine Aufgabe bezogene Zeit, sondern frei verfügbare Zeit: Zeit, in der alles passieren kann und darf; Zeit, die nicht vorprogrammiert ist.

Ich habe mir letzten Sommer eine große Hängematte gegönnt, in der eine, zwei oder drei Personen liegen können. Wenn ich in der Hängematte liege und in den Himmel und die Wolken schaue, bin ich in einem anderen Geisteszustand: Ich denke nicht nach, ich plane nicht, ich habe nichts vor. Ich bin einfach da. Ich erinnere mich, wie einst im Urlaub unser Sohn, damals noch klein, in einer Hängematte unter Bäumen lag und sagte, dies sei das Schönste, was er je erlebt habe. Heute passiert es gelegentlich, dass er, mittlerweile erwachsen, zu mir in die Hängematte steigt (oder ich zu ihm). Dann schauen wir in den Himmel, nebeneinander liegend. Wir brauchen nichts zu sagen, lassen unsere Seele baumeln und sind einfach nur: da.

Nichts, außer da sein. Und in diesem Nichts, in diesem einfachen Dasein, liegt das Kostbarste, was wir mit unseren Kindern teilen können.

Als ich meinen Sohn letztens zu einem Becher Eis in der Hängematte einlud, fragte er mich unvermittelt: »Papa, was hättest du in deiner Karriere anders gemacht?« »Das ist eine sehr gute Frage!«, antwortete ich und musste eine Weile überlegen: »Ich würde mir mehr Zeit nehmen. Ich war viel zu ehrgeizig, als ich jung war. Ich wollte schnell erfolgreich werden. Ich hätte mir mehr Zeit nehmen können, um meinen Facharzt zu machen. Ich hätte nach dem ersten Kind dort bleiben sollen, wo deine Mutter und ich schon waren. Dort hätten wir vor dem psychiatrischen Krankenhaus, an dem ich angestellt war, ein kleines Häuschen mieten können. Deine Mutter hätte ihre Stelle als Lehrerin antreten können. Unser Leben wäre in ruhigeren Bahnen verlaufen.

Ich hätte mir mehr Zeit mit Euch nehmen sollen, viel weniger arbeiten, sondern das Familienleben genießen. Ich war so vorwärts drängend, weil ich mich als ungenügend empfand. Ich wollte so viel erreichen, weil ich mit mir selbst nicht zufrieden war.

Vielleicht lag es daran, dass mein Vater so wenig für mich da war. Mir hat seine Bestätigung gefehlt, selbst wenn ich gute Schulnoten mit nach Hause brachte. Einmal, als ich von meiner Mutter zum Abspülen aufgefordert wurde und keine Lust hatte, hat er mich angeschnauzt: ›Du bist wohl faul!‹ Das traf mich wie ein Peitschenhieb. Ich glaube, seither bemühe ich mich, ihm zu beweisen, dass ich nicht faul bin. Ich habe bis zum Umfallen gearbeitet. Ich habe zwei Universitätsstudien absolviert. Ich bin schnell die Karriereleiter hochgestiegen.

Im Nachhinein sehe ich mich in den Fußstapfen meines Vaters. Er war der ungeliebte zweite Sohn seiner Eltern. Seine Mutter hat seinen älteren Bruder vorgezogen. Mein Vater hat sein Leben lang geschuftet, um seinen Eltern zu beweisen, dass er etwas wert war. Er hat in Deutschland ein ganzes Imperium an Chinarestaurants aufgebaut und seine notleidende Familie in China über Wasser gehalten. Nicht er war faul – sein älterer Bruder war faul.«

Zurück zur Frage meines Sohnes: Ich sagte: »Ja, ich würde viel weniger arbeiten und stattdessen Zeit mit Euch verbringen. Und ich bin froh, dass du dir Zeit nimmst, um herauszufinden, was du im Leben willst.«

Vor kurzem dachte ich an meine erwachsenen Kinder und erschrak. Mir wurde plötzlich bewusst, wie wenig Persönliches ich über sie weiß. Über meine Frau, meinen Freund, meine Klienten könnte ich ganze Romane schreiben. Aber von meinen Kindern weiß ich oft nur Äußerlichkeiten. Wie es ihnen als Kindern persönlich gegangen ist, was sie früher bedrückt oder erfreut hat, wie es ihnen heute geht – darüber weiß meine Frau viel mehr.

Mir ist es nicht anders mit meinen Eltern ergangen. Ihnen habe ich auch nichts Persönliches, geschweige denn Intimes über mich erzählt, weder in meiner Kindheit und Jugend noch in meinem Erwachsenenleben. Zu sehr scheute ich ihre Bewertungen und Ratschläge. Wie hätten sie anders sein müssen, damit ich ihnen mehr über mich hätte mitteilen können?

Sie hätten sich für mich als Person interessieren müssen – nicht nur als Kind, das sie zu erziehen hatten, nicht nur als Sohn, auf den sie stolz sein wollten, und als Erstgeborenen, der die Familientradition übernehmen sollte. Einfach ein offenes Ohr, einen unverschleierten Blick, ein mitfühlendes Lächeln hätten sie mir schenken müssen. Wie gerne hätte ich mich dann ihnen geöffnet, waren sie doch die allernächsten Bezugspersonen, die ich hatte.

Ja, sie haben es in meiner Jugend nicht geschafft, so auf mich einzugehen. Aber später, als ich erwachsen war, wurden sie mir gegenüber immer offener und toleranter. Sie haben meine Partnerin und meinen Beruf akzeptiert, sie haben unsere Kinder geliebt. Sie haben mich auf meinem verschlungenen Lebensweg begleitet und waren da, wenn ich sie brauchte, mein Vater mit seiner finanziellen Unterstützung und seinem professionellen Rat, meine Mutter mit ihrem Essen und ihrer Fürsorge. Wenn ich mich ihnen gegenüber nicht habe öffnen können, dann war es wohl aus alter Gewohnheit oder verlebtem Groll. Den Groll konnte ich nach vielen Therapien, in denen ich mich ausgiebig über meine Eltern habe beklagen können, fahren lassen. Die Gewohnheit, ihnen nichts Wesentliches von mir zu erzählen, habe ich beibehalten – obwohl ich weiß, wie sie reagieren, hängt vor allem von der Art und Weise ab, wie ich von mir erzähle. Wenn ich in der Erwartung, Kritik oder Widerspruch von ihnen zu ernten, von mir erzähle, liegt ein abwehrender Unterton in meiner Stimme, der sie dann zum Widerspruch herausfordert. Tue ich es aber mit gesundem Selbstbewusstsein, werden sie mich anhören, selbst wenn sie anderer Meinung sind.

Auch ich kann lernen, meinen erwachsenen Kindern zuzuhören, ohne sie zu bewerten und ohne sie im Lichte meiner eigenen Ansichten und Überzeugungen zu beurteilen. So viel Abstand zwischen ihnen und mir bewahren, dass ich sie als eigenständige, von mir unabhängige Personen wahrnehmen kann. Ihnen mit wohlwollendem Interesse begegnen, statt sie mit erhobenem Zeigefinger, wohlmeinenden Ratschlägen und Warnungen vor den Gefahren des Lebens zu belehren. Sie werden ihre eigenen Erfahrungen machen, genauso wie ich meine machen musste.

Es gibt so viele Schätze, die wir mit unseren Eltern und unseren Kindern teilen können. Sie liegen nicht tief verborgen. Wir müssen nur wagen, unser Herz zu öffnen.

Eltern sind nicht perfekt. Ebenso wenig sind es Kinder. Eltern können gar nicht perfekt sein, weil das Elternsein mühsam erlernt werden muss, in jeder Generation neu. Kinder brauchen nicht perfekt zu sein. Ein perfektes Kind wäre scheußlich! Es wäre schön, wenn wir als Eltern unserer Kinder und als Kinder unserer Eltern gelassener miteinander umgehen, im Wissen, dass niemand vollkommen ist und niemand vollkommen zu sein braucht.

Thich Nhat Hanh, der vietnamesische Buddhist, hat einmal gesagt: Wir brauchen keinen moralischen Zeigefinger, um gut miteinander umzugehen.1 Wir benötigen nur Achtsamkeit, also Aufmerksamkeit und Bewusstheit in dem, wie wir fühlen, denken und handeln, und Verständnis und Mitgefühl für uns selbst und füreinander. Dann werden unsere Beziehungen klar und liebevoll. Dann entstehen unsere Beziehungen in jedem Moment neu, auch die Beziehung zwischen uns und unseren Eltern und unseren Kindern. Hier und Jetzt findet die Wandlung statt.

Der junge und der alte Vater

Vor 35 Jahren standen meine Frau und ich an einem Punkt, an dem sich unser Leben vollkommen verändern sollte. Wir waren vorher ein verliebtes Paar. Dann entschieden wir uns für ein Kind. Als es klappte, waren wir überglücklich. Aber wir ahnten nicht, dass dieser Schritt unser Leben radikal verändern würde. Wir waren auf einmal Eltern, Vater und Mutter, nicht mehr nur Mann und Frau. Wir waren nicht mehr bloß ein Liebespaar, wir wurden eine Familie. Damit bekamen wir mit einem Schlag eine völlig andere Identität. Es war wie ein Sprung in eine andere Dimension – und ein Sprung ins kalte Wasser.

Damals ahnte ich wohl, dass ich mich in einen ungeheuren Entwicklungsprozess begeben habe. Ich nahm mir vor, ein halbes Jahr mit meiner selbständigen Arbeit zu pausieren, um Zeit fürs Kind und für die Familie zu haben. Da unsere Tochter in dieser Phase sehr viel schlief, nutzte ich die Zeit, um meine Erlebnisse aufzuschreiben, mit dem vagen Wunsch, diese Aufzeichnungen irgendwann zu publizieren. Daraus wurde nichts. Wir wurden von der rasanten Entwicklung unseres Kindes und unserer Familie überholt. Der Alltag mit einem Kleinkind und die wieder einsetzende Arbeit fraßen die ganze Freizeit auf, sodass meine Aufzeichnungen irgendwo verschwanden.

Diese Mappe fand ich vor einigen Monaten zufällig wieder, als wir nach dem Auszug unseres Jüngsten das Haus neu ordneten. Ein Glücksfall. Ich hatte nämlich voriges Jahr nach dem Publizieren eines Artikels über Väter und Vaterlosigkeit den Auftrag für ein Buchprojekt über dieses Thema erhalten. Nun blättere ich in diesem vor 35 Jahren angefangenen Manuskript. Auf einigen Seiten ist die Tinte fast bis zur Unleserlichkeit verblasst. Ich schlage die Mappe ohne große Erwartung auf. Längst habe ich das früher Geschriebene als Ausdruck der übermäßigen Freude eines jungen Vaters verworfen. Jetzt staune ich darüber, dass ich bei aller Naivität einige wesentliche Gedanken notiert habe, die auch noch heute für mich gültig sind. Es ist, als ob man in einen Spiegel schaut. Damals stand ich am Anfang meiner Karriere. Jetzt stehe ich an deren Ende. Damals begann unser Familienleben. Heute brechen unsere Kinder auf, um ihre Familien zu begründen. Damals war ich stolzer Vater. Heute bin ich stolzer Großvater.

Ich frage mich: Was würde ich heute als alter Vater dem jungen Vater, der ich vor 35 Jahren war, sagen? Welche Hoffnungen haben sich bestätigt, welche haben sich als Illusion erwiesen? Welche Empfehlungen würde ich meinem jüngeren Ich geben wollen? Wovor würde ich ihn warnen?

Vaterferne

Es gibt viele Wege, Glück zu erfahren. Zu lieben und geliebt zu werden ist wohl der schönste. Natürlich denken wir gleich an die erotische Liebesbeziehung, wenn wir von Liebe sprechen. Aber was gleich danach kommt – und was aus der Liebe zwischen Mann und Frau entsteht –, ist die Liebe zu unseren Kindern.

Wenn man von der Liebe von Eltern für ihre Kinder spricht, denkt man vor allem an die Mutterliebe. Dies ist völlig berechtigt, da die Mutter die erste und intimste Beziehungsperson fürs Kind ist. Jedoch denken wir viel seltener an die Vaterliebe, obwohl der Vater (heute noch) unerlässlich für die Zeugung eines Kindes ist, obwohl jedes Kind in allen seinen Körperzellen aus dem genetischen Erbe beider Eltern zusammengesetzt ist, und obwohl der Vater, nach der Mutter, die wichtigste Bezugsperson des Kindes ist.

Warum ist dies so? Warum ist uns Vaterliebe nicht so selbstverständlich wie Mutterliebe? Warum haben wir eher das Gefühl von Ferne statt von Nähe, wenn wir an unseren Vater denken? Warum ist der Gedanke an unseren Vater eher mit dem Gefühl unerfüllter Sehnsucht verbunden, statt mit der Empfindung spontaner körperlicher Nähe? Weshalb spüren wir eine solche Scheu zu einer Person, die uns doch so nahe steht? Warum erscheint er uns emotional so unendlich weit entfernt?

Da die meisten von uns eher Vaterferne als Vaternähe erfahren haben, haben junge Männer oft Schwierigkeiten, sich auf ihre Vaterrolle einzurichten. Sie haben zu wenige gute Vorbilder erlebt. Daher verlangen Männer oft zu viel von sich, wenn sie selbst Vater werden und scheitern an ihren eigenen überhöhten Erwartungen.

Gleichzeitig wissen junge Mütter nicht, was sie von ihrem Partner realistischerweise erwarten können, wenn sie ein gemeinsames Kind bekommen. Auch ihnen mangelt es an positiven Erfahrungen mit ihren Vätern. Viele junge Mütter verlangen daher zu viel von ihrem Partner und sind enttäuscht, wenn dieser ihren Erwartungen nicht nachkommen kann. Andere trauen ihrem Partner überhaupt nichts zu. Irgendwann trennen sie sich, weil sie meinen, der Vater sei sowieso entbehrlich. An dieser beidseitigen Unsicherheit (bei Männern wie bei Frauen) scheitern viele jungen Ehen, wenn sich Kinder einstellen. Wie erleichternd wäre es, wenn junge Eltern miteinander über ihre jeweiligen Ängste sprechen könnten, statt sich selbst Versagen vorzuwerfen oder den anderen zu kritisieren!

Elternsein ist etwas, was wir von unseren Eltern gelernt haben. Gleichzeitig muss jede neue Elterngeneration das Elternsein neu definieren, denn die Zeiten ändern sich: Was gestern galt, muss heute nicht mehr gültig sein.

Lassen Sie uns daher zunächst auf unsere Elterngeneration schauen – also auf das, was wir mit unseren Eltern erlebt und was wir von ihnen gelernt haben –, um zu verstehen, weshalb es heute so schwer ist, gute Eltern zu sein. Wir müssen unsere Basis und unsere Ausgangsposition kennen, bevor wir daran gehen können, konkrete Schritte zur Verbesserung unseres Vater- und Mutterseins machen.

Ich möchte also einen Bogen von unseren Vätern zu unserem eigenen Vatersein heute schlagen. Ich werde versuchen, die Gründe auszuloten, weshalb unsere Väter uns so fern und so fremd erschienen sind. Dabei werde ich besonders auf die Auswirkungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert eingehen, weil sie gravierende Veränderungen in der Familienstruktur mit sich gebracht haben. Ich werde auf die Nachkriegszeit, auf die Studentenbewegung, die Frauenemanzipationsbewegung und die postmoderne Entwicklung eingehen, um zu verstehen, wo wir heute mit der Familie, dem Vater- und Muttersein stehen.

Anschließend werde ich versuchen aufzuzeigen, weshalb Väter für ihre Kinder (sowohl für die Söhne als auch für die Töchter) und für die Mütter wichtig sind.

Schließlich werde ich auf einige Entwicklungen der modernen Familie (Einelternfamilien, Patchwork-Familien) eingehen.

Mir geht es um eine Wiederbelebung der Familie. Denn noch immer begreife ich die Familie als die Keimzelle der Gesellschaft. Sie braucht unsere Aufmerksamkeit, unsere Pflege und Liebe, damit unsere Gesellschaft nicht auseinanderbricht. Intakte Familien stellen immer noch die beste Voraussetzung dafür dar, damit unsere Kinder, das Kostbarste, was wir haben, gut aufwachsen und gedeihen können. Dass Familien zerbrechen, dass es immer mehr Alleinerziehende und Patchwork-Familien gibt, muss kein unabwendbarer Trend sein, wenn wir mehr Augenmerk auf die Unterstützung junger Familie legen. In diesem Buch werde ich besonderen Wert auf die Partnerschaft legen. Denn eine gute Partnerschaft zwischen den Eltern ist die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen einer Familie.

In den letzten Jahren habe ich die Gelegenheit gehabt, in vielen Familienaufstellungen die familiären Hintergründe für das Gelingen und Scheitern von Beziehungen zu studieren. Darüber werde ich berichten. Ich werde aufzeigen, wie Belastungen, die über die Generationen an die heutigen jungen Erwachsenen weitergereicht wurden, sie in ihren Liebesbeziehungen und ihren Beziehungen zu ihren Kindern beeinträchtigen. Ich werde auch auf konkrete Möglichkeiten hinweisen, wie junge Eltern solche Belastungen auflösen und hinter sich lassen können, damit sie ein freies und glückliches Familienleben führen können.

Vor allem geht es mir darum, die Vaterliebe, die in jedem jungen und alten Vater schlummert, wieder zu beleben. Wenn sie wieder durch die Generationen fließen kann, von den Großvätern zu den Vätern, von den Vätern zu den Söhnen und Töchtern, dann können junge Väter endlich kraftvoll und stabil neben ihren Partnerinnen stehen und gemeinsam ihre Kinder großziehen. Dann werden die Kinder von beiden Eltern Liebe und Kraft erhalten, um für ihre Lebensreise gut ausgerüstet zu sein.

Die Krise der Männlichkeit und Väterlichkeit

Warum schreibe ich überhaupt ein Buch über Väter? Es sind vor allem zwei Motive, die mich bewegen: Zum einen ist es der Verfall männlicher Moral und männlichen Selbstbewusstseins mit allen seinen gesellschaftlichen und globalen Folgen, zum anderen die Sorge um die Zukunft unserer Erde.

Junge Männer fallen gegen junge Frauen zurück

Als wir Anfang der 1980er Jahre unsere Familie gründeten, standen wir mitten in der Frauen-Emanzipationsbewegung. Es galt, auch für viele Männer, das Patriarchat zu überwinden. Ziel war ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Heute, 40 Jahre später, haben wir einiges erreicht, auch wenn noch viel zu tun ist (damit Frauen zum Beispiel endlich gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und die gleichen Aufstiegschancen wie Männer haben). Aber es hat sich enorm viel verändert im Selbstbewusstsein junger Frauen. Sie erobern sich heute Berufe und Arbeitsfelder, die früher als männlich galten. Die jungen Frauen von heute drängen vorwärts, wohl wissend, dass sie nicht viel Zeit zu verlieren haben, wenn sie Beruf und Familie vereinbaren wollen.

Gleichzeitig beobachte ich, wie Jungen und junge Männer hinter ihren Zeitgenossinnen zurückfallen: in der Familie, in der Schule, auf der Universität, in der Arbeitswelt. Den selbstbewussten, aufstrebenden Mädchen und jungen Frauen haben sie nichts entgegenzusetzen. Jungen bleiben häufiger in der Schule sitzen. Eltern beklagen sich, dass ihre Söhne die Schule schwänzen, stundenlang vor dem PC hocken, dass sie in Alkoholrausch und Cannabisapathie abtauchen, dass sie nach Beendigung der Schule nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen sollen und stattdessen zuhause im »Hotel Mama« ihre (Lebens-)Zeit totschlagen.

Jungen und Männer versagen immer häufiger in unserer Gesellschaft. Ihnen fehlen positive Vorbilder und Lebensziele. Viele resignieren, andere werden gewalttätig (Fremdenfeindlichkeit, Fundamentalismus, Terrorismus), nicht zuletzt in ihrer Partnerschaft. Das Familienministerium heißt offiziell: »Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend« – das Wort »Männer« fehlt, wohl in der irrigen Annahme, Männer bräuchten keine Förderung, sie seien sowieso privilegiert – eine fatale Fehleinschätzung. Was für eine Vorstellung von Familie herrscht in einem Familienministerium, das in seinem Namen eine der beiden tragenden Säulen der Familie einfach ausblendet?

Man könnte dieses Phänomen als gerechten Ausgleich für die frühere und zum Teil heute noch existierende Privilegierung von Männern und Benachteiligung von Frauen ansehen. Eine solche Ansicht wäre jedoch eine oberflächliche, vielleicht sogar gefährliche. Denn was geschieht mit den Jungen und Männern, die sich als Versager fühlen und an den Rand der Gesellschaft geraten? Ohne positive Väter- und Männervorbilder (weil ihre Väter in ihre Arbeit entschwunden sind oder die Familie gänzlich verlassen haben), von alleingelassenen oder allein erziehenden Müttern großgezogen, in einer Gesellschaft, in der sie kaum Verständnis und Ermutigung erfahren, verfallen sie in Lethargie und Resignation. Wo frühere Männergenerationen ihren Kopf zu stolz getragen haben, schämt sich die heutige männliche Jugend ihres Geschlechts.

Männliche Scham