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Titel

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7500-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6028-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Aachen

© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Umschlaggestaltung: Jan Henkel, www.janhenkel.com
Titelbild: Schmiedewerkstatt: © dotshock / shutterstock,
Frau mit Schirm: © KathySG / shutterstock,
Landschaft: © Natasza Fiedotjew / Trevillion Images
Autorenfoto: © Jesko Schröder
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Inhalt

Über die Autorin

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Leseempfehlungen

Über die Autorin

Autor

URSULA SCHRÖDER arbeitet freiberuflich ich als PR-Texterin und Romanautorin. Sie ist Mitglied einer evangelischen Freikirche im Sauerland und engagiert sich im Vorstand des sozialen Bürgerzentrums ihrer Heimatstadt. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Eins

»Kleide dich bitte um zum Essen, Nini«, sagte Adelheid zu ihrer Tochter. »Das geblümte Musselinkleid scheint mir passend. Und keine Brille, versteht sich.«

Nini ließ ihr Buch sinken und verzog erschrocken das Gesicht. »Aber Mama! Wer kommt denn so Wichtiges?«

»Zum einen hat sich der junge Herr von Rechberg angesagt …«

»Heinrich?«, rief Nini begeistert. »Der ist schon wieder aus England zurück? Wie schön! Keine Sorge, Mama, der kennt mich doch auch mit Brille. Das ist ihm gleichgültig, glaub mir.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Adelheid. »Aber Ferdinand hat einen zusätzlichen Gast.«

»Einen Gast?«, wiederholte Nini neugierig. »Wer ist es? Kennen wir ihn?«

»Ich glaube nicht«, sagte Adelheid. »Ein Herr Kemper. Es geht um Geschäftliches, die beiden sitzen schon geraume Zeit im Herrenzimmer.«

»Kemper? Das klingt nicht sehr vornehm«, meinte Nini abschätzig. »Den brauche ich bestimmt nicht zu beeindrucken. Bitte erlaube mir die Brille, Mama. Lina macht heute Forelle, da muss ich die Gräten sehen können.«

Adelheid seufzte. »Du findest aber auch immer einen Grund, Kind. Glaub mir, diese Brille entstellt dich. Schlimm genug, dass du so groß bist und so wenig weibliche Formen aufweist – und dann musst du auch noch deine schönen blauen Augen hinter diesen Gläsern verstecken. Wie willst du da je einen Mann finden?«

»Und wie soll ich ihn ohne Brille finden, wenn ich ihn nicht erkennen kann?«, gab Nini zurück. »Aber wenn es dir lieber ist, ersticke ich halt an einer Gräte, dann hat sich das Problem gelöst.«

Ärgerlich versetzte Adelheid ihrer Tochter einen kleinen Stüber mit dem Fächer, den sie bei sich trug. »Ich wünschte, du würdest mit so etwas keinen Scherz treiben, Pauline. Und du solltest wissen, dass es die Sorge jeder Mutter ist, dass ihre Kinder angemessene Ehepartner finden, damit ihre Zukunft abgesichert ist und sie ihr Glück finden.«

»Meinst du damit die Mütter oder die Kinder?«, fragte Nini schelmisch. »Immerhin hat dir doch Ferdinand bereits den Gefallen getan und sich vorteilhaft verheiratet. Damit sind deine Sorgen meiner Rechnung nach schon mal um die Hälfte verringert.«

»Du nimmst das alles nicht ernst«, klagte Adelheid. »Natürlich bist du noch jung und hast wenig Erfahrung damit, wie es im Leben gehen kann. Denkst du nie darüber nach, wie plötzlich dein Vater von uns gegangen ist und dass wir deshalb jetzt beide deinem Bruder zur Last fallen?«

Nini runzelte die Stirn. »Zur Last fallen? Ist es denn nicht eine Selbstverständlichkeit, dass wir hier bei ihm wohnen? Velendorff ist seit Jahrhunderten unser Familiensitz! Wie soll es denn anders sein?«

»Natürlich ist das so«, räumte Adelheid ein. »Und ich habe nie auch nur ein Wörtchen von ihm dazu gehört. Aber schau, Ferdinand und Henriette sind doch dabei, eine eigene Familie zu gründen. Velendorff ist nun ihr Heim, und wir sind eher zusätzliche Bewohner.«

»Wie kannst du so etwas sagen, Mama! Auch Großmutter und Tante Auguste haben doch hier ihren Lebensabend verbracht und sich um uns gekümmert, als wir klein waren. Das war einfach eine Selbstverständlichkeit.«

»Ja, früher! Da war das alles noch anders. Aber die Zeiten ändern sich, und das ist schon manchmal beunruhigend.«

»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte Nini und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Es wird sich alles finden. Der Herr lässt uns nicht im Stich, das sagst du doch selbst oft genug.«

»Ja, schon«, murmelte Adelheid. »Wir müssen jedoch selbst auch unser Teil dazu tun, Nini. Gerade wenn unser Weg vorgezeichnet ist. Und der Weg für eine junge Frau wie dich ist nun mal, zu heiraten und deinem Gatten eine treusorgende Ehefrau zu sein.«

»Ja, natürlich«, sagte Nini beschwichtigend. »Aber Mama, wenn es nur an meiner Fehlsichtigkeit liegt, dass mich einer nicht will, dann kann er mir doch gestohlen bleiben.«

»Wenn ein Mann erst mal deine inneren Werte kennt, wird er gewiss darüber hinwegsehen können, aber zunächst muss er auf dich aufmerksam werden. Das leuchtet dir doch ein, oder?«

Nini atmete tief aus. »Sicherlich, Mama. Ich gelobe, ich werde das geblümte Musselinkleid anziehen und die Brille sofort nach dem Fischgang verschwinden lassen, wenn es dich erfreut.« Sie griff wieder nach ihrem Buch.

»Es geht nicht darum, was mich erfreut«, brummte Adelheid und wandte sich zur Tür. »Das hat es noch nie getan. Aber wenn du weiterhin die Nase den ganzen Tag nur in deine Bücher steckst, dann ist es kein Wunder, dass du schlechte Augen bekommst.«

Nini biss sich auf die Lippen. Sie glaubte nicht, dass ihre Fehlsichtigkeit durch das Lesen schlimmer wurde. Mit der Brille konnte sie wunderbar lesen, ohne Kopfschmerzen zu bekommen. Und womit sollten adlige Fräulein denn sonst ihre Zeit verbringen? Zum Handarbeiten, zum Malen, selbst für die Gartenarbeit brauchte sie ihre Sehhilfe. Von klein auf hatte sie sich angewöhnt, ihre Klavierstücke auswendig zu spielen, aber eine großartige Pianistin würde sie nie werden. Mit dem Singen war es ähnlich.

Das Einzige, wozu sie keine Brille brauchte, war Spazierengehen und Ausreiten, doch das konnte sie schließlich nicht den ganzen Tag tun. Also verkroch sie sich so oft wie möglich in eine ruhige Ecke, wo sie keiner bemerkte, um sich in ihre Bücher zu versenken. Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter konnte sie sich allerdings nicht ohne Weiteres wieder in ihren Roman vertiefen, weil ihr die entscheidende Neuigkeit viel zu sehr im Kopf herumging: Heinrich war zurück.

Nini war ein wenig überrascht darüber, denn soweit sie wusste, hätte er noch bis Ende des Jahres in Oxford bleiben sollen – so hatte es jedenfalls in seinem letzten Brief geheißen. Aber das war schon Wochen her, Heinrich schrieb nicht so oft, weil er immer sehr beschäftigt war. Oder hatte er sie mit Absicht an der Nase herumgeführt, weil er sie überraschen wollte?

Als Kinder waren Nini und der nur wenig ältere Heinrich Spielkameraden gewesen, das Gut der Familie Rechberg grenzte direkt an Velendorff, und die Mütter der beiden hatten ihre Begegnungen so gut es ging gefördert. Mit sechzehn war er der Einladung eines Verwandten gefolgt und nach England gegangen, aber bei seinen Heimatbesuchen hatten sie sich regelmäßig gesehen und immer wieder auf Anhieb gut verstanden. Es war Heinrich gewesen, der ihren Aufenthalt in einem englischen Mädchenpensionat vermittelt hatte, wo sie mit siebzehn ein Dreivierteljahr verbrachte und – nachdem sie die ersten von starkem Heimweh geprägten Wochen überstanden hatte – mit großem Eifer ihre Englischkenntnisse erweiterte.

Und es war immer Heinrich gewesen, der vor ihrem geistigen Auge erschienen war, wann immer ihre Mutter auf das Thema Eheschließung zu sprechen gekommen war. Er war es weiterhin, stellte sie fest, als sie sich bewusst machte, dass sie ihn in weniger als zwei Stunden wiedersehen würde, das blonde Haar vermutlich immer noch so korrekt gescheitelt wie früher, das Grübchen in seinem Kinn, die schmalen Hände, mit denen er beim Sprechen gern gestikulierte.

Er hatte ihr nie einen offiziellen Antrag gemacht, sie waren schließlich auch noch sehr jung gewesen, als sie Gelegenheit hatten, sich regelmäßig zu begegnen. Aber da war so eine Art stillschweigender Vereinbarung zwischen ihnen, die einer Verlobung nicht unähnlich war. Schon als sie Kinder waren, hatten ihre Mütter mit der Verbindung geliebäugelt und – mal mehr, mal weniger scherzhaft – darüber gesprochen, wie passend es doch wäre, wenn die beiden aneinandergrenzenden Güter auf diese Weise noch enger zusammenwachsen würden.

Das waren Dinge, die Nini jetzt durch den Kopf jagten. Tatsächlich wäre es wohl an der Zeit für sie beide, diese etwas unklare Beziehung zu konkretisieren. Sie hatte ihr einundzwanzigstes Jahr erreicht, ein Alter, in dem einige ihrer Freundinnen aus dem Pensionat bereits Ehefrauen und Mütter waren. Ihre beste Freundin Ada stand kurz davor zu heiraten. Heinrich hatte vermutlich sein Studium abgeschlossen – kam er jetzt zurück, um das elterliche Gut zu übernehmen? Dann brauchte er eine Frau an seiner Seite.

Dass er seinen Besuch so rasch nach seiner Rückkehr ankündigte, sprach dafür, oder etwa nicht? Würde er ihr heute schon einen Antrag machen oder es zumindest andeuten?

Sie spürte, dass sie immer aufgeregter wurde. Fahrig legte sie ihr Buch beiseite und bestellte eins der Mädchen in ihr Zimmer, um ihr beim Ankleiden zu helfen; es konnte nicht schaden, wenn sie sich dafür etwas mehr Zeit nahm als sonst.

Ihre Mutter hatte recht, das Geblümte war genau das richtige Kleid für den heutigen Abend. Das sanft geschwungene Muster und das weiche Material überspielten freundlich ihre mangelnden Rundungen, die pastelligen Farben setzten ihre blasse Haut ins rechte Licht, und die Frisur, die das Mädchen ihr kunstvoll zusammensteckte, ergänzte ihre Erscheinung aufs Beste.

»Hilf mir noch rasch, die Granatkette anzulegen«, befahl Nini, »der Verschluss ist so winzig.«

Dann begutachtete sie sich im Spiegel. In der Tat, es war schon bedauerlich, dass sie sich so häufig die schwarze Brille auf die Nase setzen musste, die ihr Gesicht wie ein Fremdkörper beherrschte. Aber ihr war klar, dass sie bei allem, was klein und zierlich anzuschauen war, ohne ihre Sehhilfe ziemlich hilflos war, und deshalb musste sie sein. Zum Glück hatte das Kleid eine kleine Tasche, und in die würde sie ihr Gestell rasch wieder verbannen, sobald sie ihren Fisch verspeist hatte.

Um Heinrich anzuhören (und natürlich auch zu erhören), brauchte sie sie auf jeden Fall nicht.

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Und auch ohne Brille gewann sie einen detaillierten Eindruck von dem Mann, der jetzt mit ihrem Bruder Ferdinand aus dem Herrenzimmer kam, von seinen etwas unordentlichen dunklen Haaren und der verschlossen wirkenden Physiognomie über den schlichten schwarzen Gehrock bis zu den blank polierten Schuhen.

Das war also Herr Kemper. Er trug nicht nur den Namen eines Dorfhandwerkers, er sah auch so aus, groß, kräftig und breitschultrig und irgendwie … finster. So als wüsste er nicht so recht, was er hier sollte.

»Darf ich Sie mit meiner Schwester Pauline bekannt machen?«, fragte Ferdinand. »Nini, das ist Herr Jakob Kemper aus Düsseldorf. Er ist bis morgen bei uns zu Gast.«

»Sehr erfreut«, sagte sie mechanisch und nickte ihm zu, was er mit einer minimalen Verbeugung quittierte.

Da war doch die Begrüßung von Heinrich etwas ganz anderes. »Nini! Wie lange haben wir uns nicht gesehen!« Er nahm ihre beiden Hände in seine und lächelte sie an. »Es ist großartig, wieder hier zu sein!«

»Schön, dass du noch Deutsch sprichst«, lachte sie zurück. »Ich dachte schon, wir müssten dich mit ›How do you do‹ begrüßen, weil du ein rechter Englishman geworden bist.«

Er schüttelte den Kopf. »Oh nein, die Zeiten sind vorbei.«

»Davon können Sie uns gleich mehr berichten, Heinrich«, sagte Adelheid. »Das Essen wartet. Wären Sie so freundlich, mich zu Tisch zu führen?«

Zu ihrer Überraschung erkannte Nini, dass der schweigsame Herr Kemper wiederum ihr den Arm bot, und so schritten sie hinter Heinrich und Adelheid her, gefolgt von Ferdinand und seiner Frau Henriette.

Wie erwartet bestritt Heinrich den größten Teil der Unterhaltung bei Tisch mit der Beantwortung von Fragen. Wie es denn in Oxford sei? Wo er gewohnt und studiert habe? Was er danach getan und wann er sich entschieden habe, wieder nach Hause zurückzukehren?

»Oh«, sagte er, plötzlich etwas verlegen, »das war weniger mein persönlicher Entschluss. Meine Familie hat es so gewünscht, und da habe ich diesem schönen Land doch relativ schnell den Rücken gekehrt, denn ich habe mir gesagt: Besser ein Abschied, der kurz und heftig ist, als einer, der sich quälend lange hinzieht.«

»Ach«, rief Ferdinand überrascht aus, »dann wirst du weiterhin hierbleiben und gar nicht zurückfahren?«

»Nein, meine Zelte in Oxford sind ein für alle Mal abgebrochen«, antwortete Heinrich, aber es schien Nini, als ringe er nach den passenden Worten. »Wie genau es weitergeht, wird sich noch zeigen.«

Vielleicht weil er zunächst mit mir sprechen muss, dachte sie und warf ihm einen schnellen Blick zu.

Aber genau in diesem Augenblick ergriff Herr Kemper das Wort. »Sagen Sie, sind Sie gelegentlich auch in andere englische Städte gereist?«

»Aber ja«, erwiderte Heinrich, »es wäre ja beinahe ein Verbrechen, wenn man in diesem Land wäre und würde sich dort rein gar nichts von den historischen Stätten anschauen. Selbstverständlich war ich in Stratford-on-Avon und habe mich dort an den berühmten Sohn der Stadt, William Shakespeare, erinnert. Oder die Monolithen von Stonehenge – es ist unglaublich, mitten zwischen diesen Steinen umherzuwandern und sich zu fragen, was sie bedeuten.«

»Ich dachte eher an modernere Ziele«, sagte Herr Kemper. »Bestimmt waren Sie auch in London?«

»Natürlich! Wie kann man nach England fahren und nicht durch London kommen? Allein der Tower …«

»Und haben Sie auch die Untergrundbahn gesehen, die dort gerade im Bau ist?«, hakte Herr Kemper nach. Nini dachte, dass es schon an Unhöflichkeit grenzte, wie er Heinrich immer wieder von seinen historischen Sehenswürdigkeiten abzubringen versuchte.

»Eine Untergrundbahn?«, fragte Adelheid konsterniert. »Was soll denn das sein?«

Herr Kemper wandte sich ihr zu, und sein Gesichtsausdruck änderte sich mit jedem Wort zu einer offeneren, ja fast begeisterten Miene. »Die Bürger von London haben ein Problem, das sie selbst verschuldet haben. Ihre Eisenbahnlinien laufen von allen Richtungen in die Stadt und enden an verschiedenen Bahnhöfen, sodass die Passagiere mit eigenen Mitteln in die Innenstadt gelangen müssen. Sie können sich vorstellen, dass das zu vielen Verstopfungen der Straßen führt.«

Adelheid runzelte die Stirn. »Na, da sieht man es ja! Diese ganze neue Technik endet in großem Chaos. Wären die Menschen bei der guten alten Pferdekutsche geblieben, gäbe es das wohl nicht.«

»Oh doch, das gäbe es ganz sicherlich«, widersprach er ihr, aber in sehr freundlichem Ton. »Der Fortschritt lässt sich nicht aufhalten, aber er stößt natürlich in engen Straßen an seine Grenzen, die zu ihrer Zeit nicht dafür angelegt wurden, dass sich jede Menge große Kutschen dort begegnen und auch noch Platz für Fußgänger lassen. Und deshalb hatten die Londoner Stadtväter eine großartige Idee, nämlich eine innerstädtische Bahn zu bauen, die unterirdisch fährt und die Bahnhöfe miteinander verbindet. Das entlastet die Straßen ungemein und sorgt zudem für ein rascheres Fortkommen.«

»Eine unterirdische Bahn?«, wiederholte Nini ungläubig. »Das ist möglich? Wird das Ganze nicht in kurzer Zeit einstürzen?«

»Nicht, wenn man die Tunnel solide abstützt«, erklärte er. »Da sind fähige Ingenieure am Werk, glauben Sie mir. Das größere Problem wird die Belüftung sein, wenn dafür Dampflokomotiven eingesetzt werden.«

»Ich mag mir das gar nicht vorstellen«, sagte Henriette mit erschrocken aufgerissenen Augen. »Mit so einer lauten, schnellen Eisenbahn durch einen Tunnel unter der Stadt zu fahren? Niemals! Ich würde vor Angst sterben!«

»Ich muss gestehen, dass ich auch bei der guten alten Hackney-Droschke geblieben bin«, berichtete Heinrich. »Da weiß man doch, woran man ist. Meine Freunde und Kollegen haben mir außerdem verraten, wo die großen Baustellen sind, sodass ich diese Gegenden meiden konnte. Wenn man eine solche Metropole besucht, möchte man doch die schönen Seiten sehen und nicht den Staub von Baustellen einatmen.«

»Richtig so«, meinte Ferdinand zustimmend. »Diese ganzen Eisenbahnen mögen ja ganz nützlich für die Industrie sein, aber schön sind sie nicht. Man sollte sie möglichst aus dem Blick verbannen.«

»Aber verstehst du nicht?«, fragte Nini ihn. »Genau das tun die Londoner doch gerade. Auf eine sehr fortschrittliche Weise.«

»Ich bin da skeptisch«, brummte er. »Um Kohle und Stahl zu transportieren, braucht man die Bahnen sicherlich – aber der Mensch ist doch nicht für so etwas geschaffen. Ich sage: Wenn der Schöpfer das gewollt hätte, dann hätte er uns ja Räder statt Beine geben können!« Er lachte selber über seinen Scherz, und Henriette und Heinrich fielen mit ein.

Herr Kemper lachte nicht. »Und welche Berechtigung haben dann Pferdekutschen? Oder gar Schiffe?«

»Aber Herr Kemper«, sagte Adelheid, »Schiffe gab es schon in biblischen Zeiten, denken Sie nur an Noahs Arche! Gott wollte, dass Adam sich die Erde untertan macht, und deshalb konnte er auch Tiere dazu verwenden, Karren oder Geräte zu ziehen. Ich folgere daraus, dass das alles gottgewollt ist. Aber von Dampfmaschinen und Lokomotiven steht nichts in der Bibel! Deshalb sehe ich diesen ganzen industriellen Fortschritt doch mit einer gewissen Besorgnis.«

»Zumal wir ja überall sehen, wohin das führt«, pflichtete Heinrich ihr bei. »Arbeiter gehen auf die Barrikaden, unsere Städte werden immer bevölkerter, und die ganze Ordnung droht auseinanderzubrechen.«

Herr Kemper nickte. »Ich stimme Ihnen insofern zu, als darauf Antworten gefunden werden müssen, damit wir in Frieden leben können und keine neue Revolution oder Bürgerkriege bekommen. Aber der Fortschritt ist unaufhaltsam, glauben Sie mir. Eines Tages werden wir vielleicht alle eine eigene Dampfmaschine haben, mit der wir uns fortbewegen.«

Nini schaute ihn überrascht an. »Ist das Ihr Ernst?«

Er erwiderte ihren Blick mit einem Nicken. »Aber ja. Sie ahnen gar nicht, worüber sich findige Menschen bereits heute Gedanken machen!«

»Oh, das kann ich mir schwerlich vorstellen.« Sie schüttelte ratlos den Kopf. »Wir leben schon in merkwürdigen Zeiten, denke ich.«

»Nein«, konterte er. »Nicht merkwürdiger als alle anderen Zeiten. Nur vielleicht schneller. Aber es hat immer schon Leute gegeben, die sich mit dem Status quo nicht abfinden konnten und nach neuen Wegen gesucht haben. Viele ihrer Zeitgenossen haben sie als Spinner abgetan, und manche waren es sicher auch. Aber andere haben Dinge vorangebracht, für die wir ihnen ewig dankbar sein müssen. Die Dampfmaschine gehört sicherlich dazu.«

»Eine interessante Sicht der Dinge«, murmelte Adelheid. »Aber ich fürchte, ich kann mich Ihrer Sicht nicht so ganz anschließen.«

»Er ist schon extrem, unser Herr Kemper«, lachte Ferdinand. »Am Ende behauptet er noch, dass wir Menschen eines Tages fliegen können!«

Ein feines Lächeln spielte um Jakob Kempers Mund. »Könnte sein«, sagte er gelassen. »Warum denn nicht?«

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Als Jakob Kemper am nächsten Morgen ins Frühstückszimmer kam, war ihm nicht zum Lächeln zumute. Denn dort saß anstelle des jungen Freiherrn, der ihn nach Velendorff eingeladen hatte, nur dessen Schwester, und zwar ungefähr in dem bedauernswerten Zustand, in dem sie sich am Abend zuvor verabschiedet hatte.

Es musste mit diesem jungen Schönling Rechberg zu tun haben. Mit welcher Begeisterung sie ihn begrüßt und wie sie während des gesamten Abendessens an seinen Lippen gehangen hatte, war ihm natürlich nicht entgangen. Nach dem Dessert hatte Rechberg dann gebeten, sich mit ihr für einen Moment in die Bibliothek zurückziehen zu dürfen, weil er ihr einige Bücher aus England mitgebracht habe.

Nicht erst, als sich der Rest ihrer Familie darüber wissende Blicke zuwarf, hatte Jakob den Verdacht, der Bursche würde um ihre Hand anhalten. Es passte einfach zu gut, die langjährige Bekanntschaft, die beiden aneinandergrenzenden Güter, die Ebenbürtigkeit der Familien … Aber als sie nach einer Viertelstunde zurückkehrten, nahm der Junker ebenso eilig wie einsilbig Abschied, und das Fräulein schaute drein wie hundert Tage Regenwetter, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Was war da geschehen? Hatte er sich verschätzt, und sie hatte ihn abblitzen lassen, weil sie ihn zwar als Freund, nicht aber als Ehemann schätzte? Hatte er etwas Ungehöriges versucht, sodass sie ihn in seine Schranken weisen musste?

Jakob mochte es nicht, wenn er es mit solchen ungeklärten Fragen zu tun bekam. Aber darauf ansprechen konnte er sie nicht, auch wenn die Gelegenheit günstig gewesen wäre, allein mit ihr im Frühstückszimmer. So etwas Privates konnte er unmöglich thematisieren, und so ließ er sie nach einer nichtssagenden Begrüßung in Ruhe, auch wenn sie wie ein Bild des Jammers über ihrer Kaffeetasse brütete.

Ferdinand hingegen, mit dem er noch einige Sätze zu reden gehabt hätte, erschien nicht. Jakob prüfte verdrießlich seine Taschenuhr.

»Verzeihen Sie mir, aber wann kommt denn Ihr Herr Bruder gewöhnlich zum Frühstück?«, fragte er das traurige Fräulein höflich.

»Oh, da werden Sie wohl noch ein Weilchen warten müssen«, versetzte sie. »Ferdinand ist nicht so ein früher Vogel. Von uns allen steht er meistens als Letzter auf.«

Und das wollte ein Landwirt sein? Jakob schluckte seinen Ärger über solche Zeitvergeudung hinunter. »Dann werde ich mir stattdessen die Gegend genauer ansehen. Wenn Sie so freundlich wären, ihm das auszurichten?«

Sie schaute ihn überrascht an. »Sie wollen zu Fuß hinausgehen?«

»Warum nicht? Die Sonne scheint, die Luft ist frisch … eine gute Gelegenheit, sich ein wenig zu ertüchtigen.«

»Und Sie haben nicht die Befürchtung, sich zu verlaufen?«

»Ich habe eine recht klare Vorstellung von den Grenzen Ihres Anwesens«, erklärte er. »Oder möchten Sie mich begleiten?«

»Nein, nein!«, rief sie ein wenig zu abwehrend, um dann hastig hinzuzusetzen: »Ich bitte um Verzeihung, aber ich erwarte eine Freundin.«

»Nun denn, dann breche ich allein auf«, sagte Jakob, erhob sich und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung. »Ich werde gegen Mittag zurück sein.«

Vermutlich würde es ihm guttun, in seinem eigenen Tempo die Ländereien rund um das Gutshaus zu erwandern, die er bisher nur von seinem Kartenmaterial kannte. Junge Damen mit ihrem empfindlichen Schuhwerk, ihrer umständlichen luftabschnürenden Kleidung und ihren albernen Accessoires wie winzige Täschchen und nutzlose Parasols würden ihn da nur aufhalten.

Wobei sein Entschluss eigentlich bereits feststand: Er würde sich finanziell nicht für diesen Gutsbetrieb engagieren. Ferdinand von Velendorff hatte ihn auf Empfehlung eines Bekannten angesprochen, weil er wirtschaftlich in der Klemme steckte und dringend Kapital brauchte, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Vor allem aber wäre es für den dauerhaften Erfolg des Gutes angebracht, einige dringend notwendige Veränderungen durchzuführen. Aber wie so oft gab es viel Handlungsbedarf, jedoch wenig Bereitschaft, die Probleme wirklich anzupacken.

Jakob kannte solche Fälle zu Genüge. Adlige Großgrundbesitzer, die vor den deutlich sichtbaren Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft den Kopf in den Sand steckten und immer nur auf die nächste gute Ernte hofften, auf den Glückstreffer eines fabelhaften Zuchtpferdes, mit dem außerordentlich viel Geld zu verdienen war, oder am Ende noch auf die Unwägbarkeiten der Börse.

Velendorff war da keine Ausnahme. So bemüht der junge Mann auch sein mochte, er hatte für Jakobs Geschmack nicht das Zeug dazu, seinen Hof konsequent umzukrempeln, so wie es den Notwendigkeiten der Zeit entsprach, und er hatte auch keinen Blick für die Zukunft.

Jakob dachte an das Gespräch vom Vorabend. Natürlich lagen die Verkehrsprobleme einer Großstadt wie London weit weg von einem westfälischen Gutshof am Hellweg, aber die Einstellung, die den Meinungen zugrunde lag, war typisch für Menschen, deren Familien über Jahrhunderte zur unbestrittenen Oberschicht gehört hatten und die sich durch spektakuläre Erfindungen und Entdeckungen eher bedroht fühlten, statt die Möglichkeiten begeistert willkommen zu heißen.

Nur das Fräulein Pauline hatte die Ausnahme gemacht. Er hatte gemeint, bei ihr eine echte Neugier zu spüren, eine Offenheit für Dinge, die über ihren jetzigen Horizont hinausreichten. Aber die restliche Familie hatte recht deutlich zu verstehen gegeben, dass das wenig akzeptabel war.

Mit zügigem Schritt erkundete Jakob die Bereiche, die das Gutshaus umgaben – gepflegte Waldstücke, einige Weiden mit Milchkühen, dazu Getreidefelder. Den Pferdestall hatte er bereits am Vortag inspiziert, genauso wie die Scheunen und Ställe, in denen seiner Meinung nach einiges zu tun war.

Aber dafür musste Velendorff einen anderen Geldgeber finden. Sein Interesse lag sowieso eher bei Industrieunternehmen; er hatte bereits erfolgreich in mehrere Eisenbahnprojekte investiert, in die wachsenden Stahlfirmen und Bergwerke im Ruhrgebiet und die großen Textilunternehmen am Niederrhein. Da gingen ganz andere Summen über den Tisch, und auch die Renditen lagen in einer Dimension, die ihm ein solcher Gutsbesitzer niemals bieten konnte, ganz gleich, wie streng er wirtschaftete.

Rein rational war sein Entschluss gefasst. Er hatte wieder einmal etwas Zeit vergeblich eingesetzt, das war zu verschmerzen. Aber er musste sich eingestehen, dass er auch noch aus einem anderen Grund hierhergekommen war. Vor einigen Monaten hatte er – völlig untypisch für ihn – südlich von dieser Region ein völlig heruntergekommenes Rittergut gekauft, ursprünglich ein schmuckes Herrenhaus, momentan aber kaum mehr als eine Ruine. Er hatte bereits Architekten und Baumeister gefunden, die das Objekt mit viel Geld und Mühe in ein Schmuckstück nach modernsten Maßstäben verwandeln sollten, mit Gaslicht, Badezimmern mit Wasserklosetts und einer Küche, die selbst den Ansprüchen französischer Küchenchefs genügen würde. Er wusste, wie er mithilfe fähiger Verwalter auch den landwirtschaftlichen Betrieb wieder in Schuss bringen konnte. Aber er brauchte eine Vorstellung davon, wie es tatsächlich sein könnte, das Leben in einem solchen Haus, das Gefühl, ein Gutsherr zu sein mit Gesinde und Vieh und entsprechenden Verpflichtungen in Dorf und Landkreis. Die Neugier darauf hatte ihn nach Velendorff gelockt.

Sein ganzes Leben hatte er in einem Stadthaus verbracht, und auch ausgiebige Reisen konnten nicht ersetzen, was er bei einem Besuch in solchen Häusern erlebte. Heute früh war er tatsächlich vom Krähen eines Hahnes erwacht!

Ob er sich zu romantische Vorstellungen vom Landleben machte? Dazu gehörten schließlich auch der Geruch eines Schweinestalls, schlammige Wege nach ergiebigen Regenfällen, Getreide, das vor drohenden Gewittern eilig abgeerntet werden musste, das im Vergleich zur Stadt doch sehr eingeschränkte kulturelle Angebot und auch die Notwendigkeit, mit seinen Nachbarn auf gutem Fuße zu stehen, seien sie noch so ungehobelt oder heimtückisch.

Das alles konnte er natürlich nach nur einem Tag auf Velendorff nicht beurteilen. Aber immerhin hatte er einen ersten Eindruck gewonnen.

Er näherte sich der Rückseite des Hauses und fand rasch das Tor, durch das er die Gartenanlagen betreten konnte. Hier war alles sehr gepflegt – er vermutete, dass es Adelheids Terrain war, das sie sowohl mit Können als auch mit einer gehörigen Portion Pflichtbewusstsein verwaltete.

Er befand sich gerade in der Nähe eines dichten Gebüsches, als er Stimmen hörte. Weibliche Stimmen. Eine davon war unverkennbar die der trübsinnigen Pauline. »Komm mit in die Laube, Ada«, sagte sie. »Ich brauche heute ein wenig Abstand zu allem.«

»Was ist denn passiert, Nini?«, fragte die Ada genannte Frau neugierig. »Du kannst es wirklich spannend machen.«

Jakob rang mit sich, ob er gehen oder bleiben sollte. Aber seine Neugier siegte über seinen Anstand. Vielleicht konnte er hier ein wenig mehr darüber erfahren, was tatsächlich in dieser Familie im Allgemeinen und im Kopf des Fräuleins im Besonderen vorging. Er verhielt sich ganz ruhig und lauschte.

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»Ich bin enttäuscht«, gestand Nini ihrer Freundin. »Und, ich gebe es zu, auch ein wenig verletzt.«

»Jetzt erzähle mir doch endlich, was geschehen ist«, drängte Ada. »Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass es mit Heinrich zu tun hat?«

»Allerdings«, sagte Nini verdrossen. »Ich hatte mich so gefreut, dass er wieder hier ist. Und beim Abendessen war er auch noch so zugewandt, dass ich dachte … Nun ja, später hat er mich zu einem Gespräch in die Bibliothek gebeten, und da … und da …« Sie schluckte. »Und da hat er mir eröffnet, dass er sich zu verehelichen gedenkt. Mit einem Fräulein Mathilde Ruppert, Tochter der großen Brauerei, an die die Rechbergs den größten Teil ihrer Gerste verkaufen. Die Verlobung ist noch nicht offiziell, aber er wollte es mir gern persönlich sagen.«

Ada riss schockiert die Augen auf. »Aber wieso … ich dachte, ihr beiden …«

»Da warst du nicht die Einzige«, stieß Nini bitter hervor. »Aber ich kann dir sagen, wieso, denn auch das hat er mir erklärt. Das Fräulein Mathilde bringt nämlich eine nicht unerhebliche Mitgift in diese Verbindung ein, und offenbar ist das Gut Rechberg darauf dringend angewiesen. Während die Verquickung unserer beiden Höfe das Elend nur vergrößern würde, wie ich verstanden habe. Anscheinend ist es mit unseren finanziellen Reserven nicht mehr weit her.« Sie legte ihrer Freundin warnend die Hand auf den Arm. »Aber kein Wort darüber zu anderen, verstehst du? Solche kompromittierenden Informationen dürfen nicht an die Öffentlichkeit dringen, sonst würde unsere Situation noch schwieriger.«

»Du solltest mich lange genug kennen, um zu wissen, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann«, versicherte Ada. »Aber ich muss sagen, das ist schon harter Tobak, was du mir hier berichtest. Und das alles an einem Abend?«

»Das und noch mehr«, seufzte Nini.

»Noch mehr?«, wiederholte Ada ängstlich. »Was kann er dir denn noch angetan haben?«

Erleichtert erkannte sie aber direkt danach, dass ihre Freundin sie schon wieder schalkhaft anzwinkerte. »Ja, stelle dir vor, Heinrich hat mich nicht nur als Ehefrau verschmäht, sondern auch mein literarisches Interesse zu beeinflussen versucht. Ich hatte ihn in meinem letzten Brief so sehr bestürmt, mir das berühmte Buch von Charles Darwin zu besorgen, über das im Augenblick so heftig gestritten wird.«

»Was ist das für ein Roman? Von dem habe ich noch nie gehört!«, wollte Ada wissen.

»Kein Roman, sondern eine wirklich spannende wissenschaftliche Abhandlung über die Entstehung der Tier- und Pflanzenwelt. Es heißt The Origin of Species

»Oh«, murmelte Ada mit deutlich verhaltener Begeisterung. »Warum willst du denn so etwas lesen?«

»Weil es das bisherige Verständnis der Schöpfung infrage stellt! Die Theologen regen sich darüber auf, und unser Pastor hat sich geweigert, mit mir darüber zu sprechen.«

»Du hast versucht, mit ihm darüber zu diskutieren?«, fragte Ada ungläubig.

»Nein, das kann ich nicht, weil ich das Buch bisher ja gar nicht kenne. Ich habe nur nach seiner Meinung gefragt, aber selbst das war schon zu viel. Und da wollte ich umso dringender einen eigenen Eindruck gewinnen.« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Aber Heinrich hat gemeint, das sei nichts für mich, und hat stattdessen zwei Romane von Charles Dickens mitgebracht. Die habe ich zwar auch noch nicht gelesen, aber es ist doch nicht dasselbe, oder?«

»Charles Dickens und Charles Darwin klingt zumindest ähnlich!«, meinte Ada, sehr erleichtert darüber, dass die Entscheidung ihres alten Freundes Nini nicht sämtlichen Lebensmut geraubt hatte. Aber die Freude sollte nicht lange währen.

»Klingt ähnlich, ist aber etwas ganz anderes«, sagte Nini. »Vielleicht ist das wie mit meinem Leben.« Und ohne Vorwarnung fiel sie ihrer Freundin um den Hals. »Oh Ada, ich habe mich so geirrt! Ich habe gedacht, mein Weg sei klar vorgezeichnet. Ich habe gelacht, wenn meine Mutter ihre Hoffnung ausdrückte, dass ich einen Mann finden möge, weil ich doch der Meinung war, ich hätte längst einen! Und dann – von jetzt auf gleich – ändert sich alles!«

»Aber doch nicht alles«, sagte Ada unsicher und streichelte hilflos über Ninis Schulter.

»Doch, alles«, beharrte Nini. Sie setzte sich wieder auf und atmete tief durch, um ihre Fassung wiederzuerlangen. »Sieh doch. Du wirst bald heiraten und gehst mit deinem schneidigen Offizier nach Potsdam. Heinrich ehelicht seine Biererbin. Ferdinand und Henriette werden Kinder bekommen und brauchen alles, was sie erwirtschaften, um Velendorff zu erhalten und meiner Mutter einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen. Da ist eine große Mitgift für mich nicht möglich, und um meiner Schönheit willen wird mich wohl keiner nehmen, da bin ich ganz realistisch.«

»Sag doch nicht so etwas!«, bat Ada erschrocken.

»Warum sollte ich mir etwas vormachen?«, sagte Nini. »Wer will schon eine große magere Brillenschlange, die nichts hat und nichts kann?«

»Jetzt übertreibst du aber«, mahnte Ada. »Schau, du stammst aus einer altehrwürdigen Adelsfamilie und hast eine gute Erziehung genossen, du weißt dich zu benehmen und bist kulturell gebildet …«

»Klingt gut«, nickte Nini. »Vielleicht sollte ich Gouvernante werden. Das passt doch, die tragen auf den Zeichnungen auch immer eine Brille.«

»Jetzt löse dich doch mal von deiner Brille«, befahl Ada. »Das hat dir deine Frau Mama eingeredet. So wichtig ist das gar nicht.«

»Du hast leicht reden, du hast Augen wie ein Adler!«

»Dafür habe ich keine Geduld zum Bücherlesen, ob nun Darwin oder Dickens!«

»Und du bist verlobt!«, trumpfte Nini auf.

»Das wirst du auch mal sein«, behauptete Ada. »Ich verspreche dir, ich werde dir auf meiner Hochzeit ganz viele Junggesellen vorstellen. Du wirst die ganze Nacht tanzen, und zum Schluss werden sie dir zu Füßen liegen.«

»Dann sollte ich vielleicht jetzt schon mit Walzer üben anfangen«, meinte Nini trocken.

»Recht so, das ist die passende Einstellung«, sagte Ada. »Aber zuvor könntest du mir ein Glas Limonade anbieten. Es macht wahrlich durstig, dir diese Flausen auszureden.«

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Erleichtert stellte Jakob fest, dass die beiden jungen Damen sich entfernten. Er hatte sich kaum zu rühren gewagt, nachdem ihm klar geworden war, was Pauline ihrer Freundin da alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute. Würde sie mitbekommen, dass er ihr ungewollter Zuhörer war, würde sie sich gewiss beschämt und bloßgestellt fühlen, und das wollte er auf keinen Fall.

Wegen des Lauschens selbst hatte er wenig Gewissensbisse. Sein Erfolg basierte zu einem großen Teil darauf, dass er die Ohren offen hielt und immer etwas mehr wusste als andere, dass er aus seinen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zog und dementsprechend seine geschäftlichen Entscheidungen traf.

All das hatte ihm sein ehemaliger Dienstherr und Gönner beigebracht, der legendäre Düsseldorfer Bankier Herschel Silberstein. Immer wieder fragte Jakob sich demütig, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn dieser Mann nicht gewesen wäre.

Als Sohn eines Dienstmädchens hatte er nicht gerade die besten Voraussetzungen gehabt, um eines Tages in dem Wohlstand zu leben, auf den er jetzt bauen konnte. Seine Mutter hatte ihm nie gesagt, wer sein Vater war – einer der Hausgäste oder die Zufallsbekanntschaft auf einem Tanzvergnügen? Hatte sie einen Liebsten gehabt, oder war ihr die Schwangerschaft gegen ihren Willen aufgezwungen worden?

Jakob war erst acht Jahre alt, als sie starb, und er konnte sich noch an das beklommene Gefühl erinnern, als Herschel Silberstein ihn nach der Beerdigung zu sich rief. Es war schon großzügig gewesen, ihn im Hause zu behalten, während seine Mutter hier beschäftigt war, aber niemand hätte es als unrecht empfunden, wenn er nun in ein Waisenhaus geschickt worden wäre.

Doch es war anders gekommen – wegen David. Das war Herschels einziger Sohn, ein Imbécile, wie manche zu sagen pflegten. Er war grundsätzlich freundlich und sanftmütig, aber das Lernen fiel ihm schwer. An seinen mandelförmigen Augen und dem immer offen stehenden Mund, aus dem häufig die Zunge ein Stückchen heraushing, sah man leicht, dass er anders war als die »normalen« Menschen, und Herschel war klar, dass er sein Leben lang für diesen Sohn würde sorgen müssen, statt eines Tages von ihm versorgt zu werden.

Davids Mutter hatte sich nie davon erholt, ein behindertes Kind zur Welt gebracht zu haben. Während Herschel seinen Sohn liebevoll versorgte, war sie in tiefer Schwermut versunken. Als sich ihr Zustand über Jahre nicht besserte und sie meistens allein in ihrem Zimmer saß, ohne auf äußere Ansprache zu reagieren, war Herschel klar, dass damit jede Hoffnung auf ein weiteres, gesundes Kind dahin war.

Jakob, zwei Jahre jünger als David, aber immer groß und kräftig für sein Alter, entwickelte eine dauerhafte Freundschaft zu dem Jungen. Geduldig versuchte er, ihm das beizubringen, was ihm selber so leichtfiel, ob es die Grundrechenarten waren oder das Schnüren seiner Schuhe. Und deshalb machte Herschel Silberstein ihm damals einen Vorschlag. Er sagte: »Wenn du willst, kannst du hierbleiben und ein Leben führen, als wärest du mein eigener Sohn. Ich werde dir alles beibringen, was ich weiß, und dir alles hinterlassen, was ich habe – wenn du mir versprichst, immer wie ein Bruder für meinen Sohn zu sorgen, wenn ich es nicht mehr kann.«

Damals hatte Jakob noch nicht verstanden, was das bedeutete. Er hatte nur gehört, dass er bleiben durfte, und allein darauf kam es an. Erst später realisierte er auch die Schwierigkeiten, die damit zusammenhingen – dass er damit eine Art des Außenseiterdaseins gegen eine andere eingetauscht hatte.

»Die Leute werden immer wieder vermuten, du wärest in Wahrheit mein illegitimer Sohn«, hatte Herschel eines Tages zu ihm gesagt. »Aber das stimmt nicht, oder ich würde es zugeben. Deine Mutter kam erst zu uns, als sie bereits mit dir schwanger war. Sie war so verzweifelt, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie hinauszuwerfen.«

Das allein brachte ihm Jakobs immerwährende Dankbarkeit ein. Dazu kam die Bewunderung von Herschel Silbersteins kaufmännischem Talent. Wenn es jemanden gab, der die Fähigkeit hatte, in kürzester Zeit die Vor- und Nachteile geschäftlicher Transaktionen zu durchschauen, dann war er es, und Jakob machte es sich zur Aufgabe, das auch zu können. Ein wichtiger Satz, den er sich dabei zu eigen machte, war Herschels Motto: »Begreife nicht nur, was passiert ist. Frage, wie es passieren konnte – und was als Nächstes passieren wird.« Auf der Grundlage dieses Denkens hatte der Bankier immer wieder Entscheidungen getroffen, die für andere nicht selten überraschend waren, die sich aber mehrheitlich als vorteilhaft für ihn erwiesen hatten.

Jakob war ein gelehriger Schüler, der seinen Meister nicht enttäuschte. Ihm war klar, dass er sich mit seiner Tätigkeit nicht nur Freunde machte, sondern dass ihn viele Menschen nur hofierten, solange sie von ihm Kredite oder Beteiligungen erhofften. Das wurde auch nicht besser, als er sich nach Herschels Tod von dem eigentlichen Bankhaus trennte, indem er seinen Anteil an die Mitgesellschafter verkaufte und von nun an nur noch als selbstständiger Finanzier auftrat. Aber wenn das der Preis war, den er für seine damalige Rettung aus Armut und Chancenlosigkeit zahlen musste, dann akzeptierte er das in dem Wissen, dass er wirklich gut war in dem, was er tat. Auf keinen Fall hätte er mit dem verstoßenen Waisenkind tauschen wollen, das er ohne Herschel Silbersteins Unterstützung gewesen wäre. In diesem Falle wäre er möglicherweise gar nicht mehr am Leben.

Immer wieder erinnerte er sich bewusst daran, gerade wenn er sich so wie jetzt bei Leuten befand, die im Grunde nicht wussten, was sie taten. Liebend gern hätte er Ferdinand von Velendorff seine Berechnungen unter die Nase gehalten, ihn in die Scheune geschleift oder auf die Menschen gedeutet, die bei ihm in Lohn und Brot standen, verbunden mit der Frage: »Wie lange soll das noch gut gehen? Wann werden Sie endlich wach und begreifen, dass eine andere Zeit angebrochen ist? Sehen Sie nicht, dass das Wohlergehen dieser Leute von Ihren Entscheidungen abhängt?«

Aber er war sich nicht sicher, ob Ferdinand, mit der Arroganz vieler Generationen adeliger Feudalherren in seinen Adern, überhaupt verstehen würde, was er meinte. Deshalb war er heute bereits mit der Überzeugung aufgewacht: Es hat keinen Sinn, den vorgeschlagenen Vertrag abzuschließen. Auch jetzt hatte sich diese Einstellung nicht geändert. Aber es waren noch andere Aspekte hinzugekommen, Dinge, die ihn normalerweise nicht in seinen unternehmerischen Entscheidungen beeinflussten.

Frage, wie es passieren konnte – und was als Nächstes passieren wird, ging ihm wieder einmal durch den Kopf. Vorsichtig spähte er durch das Gebüsch und sah die beiden jungen Frauen in sicherer Entfernung auf das Haus zusteuern. Ganz gewiss hatten sie ihn nicht bemerkt.

Er verließ den Garten in anderer Richtung und betrat das Gutshaus ganz förmlich durch den Haupteingang. Von dort begab er sich auf direktem Weg zu Ferdinand von Velendorff und unterbreitete ihm seinen Vorschlag.

Zwei

Ada hatte Velendorff noch vor dem Mittagessen verlassen, weil ihre Mutter die Kutsche benötigte, mit der sie gekommen war, und Herr Kemper reiste kurz nach dem Essen ab. Das gab Nini die Freiheit, sich mit ihren Büchern in ein ruhiges Eckchen zurückziehen zu können. Auch wenn es der falsche Charles war – es war schön, wieder ein englischsprachiges Buch in Händen zu halten. Umso unwilliger war sie, als sie etwa eine Stunde später gebeten wurde, sich im Herrenzimmer einzufinden, wo sie sowohl Bruder als auch Mutter mit ernsten Gesichtern antraf.

»Was ist geschehen?«, fragte sie beunruhigt.

»Bisher noch gar nichts«, sagte Adelheid, aber an der Art, wie sie die Hände abwechselnd zu Fäusten ballte und wieder streckte, konnte Nini erkennen, dass sie etwas sehr stark beschäftigte. »Wir müssen jedoch etwas mit dir besprechen, das weitreichende Konsequenzen hat.«

»Was denn?«

Ferdinand räusperte sich, bevor er seine Erklärung begann. »Es hat bisher keine Veranlassung gegeben, mit dir über die grundsätzliche Situation unseres Gutsbetriebs und deine Zukunft zu sprechen, Nini. Aber das hat sich nun geändert.«

Nini setzte sich ein wenig aufrechter. »Wieso? Ist es, weil Heinrich eine andere Frau heiratet?« Immerhin war das die einzige ihr bekannte grundlegende Veränderung, die sich in der letzten Zeit ergeben hatte.

Ihre Mutter zuckte zusammen. »War es das, was er dir gestern gesagt hat?«

Nini nickte. »Es ist noch nicht offiziell, aber er ist sich mit Fräulein Ruppert einig.«

Adelheid hob schicksalsergeben die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich hatte immer gehofft, ihr beiden …«

»Offenbar ist Mathilde Ruppert die bessere Partie«, stieß Nini hervor. »So hat er es mir jedenfalls zu verstehen gegeben. Und somit bin ich wohl doch mehr über unsere Situation informiert, als ihr denkt.«

»Die Zeiten sind schwierig«, verteidigte sich Ferdinand. »Vaters plötzlicher Tod hat natürlich eine Lücke gerissen, und der kontinentale Wettbewerb sorgt dafür, dass die Preise schlecht sind. Wir haben in letzter Zeit nicht mehr das erwirtschaftet, was ich erwartet hatte.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Nini ratlos. »Ich kann weder an Vaters Tod noch an den Preisen etwas ändern. Oder heißt das, ich muss der Schneiderin absagen, die mir das Kleid für Adas Hochzeitsball nähen soll?«

»Nein, so schlimm ist es noch nicht«, beeilte sich Ferdinand zu sagen. »Aber vielleicht hast du dich ja gefragt, was es mit Herrn Kempers Aufenthalt auf sich hatte.«

»Natürlich habe ich mich das gefragt«, antwortete sie. »Er ist weder ein ehemaliger Student aus deinem Corps noch wollte er mit dir auf die Jagd gehen, er gehört nicht zur weiteren Familie … er sitzt einfach ein paar Stunden mit dir am Schreibtisch und reist dann wieder ab.«

»Er wird eventuell wiederkommen«, sagte Adelheid.

Ferdinand warf ihr einen warnenden Blick zu und sagte dann: »Ich hatte ihn hergebeten, weil er die Mittel hat, uns zu unterstützen.«

Ninis Stirn krauste sich. »Die Mittel? Wobei unterstützen?«

»Er ist eine Art … Privatbankier. Es ist sein Beruf, in Unternehmen zu investieren, die … eine Zeitlang … nicht so liquide sind wie gewünscht.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Er wird uns also Geld leihen?«

Ferdinand seufzte und tauschte erneut Blicke mit seiner Mutter. »Das war der Plan, mit dem ich ihn hierher eingeladen hatte.«

»Und? Tut er es? Nun sag doch schon!«

»Er hat uns einen anderen Vorschlag gemacht«, antwortete er ein wenig mühsam.

Nini merkte, wie sie langsam die Geduld verlor. »Wie lautet dieser Vorschlag? Ist er besser als deiner oder nicht?«

»Das kommt darauf an«, sagte Ferdinand. »Er hat angeboten, dich zu heiraten.«

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Eindruck, sie habe sich verhört. Aber er hatte es klar und deutlich ausgesprochen. »Mich zu heiraten? Aber er kennt mich doch gar nicht.«

»Vielleicht hat er in der kurzen Zeit bereits eine Neigung zu dir gefasst?«, schlug Adelheid vor.

Ferdinand schüttelte den Kopf. »Nicht doch, Mutter. Wir sagen es ihr, wie es ist.« Er beugte sich zu ihr vor. »Wenn du ihn heiratest, dann wird er eine nicht unbeträchtliche Summe in das Gut einzahlen. Ohne Zinsen. Wir könnten unsere Verbindlichkeiten ablösen …«

»Und du wärest auch versorgt«, fügte Adelheid hinzu.

Nini starrte abwechselnd beide an. »Wollt ihr mich verkaufen?«, fragte sie leise.

»Nein!« Ferdinand wand sich unbehaglich auf seinem Stuhl. »Es ist natürlich deine freie Entscheidung! Allerdings hätte es eine Menge Vorteile.«

»Wäre er dir denn so unsympathisch?«, wollte Adelheid wissen.

»Darum geht es gar nicht, Mama!«, rief Nini fassungslos aus. »Aber ich habe fast mein ganzes Leben geglaubt, ich würde eines Tages Heinrich heiraten, und plötzlich kommt da ein völlig Fremder daher und hält um meine Hand an, ohne überhaupt mit mir selbst darüber zu sprechen! Habt ihr ihm schon eine Zusage gegeben? Hat er bereits eine Anzahlung geleistet?«

Ihr Bruder sah sie mahnend an. »Nun beruhige dich doch, Nini. Lass uns ganz sachlich darüber reden.«

»Ich will mich aber nicht beruhigen!«, schrie sie ihn an, stieß heftig ihren Stuhl zurück und lief aus dem Raum.

Ihr erstes Ziel war die Bibliothek, immer ihr liebster Anlaufpunkt, aber dort befand sich gerade Henriette und blätterte in einem Journal. »Nini? Was ist los? Du wirkst echauffiert.«

»Das bin ich in der Tat«, rief sie aus, und ohne sich für ihr rüdes Verhalten zu entschuldigen, stürmte sie wieder hinaus auf den Flur. Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, nur um festzustellen, dass dort gerade das Bett neu bezogen wurde. Natürlich hätte sie die Mädchen hinausschicken können, aber damit würde sie den gesamten Arbeitsablauf durcheinanderbringen, und sie entschied sich, es nicht zu tun. Stattdessen floh sie in den Garten, und in eben der Laube, in der sie sich heute Vormittag Ada anvertraut hatte, fand sie endlich ein ungestörtes Plätzchen, um über alles nachzudenken.

Wie konnte es sein, dass innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war? Gestern um diese Zeit war sie noch ein sorgloses adliges Fräulein gewesen, stolz darauf, eine aus dem alten Geschlecht derer von Velendorff zu sein, beneidet und wertgeschätzt in der Gesellschaft, mit einem sicheren Zuhause im Kreise ihrer Familie und hoffnungsvollen Zukunftsperspektiven. Heute fühlte sie sich, als sei ihr alles genommen worden, was sie für selbstverständlich gehalten hatte. Stattdessen sollte sie sich an einen Mann binden, den sie erst einmal gesehen hatte, der ein Leben führte, das sie nicht kannte, der nicht aus ihren Kreisen stammte und der, anstatt ihr anständig den Hof zu machen, ihrer Familie viel Geld dafür in Aussicht stellte.