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Claude Lévi-Strauss zur Einführung

Thomas Reinhardt

Claude Lévi-Strauss zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH

© 2008 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Vorbemerkung

1. Leben und Werk

Wie man Ethnograph wird

Das wissenschaftliche Hauptwerk

2. Strukturalismus

3. »Das große Spiel der Ehe« – Strukturen der Verwandtschaft

Eingeschränkter Tausch und verallgemeinerter Tausch

Kreuzkusinenheirat und klassifikatorisches System

Das Verwandtschaftsatom

4. Totemismus und Klassifizierung

5. Mythologie

6. In den Traurigen Tropen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Zeittafel

Über den Autor

Vorbemerkung

Der am 28. November 1908 geborene Claude Lévi-Strauss zählt ohne jeden Zweifel zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Wie nur wenigen anderen Ethnologen ist es ihm gelungen, ein Werk zu schaffen, das auch außerhalb der engen Fachgrenzen seiner Heimatdisziplin wahrgenommen wurde. Sein Einfluss reicht von der Philosophie zur Soziologie, von der Literatur- zur Geschichtswissenschaft, von der Psychologie zur Film- und Musiktheorie und weiter bis auf die Opernbühne. Dabei hat Lévi-Strauss nie eine »Schule« im eigentlichen Sinne des Wortes begründet. Mehr noch, gerade in der Ethnologie hat sein strukturalistisches Programm zwar viele Bewunderer gefunden, aber praktisch keine Nachahmer.1 Böse Zungen behaupten gar, was den ethnologischen Strukturalismus betrifft, sei Lévi-Strauss nicht nur dessen wichtigster Vertreter, sondern der einzige.2 Dennoch haben weite Teile einer ganzen Generation von Geisteswissenschaftlern ihre wissenschaftliche Sozialisation über die Auseinandersetzung mit seinen Schriften erfahren, und nicht selten war die erste Position, die ein junger Forscher oder eine junge Forscherin bezog, eine für oder gegen Lévi-Strauss.3

Aus einer gewissen zeitlichen Distanz scheint die enorme Wirkung, die der Strukturalismus vor allem zu seiner Hochzeit während der 1960er Jahr entfalten konnte, nur noch schwer nachzuvollziehen. Zeitgenössische Kommentatoren sprechen ohne jede Ironie von Lévi-Strauss als einem Denkmal des 20. Jahrhunderts und lebendem Staatsschatz, dessen Werk zu kennen nachgerade als Ausweis der kulturellen Lesefähigkeit zu betrachten sei. Lévi-Strauss und der Strukturalismus, meinen andere, stellten das Äquivalent des französischen Intellektuellen zum Hula Hoop dar und seien auf Cocktailparties so unvermeidlich wie Käsedips. Selbst noch der Trainer der französischen Fußballnationalmannschaft erklärte seinerzeit euphorisch, man werde, um künftig bessere Ergebnisse zu erzielen, eine »strukturalistische Umorganisation« des Teams vornehmen.4

Die Leichtigkeit, mit der hier der Sprung aus dem Spezialistentum gelungen zu sein scheint, überrascht umso mehr, als nicht nur Lévi-Strauss selbst nie aktiv das Licht einer breiten Öffentlichkeit gesucht hat,5 sondern auch sein Werk weit davon entfernt ist, einen populären Geschmack zu bedienen. Eher im Gegenteil, denn was auch immer sich dagegen vorbringen lassen mag, den Vorwurf, allzu leichte Kost zu sein, hat ihm wohl bislang noch niemand gemacht; ebenso wenig übrigens den des mangelnden Umfangs. Eine vor wenigen Jahren zusammengestellte Bibliografie führt knapp zwanzig Bücher auf, daneben weit über dreihundert wissenschaftliche Artikel, 71 Interviews, 74 Bücher über Lévi-Strauss, 15 ihm gewidmete Sondernummern von Zeitschriften – und diese Liste ist nicht vollständig.6 Praktisch alle Bücher von Lévi-Strauss sind in zahlreichen Auflagen erschienen, und die meisten davon sind auch heute noch, zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erstveröffentlichung, erhältlich – in Frankreich ebenso wie in Deutschland, Italien, den Vereinigten Staaten, Südamerika, Russland, China oder Japan.

Eine Einschränkung ist allerdings vonnöten. Stehen die Chancen in Frankreich nach wie vor gut, beim Stöbern in einer Buchhandlung auf den einen oder anderen Titel von Lévi-Strauss zu stoßen, wird man seine Bücher in anderen Ländern meist eher bestellen müssen. Und auch an den Universitäten ist der Strukturalismus, für den sein Name steht, keineswegs mehr so selbstverständlich präsent wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Ein geisteswissenschaftliches Studium lässt sich heute abschließen, ohne auch nur eine Zeile Lévi-Strauss gelesen zu haben. Für die Generation der heute Lehrenden, die mit dem Strukturalismus (oder gegen ihn) quasi groß geworden ist, ist das nicht immer leicht zu akzeptieren.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie bestürzt ich selbst war, als mir vor einiger Zeit eine Studentin kurz vor dem Examen erklärte, sie habe ein wenig im Internet recherchiert und bei Wikipedia entdeckt, dass für den Strukturalismus wohl auch ein gewisser Lévi-Strauss recht wichtig sei. Meine Überraschung war umso größer, als mir noch wenige Jahre zuvor der Koranlehrer eines Dorfes am Nordrand der Sahara mit seiner ganzen Autorität als Mann des Wortes und keinen Widerspruch duldend, auseinandergesetzt hatte: »Anthropologie? C’est Claude Lévi-Strauss!« Man wird dem in dieser Ausschließlichkeit schwerlich zustimmen wollen, erstaunlich aber ist es allemal, wie ein Name und ein Programm, die es bis in einen so entlegenen Winkel des frankophonen Afrika geschafft haben, offenbar innerhalb weniger Jahre so umfassend in Vergessenheit geraten konnten. »Die gebildete Welt«, erklärte Lévi-Strauss aber selbst einmal ohne Nostalgie oder Bedauern, »ist heißhungrig. Eine Zeitlang hat sie sich am Strukturalismus geweidet. Man malte sich aus, dass er eine Botschaft vermittelte. Diese Mode ist vorbei.« (NuF 142) Der Blick in Lévi-Strauss’ Bücher lohnt sich gleichwohl auch heute noch. Selbst wenn man ihrer Grundthese – dass die fundamentalen Prozesse des Denkens letztlich in allen Kulturen die gleichen sind – eher skeptisch gegenüberstehen mag, stellt die Lektüre doch ein intellektuelles Vergnügen ganz eigener Art dar. Nicht zuletzt deshalb, weil, wie ein Kritiker aus der Schule der britischen Sozialanthropologie sich einst einzuräumen gezwungen sah, Lévi-Strauss »eine außergewöhnliche Begabung besitzt, uns unmerklich in den Bereich unserer geheimsten Gefühle zu führen«7.

1. Leben und Werk

Sich dem Werk eines Autors über die besonderen Umstände seiner Biografie anzunähern ist eine recht altmodische Verfahrensweise, die zudem häufig nur mäßigen Gewinn verspricht. Denn auch wenn man das lange geglaubt haben mag, ist ja keineswegs ausgemacht, dass die Kenntnis eines Autors zugleich die seines Werks befördert, dass es also, um dieses zu verstehen, nötig ist, möglichst viele Informationen über jenen zusammenzutragen. Im Falle von Anthropologen allerdings gilt diese Regel nur eingeschränkt, sind doch hier, worauf bereits der Name der Disziplin verweist, Subjekt und Objekt der Erkenntnis in einer Weise miteinander vermischt, die es kaum erlaubt, sie strikt voneinander zu trennen. Beobachter und Beobachtetes sind von der gleichen Natur und durchdringen sich beständig. Ob bei der Gewinnung von Primärdaten im Verlauf einer Feldforschung oder bei der späteren Auswertung und Interpretation dieser Daten – der subjektive Faktor ist auf keiner Ebene der ethnographischen Arbeit auszuschalten. Wie stark er dabei das Datenmaterial überhaupt erst formt, darüber mag man unterschiedlicher Meinung sein, gänzlich bestreiten wollen aber wird ihn vermutlich niemand.

Nun widmen sich, spätestens seit Bronislaw Malinowski die stationäre Feldforschung zum Königsweg der ethnologischen Arbeit und gleichsam zu ihrem sine qua non erklärt hat, die meisten Ethnologen der detaillierten Beschreibung einer einzigen (in einigen Fällen allenfalls noch einer zweiten oder dritten) Kultur und hüten sich, über größere geografische oder kulturelle Einheiten zu sprechen bzw. sich zu Aussagen über die menschliche Natur im Allgemeinen hinreißen zu lassen. Statt über Kulturen (oder gar die Kultur) wird über kulturelle Praktiken geschrieben, statt nach verbindenden Elementen und Gemeinsamkeiten wird das Partikulare gesucht, statt die beobachteten Phänomene in einen größeren Kontext einzubetten, wird ihre Einzigartigkeit betont – eine Einzigartigkeit, die nicht zuletzt in der Person des Feldforschers begründet liegt und in der subjektiven (und unwiederholbaren) Erfahrung, die dieser während seines Aufenthalts im Feld macht. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Art des Schreibens über fremde Gesellschaften mit ihrer spezifischen Mischung aus kühlem Formalismus und empathischer Leidenschaft, durchsetzt mit romantischen Obertönen, unüberhörbar subjektive, ja subjektivistische Züge trägt und daher vielfältige Ansatzpunkte für eine biografische Annäherung bietet.

Man kann allerdings durchaus fragen, ob das, was für ethnographische Texte und ihre Verfasser allgemein zutreffen mag, im gleichen Ausmaß auch für einen Autor wie Claude Lévi-Strauss gilt, dessen methodische Vorgehensweise sich doch erheblich von der der meisten Ethnographen unterscheidet. Es ist dies eine grundsätzliche Frage, die weit über ihren unmittelbaren Fragebereich hinausweist und zugleich die Frage nach Ziel und Charakter der ethnologischen Arbeit aufwirft: Soll diese archivarischer Natur sein und vorrangig die Vielfalt der Hervorbringungen des menschlichen Geistes dokumentieren? Oder soll sie (bzw. kann sie) unter der oberflächlichen Fülle und Diversität der kulturellen Phänomene nach allgemeinen Gesetzen suchen, nach dem Konstanten und Fundamentalen der menschlichen Natur? Lange Zeit neigte sich die Waage entschieden zugunsten des Archivierungsansatzes (dem im Übrigen auch Lévi-Strauss durchaus eine gewisse Priorität einräumt8). Malinowski hatte in seinen programmatischen Überlegungen zur ethnographischen Methode der von ihm unter anderem als »spekulativ« dargestellten kulturvergleichenden Ethnologie wenig Sympathie entgegengebracht9 und damit das Fundament für eine bis heute nachwirkende Skepsis gegenüber Ethnologen gelegt, die sich den Unbilden der Feldforschung nicht oder nicht lange genug aussetzen und stattdessen am heimischen Schreibtisch versuchen, die von Ethnographen zusammengetragene Materialfülle zu ordnen und zu strukturieren.

Dass eine solche Haltung nicht gerade von einem allzu großen Vertrauen in die eigene Textproduktion zeugt, braucht kaum erwähnt zu werden. Denn wenn es nicht legitim sein soll, von Fall zu Fall die persönliche Augenzeugenschaft durch die Lektüre ethnographischer Berichte über das entsprechende Gebiet zu ersetzen, ließe sich ja durchaus fragen, wozu man sich überhaupt die Mühe machen sollte, diese Texte zu verfassen. Dennoch löst der Name Lévi-Strauss bei vielen Ethnologen bis heute beinahe reflexartig den Vorwurf aus, er habe seine Daten nicht selbst gesammelt. Ein Bekenntnis überdies, wie das Lévi-Strauss’sche, sich »eher als Schreibtischtyp denn als Feldarbeiter« zu fühlen (NuF 69), kommt für die Verfechter eines solchen empiristischen Wissenschaftsverständnisses einem methodischen Offenbarungseid nahe, und in der Tat haben Lévi-Strauss’ Kritiker, vor allem aus dem Lager der britischen Sozialanthropologie, sich diese Steilvorlage nicht entgehen lassen. Immer wieder rückten sie das strukturalistische Projekt als Ganzes in unmittelbare Nähe zur kulturvergleichenden »Lehnstuhl-Anthropologie« eines James George Frazer, dessen vielbändiger Goldener Zweig nahezu für alles stehen kann, wovon der funktionalistisch geprägte Zweig der Ethnologie sich seit den 1920er Jahren zu emanzipieren versucht hat: von der Ablehnung der persönlichen Inaugenscheinnahme über die Verortung fremder Kulturen in einer zeitlichen Relation zur modernen europäischen bis hin zum wenig redlichen Zurechtbiegen von Daten.10

Lévi-Strauss ist allerdings keineswegs gewillt, sich widerspruchslos über den evolutionistischen Kamm scheren zu lassen. Tatsächlich kann von einem Einfluss Frazers auf die Entwicklung seines Denkens kaum die Rede sein. Anlässlich von Frazers letztem Besuch an der Sorbonne hätte zwar für den jungen Lévi-Strauss 1928 durchaus die Möglichkeit bestanden, den großen alten Mann der britischen Sozialanthropologie noch einmal persönlich zu erleben, es kam ihm aber, so schreibt er, obwohl er davon wusste, niemals der Gedanke, den Vortrag anzuhören (TT 46). Auch in seinem Werk lassen sich allenfalls verstreute Bezüge auf die Arbeiten Frazers finden, die zudem allesamt darauf hindeuten, dass Lévi-Strauss den universalistischen Ambitionen des Briten doch bestenfalls mit einer gewissen Indifferenz begegnete.11 Wenn man Lévi-Strauss in eine bestimmte Traditionslinie einordnen wollte, dann wäre weit eher an die französische Schule der Soziologie zu denken: Comte, Mauss und Durkheim, deren Ansätze Lévi-Strauss für seine Zwecke freilich so stark modifizierte, dass der Bezug mitunter die Form einer radikalen Abgrenzung annimmt (TT 53).

Auch den Vorwurf, zu wenig Feldforschung betrieben zu haben, mag Lévi-Strauss nicht unwidersprochen hinnehmen. Dies umso weniger, als gerade ihm das Verdienst zukommt, die Bedeutung der Feldforschung in der stark von Durkheim geprägten französischen Anthropologie entschieden aufgewertet zu haben. Ja, weit davon entfernt, die ethnographische Methode zu verwerfen, hat er sie als einer der Ersten auch auf den Bereich der eigenen Gesellschaft erweitert und in diesem Zusammenhang eine ganze Serie von Feldforschungen seiner Studenten im Umland von São Paulo und im Burgund angeregt. Anthropologie, so stellt er mehr als einmal klar, »ist vor allem eine empirische Wissenschaft« (BF 161). Ihr Ziel müsse es sein, zunächst einmal akribisch zu dokumentieren, welche Aspekte der natürlichen Umwelt in den Rang kultureller Markierungen erhoben worden sind und wie sie sich in ihrer Gesamtheit zu einem kohärenten System fügen. Die Beschreibung geht dabei für Lévi-Strauss explizit dem Verstehen voraus. Er selbst hat sich zwar nach seinen Forschungsreisen in den 1930er Jahren Letzterem zugewandt, doch war dies zunächst weniger eine bewusste Entscheidung als vielmehr den politischen Umständen der Kriegsjahre geschuldet.

Als Lévi-Strauss 1940 aus dem von den Deutschen besetzten Frankreich fliehen muss, will er eigentlich an seine Forschungen in Brasilien anknüpfen, das Einreisevisum wird ihm jedoch verweigert. Abgeschnitten vom Ort seiner Feldforschung findet er sich stattdessen in New York wieder. Dort verfügt er zwar weder über die finanziellen noch die logistischen Mittel, um weitere Expeditionen zu organisieren, doch findet er ideale Voraussetzungen für einen anderen Typ ethnologischer Arbeit vor: das ethnographische Material nämlich, das in den drei vorausgegangenen Dekaden in bemerkenswerter Fülle und ebensolcher Unordnung zusammengetragen worden war, systematisch zu sichten und zu ordnen, um sich überhaupt einmal Klarheit darüber zu verschaffen, was diese Dokumentenmenge der Anthropologie eigentlich eröffnet (NuF 69).

Es sollte sich bald zeigen, dass Lévi-Strauss für diese Art von Tätigkeit eine außergewöhnliche Begabung besitzt, und so wird er sich in den folgenden Jahrzehnten der Auswertung ethnographischer Quellen widmen, statt selbst welche zu verfassen. Ein Feldforscher-Ethnologe, wie Malinowski ihn entworfen hat, ist Lévi-Strauss also tatsächlich nicht – oder doch wenigstens nicht in erster Linie. Denn nicht ganz ohne Berechtigung führt er gegen seine Kritiker ins Feld, durchaus den einen oder anderen Fund gemacht und das ethnographische Archiv damit um einige Details zu den südamerikanischen Nambikwara, Bororo und Tupí-Kawahib-Indianern erweitert zu haben. Außerdem habe er in Wirklichkeit weit mehr Felderfahrung gesammelt, als seine Gegner wahrhaben wollen. Und dabei habe er nicht zuletzt begriffen, was Feldforschung auch sei: »nämlich die unerlässliche Bedingung der vernünftigen Beurteilung und Anwendung der von anderen geleisteten Arbeit« (NuF 70).12 Der Aufenthalt im Feld, so ergänzt er, sei mithin für ihn gewesen, was die Lehranalyse für den Psychoanalytiker ist: ein Initiationsakt, den durchlaufen muss, wer zu einem echten Verständnis seines Gegenstands gelangen will.

Die im Rahmen einer solchen Forschung gewonnenen Daten scheinen Lévi-Strauss hier fast schon zum Nebenprodukt zu geraten, zu einem erfreulichen Erkenntnisüberschuss, der über das eigentlich Zentrale der Feldforschung hinausweist. Was letztlich an ihr zählt, ist dagegen dem Anschein nach etwas ganz anderes: die Erfahrung der Mühe, die es macht, ethnographische Daten zu sammeln, die Phasen der Depression, der Gereiztheit, des Überdrusses und der Abscheu gegenüber einem Studienobjekt, das dem Forscher deutlich zu verstehen gibt, wie sehr er es langweilt (NuF 70). Handelte es sich hierbei tatsächlich um den Kern des Lévi-Strauss’schen Feldforschungsverständnisses, wäre das in der Tat problematisch. Zum einen, weil der eigentliche ethnographische Gegenstand offenkundig hinter das Vorwissen, die Vorurteile und die »Abwehrmechanismen«13 des Forschers zurücktritt und dieser selbst sich plötzlich im Zentrum des Erkenntnisprozesses wiederfindet; zum anderen, weil die im Rahmen kurzer Studien zu gewinnenden Daten zwar die bewussten Selbstmodellierungen der Erforschten dokumentieren mögen, den tatsächlichen gesellschaftlichen Praktiken gegenüber jedoch häufig blind bleiben. Was sich im Rahmen einer »Ethnographie des ersten Eindrucks« beschreiben lässt, sind, mit anderen Worten, gesellschaftliche Soll-Zustände, die Regeln und Normen, die idealiter das soziale Zusammenleben organisieren. Die gesellschaftliche Realität aber sieht – und das lässt sich eben erst im Rahmen längerer Aufenthalte erfassen – meist ganz anders aus.

Das bestreitet Lévi-Strauss allerdings auch gar nicht. Die Kritik schießt daher weit übers Ziel hinaus, wenn sie ihm, wie es oft geschieht, eine feldforschungsfeindliche Haltung unterstellt. Seine Einstellung in dieser Frage ist, ganz im Gegenteil, fast schon unzeitgemäß positivistisch. So steht er nicht zuletzt der reflexiven Wende, die weite Teile der Ethnologie seit den 1970er Jahren vollzogen haben, äußerst skeptisch gegenüber.14 Denn zwar mag die erste Felderfahrung eines Forschers auch einen initiatorischen Akt darstellen, das gilt jedoch tatsächlich nur für die erste dieser Erfahrungen. In erster Linie aber geht es bei solchen Forschungen doch schlicht um das Sammeln jener ethnographischen Daten, die dann das Rohmaterial für die Arbeit der vergleichend vorgehenden Ethnologen bilden.

Kehren wir aber noch einmal zurück zur Frage nach der Relevanz lebensgeschichtlicher Faktoren für das Lévi-Strauss’sche Werk. Immerhin ließe sich gegen eine biografische Annäherung ins Feld führen, dass gerade Lévi-Strauss sein wissenschaftliches Werk der Überführung des Subjektbegriffs in den der Struktur gewidmet hat. Wo für seinen großen Rivalen Sartre der Mensch zuerst durch die Intentionalität seines Bewusstseins bestimmt ist, setzt Lévi-Strauss Regeln, Codes und Strukturen als Determinanten der menschlichen Existenz. Menschliches Handeln wird dabei in letzter Konsequenz als die oberflächliche Manifestation tiefer liegender Strukturen begriffen – und das in einer Konsequenz, die Lévi-Strauss auch noch die persönliche Autorschaft an seinen Büchern in Zweifel ziehen lässt. Es sei seiner Auffassung nach vielmehr so, bekennt er in einem Gespräch mit Marc Augé, dass das Werk sich selbst durch den Autor hindurch schreibt. Das Individuum sei dabei nicht mehr als ein Mittel der Übertragung und überlebe im Werk lediglich als ein wenig bedeutsamer Rückstand: »[Wenn ein Buch erscheint] ist es tot, fertig, zu einem Fremdkörper geworden. Das Buch geht durch mich hindurch, ich bin der Ort, an dem sich während einiger Monate oder Jahre bestimmte Dinge entwickeln und abbilden, und dann lösen sie sich von mir, als ob es sich um eine Ausscheidung handelt« (NuF 135). Oder, in dem eindrücklichen Bild vom Individuum als einer Kreuzung: »[M]eine Arbeit wird in mir gedacht, ohne dass ich davon weiß. Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ich komme mir vor, wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.« (MuB 11-12)

Solche und ähnliche Äußerungen haben Lévi-Strauss oft den Vorwurf des »Antihumanismus« eingetragen. Ein Vorwurf, dem er übrigens – zumindest, was die erkenntnistheoretische Ebene betrifft – durchaus zustimmt. »Ich bin fest davon überzeugt«, stellte er im Jahr 2000 in einem Interview fest, »dass das Leben keinen Sinn hat, dass nichts irgendeinen Sinn hat.«15 Der Mensch, so begründet er diese Aussage, sei nichts weiter als ein unbedeutender Teil der kosmischen Ordnung – mit anderen Worten: Element einer Struktur. Welchen Sinn sollte es also haben, sich in der Ausbreitung biografischer Details eines einzelnen Exemplars der Gattung zu ergehen?

Die Antwort darauf gibt Lévi-Strauss an verschiedenen Stellen seines Werks und in zahlreichen öffentlichen Äußerungen selbst. So unterscheidet er etwa in einem Gespräch mit Jean-José Marchand strikt zwischen einem Antihumanismus auf epistemologischer Ebene und einem auf moralischer.16 So vollständig er sich Ersteren für seine Arbeit zu Eigen macht, so radikal lehnt er Letzteren ab. Übertragen auf die Frage nach der Relevanz der Biografie eines Autors für seine Arbeit bedeutet dies, dass das geistige Klima, in dem seine Ideen reifen, selbstverständlich einen bedeutsamen Faktor darstellt. Denn selbst wenn es stimmen sollte, dass die Vielfalt der kulturellen Erscheinungsformen letztlich nichts weiter ist als eine spezifische Variation über der immer gleichen Grundstruktur, so hat der Einzelne doch subjektiv stets nur an einer kleinen Zahl der möglichen Manifestationen teil. Nur bestimmte Straßen, um im Bild von der Straßenkreuzung zu bleiben, münden in die Kreuzung. Andere hingegen führen an ihr vorbei, ohne ihr auch nur nahe zu kommen. Auch wenn wir also theoretisch die Möglichkeit haben, uns jede Kultur so anzueignen, als seien wir dort geboren, beschränkt sich die kulturelle Kompetenz des Einzelnen letztlich doch auf eine überschaubare Zahl kultureller Praktiken, mit denen er intimer vertraut ist. Entsprechend ist natürlich auch ein biografischen Unternehmen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehender Autor wie Lévi-Strauss nicht ohne sein spezifisches intellektuelles Umfeld zu denken. Und dieses wiederum ist entscheidend davon bestimmt, wann er wessen Schriften las, wen er schätzte, wen er ablehnte oder mit wem er wo zusammentraf.

Es entbehrt wohl nicht einer gewissen Ironie, dass gerade das Leben eines Mannes, der den Zufällen der Biografie denkbar wenig Bedeutung zumessen mag, so außergewöhnlich gut dokumentiert ist. In Selbstzeugnissen wie Traurige Tropen oder den langen Gesprächen mit Didier Eribon (NuF), aber auch in quasi autorisierten Einführungen in sein Werk.17 Und wenngleich Lévi-Strauss nachdrücklich betont, nie in Versuchung gewesen zu sein, seine Memoiren zu verfassen,18 kommen die genannten Werke nicht nur einer Autobiografie sehr nahe, sie ermöglichen es darüber hinaus auch, das Lévi-Strauss’sche Oeuvre in seiner Entwicklung recht präzise in einen größeren geistesgeschichtlichen Kontext einzubetten. Es wäre daher absurd, diese Quellen für eine Einführung wie die vorliegende außer Acht zu lassen.

Wie man Ethnograph wird

Claude Lévi-Strauss wird 1908 – durch Zufall, wie er sagt (NuF 11) – in Brüssel geboren. Sein Vater verdingte sich als Kunstmaler und war zur Erledigung einiger Auftragsarbeiten mit seiner schwangeren Frau in die belgische Hauptstadt gereist. Zwei Monate nach der Geburt des Sohnes kehrt die Familie nach Paris zurück. Dort hat sie zwar beständig mit materiellen Schwierigkeiten zu kämpfen, doch entspricht das geistige Umfeld, in dem Lévi-Strauss aufwächst, durchaus den Vorstellungen, die man sich vom Pariser Bürgertum jener Epoche macht. Der jüdische Glaube spielte zwar für Teile der Großelterngeneration noch eine Rolle (der Großvater mütterlicherseits war Rabbiner, die Großmutter väterlicherseits praktizierende Gläubige), doch waren schon Lévi-Strauss’ Eltern »ganz und gar ungläubig« und verstanden es offenbar, eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Heranwachsende von der Beunruhigung durch religiöse Gefühle weitgehend verschont bleibt (NuF 15f.). Kunst und Musik bestimmen stattdessen den Alltag der Familie.19 Insbesondere die starke Affinität Lévi-Strauss’ zu Letzterer, die sich als eine Konstante durch sein Werk ziehen wird, ja zum Teil noch die Register bereitstellt, nach denen die Bücher organisiert sind, hat zweifellos hier ihre Wurzeln. Lévi-Strauss spricht gar von einer »regelrechten erblichen Belastung« (NuF 12), die sich nicht zuletzt in dem unverkennbar ästhetischen Anspruch seiner wissenschaftlichen Arbeit niederschlägt. Einer ästhetischen Dimension allerdings, die in letzter Konsequenz doch stets der Empirie nachgeordnet bleibt. So kann Lévi-Strauss denn auch ohne Koketterie bedauern, dass er nie ein Drama oder einen Roman verfasst hat (NuF 136) und dass er es nicht zum Komponisten brachte, weil ihm »etwas im Kopf fehlt«, um Musik zu komponieren (MuB 77). Er mag zu den literarischsten unter den Ethnologen seiner Zeit zählen, er mag einen unverwechselbaren Stil pflegen, mit sorgfältig abgewogenen, langen Sätzen, gelegentlichen ironischen Interjektionen und lyrischem Elan, er mag die Analogie der strukturalen Mythenanalyse zur Musik bis in die Kapitelorganisation hinein betonen – letztlich aber fühlt er sich doch vor allem als Wissenschaftler und als solcher verpflichtet, die dramatische Prosa seiner Schriften immer wieder mit langen Listen der »belanglosesten ethnographischen Details« (BF 161) zu durchbrechen.

Nicht nur die Affinität zur ästhetischen Form, auch der Strukturalismus war, so scheint es, dem jungen Claude Lévi-Strauss praktisch in die Wiege gelegt. Seinen ersten strukturalistischen Akt jedenfalls beging er in so jungen Jahren, dass er ihn lediglich aus den Erzählungen seiner Mutter erinnert. Noch unfähig zu laufen und lange bevor er mit den Geheimnissen der Schrift vertraut gemacht wurde, habe er aus der Tiefe seines Kinderwagens verkündet, dass die ersten drei Buchstaben auf den Schildern von Bäcker und Fleischer »bou« bedeuten müssten, weil sie gleich aussähen und gleich ausgesprochen würden (NuF 159; MB 17). Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Familienüberlieferung ist dies in der Tat eines der Kernelemente der strukturalistischen Tätigkeit: Zwei Systeme unterschiedlicher Ordnung, in diesem Falle das grafische der Ladenschilder und das lautliche der mütterlichen Stimme, die diese Schilder vorliest, werden zueinander in Beziehung gesetzt und auf ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin untersucht. Das Ergebnis dieser Analyse besagt zunächst einmal nicht mehr, als dass eine bestimmte Folge grafischer Symbole einer bestimmten Lautfolge korrespondiert. Eines semantischen Urteils enthält sich der kleine Claude offenbar. Und tut gut daran, denn das »bou« in Boulangerie ist dem in Boucherie weder etymologisch noch inhaltlich verwandt. Bis zur Ausarbeitung seiner strukturalistischen Theorie sollten zwar noch einige Jahrzehnte vergehen, den Schlüssel dazu, nämlich die Annahme, dass bei der Untersuchung sozialer Systeme der Form der Vorzug vor dem Inhalt einzuräumen ist und es daher gelte, das Invariante unter den Verschiedenheiten der Oberfläche aufzuspüren, hat Lévi-Strauss aber offenbar bereits erstaunlich früh intuitiv erfasst.

Zur formalen Ausbildung der strukturalistischen Methode bedurfte es jedoch noch einer ganzen Reihe von Impulsen. Lévi-Strauss spricht in diesem Zusammenhang gelegentlich von seinen »trois maîtresses« – der Geologie, der Psychoanalyse und dem Marxismus (TT 44) –, die ihn gelehrt haben, dass man, »um zum Realen zu gelangen, zunächst die Erfahrung verwerfen muss, um sie später in einer objektiven, von jeder Sentimentalität gereinigten Synthese wieder zu integrieren« (TT 51). Die deutsche Ausgabe übersetzt den Ausdruck mit »Lehrmeisterinnen« und tilgt damit notgedrungen die Nebenbedeutung, die im französischen Original noch mitschwingt: Mätressen. Tatsächlich hat Lévi-Strauss sich während seiner wissenschaftlichen Sozialisation mit allen dreien eingelassen, vermählt aber hat er sich mit keiner von ihnen. Weder wird er Geologe noch Politiker noch Psychoanalytiker. Ganz von ihnen lassen wird er jedoch auch nach seiner Verheiratung mit der Ethnologie nicht.