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Michael Weinrich

Karl Barth

Leben – Werk – Wirkung

Vandenhoeck & Ruprecht

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Karl Barth 1931; © Karl Barth-Archiv, Basel (Schweiz)

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5093

ISBN 978-3-8463-5093-5

Inhalt

Vorwort

I.Warum Karl Barth? Eine erste Annäherung und zwölf Blitzlichter

1.Die Gottesfrage

2.Die Wiederentdeckung der Bibel

3.Die Bibel verstehen

4.Der Vorrang der Offenbarung

5.Das Problem der „natürlichen Theologie“

6.Dialektische Theologie

7.Der Horizont des einen Bundes

8.Die Menschlichkeit Gottes

9.Das Nichtige und die Sünde

10.Theologie der Freiheit

11.Dogmatik und Ethik

12.Ökumene und weltweite Solidarität

II. Karl Barths Lebensweg

1.Herkunft, Jugend und Studium

2.Der „rote Pfarrer von Safenwil“

3.„Gott ist uns ein Fremder geworden“

4.Professor in Göttingen, Münster und Bonn

5.Karl Barth im Kirchenkampf

6.Die Ökumene

7.Die Kirchliche Dogmatik

8.Der unbequeme Zeitgenosse

9.Auf dem Bruderholz

III. Barth lesen

1.Ambitionierte Bescheidenheit

2.Im Konflikt mit der natürlichen Theologie: Die mögliche Unmöglichkeit

3.Wahrheit und Methode

Exkurs: „Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!“

4.Theologia viatorum

5.Von der Schönheit und Gefährlichkeit der Theologie

IV.Theologische Perspektiven

1.Gott wird nur durch Gott erkannt: Der Weg theologischer Erkenntnis

1.1„Theologie des Wortes Gottes“

1.2„Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“

1.3Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik

1.3.1Der Ort der Theologie: Theologie als Funktion der Kirche

1.3.2Die Denkform der Theologie: Credo ut intelligam

1.3.3Die Aufgabe der Prolegomena

1.4Offenbarung

1.5Die dreifache Gestalt des Wortes Gottes

1.6Trinitarische Hermeneutik

1.7Zusammenfassende und zuspitzende Thesen

2.Offenbarung und Religion

2.1Religion im Licht der Offenbarung

2.1.1Der Christ als Bourgeois – Barths Religionskritik

2.1.2Die Rechtfertigung der Religion

2.2Zusammenfassende und zuspitzende Thesen

3.Erwählung und Bund

3.1Erwählung als Teil der Gotteslehre

3.2Erwählung als Summe des Evangeliums

3.3Die Erwählung Israels und der Kirche

3.3.1Die eine Gemeinde

3.3.2Die große ökumenische Frage

3.4Evangelium und Gebot – Dogmatik und Ethik

3.5Zusammenfassende und zuspitzende Thesen

4.Schöpfung und Bund

4.1Gott als Schöpfer

4.1.1Der sekundäre Charakter der Erkenntnis des Schöpfers

4.1.2Urgeschichte als reine Sage

4.2Schöpfung und Bund

4.2.1Die Schöpfung als Voraussetzung des Bundes

4.2.2Der Bund als Voraussetzung der Schöpfung

4.2.3Schöpfung als Wirklichkeit

4.3Das Geschöpf vor seinem Schöpfer

4.3.1Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis

4.3.2Die Gottebenbildlichkeit des Menschen

4.3.3Zeit und Ewigkeit

4.4Gottes Vorsorge für die Welt – die Lehre von Gottes Vorsehung

4.4.1Das Thema der providentia Dei

4.4.2Die drei Gestalten der Vorsorge Gottes

4.4.3Leben als Geschöpf

4.4.4Das Böse als das Nichtige, die Engel und die Dämonen

4.5Das Gebot der Freiheit

4.5.1Allgemeine und spezielle Ethik

4.5.2Freiheit für den Willen Gottes

4.6Zusammenfassende und zuspitzende Thesen

5.Versöhnung und Bund

5.1Die Mitte aller christlichen Erkenntnis – Die Erfüllung des Bundes

5.2Die Architektur der Versöhnungslehre

5.3Die Christologie

5.3.1Wahrer Gott – wahrer Mensch

5.3.2Die Selbsterniedrigung Gottes und die Erhöhung des Menschen

5.3.3Er sitzt zur Rechten Gottes

5.4Der Mensch der Sünde

5.4.1Hochmut und Fall

5.4.2Trägheit und Elend

5.4.3Lüge und Verdammnis

5.5Die Soteriologie

5.5.1Rechtfertigung

5.5.2Heiligung

5.5.3Berufung

5.6Der Heilige Geist – Die Grundlegung des christlichen Lebens

5.6.1Die Versammlung der Gemeinde

5.6.2Die Auferbauung der Gemeinde

5.6.3Die Sendung der Gemeinde

5.7Das Gebot des Versöhners – Taufe, Vaterunser und Abendmahl

5.8Zusammenfassende und zuspitzende Thesen

V.Aspekte der Wirkungsgeschichte

1.Ein Überblick

2.Die Krise und die Theologie

3.Die Königsherrschaft Jesu Christi

4.Gottes Heilsplan und die Unordnung der Welt

5.Glauben und Verstehen

6.Die Realisierung der Freiheit

7.Kirche und Israel

8.„Resident Aliens“ – Ansässige Fremdlinge

Ausgewählte Literatur

1.Publikationen von Karl Barth

2.Quellen

3.Weitere Literatur

4.Internetquellen

Namensregister

Vorwort

„In der Kirche gibt es keine Vergangenheit,
darum auch nicht in der Theologie.“1

Die letzten hundert Jahre der Theologiegeschichte lassen sich ohne eine eingehende Wahrnehmung von Karl Barth (1886–1968) nicht angemessen verstehen. Seit seinem Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft“ 1919 in Tambach (Thüringen) zog er den Fokus der theologischen Aufmerksamkeit auf sich. Es hat keine fünf Jahre benötigt, bis Barth, der inzwischen auf einer Stiftungsprofessur außerordentlicher Professor in Göttingen geworden war, im Bereich von Theologie und Kirche so ziemlich in aller Munde war. Seitdem befindet sich der theologische Diskurs nicht nur in der systematischen Theologie, wenn nicht in einer direkten, so doch in einer indirekten Auseinandersetzung mit Karl Barth. Gewiss kann man sich gegen ihn stellen und ihm auf der ganzen Linie widersprechen, aber wenn man auf der Höhe der Zeit sein will, wird es kaum möglich sein, seine Theologie einfach zu ignorieren. Deshalb ist es in jedem Falle geboten, eine möglichst ausgewiesene Vorstellung von den Motiven und Anliegen dieser Theologie zu haben. Darum geht es in diesem Buch.

Zur Präsentation eines so umfänglichen und auch höchst unterschiedlich wahrgenommenen Werkes wie das von Barth können verschiedene Formen der Annäherung und Darstellung gewählt werden. Für das vorliegende Buch wurde ein Mittelweg zwischen elementaren Grundinformationen und gelehrter Gesamtdarstellung eingeschlagen. Letztere wäre verfrüht und für den Rahmen eines Studienbuches zu ambitioniert. Erstere bliebe andererseits hinter den Ansprüchen eines soliden Studienbuches zurück, weil sie nicht tatsächlich dazu in der Lage sein kann, der Vielschichtigkeit der Theologie Barths gerecht zu werden, die sie erst zu dem macht, was sie ist. Es gibt eine Form der Unterschreitung ihrer Komplexität, die zwangsläufig dazu führt, dass die Pointen dieser Theologie von der für sie charakteristischen Bewegung isoliert werden. Damit wird sie aber genau um das Moment gebracht, dem Barth in immer neuen Anläufen den nötigen Nachdruck zu verleihen versuchte, weil nur so über die überkommenen Gewohnheiten der Theologie hinauszukommen ist.

Das Regulativ seiner Theologie besteht vor allem in einer Verhältnisbestimmung der Theologin bzw. des Theologen zu der Besonderheit des sie interessierenden und engagierenden lebendigen Gegenstandes. An all den verschiedenen Orten, die von der Theologie in Betracht gezogen werden, ist diese Verhältnisbestimmung immer wieder neu und durchaus auch jeweils anders wahrzunehmen, wenn das, was Theologinnen und Theologen ihrer Profession nach zu sagen aufgefordert sind, in der angemessenen Verantwortlichkeit zur Sprache gebracht werden soll. Barth wollte seine Leserinnen und Leser entschieden weniger von den Resultaten seiner theologischen Einlassungen überzeugen als vielmehr von der bestimmten Gestalt einer theologischen Existenz, in der er zu seinen Gedanken gefunden hat und in der schließlich auch jede und jeder zu den je neu zu formulierenden theologischen Gedanken finden muss, die es je heute zu sagen gilt. Wenn man so will, geht es um die Einübung einer bestimmten Blickrichtung, die dann auch dazu befähigen soll, selbst zu entscheiden, ob und wie weit es möglich ist, Barth auch in seinen Resultaten zu folgen, oder ob eine überzeugendere Perspektive ins Auge zu fassen ist, die dann ebenso zur Diskussion gestellt werden kann, wie es Barth mit der seinigen getan hat. Barth wünscht sich grundsätzlich freie Leserinnen und Leser, die leidenschaftlich und engagiert Theologie treiben.

Es sind bei Barth stets mehrere Fäden, die miteinander verwoben werden und somit auch jeweils zusammen beachtet werden wollen. Zum Verständnis kommt es entscheidend darauf an, die damit verbundene spezifische Dynamik in den Blick zu bekommen. Erst wenn die Hintergründigkeit der vordergründigen Einfachheit seiner Theologie mit in den Blick kommt, kann damit gerechnet werden, dass es tatsächlich Barth ist, von dem da die Rede ist und eben nicht nur eine theologiegeschichtliche Schublade, in der wir lediglich ein neues Arrangement der ansonsten bekannten, weil üblichen Bestandteile der überkommenen Theologie wiederfinden. Möglicherweise besteht die Hauptschwierigkeit, Barth angemessen zu verstehen, darin, dass er weit verständlicher daherkommt, als er es tatsächlich ist. Das würde auch erklären, warum er immer wieder missverstanden und karikiert wird.

Und dies kann genauso gut zugleich auch anders herum gesagt werden: Barths Theologie erscheint so überaus hintergründig und kompliziert, weil das im Grunde einigermaßen Einfache, was seine Theologie ausmacht, nicht mehr recht in die neuzeitliche theologische Landschaft zu passen scheint, so dass es entweder als vorneuzeitlich oder sogar als naiv im Sinne von distanzlos unkritisch verstanden werden kann. Das im Grunde recht Einfache seiner Theologie, das aber eben in der Theologie in dieser Ausdrücklichkeit keineswegs eine allgemeine Selbstverständliche ist, besteht darin, dass sie von vornherein ein lebendiges Einverständnis mit dem christlichen Glaubensbekenntnis voraussetzt: Theologie gibt es allein um des Glaubens an Jesus Christus willen, und in der Theologie wird nach einem angemessenen Verstehen dieses Glaubens gefragt. Sie hat nicht die Aufgabe, diesen Glauben zu begründen, ihn anzubahnen, für ihn zu werben oder ihn zu verteidigen. Damit wäre sie heillos überfordert. Wohl aber soll sie sich auf die ihm eignende Erschließungskraft und die mit ihr verbundenen Verstehenshorizonte konzentrieren und dabei nach einem ebenso ausgewiesenen wie belastbaren Verstehen fragen, dass sich kritisch über den Glauben Rechenschaft abzulegen versucht. Als diese Rechenschaft ist Theologie von Belang für die Gemeinschaft der Glaubenden, d. h. für die christliche Gemeinde bzw. die Kirche. Indem theologisches Nachdenken von Belang sein muss und will, ist es auf Nachvollziehbarkeit hin angelegt, d. h. es hat einen benennbaren Entdeckungshorizont und vollzieht sich in einem argumentativ nachvollziehbaren Begründungshorizont. Das ist es, was die Theologie zur Wissenschaft macht, dass sie sich um ein begründetes und auf Nachvollziehbarkeit hin angelegtes Verstehen des christlichen Glaubens als ihres Gegenstandes bemüht. Die Besonderheit ihres Gegenstandes besteht allerdings darin, dass seine Relevanz nicht von dem Resultat seiner kritischen Überprüfung abhängt, sondern allem Verstehen immer schon vorausläuft. – Hier zeigt sich bereits, dass es bei Barth unversehens voraussetzungsvoll und verwickelt wird, selbst dann, wenn nur versucht wird, die im Grunde ganz einfache Grundvoraussetzung seiner Theologie zu benennen. Dabei kann nicht einmal wirklich ausgemacht werden, ob Barth uns diese Schwierigkeiten bereitet oder ob wir es nicht eher selbst sind, die sich so schwertun. Die weitere Vertiefung sei den späteren Ausführungen überlassen.

Schließlich sollte noch ein weiterer Aspekt bereits hier angedeutet werden. Genau genommen geht es in der Theologie nicht allein um den Denkbedarf der Gemeinde bzw. der Kirche, sondern um eine bedachte und sich neu vergewissernde Orientierung der fundamentalen Beziehung, in der sie sich immer schon befindet. Die biblisch-theologische Referenz für diese dynamisch lebendige Beziehungswirklichkeit ist für Barth der Bund, der, von Gott initiiert, den Raum bezeichnet, in dem der Mensch als Partner Gottes seine Freiheit leben kann. Gott erweist sich als der Gott, der unser Gott sein will, und der Mensch ist dazu konstituiert, gemeinschaftlich in Beziehung zu ihm zu leben. Damit kommen wir zu der entscheidenden erkenntnistheoretischen Voraussetzung seiner Theologie: Gott wird nur in der unserer Wahrnehmung vorauslaufenden und sie überhaupt erst ermöglichenden Beziehung zum Menschen erkannt, so wie sich auch der Mensch erst dann recht verstehen kann, wenn er von dieser Beziehung Gottes zu ihm aus betrachtet wird. In diesem Sinne ist die Theologie gerade nicht nur Gotteserkenntnis, sondern es ist der bereits von Gott erkannte und darin Gott erkennende Mensch, den die Theologie in den Blick nimmt, um sich je aktuelle Rechenschaft über das wahrzunehmende Verhältnis Gottes zum Menschen abzulegen. Es macht grundsätzlich keinen Sinn, Gott an und für sich betrachten zu wollen. Nach Barth vollzieht sich Theologie im Horizont der Aktualität des von Gott gestifteten Bundes, in dem zu leben die Bestimmung des Menschen ist, so dass es danach zu fragen gilt, was es mit diesem Bund auf sich hat. Indem für Barth dieses Beziehungsverhältnis des Bundes das eigentliche Drama ist, dem die Theologie zu folgen hat, wird der Bund zu der für Barth charakteristischen Dimension seiner Theologie, die sie in allen ihren Teilen durchzieht. Daher gibt es in diesem Buch auch kein besonderes Kapitel zum Bundesverständnis bei Barth, sondern die Verbindung zu dem fundamentalen Bundesverhältnis begleitet uns durch die ganze Darstellung hindurch.

Damit sind wir bei den Regieanweisungen. Barth ist kein theologischer Schnellimbiss für Sofortverwerter, ebenso wenig ein vielgängiges Gourmetmenu für ästhetisch sensibilisierte Häppchengenießer. Ohne eine gewisse Geduld und eine interessierte Neugier mit einem konzentrierten Stehvermögen werden sich die Einlassungen Barths nicht recht erschließen. In ermäßigter Form gilt das auch für dieses Studienbuch, das um der erforderlichen Differenziertheit willen seinen Leserinnen und Lesern immer wieder auch kompliziertere Zusammenhänge zumutet, die sich nur mit Substanzverlust vereinfachen ließen. Die Grundlinie sollte sich allerdings auch erschließen, wenn sich nicht jede Einzelheit auftut.

Auch wird man sich von vornherein von der Vorstellung verabschieden müssen, hier eine neutrale, gleichsam objektive Barthdarstellung präsentiert zu bekommen. Diese kann es ebenso wenig geben wie eine neutrale und objektive Darstellung Luthers oder Calvins. In jedem Fall kann es immer nur um einen möglichst gut ausgewiesenen Blickwinkel gehen, der grundsätzlich andere Blickwinkel nicht ausschließt. Zudem soll ausdrücklich darauf hinzuwiesen werden, dass auch im Blick auf Barth ebenso wie auf Luther und Calvin Vollständigkeit kein realistisches Ideal sein kann; das gilt ebenso für die Fülle des vorliegenden Werkes als auch den nicht mehr übersehbaren Umfang der Sekundärliteratur. Für beide Bereiche bleibt ein gewisses Maß an Zufälligkeit einzuräumen, das nicht auf mangelnde Umsicht, sondern allein auf die Endlichkeit der Ressourcen zurückzuführen ist, die für die Erarbeitung eines solchen Buches mobilisiert werden können.

Gelegentlich kommt es zu Wiederholungen, die vor allem der Intention geschuldet sind, die einzelnen Kapitel je für sich verständlich zu halten. So lässt es sich beispielsweise nicht vermeiden, dass es in der Betrachtung der Biographie Barths (vgl. Kap. II) Begebenheiten zu berichten gibt, die auch im Blick auf seine Wirkungsgeschichte (vgl. Kap. V) bedeutsam sind. In solchen Fällen waren um der Lesbarkeit des jeweiligen Kapitels willen Doppelungen in einem begrenzten Maße hinzunehmen, aber auch im Blick auf systematische Fundamentalentscheidungen Barths, die eben auch bei Barth selbst in unterschiedlichen Zusammenhängen erneut angesprochen werden.

Schließlich gilt es, einen ganz besonderen Dank auszusprechen an Brigitte Schroven und Hartmut Lenhard, die sich einigermaßen kurzfristig der entsagungsvollen Mühe unterzogen haben, das umfangreiche Manuskript durchzusehen. Aus ihrem größeren Abstand zu den Einlassungen in diesem Buch haben sich zahlreiche Anregungen ergeben, die teilweise auch über die nun vorliegende Fassung hinausgehen und weiterwirken werden. Ebenso danke ich für die bereits bewährte professionelle Zusammenarbeit mit dem Verlag, insbesondere Jörg Persch, Elisabeth Hernitscheck und Carla Schmidt. Gewidmet sei dies Buch meiner Frau, Rosemarie Weinrich, die schon seit langem, mit durchaus unterschiedlichen Anmutungen und teilweise mit geduldigen Entsagungen dem offenkundig unerschöpflichen Mysterium Karl Barth Asyl in unserem Leben gewährt.

Paderborn, Quasimodogeniti 2018

Michael Weinrich

1Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 3.

I. Warum Karl Barth? Eine erste Annäherung und zwölf Blitzlichter

Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass Karl Barth wohl der bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Der Grund dafür liegt vor allem in seiner Neuentdeckung der besonderen Aufgabe der Theologie und der von ihm entschlossen vollzogenen kritischen Revision ihrer Tradition in ihrer ganzen Breite. Auch dort, wo Barths Impulse auf Skepsis oder auf unterschiedlich intensive Ablehnung stießen, nötigten sie dazu, die überkommenen theologischen Einsichten und die ihnen zugrunde liegenden methodischen und inhaltlichen Orientierungen kritisch zu sichten und erneut zu begründen. Indem Barth vor allem die liberale Theologie und den Kulturprotestantismus, die beide im 19. Jahrhundert bestimmend wurden, grundsätzlich in Frage stellte und zugleich sehr ambitionierte Anforderungen an eine den Bedingungen des 20. Jahrhunderts gerecht werdende Theologie stellte, war eine selbstverständliche Fortschreibung der herrschenden theologischen Konventionen nicht mehr möglich. Und so ist es vor allem seine Theologie gewesen, die den theologischen Kontroversen vor allem in der protestantischen Theologie direkt oder indirekt eine spezifische Prägung gegeben hat. Kein anderer theologischer Entwurf hat eine vergleichbar herausfordernde Beachtung gefunden.

Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts erweist sich Barths Theologie unter den sich rasant verändernden Umständen und Bedingungen in durchaus neuer Weise als ein keineswegs abgegoltener Entwurf mit teilweise überraschender Aktualität. Dabei hat ihre Wahrnehmung längst konfessionsübergreifenden Charakter gewonnen. Zunächst war es im 20. Jahrhundert die katholische Theologie, die ein bis in die Gegenwart anhaltendes Interesse an seiner Theologie zeigte. Heute kann festgestellt werden, dass sie sowohl in den dogmatischen als auch in den ethischen Auseinandersetzungen weltweit eine ökumenische Bedeutung erlangt hat, die nur sehr wenigen theologischen Entwürfen zuteilwird. Gewiss werden Barths Vorschläge sehr unterschiedlich wahrgenommen, aber es scheint sich eine Art Konsens über die von Barth angeregten theologischen Sensibilisierungen herauszubilden, der nicht zuletzt auf dem ökumenischen Potenzial seiner auf das Wort Gottes ausgerichteten biblisch orientierten Theologie basiert.

Eine ganz andere Frage bleibt, ob die Anliegen Barths immer in angemessener Weise wahrgenommen wurden. Häufig wurden seine Zuspitzungen in der Rezeption verharmlosenden Entschärfungen, teilweise entstellenden Akzentverschiebungen oder sogar eigenwilligen Verdrehungen unterworfen, und zwar nicht nur von denen, die sie skeptisch und ablehnend bewerteten. Das wohlwollende Missverständnis hat dem abweisenden durchaus nichts voraus. Die Auseinandersetzung darüber hält bis heute an. Bei theologischen Entwürfen eines solches Formats werden sie wohl auch so lange nicht an ein Ende kommen, solange ihnen noch eine orientierende Bedeutung zugetraut wird, durchaus vergleichbar mit der Diskussion so bedeutender Theologen wie Augustin, Thomas von Aquin, Martin Luther oder Johannes Calvin.

Historisch betrachtet hat Barth in eine Zeit hineingesprochen, in der es viele Anzeichen für eine erreichte Grenze bzw. eine einzugestehende fundamentale Krise gegeben hat. Sie betraf das aufklärerische Pathos der Neuzeit und das auf das menschliche Subjekt konzentrierte moralische Selbstbewusstsein des 19. Jahrhunderts, ebenso wie die Theologie, die sich nicht zuletzt in apologetischer Absicht diesem Selbstbewusstsein angepasst hat. Barth war nicht der erste, der diese Grenze im Grunde bereits überschritten sah, sondern er konnte sich u. a. auf Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegaard, Franz Overbeck oder Fjodor Dostojewski berufen. Die Repräsentanten der Kirchen standen allerdings vornehmlich den staatstragenden gesellschaftlichen Kreisen nahe. Sie ließen sich in Deutschland beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs beinahe restlos von der nationalistischen allgemeinen Kriegsbegeisterung anstecken, was sich nicht nur in den Waffensegnungen einen demonstrativen Ausdruck verschaffte, sondern auch die Predigten dieser Zeit prägte.1 Barth stand einigermaßen allein da, als er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als das katastrophale Scheitern einer besinnungslos selbstbezogenen Politik und illusionären Kultur anprangerte. Vor allem aber sah er den vorgängigen Weg der Kirche und eben auch der Theologie an ein definitives Ende gekommen. Es war nicht weniger als Gott selbst, der ihnen in ihrem Betrieb verlorengegangen war, ohne dass es noch die Möglichkeit gab, ihn nun einfach wieder an seinen alten Platz zu stellen.

Erst als die Erschütterungen und Abgründe im weiteren Verlauf des Krieges allseits sichtbar wurden, kam es angesichts des bis dahin beispiellosen Gemetzels auf den Schlachtfeldern und des katastrophalen Ausgangs des Krieges zu einer allgemeinen Wahrnehmung dieser Krise. Das bisher weithin geltende geschichtsphilosophische Credo – der idealistische Optimismus einer sich permanent selbst vervollkommnenden Selbstverwirklichung des Menschen – war zumindest zwischenzeitlich bis in seine Wurzeln erschüttert. Damit war nun auch in der Theologie ein Boden dafür bereitet, die bisherigen Symbiosen und Koalitionen in Frage zu stellen. Beinahe alle für verlässlich gehaltenen Orientierungen gerieten ins Wanken, und die prinzipiell skeptisch gestimmte Frage, was in dem, was wir Wirklichkeit nennen, überhaupt noch Verlässlichkeit beanspruchen kann, wurde verbreitet gestellt – in der Philosophie ebenso wie in der Theologie, aber auch in der Literatur, im Theater, in der Musik und der Kunst. Der Ausgang des Ersten Weltkrieges evozierte beinahe überall ein tief empfundenes Krisenbewusstsein, das – auch wenn es sich im Laufe der Jahre erstaunlich bald wieder weitgehend verflüchtigte – für das Verständnis des 20. Jahrhunderts insgesamt zumindest als Narbe bedeutsam bleibt.

Unbeschadet von Barths besonderer Wahrnehmung dieser Krise bildete dieses epochale Krisenbewusstsein den allgemeinen Resonanzboden für seine theologischen Interventionen, sowohl für seine Diagnose und Zustandsbeschreibung der Katastrophe als auch für seine radikale theologische Deutung. Es war dieser Resonanzboden, der zunächst einen nicht unerheblichen Teil seines enormen Erfolgs ausmachte, und zugleich ist er auch einer der Gründe für die zahlreichen Missverständnisse und problematischen Aneignungen, denen seine Theologie von Anfang an ausgesetzt gewesen ist. Einerseits eignete diesem Resonanzboden eine ungewöhnliche Reichweite und andererseits war er von einer unbeschreiblichen Diffusität geprägt, die es zwar ermöglichte, dass er von recht unterschiedlichen Seiten aus betreten werden konnte, aber zugleich verhinderte, dass sich ein klares Profil der Krise identifizieren ließ. Barth hat später selbst diese Situation im Blick auf die verbreitete Wahrnehmung seiner Interventionen als durchaus ambivalent bewertet (vgl. Kap. V.2).

Barths eigener Zugang war von vornherein ein entschlossen theologischer, auch wenn für ihn stets die historischen Umstände, unter denen sich etwas ereignete, von großem Interesse waren. Als Theologe empfand er es beim Ausbruch des Krieges als einen Skandal, in welcher Weise da Gott in das blindwütige Treiben hineingezogen wurde, so als lasse er sich für jede Schandtat in Anspruch nehmen, um sich das jeweilige Ansinnen von ihm absegnen lassen. Es könne nicht sein, dass sich mit Gott alles rechtfertigen lasse. Wenn es sich bei Gott nicht nur um einen Spuk handeln soll, könne es dem Menschen nicht einfach freigestellt sein, wie von ihm zu reden ist und in welcher Weise er jeweils in dem konkreten Zeitgeschehen in den Blick genommen wird. Und so könne es der Theologie auch nicht freigestellt sein, von wo aus sie die Welt betrachtet und in welcher Weise die Beziehung Gottes zum Menschen angemessen zur Sprache gebracht wird. Wenn sie eine sinnvolle Unternehmung sein soll, muss es für die Theologie eine verbindliche Orientierung geben, an der sich ihre Gottesrede und dann eben auch ihre Wirklichkeitsbetrachtung messen lassen müssen. Es kann nicht einfach eine Frage ihres freien Ermessens sein, von wo aus sie sich in den Verlegenheiten, in die sich der Mensch durch die Krise versetzt sieht, eine Orientierung erhofft. Allein, es bleibt die Frage, wie sie sich darin vergewissern kann, dass sie in der richtigen Richtung nach Orientierung Ausschau hält?

Es gehört zu dem besonderen Charakter seiner Intervention, dass Barth, wenn es um Gott geht, dem Menschen die Möglichkeit bestreitet, von sich aus auch nur in die richtige Richtung blicken zu können. Gott ist kein Gegenstand, auf den die menschliche Erkenntnis früher oder später durch eigene Anstrengungen geführt werden könnte. Und so ist die Theologie alles andere als eine selbstverständliche oder auch nur naheliegende Möglichkeit des Menschen. Wenn schon sonst gilt, dass alle Orientierungen, die sich der Mensch selbst zu geben vermag, unablässig auch wieder in Zweifel gezogen werden, wie viel mehr hat dies in der Theologie zu gelten, deren Gegenstand ihr noch viel weniger zur Verfügung steht als alle anderen Gegenstände menschlicher Erkenntnis! Es ist gerade nicht so, dass da, wo die menschliche Erkenntnis unweigerlich an ihre Grenze stößt, nun Gott in die Bresche springt. Ganz im Gegenteil kommt mit Gott eine per se weit grundsätzlichere Infragestellung unserer Erkenntnis auf den Plan, die sich auch nicht durch die Theologie auffangen lässt. Die Krise, die Barth vor Augen hatte, bietet von sich aus keinen Ausgang an, den der Mensch nun einfach aufsuchen könnte (vgl. Kap. II.3).

Barth hat aber der Theologie nicht nur ihre Zeit bestritten, sondern auch ihren Ort, denn sie könne längst nicht mehr beanspruchen, von allgemeinem Interesse zu sein. Und je mehr sie diesem faktisch annullierten Anschein dennoch hinterherzulaufen versuche, umso mehr werde sie auch den Rest an Interesse verspielen, der ihr noch von der Seite zukommt, die sich noch der christlichen Tradition verbunden weiß. Ihr Ort ist nicht einfach der Areopag (Apg 17), der allgemeine Marktplatz der Weltanschauungen, auf dem sie vor einer diffusen Öffentlichkeit einem unbekannten Gott ein Gesicht zu geben versucht, sondern sie hat ihren Ort zunächst und eben auch prägend in der Kirche, die sich mit ihrem Bekenntnis auf den in der christlichen Tradition vorausgesetzten Gott beruft. Der besondere Denkbedarf der Theologie entsteht darin, dass es in der Kirche nicht beliebig sein kann, in welcher Weise sie von Gott spricht. Es ist nicht das allgemeine Gegenwartsbewusstsein, an das sich Barth wendet, sondern er bescheidet sich auf den besonderen Horizont, für den erklärtermaßen die Rede von Gott nach christlichem Verständnis von vornherein eine existenzielle Dimension hat. Das ist die Kirche, und es gilt, vor allem die Kirche selbst daran zu erinnern. Diese Konzentration auf die Kirche und ihre Verkündigung zeigt an, dass es Barth nicht um einen allgemein zu führenden Diskurs etwa über die Sinnhaftigkeit der Gottesfrage oder gar um eine Bekämpfung des Atheismus geht. Nebenbei gesagt war ihm der Atheismus zeitlebens in vieler Hinsicht deutlich weniger suspekt als die vorfindliche Theologie und die Kirche mit ihrem überaus nachlässigen, weil im Grunde unernsten Umgang mit der Wirklichkeit Gottes. Stattdessen hat Barth die in der Gemeinde bzw. der Kirche immer wieder neu zu stellende Frage nach den Bedingungen und Konsequenzen einer angemessenen Rede von Gott aufgeworfen, die seiner lebendigen Selbsterschließung und nicht nur unseren Phantasien und Wünschen gerecht wird.

Wir stoßen bei Barth immer wieder auf Hinweise auf die prinzipielle Verlegenheit, in der sich die Theologie befindet, wenn sie die von ihrem Begriff und von ihrer konkreten Situation ausgehende Aufgabe tatsächlich ernst nimmt. Barth bleibt sich zeitlebens bewusst, dass der Anspruch der Theologie weit über das hinausgeht, was mit unseren begrenzten Möglichkeiten geleistet werden kann. Diesem sachlich bedeutsamen Aspekt seiner Theologie werden wir in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder begegnen. Er steht für den dynamischen und unabschließbaren Charakter ihres unablässigen Ringens um ihren in seiner Lebendigkeit niemals erfassbaren Gegenstand, der uns jeweils dazu nötigt, uns ganz neu auf den Anfang zurückwerfen zu lassen. Barth vergleicht die Theologie mit dem unzulänglich bleibenden Versuch, einen „Vogel im Fluge“ zu beschreiben.2 Es könnte nur eine Verkennung einer recht verstandenen Theologie sein, wenn sie den Anschein erwecken würde, dass sie mit einem mehr oder weniger umfassenden Bündel wiederholbarer Lehren die Wirklichkeit Gottes erfassen könne.

Im Rahmen dieser ersten allgemeinen Annäherung sollen zunächst zwölf markante Aspekte als Blitzlichter markiert werden, die später an verschiedenen Stellen in den folgenden Kapiteln wieder aufgegriffen und weiter vertieft werden.

1.Die Gottesfrage

These

Gegenüber der gewohnheitsmäßigen selbstverständlichen Berufung auf Gott hebt Barth die Fremdheit und Andersartigkeit Gottes im Horizont des christlichen Bekenntnisses hervor. Gott erschließt sich allein aus seiner Besonderheit, durch das auch das Allgemeine in ein neues Licht gerät.

Es war die allseits ebenso selbstverständliche wie unspezifische Berufung auf Gott, die Barth angesichts des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs als eine sich verborgen haltende Infragestellung Gottes empfand. Er sah die Kirche ebenso wie die Theologie dazu herausgefordert, sich ganz neu und grundlegend mit der Irritation zu beschäftigen, die er unweigerlich damit verbunden sah, wenn der Mensch es wagt, von Gott zu sprechen. Barth empfand es als eine Ungeheuerlichkeit, auf welche Weise man sich es sich mit Gott gleichsam bequem gemacht hatte. Es war ein für die eigene Weltsicht domestizierter Gott, der von der Kirche und der Theologie, aber auch von einem Teil der gesellschaftlich einflussreichen Verantwortungsträger gerne da im Spiel gesehen wurde, wo sich jeweils die eigenen geschichtlichen Sympathien und Optionen fanden. Barth erhob den Vorwurf, dass die Inanspruchnahme Gottes zu einer beinahe voraussetzungslos zur Verfügung stehenden Berufungsinstanz verschlissen sei, mit der diesem oder jenem Geschehen – je nach Bedürfnislage – eine entsprechende Dignität bzw. religiöse Weihe verliehen werden konnte. Der längst vor allem auf sich selbst gegründete neuzeitliche Mensch hatte inzwischen beinahe alle Bereiche seiner Wirklichkeit vollständig in die eigene Regie genommen und Gott dabei die Rolle zugewiesen, die vom Menschen sich selbst zugemessene Dignität mit einer besonderen religiösen Weihe zu umgeben. Wo der neuzeitliche Mensch Gott nicht längst als überflüssiges und hinderliches Relikt abgeschüttelt hatte, diente er – pointiert formuliert – vor allem der religiösen Selbstergötzung des stets zur Selbstvergewisserung auf weitere Selbstbestätigung ausgerichteten Subjekts. Es waren die weithin zusammengeschmolzenen Reste des schwindenden menschlichen Selbstzweifels, denen als willfähriges Ermutigungsangebot ein nützlich partikularisierter Gott in möglichst greifbarer Nähe gehalten werden sollte. Gott war zu einer in Anspruch zu nehmenden Möglichkeit des sich auf seine Möglichkeiten verlassenden modernen Menschen geworden.

Wenn Barth beklagte, dass die Rede von Gott nichts anderes im Schilde führe, „als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen [zu] reden“,3 so wollte er darauf aufmerksam machen, dass eine solche Rede von Gott ihren spezifischen Inhalt verloren habe, durch den sie allein zu einer sinnvollen Anstrengung werden könnte. Gott sei gleichsam zu einem allgemeinen Ausstattungsgegenstand unseres Wirklichkeitsverständnisses verkommen. Gewiss mag man sich wohl noch hier und da recht gern seiner bedienen, aber von ihm gibt es nicht wirklich etwas Besonderes zu erwarten oder zu befürchten, weil er konsequent der Agenda des Menschen nachgeordnet wird, mit der er seine Geschichte in die eigenen Hände genommen hat. Abgedrängt in den Sonderbereich der Religion ist er zu einem wehrlosen Spiegel menschlicher Selbstgerechtigkeit verharmlost worden, der sich beinahe für alles in Anspruch nehmen lässt, was gerade für das Gute, Wahre und Schöne gehalten wird.

Gegenüber diesem weltanschaulich eingepassten Gott, der sich in allen Lebenslagen den eigenen Erwartungen gefügig hält, hebt nun Barth entschieden hervor, dass Gott „der ganz Andere“4 sei. Er will damit daran erinnern, dass Gott nicht einfach eine Allgemeinheit zukommt, die jederzeit und allseits zur Verfügung steht. Vielmehr ist er das schlechterdings Besondere, das sich weder aus den Bedingungen der Welt und unseren Erfahrungen ableiten lässt noch ihnen einfach zugeordnet werden kann. Im Blick auf Gott versagt die zu allgemeiner Geltung erhobene Erkenntnisregel, nach der jedes Besondere immer nur als eine Variante eines Allgemeinen erkannt werden kann. Soll ernsthaft von Gott die Rede sein, so müsse es um etwas Anderes gehen als um eine besondere Spezies aus einem angenommenen Genus des allgemein Göttlichen und den Vorstellungen, die wir uns davon machen. Wir wissen keineswegs schon von uns aus, was es heißen könnte, dass Gott in Erscheinung tritt und was von ihm dann zu erwarten wäre. Gott ist keine Variante einer uns bekannten allgemeinen Größe mit einem bestimmten Eigenschaftspotenzial. Vielmehr kann für Gott die allgemein geltende Erkenntnisregel grundsätzlich nur in ihrer Umdrehung gelten: Nur vom Besonderen aus lässt sich das Allgemeine erkennen, d. h. nur wenn und indem die unvergleichliche Besonderheit Gottes in Erscheinung tritt, wird es uns möglich, etwas über Gott zu sagen und – wie sich dann zeigen wird – nicht nur über Gott, sondern auch über den Menschen und unsere ganze Wirklichkeit, zu der Gott, wenn und wo er in Erscheinung tritt, immer schon in einer ganz bestimmten Beziehung steht.

Gott lässt sich nicht unseren Erkenntnisregeln unterwerfen so wie es nicht an uns ist, ihm den ihm zukommenden Platz zuzuweisen, sondern rechte Gotteserkenntnis kann nur aus der von ihm selbst eröffneten Beziehung zu uns kommen, in der uns dann auch unser eigener Platz erschlossen wird, über den ja ebenfalls keine selbstverständliche Klarheit zur Verfügung steht. Es ist diese Wiederentdeckung der Fremdheit, der Andersartigkeit und zugleich der sich selbst vergegenwärtigenden Gegenständlichkeit Gottes, die Barth den allseitigen und selbstverständlichen Berufungen auf Gott entgegenhält.

Wie bereits angedeutet, wendet sich Barth nicht an die Gottesleugner, nicht an diejenigen, die sich nicht mehr auf Gott berufen oder diesen gar mehr oder weniger offensiv bestreiten, um nun ihnen gegenüber Gott oder die Religion zu verteidigen, wie es Friedrich Schleiermacher in seinen berühmten Reden „Über die Religion“ im Blick auf „die Gebildeten unter ihren Verächtern“ getan hat. Er sieht sich vielmehr in erster Linie von dem desaströsen Zustand des Gottesverständnisses bei denjenigen provoziert, die sich ausdrücklich auf Gott berufen und vorgeben, als seine Protagonisten aufzutreten. Er wendet sich an diejenigen, die das Christentum für sich in Anspruch nehmen und sich auf den Gott der christlichen Tradition berufen. Ihnen wirft Barth vor, dass zum Schaden der Kirche und damit auch zugleich der ganzen Gesellschaft nicht mehr deutlich ist, was das Bestimmte und somit Orientierende dieses Gottes ist. Barth hält der Kirche und der Theologie entgegen, dass es sich verbiete, Gott in unsere jeweilige Weltanschauung einzubauen, weil es in seiner Konsequenz nur als absurd bezeichnet werden könne, wenn sich Gott je nach Lage unserem Ermessen unterwerfen ließe. Vielmehr stehe umgekehrt mit der Gottesfrage immer auch unsere ganze Weltanschauung zur Debatte. Mit der angemessenen Wahrnehmung der Gottesfrage steht zugleich die Kirche als Kirche auf dem Spiel. Barth mahnte zu einer grundlegenden Umkehr, ohne welche die Kirche ihrer spezifischen Freiheit verlustig gehe und somit ihre geschichtliche Legitimation verlöre. Es bleibt es eine durchaus anspruchsvolle und ambitionierte Angelegenheit, wenn der Mensch es wagt, im Blick auf sich und die von ihm erschließbare Wirklichkeit von Gott zu reden.

imagesWeitere Entfaltung und Vertiefung dieses Aspektes in Kap. II.3; IV.1; V.2.

2.Die Wiederentdeckung der Bibel

These

Die grundlegende Orientierung für die Erkenntnis Gottes und seiner Geschichte mit dem Menschen findet die christliche Gemeinde im biblischen Zeugnis, das in dieser Funktion durch nichts anderes ersetzt werden kann.

Wenn Barth das gewohnheitsmäßige Christentum so energisch an die besondere Andersartigkeit Gottes erinnert, beruft er sich auf die Bibel und die charakteristische Art und Weise, in der in ihr von Gott und seinem Handeln die Rede ist. In den biblischen Texten finde sich das grundlegende Gotteszeugnis, an dem sich unser Gotteszeugnis von heute immer wieder neu auszurichten habe. Ohne Orientierung an der biblischen Perspektive der Gotteserkenntnis bleibt alle Gottesrede im Horizont des christlichen Glaubens willkürlich und unbegründet.

Wenn Barth von der „neuen Welt in der Bibel“ spricht, geht er davon aus, dass sie in der Substanz „eben gar nicht die rechten Menschengedanken über Gott, sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen“ mitteilt.5 Damit wird nicht in Abrede gestellt, dass wir in der Bibel durchgängig auf menschliche Gedanken treffen. Aber es kommt entscheidend darauf an, woraufhin wir dieses menschliche Gotteszeugnis lesen. Solange wir es so lesen, dass wir uns möglichst selbst darin wiedererkennen wollen, werden wir dort auch vor allem uns selbst begegnen. Wird die Bibel als ein Buch zur Orientierung einer moralischen Lebensführung gelesen, so wird sie uns hier eine Auskunft geben. Je nachdem, welche Fragen wir an sie richten, wird sie uns mit mehr oder weniger überzeugenden Antworten beschäftigen. Aber solange wir lediglich versuchen, unsere Lebensfragen in den Lebensorientierungen der antiken Verfasser der Bibel zu spiegeln, um uns dann diese oder jene Pointe bestätigen zu lassen, sind wir noch nicht auf das Besondere des biblischen Zeugnisses gestoßen. Solange wir uns allein an unseren eigenen Fragen orientieren, bleiben wir grundsätzlich in unserem eigenen menschlichen Möglichkeitshorizont und gingen damit an dem eigentlichen Anliegen des biblischen Zeugnisses und seinen Fragen an uns vorbei.

Barth hebt hervor, dass von den Verfassern der Bibel neben all dem Alten, was uns im Grunde immer schon irgendwie bekannt ist, vor allem eine neue Welt in den Blick gerückt wird, die nicht von unseren Möglichkeiten beherrscht wird, sondern in der sich die von uns aus unzugängliche Wirklichkeit Gottes in ihrer Beziehung zu unserer menschlichen Wirklichkeit zeigt. Es ist diese von unseren Möglichkeiten nicht erreichbare neue Welt, die im biblischen Zeugnis in unsere alte Welt hineinragt und um derer willen es als unvergleichliche Orientierungsquelle ernst zu nehmen bleibt. Nur wenn wir die Bibel mit der Erwartung lesen, in ihr mehr finden zu können, als wir uns selbst zu sagen vermögen, werden wir der Intention ihrer Verfasser gerecht, denn sie wollen uns auf diese neue Welt Gottes aufmerksam und auch neugierig machen.

Barth spricht vom ‚Ton vom Ostermorgen‘6, wie er im Grunde durch das ganze biblische Zeugnis hindurch zu vernehmen sei. Es spricht von dem Gott, der Christus vom Tode auferweckt hat und uns in den Verheißungshorizont dieser Auferstehung stellt. Es ist dieser Ton vom Ostermorgen, der wie nichts anderes für die neue Welt Gottes steht, die in unserer alten Welt längst wirksam ist und sich weiter Raum verschaffen will. Barth appelliert an den notwendigen Mut, diesen der alten Welt gegenüber grundlegend neuen Ton nicht in dem von uns veranstalteten Betrieb besinnungs- und heillos zu überhören.

Die Kirchen erweisen sich darin als Repräsentanten der alten Welt, dass auch sie sich immer wieder daran beteiligt haben, diesen in die Welt drängenden unvergleichlichen „Ton“ Gottes durch die Betriebsamkeit ihrer Frömmigkeitspraxis und ihre Gesinnungsappelle zu übertönen. In unseren anhaltenden Selbstrechtfertigungen übersehen wird Gottes Engagement für die Menschen. Die besondere Gerechtigkeit Gottes wird durch unsere menschlichen Gerechtigkeitsoptionen und ihre kategorialen Fixierungen gleichsam aus unserer Welt herausgehalten, weil wir nicht den Mut aufbringen, ihr eine wirkliche Bedeutung zuzumessen. Die Bibel haben wir mehr und mehr den Wahrnehmungsprämissen der verschiedenen menschlichen Gerechtigkeiten unterworfen, so dass die in ihr bezeugte andere Gerechtigkeit Gottes, wie sie im Ton vom Ostermorgen zum Klingen kommt, unbeachtet übergangen wird.

Soll Gott nicht nur der religiöse Spiegel menschlicher Selbstgerechtigkeiten sein, so gilt es, der Bibel mit dem Vertrauen zu begegnen, von ihr auf die Blickrichtung gewiesen zu werden, in der sich die Wirklichkeit Gottes in unserer Wirklichkeit erkennbar machen will.

imagesWeitere Entfaltung und Vertiefung dieses Aspektes in Kap. III.3.

3.Die Bibel verstehen

These

Die Methoden zur Erschließung des rechten Verständnisses der Bibel dürfen diese nicht von außen an sie herangetragenen Vorstellungen oder Erwartungen unterwerfen, sondern sollen offen für ihre Selbstbezeugung sein.

Barths neue Konzentration auf die Bibel ist überaus voraussetzungsvoll und keineswegs als ein mehr oder weniger naiver Biblizismus zu verstehen. Das bedeutet aber nicht, dass Barth nun eine ganz spezifische Bibelhermeneutik vorträgt, mit der er einen Weg gebahnt sieht, auf dem diese erwähnte „neue Welt in der Bibel“ zuverlässig in Erscheinung treten kann. In dieser Hinsicht hält sich bei Barth ein durchaus fundamentaler Methodenskeptizismus durch. Ohne seinerseits einen Königsweg der Exegese zu propagieren, versucht er einerseits, in kritischer Auseinandersetzung mit der Praxis, in der er die zeitgenössische Theologie Exegese treiben sah, deren als kritisch stilisierte Übergriffigkeit und die daraus resultierenden Desiderate zu annoncieren, und andererseits – soweit es irgend geht –, der unterstellten inhaltlichen Solidität des Textes im Horizont des Gesamtzeugnisses der Bibel auf die Spur zu kommen.

Barth distanziert sich von Umgangsweisen mit den biblischen Texten, die sie den Verstehenskategorien des modernen historischen Bewusstseins unterwerfen. Hier werde bereits durch die Methode den biblischen Texten konsequent die essenzielle Chance abgeschnitten, etwas zur Sprache zu bringen, was wir uns nicht auch selber sagen könnten. Wenn grundsätzlich nur dasjenige gelten kann, wozu es aus gegenwärtigen Erfahrungen auch Entsprechungen gibt, so dass wir uns erlauben, es für historisch wahrscheinlich zu halten, wird von vornherein allem Einmaligen und Besonderen die gerade hier angesprochene besondere Aufmerksamkeit entzogen. Eine solche Lektüre der Bibel wird nicht von wirklicher Neugierde, sondern mehr von dem Interesse an Harmonie und Bestätigung bewegt. Sie gibt sich bereits damit zufrieden, dass aus dem Wald herauskommt, was man in ihn hineinruft. Ohne die erwartungsvolle Offenheit, im biblischen Zeugnis tatsächlich über unsere eigenen Möglichkeiten hinaus geführt zu werden, bleiben die Auslegungen im Horizont der eigenen Voraussetzungen gefangen und konsolidieren auf diese Weise den Ausleger gegenüber dem Text.

Von Anfang an hat Barth die Alternative von historisch-kritischer Exegese und theologischer Exegese nicht gelten lassen. Es kann nicht infrage gestellt werden, dass wir natürlich die Texte historisch-kritisch zu lesen haben, aber es kommt entscheidend darauf an, was damit gemeint ist. Auch bleibt entschieden einzuräumen, dass es sich bei der Bibel um ein mit allen Mängeln des Menschlichen behaftetes Zeugnis handelt. Es ist durchaus mit Ungenauigkeiten, Irrtümern und tendenziellen Zuspitzungen zu rechnen. Aber die Orientierung am biblischen Zeugnis verlöre jede substanzielle Bedeutung, wollte man annehmen, dass ihr Zeugnis von Gottes Handeln am Menschen so sehr von diesen Mängeln verdeckt sei, dass es nun darauf angewiesen ist, von uns erst hinter den biblischen Texten ausgegraben und zum Leuchten gebracht zu werden.

Die entscheidende Frage lautet: Ist die historische Kritik der Anwalt des Lesers gegenüber dem Text oder der Anwalt des Textes gegenüber dem Leser. In dieser Alternative kann es nach Barth nur so sein, dass dem Text ein Anwalt zugesprochen werden muss, weil der Leser durchaus sein eigner Anwalt ist. Barth macht darauf aufmerksam, dass ein Text noch nicht verstanden ist, wenn möglichst differenziert die Bedingungen ergründet werden, auf welche Weise er zustande gekommen ist. Es müsse vielmehr ebenso intensiv versucht werden, möglichst klar zu benennen, was er mitteilen will. Die Exegese kommt erst dann an ihr Ziel, wenn es ihr gelingt, mit eigenen Worten das zu sagen, was der jeweilige Autor uns mit seinem Zeugnis eröffnen wollte.

Dabei bleibt zu beachten, dass es nicht um den Besuch einer alten Pyramide geht, bei dem das aufzuspürende Neue prinzipiell immer nur eine längst versunkende Herrlichkeit der Vergangenheit sein kann. So sehr uns das biblische Zeugnis zweifellos in antiker Gestalt übermittelt ist, so sehr weist es zugleich über die spezifischen Bedingungen seiner Zeit hinaus. Indem es auf die Bezeugung der lebendigen Wirklichkeit des Handelns Gottes ausgerichtet ist, zielt es auf das unvergleichlich Besondere der Lebendigkeit Gottes, das auch heute nur dann angemessen wahrgenommen werden kommen kann, wenn wir uns vom biblischen Zeugnis orientieren lassen. Biblische Hermeneutik im Sinne von Barth ist schlicht und folgenreich die Anstrengung, bei der Auslegung der biblischen Texte möglichst genau in die Blickrichtung des jeweiligen Textes zu sehen in der Erwartung, von dort aus möglichst genau das zu hören zu bekommen, was die Verfasser zur Abfassung ihres Zeugnisses motiviert hat.

imagesWeitere Entfaltung und Vertiefung dieses Aspektes im Exkurs in Kap. III.3.

4.Der Vorrang der Offenbarung

These

Gott kann nur dann angemessen zum Gegenstand der Erkenntnis werden, wenn er selbst zum Subjekt seiner Erkenntnis wird und unserer diesseitsverschlossenen Erkenntnis gleichsam auf die Sprünge hilft. In diesem Sinne steht die Offenbarung für die fundamentale Verwiesenheit des Menschen auf die Selbstvergegenwärtigung Gottes.

Der skizzierte Umgang mit dem biblischen Zeugnis bringt eine eigene Erkenntnistheorie mit sich, auf die Barth die Theologie verwiesen sieht, wenn sie sich aufmacht, nicht nur von sich, sondern tatsächlich auch von Gott zu reden. Gott kann kein von der Theologie aufzusuchender Gegenstand sein. Es kann nur anders herum funktionieren: Nur da ist sinnvoll von Gott zu reden, wo man sich selbst von Gott aufgesucht weiß. Der Erkenntnisaktivität des Menschen muss grundsätzlich eine Aktivität Gottes vorausgehen, wenn anders es nichts zu erkennen gibt. Die von der Bibel bezeugte Offenbarung ist nicht nur der Gegenstand der Erkenntnis, sondern eben auch ihr Subjekt. Das ist die grundlegende Voraussetzung und zugleich die entscheidende Verlegenheit jeder theologischen Unternehmung: Gott kann nur da erkannt werden, wo er sich selbst zu erkennen gibt. Rechte Erkenntnis des Offenbarungszeugnisses kann selbst nur ein Resultat von Offenbarung sein. Der Wirklichkeitserweis des Offenbarten kann allein durch die geoffenbarte Wirklichkeit selbst erfolgen und nicht durch die Instrumentarien der uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten.

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