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Über dieses Buch:

Louisa scheint alles zu haben, was sie sich nur wünschen kann: Ihr Freund Rory trägt sie auf Händen und ihr Blumenladen in Dublin ist für viele ein kleiner Ort des Glücks … bis zu dem Tag, als Roy schwer erkrankt. Aber auch in ihren dunkelsten Stunden gibt Louisa die Hoffnung niemals auf ... und ihre Liebe scheint tatsächlich stärker zu sein als alles andere! Immer mehr beginnt Louisa jedoch zu begreifen, dass Rory nach seiner Genesung nicht mehr derselbe ist, dass nichts wieder sein kann wie zuvor. Oder müssen ihre alten Träume erst zerbrochen werden, um aus tausend Scherben zusammengefügt heller zu erstrahlen als je zuvor?

Über die Autorin:

Denise Deegan wurde 1952 in London geboren und arbeitete unter anderem als Krankenschwester, Porzellan-Restaurateurin und College-Dozentin. Heute schreibt sie Romane, für die sie bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, und die unter ihrem Pseudonym Aimee Alexander Bestsellerstatus erlangten. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Dublin, wo sie regelmäßig von Sonnenschein und einem Leben ohne Kochen träumt.

Mehr über die Autorin erfahren Sie auf ihrer Website: www.denisedeegan.com

Bei dotbooks veröffentlichte Denise Deegan auch ihre berührenden Irlandromane »Der Himmel über Irland« und »Der Klang unserer Träume«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2020

Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Eine Blume für Louise« bei RM Buch und Medien und 2019 unter dem Titel »Zwischen dir und mir der Himmel« bei dotbooks.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2007 by Denise Deegan. Die englische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Do You Want What I Want« bei Penguin Ireland, a division of Penguin Books Ltd, Dublin.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH

Copyright © der Neuausgaben 2019 und 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dmytro Balkhovitin, Kate Garyuk und AdobeStock/Photographee.eu, Gabriel Cassan

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96148-723-3

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Denise Deegan

Sommerwind in Irland

Roman

Aus dem Englischen von Christine Naegele

dotbooks.

Kapitel 1

SCHLITTERND BRINGT RORY seinen Alfa Romeo vor der Kirche zum Stehen.

»Könntest du parken, Lou?«, fragt er seine Freundin. »Es hat bestimmt schon angefangen.«

»Mach ich, geh nur«, sagt sie und rutscht auf den Fahrersitz hinüber.

Mit wehendem Mantel rennt er auf die Kirchentür zu. Wieder sieht er auf die Uhr. Zwanzig Minuten zu spät. Er könnte gänzlich unbemerkt zur Hintertür hineinschlüpfen – wenn er nicht einer der Paten wäre. Er ist ein Teil der Zeremonie, er wird gebraucht. Völlig überraschend hat seine Schwester ihm dieses Amt angetragen, und schon jetzt versagt er. Er greift nach der Klinke und sagt sich, schließlich sei man hier in Irland, wo alles später anfängt. Es wird schon okay sein.

Doch als er eintritt, merkt er, dass es nicht okay ist.

Die Gemeinde sitzt bereits, und der Priester steht am Altar. Schnell lässt Rory den Blick schweifen. Es scheint sich nicht nur um eine Taufe zu handeln. Wo ist denn seine Schwester? Wo ist Siofra? Der hintere Teil der Kirche ist leer. Er geht den Gang entlang, seine Augen suchen in der Menge. Endlich entdeckt er den bekannten Hinterkopf mit dem dichten weißen Haar, drahtig und kurz geschnitten, wie um es zu zähmen. Sofort fühlt Rory sich angespannt – wie immer in Gegenwart seines Vaters. Der war natürlich pünktlich, denkt Rory. Wahrscheinlich sogar zwanzig Minuten zu früh.

Unmittelbar vor ihm, in der ersten Bankreihe, entdeckt er Siofra. Neben ihr Tony, ihr Mann. Musste es denn wirklich sein, dass sie direkt vor dem Altar sitzen?

Mit gesenktem Kopf, um möglichst nicht aufzufallen (vergebliche Hoffnung bei seiner Größe), geht Rory den Gang entlang.

Alle Köpfe drehen sich nach ihm um, doch zu spät, denn schon hat er die erste Bank erreicht.

Siofra, die merklich erleichtert scheint, rückt näher.

»Tut mir leid«, flüstert er. Er hebt die Hand und begrüßt Tony, der neben Siofra sitzt. Sein Schwager hält Daisy, das Baby, im Arm. Rory beugt sich hinüber, um die Kleine zu sehen. Sie mag zwar sein Patenkind sein, aber sie ist ihm fremd. Das letzte Mal hat er sie vor drei Monaten gesehen, gleich nach ihrer Geburt, als er zum Pflichtbesuch in der Klinik war. Sie ist ganz niedlich – wie Babys halt so sind. Rory lächelt seinem Neffen Alex zu, der sehr gewachsen ist, seit er ihn das letzte Mal sah. Er muss jetzt wie ah – zwei, drei Jahre sein? Nein, drei. Ganz bestimmt. Blondgelockt und blauäugig, in seinem dunkelblauen Rundhalspulli, dem weißen Hemd und dem gestreiften Schal sieht er aus wie eine Mischung aus Harvard-Student und Weihnachtsengel. Neben ihm sitzt Orla, Rorys Schwägerin. Da sie auch in der ersten Reihe Platz genommen hat, vermutet Rory, dass sie ebenfalls Patin ist. Er ist überrascht. Siofra und Orla waren schon immer gute Freundinnen, aber dürfte das nicht schwierig werden? Zumindest für ihn ist es schwierig. Seit Orla und sein Bruder Owen sich vor anderthalb Jahren getrennt haben, hat er nichts unternommen, um mit ihr in Verbindung zu bleiben. Dabei standen sie sich einmal ziemlich nahe.

Er ist überrascht, als Orla zu ihm herübersieht. Wie zur Antwort hebt er entschuldigend die Hand. Ihr Lächeln ist warm, als habe sich zwischen ihnen nichts verändert. Schuldbewusst wendet Rory seine Aufmerksamkeit dem Altar zu. Der Priester hat ein Kindergesicht und langes Haar und trägt Jesuslatschen. Ein gestrickter Schal in bunten Rastafarben hängt ihm über die Schultern, eine wohltuende Abwechslung von der üblichen priesterlichen Gewandung. Rory kann sich denken, was sein konservativer Vater davon hält, und gerade deshalb ist ihm der Geistliche sofort sympathisch. Seine Gedanken wandern zu Louise, die hoffentlich inzwischen einen Parkplatz gefunden hat und irgendwo hinter ihm sitzt. Er würde sich gern umdrehen und nachsehen, aber er weiß, dass sein Vater hinter ihm sitzt und ohnehin schon wütend über seine Verspätung ist – weil er damit die Messe gestört und Gott gegenüber Respektlosigkeit bewiesen hat. Wenn er sich jetzt umdrehte, würde es das Fass zum Überlaufen bringen. Zum Teufel, denkt Rory, mit sechsunddreißig müsste er doch alt genug sein, um sich nichts mehr daraus zu machen, was sein Vater denkt. Und trotzdem dreht er sich nicht um.

Der Priester bittet Eltern und Paten vorzutreten. Rorys Vater findet, dass es in den modernen religiösen Zeremonien zu viel Schnickschnack gibt, und ausnahmsweise stimmt Rory ihm da zu. Wozu dieses ganze Theater? Können sie die Sache nicht einfach ohne Brimborium erledigen? Rory hat sich im Scheinwerferlicht noch nie wohlgefühlt. Bei Schulaufführungen und auf Klassenfotos war sein Platz immer irgendwo im Hintergrund. Als er den Mittelgang zur Hälfte zurückgelegt hat, entdeckt er Louise, und sein Gesicht hellt sich auf. Er sieht sie an und zwinkert ihr zu, und sie antwortet auf gleiche Weise. Sie sieht toll aus. Mit ihren achtunddreißig Jahren könnte sie glatt für fünfundzwanzig durchgehen in der taillierten schwarzen Bluse, die er so liebt, und in der dazu passenden Hose, die sie in LA gekauft hat und die sich so eng um ihren Po und ihre Beine schmiegt, ganz zu schweigen von den kniehohen Stiefeln, für die Rory schon immer eine Schwäche hatte.

In der letzten Bankreihe entdeckt er seinen Bruder Owen. Er ist allein, was eine Überraschung und zugleich ein Segen ist. Rory fragt sich, warum er überhaupt gekommen ist. Es wäre für alle einfacher gewesen, wenn er eine gute Ausrede erfunden hätte. Das hätte Rory gemacht.

Sie setzen sich wieder hin, und der Gottesdienst geht weiter. Rory muss es dem Priester lassen, mit seiner lockeren Art zieht er seine Zuhörer in seinen Bann. Doch als er den Exorzist erwähnt, findet Rory, dass er vielleicht doch etwas zu weit geht. Er kann sich gut vorstellen, dass sein Vater hinter ihm wahrscheinlich einem Schlaganfall nahe ist, und fragt sich, ob man Geistlichen ein Trinkgeld geben darf.

So weit Rory es beurteilen kann, geht die Taufe ganz gut über die Bühne. Keine brüllenden oder fallen gelassenen Babys. Auch sonst keine Katastrophen. Zwar ist er einigermaßen überrascht, als Pater Groovy von seinen Pflichten als Pate anfängt – nämlich dafür zu sorgen, dass Daisy im christlichen Glauben erzogen wird –, aber Rory bezweifelt, dass man ihn dafür in die Verantwortung nehmen wird. Im modernen Irland hat eine Patenschaft, soweit er informiert ist, hauptsächlich mit Geschenken zu tun. Siofra und Tony sind hingebungsvolle Eltern, und Rory sieht keinen Grund, weshalb er sich auf gleiche Weise in Daisys Leben einmischen sollte, wie es sein Patenonkel bei ihm gemacht hat. Wenn sie ein Junge wäre, könnte er eventuell eine gewisse Rolle spielen – ab und zu ein Rugbyspiel vielleicht, und mit achtzehn das erste gemeinsame Bier –, aber Daisy ist nun mal ein Mädchen. Und mit einem kleinen Mädchen wüsste Rory überhaupt nichts anzufangen.

Dann ist die Taufe zu Ende. Fertig. Eigentlich doch ganz schmerzlos.

Ein unglücklicher Zufall will es, dass Rory und sein Vater Declan gleichzeitig aus ihren Bankreihen in den Hauptgang treten. Ihre Blicke begegnen sich. Zur Begrüßung hebt Rory das Kinn. Der Blickkontakt scheint das Äußerste zu sein, wozu Declan sich entschließen kann. Rory tritt zur Seite, um alle anderen an sich vorbeizulassen und gleichzeitig für etwas Abstand zwischen sich und seinem Vater zu sorgen. Als seine Mutter ihn sieht, winkt sie kurz. Sie genießt das alles, die Aufregung, die Feierlichkeit, das Familientreffen, einen Tag, an dem sie wieder einmal dem Alltag entfliehen kann. Rory empfindet einen seltenen Anflug von Schuld. Er sollte sich mehr Mühe geben, sollte sich öfter zeigen als nur bei Familienfeiern – Geburten, Feiern zu vierzigsten Geburtstagen, Taufen. Aber dann sieht er wieder den Hinterkopf seines Vaters und erinnert sich daran, warum er es nicht tut.

Vor der Kirche hält er Ausschau nach Louise. Sie unterhält sich mit Orlas Tochter Jenna. Seit wann ist die denn so erwachsen? Sie sieht aus wie achtzehn, aber das kann sie noch gar nicht sein. Das letzte Mal hatte er sie vor anderthalb Jahren gesehen, da war sie noch ein Kind. Neben ihr steht ein etwa achtjähriger Junge, den Rory nicht kennt.

Er erinnert sich, dass ihm jemand erzählt hat, Orla habe jetzt ein Pflegekind. Das wird er wohl sein. Dünn und drahtig, mit wachen Augen und kurzgeschorenem Haar ist er das genaue Gegenteil von Rorys pausbäckigem Neffen. Er sieht aus, als könne er innerhalb von Sekunden lossprinten und verschwinden.

»Hi, Jenna«, sagt Rory zu seiner Nichte. »Wen haben wir denn da?«

»Jason«, sagt sie.

»Der Pflegesohn«, sagt der Junge, als wolle er jede weitere Diskussion im Keim ersticken.

»Hi«, sagt Rory zu ihm und fügt aufmunternd hinzu: »Nett, dich kennenzulernen.«

Der Junge sieht ihn einfach nur an, ausdruckslos.

Rory fährt sich mit dem Finger am Hemdkragen entlang. »Hast du das Geschenk?«, fragt er Louise.

»Im Auto. Ich dachte, wir geben es Siofra nachher bei der Party.«

Er nickt. »Gute Idee.«

Orla und Siofra gesellen sich zu ihnen, und Rorys Eltern schicken sich ebenfalls an herüberzukommen, was weniger erfreulich ist. Na ja, wenigstens hat er mit seiner Mutter keine Probleme.

Louise legt den Arm um ihn.

June, seine Mutter, macht eine Bemerkung darüber, wie brav alle Kinder in der Kirche waren.

»Und wie fandest du den Priester?«, fragt Orla lächelnd.

Declans Gesicht ist unheilvoll, als er Siofra ansieht. »Das war nicht deine einzige katastrophale Entscheidung.« Er wendet sich an Rory. »Hättest du nicht rechtzeitig hier sein können? Wäre das zu viel erwartet gewesen?«

Louise legt den Arm noch fester um Rory, wie um ihn zu beschützen. Aber er merkt es nicht. Ihm ist übel. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, Pate zu werden, und er hatte alles richtig machen wollen. Er war früh aufgestanden und hatte sich genügend Zeit genommen, er hatte sich sogar schon vorher erkundigt, wo die Kirche war. Er hatte alles im Griff. Doch dann war ein dringender Anruf aus dem Krankenhaus gekommen, und er musste gehen. Der Zustand eines seiner Patienten, eines alten Mannes mit Myasthenia gravis, hatte sich plötzlich verschlechtert. Es war ein Notfall gewesen, und er konnte es nicht ändern. Aber deshalb musste er sich, verdammt noch mal, bei seinem Vater nicht entschuldigen.

»Ich habe mich bei Siofra entschuldigt. Du wirst mir wohl zustimmen, dass das die richtige Adresse war.« Er nimmt Louises Hand, lässt seine Familie stehen und geht auf die Pforte zu. »Und jetzt nichts wie weg.«

»Und was ist mit der Feier?«

»Was soll damit sein?«

»Wir müssen hingehen. Schon wegen Siofra.« Sie sieht sich nach seinem Vater um. »Kannst du ihn nicht einfach ignorieren?«

»Das tue ich schon mein Leben lang.«

»Na, dann hast du doch Übung!« Sie lächelt und hakt sich bei ihm ein. »Jetzt komm.« Sie stößt ihn mit der Hüfte an. »Wir können ja über sein Haar lästern – sein Kopf sieht aus wie ein Blumenkohl!«

»Aber wir bleiben nicht lange«, sagt er, noch immer schlecht gelaunt.

»Brauchen wir auch nicht, aber wir müssen uns wenigstens kurz zeigen.«

Diese Technik beherrscht er inzwischen sehr gut.

Der Dubliner Immobilienmarkt setzt vieles in Bewegung: er macht Menschen zu Multimillionären, er ersetzt Postämter, Tankstellen und Gartenzentren durch Wohnblocks; und er bringt Eltern dazu, ihre Darlehen umzuschulden, damit die erwachsenen Kinder sich das erste Eigentum leisten können. Er löst auch subtilere Prozesse aus, zum Beispiel ein Grillfest im Oktober. Das Haus von Siofra und Tony ist zu klein, um alle Gäste drinnen zu bewirten, deshalb wird draußen unter zwei großen Heizstrahlern gefeiert. Lampions und Lichterketten dekorieren den Bereich, den größenwahnsinnige Grundstücksmakler als ›Innenhof‹ bezeichnen würden.

Rory geht ins Haus, um Drinks zu holen. Er steht gerade vor dem Kühlschrank, als Siofra mit Daisy auf dem Arm plötzlich neben ihm steht.

»Wie geht's?«, fragt sie.

Er schließt die Kühlschranktür. »Ach, ganz okay.«

»Mach dir nichts aus ihm«, sagt sie. »Du wirst ein wunderbarer Patenonkel sein.«

»Möglich.« Es ist weniger das, was ihm zu schaffen macht, als das Gefühl, dass er, egal was er tut, für seinen Vater immer eine Enttäuschung sein wird.

»Möchtest du sie nicht mal halten?«, fragt Siofra.

Rory hat das Gefühl, dass er es wohl sollte – um etwas zu beweisen. Aber sie ist so klein. So zerbrechlich. Wenn er sie nun fallen lässt? Er tritt näher, aber statt sie zu nehmen, beugt er sich nur über sie, so dass er in ihr Gesicht sieht. Er wackelt mit den Augenbrauen, lächelt und winkt mit drei Fingern.

»Hallo, Daisy«, sagt er, »ich bin dein Onkel Rory.«

»Daisy, darf ich vorstellen, dies ist der Mann, der dich im christlichen Glauben erziehen wird«, sagt Siofra lachend. Sie sieht ihren Bruder an. »Nun komm, nimm sie schon.« Sie hält ihm das Baby hin.

»Nö, vielleicht später.« Wie zum Beispiel in fünf Jahren.

»Wovor hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst.«

»Du bist doch Arzt.«

Na und? Warum denkt eigentlich jeder, dass Ärzte gut mit Kindern umgehen können? Warum denkt überhaupt jeder, Ärzte sind gute Menschen?

Sie schüttelt den Kopf, als wolle sie sagen: Du bist ein hoffnungsloser Fall. Er hasst es, wenn sie das tut. Er möchte sie daran erinnern, dass sie beide keine Kinder mehr, dass sie jetzt ebenbürtig sind. Es gibt keine Hackordnung mehr. Aber das würde auf eine Konfrontation zulaufen, was Rory immer zu vermeiden versucht hat. Also schluckt er seinen Ärger hinunter. Warum hat sie ihn gebeten, Pate zu werden, wenn sie ihn für einen so hoffnungslosen Idioten hält?

»Louise wartet auf einen Drink«, sagt er, um fortzukommen. »Bin gleich wieder da.«

»Wer's glaubt«, sagt sie mit spöttischem Lächeln.

Sie kennt ihn nur zu gut. Und das ärgert ihn erst recht.

Er kommt zu Louise zurück. Im Vorbeigehen hört er, wie sein Vater sagt: »Setz dich doch, June. Schließlich sind wir alt.«

»Du schließt von dir auf andere«, erwidert sie, doch sie lächelt dabei.

Rory schmunzelt. Sie ist schon immer mit ihm fertig geworden.

Er findet Louise dort, wo er sie zurückgelassen hatte, direkt unter einem Heizstrahler. Sie raucht und hört einem elegant gekleideten Mann um die fünfzig zu, den Rory noch nie gesehen hat.

»Vierundneunzig habe ich es für vierhunderttausend gekauft«, sagt er. »Jetzt ist es mindestens zweieinhalb Millionen wert.« Noch so eine Erfolgsstory über ein Grundstücksgeschäft, die Rory nicht interessiert. Er reicht Louise ihren Drink und will sich schnell wieder zurückziehen, doch sie nimmt seinen Arm und stellt ihn vor. Der Mann ist ein Onkel von Tony. »Natürlich geht das richtig große Geld jetzt ins Ausland«, fährt er fort, als bestehe überhaupt kein Zweifel, dass Rory sich brennend für das Thema interessiert. »Die Schnäppchen, die man heutzutage in Kroatien und in der Türkei machen kann ...«

Er ist nicht der Erste, der sich für ein Finanzgenie hält, nur weil er das Glück hatte, im richtigen Moment ein Haus zu kaufen.

»Haben Sie selbst dort auch investiert?«, fragt Louise.

»Ich? Nein. Ich sage hü, wenn der Markt hott sagt. Jetzt ist Berlin im Kommen.« Er tippt sich an den Nasenflügel. »Dort liegt der Grundstücksmarkt am Boden. Und wie ich immer sage – man muss kaufen, wenn am Straßenpflaster noch Blut klebt.«

Du lieber Himmel, denkt Rory.

»Für eine Million kann man da einen ganzen Wohnblock kaufen. Dafür kriegt man in Dalkey nicht mal eine vernünftige Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern.«

Rory sieht Louise an. Sie rollt mit den Augen, und er entspannt sich langsam. Er findet diese Art von Gesprächen über den Immobilienmarkt immer schrecklich anstrengend. Er sieht Tonys Onkel an und wartet auf die unvermeidliche Frage.

Und da kommt sie auch schon: »Und ... wo haben Sie gekauft?«

Rory überlässt Louise die Antwort.

»Wir haben gemietet«, sagt sie. »Vor kurzem habe ich mich selbstständig gemacht ...«

»Ach, tatsächlich ... womit?«, fragt der Onkel.

Es ist noch gar nicht so lange her, da galt es in Irland als unhöflich, wenn man andere so ungeniert nach persönlichen Details ausfragte, überlegt Rory.

»Ein Blumengeschäft«, sagt Louise.

»Ahaaa!« Er nickt begeistert. Doch als er nun anfängt, ihr sein Fachwissen zu diesem Thema zu vermitteln, entschuldigt Rory sich. Es ist doch immer dasselbe mit diesen Grundstücksspekulanten. Sobald sie hören, dass er noch nichts gekauft hat, betrachten sie ihn als Loser, der entweder zu knauserig oder zu arm ist, um sich auf die horrenden Preise dieser Stadt einzulassen. Wie würden Sie sich denn in seinem Dilemma verhalten? Würden Sie Haus und Grundstück kaufen, wenn Sie mit jemand zusammenlebten, der sich nicht lebenslänglich festlegen mag? Egal, wie man es betrachtet, eine gemeinsame Hypothek ist eine Aussage. Eine Aussage, die weder er noch Louise machen wollen. Natürlich könnte er unabhängig von ihr etwas kaufen (irgendetwas Kleines am Stadtrand vielleicht), aber das wäre ebenfalls eine Aussage. Zwar mag er Louise kein Versprechen fürs Leben geben, andererseits kann er sich ein Leben ohne sie auch nicht vorstellen. Wer hätte auch gedacht, dass die Preise derart explodieren würden? Es wäre ein Risiko, jetzt zu kaufen. Was wäre, wenn der Immobilienmarkt plötzlich einbricht? Aber diese Bedenken hat er schon seit Jahren.

Er entdeckt das Pflegekind – Jake? Jason? –, wie es etwas vom Tisch nimmt und in die Tasche steckt. Überrascht und neugierig zugleich schlendert Rory hinüber, lässig, ebenfalls die Hände in den Taschen.

»Hi!«

Der Junge sieht ihn misstrauisch an und antwortet nicht.

»Na, Jake, wie sieht's denn so aus?«

»Jason.«

»Jason, natürlich. Entschuldige. Und was treibst du so?«

»Nichts.«

»Prima Essen, was?«

Jason zuckt mit den Schultern und sieht zum Tisch, als erwarte er, dass Rory abzieht.

»Spielst du Fußball?«, fragt Rory.

Der Junge scheint überrascht, dass er noch immer da ist. »Nein.«

»Rugby?«

Er mustert Rory von oben bis unten. »Das spielen doch nur Weicheier.«

Rory versucht, ein Lachen zu unterdrücken. »Meinst du?«

»Klar.«

»Und was spielst du?«

»Nichts.«

»Du isst lieber, oder?«

»Was willst du?«

»Mich mit dir unterhalten.«

»Warum?«, fragt der Junge argwöhnisch.

»Erstens, weil du ganz bestimmt nicht über Grundstückspreise reden willst.«

Der Junge legt den Kopf schief. »Wer sagt das? Darüber weiß ich eine ganze Menge.«

»Ach?« Rory kann ein Lächeln nicht unterdrücken. »Was denn so?«

»Viel.«

»Gib mir ein Beispiel.«

»Okay.« Der Junge schnieft und legt den Hamburger, den er sich eben genommen hat, wieder hin. »Wenn du dein Haus verkaufst und du hast zwei Doppelschlafzimmer ...«

»Doppelschlafzimmer?« Rory ist überrascht und fragt sich, woher der Junge diesen Ausdruck hat.

»Ja, du weißt schon, große Schlafzimmer.«

»Ja, ich verstehe.«

»Wenn du dann in beide ein Doppelbett stellst, dann sieht es aus, als ob du mehr Doppelschlafzimmer hast, und du kriegst mehr Geld fürs Haus.«

»Ich bin beeindruckt. Und woher weißt du das?«

Er zuckt die Schultern. »Einfach so.«

»Du klingst klüger als jeder Immobilienmakler, mit dem ich je zu tun hatte.«

Jason erwärmt sich für sein Thema. »Ich helfe Orla, ihr Haus zu verkaufen. Ich gebe ihr Tipps.«

»Orla verkauft ihr Haus?«

»Klar«, erwidert er, und seine Haltung erinnert Rory an einen Dorfjungen, der vorzeitig zum Mann geworden ist. »Owen – du weißt schon, ihr Exmann –, der will die Hälfte von ihrem Haus. Der Dreckskerl.«

»Das hat Orla dir erzählt?«

»Ja.« Vorsichtig sieht er zum Haus hinüber. »Aber sie hat ihn nicht Dreckskerl genannt.«

Offenbar befürchtet er, diese Bezeichnung könne ihm Ärger bringen.

Rory lächelt. »Wir sehen uns später noch, okay?«

Der Junge zuckt wieder die Schultern, als sei es ihm egal. Rory erinnert sich daran, warum er ursprünglich herübergekommen war, beschließt aber, den Jungen nicht darauf anzusprechen, was er sich eingesteckt hat. Vielleicht wird er Orla etwas sagen, vielleicht auch nicht, je nachdem.

Orla steht an der Spüle und wäscht Biergläser ab. Rory denkt daran, wie bereitwillig sie überall die Ärmel aufkrempelt und hilft.

»Ich wusste gar nicht, dass zum Patenamt auch das Gläserspülen gehört«, sagt er.

»Na ja, bei dieser Patin handelt es sich auch um eine gute Fee.« Sie reicht ihm ein Geschirrtuch. »Hier, damit ich dich nicht aussteche!«

Zweifelnd blickt er auf das feuchte Tuch und vermeint Jasons Stimme zu hören: Abtrocknen ist was für Weicheier! Er gibt es ihr zurück. »Ich spüle lieber, trockne du ab.« Sie tauschen die Plätze, und wortlos arbeiten sie eine Weile. »Darf ich dich etwas fragen?«

»Schieß los.«

»Verkaufst du wirklich dein Haus?«

Sie hält inne und starrt zum Fenster hinaus. »Ja.«

»Damit Owen seine Hälfte bekommt?«

Sie beißt sich auf die Lippe und nickt.

»Aber kann er das machen, dich zum Verkauf zwingen?«

Sie stellt das Glas hin, das sie gerade abgetrocknet hat. Mit brüchiger, mühsam kontrollierter Stimme sagt sie: »Könnten wir vielleicht das Thema wechseln?«

Er sieht sie an.

»Owen ist dein Bruder, Rory«, sagt sie schließlich.

Er möchte ihr erklären, dass er gar nicht Partei ergreifen will, aber er tut es nicht. Draußen langt Jason gerade nach einem weiteren Hamburger. »Netter Junge, was?«

Sie lächelt. »Er ist schon in Ordnung.«

»Aber mit ein paar Ecken und Kanten.«

»Er hat viel durchgemacht.«

Rory macht ein neugieriges Gesicht, aber mehr sagt sie nicht. Stattdessen entschuldigt sie sich. »Ich soll nicht über seine Familiengeschichte sprechen. Es muss vertraulich bleiben.«

»Ach so.« Er versteht nicht recht, und irgendwie ist es ihm peinlich.

Stumm fahren sie fort, er spült das Geschirr, sie trocknet ab, bis die Gleichförmigkeit der immer wiederkehrenden Handgriffe die Atmosphäre wieder entspannt hat. »Wie lange wird er bei dir bleiben? Darf ich das wissen?«

»Sicher. Nur weiß ich die Antwort nicht. Wochen, Monate vielleicht. Wann immer das Jugendamt entscheidet, dass seine Mutter in der Lage ist, wieder für ihn zu sorgen.«

Rory nickt. Er versteht nicht, warum der Junge zurück sollte, wenn er erst von seiner Mutter getrennt wurde. »Und wenn er nicht zurück will?«

Sie sieht hinaus zu Jason, und ihre Stimme ist warm, als sie sagt: »O doch, er will. Er liebt seine Mutter trotz allem. Wenn er nicht fernsieht, sitzt er auf der Treppe, wiegt sich hin und her und summt Mad World, ihr Lieblingslied. Wenn es draußen kalt ist, macht er sich Sorgen, dass sie ihren Mantel nicht anhaben könnte. Als ich das erste Mal seine Sachen gewaschen habe, hat er sich schrecklich aufgeregt – sie hatten ihren Geruch verloren. Natürlich will er schrecklich gern wieder nach Hause, das wollen fast alle Pflegekinder. Aber sie wollen in ein besseres Zuhause kommen, wo alles seine Ordnung hat und es möglichst perfekt ist.«

Rory merkt gar nicht, dass er aufgehört hat zu spülen. »Wird es nicht schwer für dich sein, ihn gehen zu lassen?«

Ihr Gesicht wirkt entschlossen. »Vom ersten Tag an musst du dir sagen, dass es nur vorübergehend ist; es ist deine Aufgabe, ihn auf die Rückkehr vorzubereiten. Und das weiß er. Du sprichst mit ihm darüber, dass er wieder nach Hause kommt. Du erinnerst ihn daran, dass seine Mutter wieder gesund wird.«

Rory fragt sich, was Jasons Mutter fehlt. Und er fragt sich auch, was Orla davon hat.

»Vorhin habe ich gesehen, wie ihr euch unterhalten habt«, sagt sie.

»Für ein Kind weiß er eine ganze Menge über den Hausverkauf.«

Sie lacht. »Er liebt diese Fernsehprogramme, eigentlich alles, was mit Geldverdienen zu tun hat. Aber er sieht sich alles an, Serien, Kochprogramme, sogar Mode interessiert ihn. Als er Jenna zum ersten Mal sah, sagte er ihr, dass Schwarz keine gute Farbe für sie sei.«

Rory muss lachen.

»In mancher Hinsicht wirkt er so jung. Und manchmal wieder älter, als er wirklich ist. Und ich weiß, dass es nicht nur vom Fernsehen kommt.«

»Du hast dir viel aufgeladen.«

»Ich bekomme auch viel zurück.« Sie legt das Geschirrtuch hin. »Nachdem Owen ausgezogen war und Jenna ins Internat ging, war die Stille das Schlimmste. Ich wusste gar nicht, wie viel Lärm ein einziger Mensch machen kann. Musik, das Telefon – und immer für sie. Selbst der Föhn. Und dann nichts mehr. Eine Nachbarin, sie ist Sozialarbeiterin, erzählte mir, dass dringend Pflegestellen für Kinder gesucht werden. Sie wusste von so vielen Kindern, die ein Zuhause brauchten. Ich merkte, wie frustriert sie war. Also erklärte ich mich bereit auszuhelfen. Aber tatsächlich bekomme ich genauso viel zurück, wie ich investiere. Mit Jason ist wieder Leben ins Haus gekommen. Der Kühlschrank ist wieder voll. Ich muss für jemanden kochen und ihn von der Schule abholen.« Sie hält inne und lacht. »Ich klinge richtig verzweifelt, nicht wahr?«

»Nein.«

Sie schweigen.

»Du weißt, Orla, wenn du jemals etwas brauchst ...«

Rory findet Siofra im Kinderzimmer, wo sie das Baby wickelt.

»Was hat Owen denn vor?«, fragt er.

Sie sieht auf. »Was meinst du?«

»Er setzt Orla praktisch auf die Straße.«

Sie steckt ein gebrauchtes Feuchttuch in die Plastiktüte.

»Darf er das denn?«, fragt er. »Die Hälfte verlangen?«

»Offenbar.«

»Aber ich dachte, das Gesetz ist auf Seiten der Mütter. Es ist doch immer noch das Heim der Familie.«

»Nach dem Gesetz steht ihm die Hälfte zu.«

»Gibt es da keine andere Lösung? Kann sie ihn nicht auszahlen oder so ähnlich?«

»Woher soll sie denn eine halbe Million nehmen? Sie ist Kummerkastentante bei einer Zeitschrift und nicht im Investmentgeschäft.« Siofra klebt die frische Windel zu, macht ein komisches Gesicht für Daisy und schließt die Druckknöpfe an ihrem weißen Strampler.

»Wo will sie denn hinziehen?«

»Sie sucht eine Wohnung.«

»Und der Hund?«

»Für Lieutenant Dan wird sie wohl ein neues Zuhause finden müssen.«

»Verdammte Scheiße.«

»Ja, das wäre so etwa die Kurzfassung.«

»Dabei habe ich immer zu ihm aufgesehen.«

»Ja, ich weiß. Es war geradezu erbärmlich.« Sie rollt mit den Augen.

Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte Rory Owen verteidigt – wie er es oft für Siofra tun musste. Als sie zusammen aufwuchsen, war der um fünf Jahre ältere Owen sein Held, der Einzige, dem es egal war, was sein Vater von ihm hielt, und der ihm die Stirn bot. Siofra war die Pflichtbewusste, immer hilfsbereit, immer brav. Für sie war Owen der Störenfried, der die Familie aus dem Gleichgewicht brachte, das zu bewahren sie sich solche Mühe gab. Rory versuchte, der Vermittler zwischen den Geschwistern zu sein, aber insgeheim sehnte er sich danach, Owen nachzueifern. Da er das Zimmer mit ihm teilte, erlebte er alle Ausbruchsversuche seines Bruders mit. Sobald Owen fünfzehn war, hatte er Ferienjobs, und das bedeutete Geld, bessere Klamotten, Mädchen und Musik. Rorys bleibende Erinnerung an Owen ist, wie er sich zur Musik von Freebird vor dem Spiegel das Haar kämmt und sich zum Ausgehen fertig macht. Rory fühlte sich immer zurückgelassen, doch nie so sehr wie damals, als Owen auszog, nachdem er die Schule abgeschlossen hatte. Er wollte nicht studieren, wollte nicht länger von seinen Eltern abhängig sein. Ein Job bei der Bank bedeutete Geld und Freiheit.

»Wo ist er jetzt?«, will Rory wissen.

»Weg. Er kam nach der Kirche gar nicht mehr mit hierher.«

Kapitel 2

RORY GEHT NACH unten und will gerade Louise suchen, als sein Handy klingelt. Als er die Stimme seines Freundes Barry hört, hellt sich sein Gesicht auf.

»Barry, was gibt's?«

»Ich sollte eigentlich heute Nacht Bereitschaftsdienst machen ...«

Bei der Formulierung ›ich sollte eigentlich‹ schwant Rory nichts Gutes.

»Bei Dee haben die Wehen angefangen. Der Muttermund ist schon ziemlich weit geöffnet.«

So genau will ich's gar nicht wissen – Rory schafft es gerade noch, diese Bemerkung zu unterdrücken.

»Jetzt bringe ich sie ins Krankenhaus. Könntest du vielleicht für mich einspringen? Tut mir leid, dich damit zu überfallen, aber du bist von früher her noch auf der Liste. Sie brauchen nur deine medizinische Haftpflichtversicherung und deine Approbation. Das heißt, wenn du Zeit hast, wenn du es machen kannst.« Seine Worte stürzen atemlos heraus.

Rory hat Mitleid mit dem Freund, dessen Trauzeuge er war. »Klar«, sagt er, und es klingt bereitwilliger, als er sich fühlt. Bei dem Gedanken an eine ganze Nacht mit Hausbesuchen, gefolgt von einem Tag auf Station, würde er sich am liebsten gleich hinlegen.

»O Gott, vielen Dank.« Man merkt Barry die Erleichterung an. »Dafür schulde ich dir einen Drink. Ich hätte um acht anfangen sollen, am besten komme ich bei dir vorbei und bringe dir meinen Koffer.« Er weiß, dass Rory als Krankenhausarzt keinen Koffer für Hausbesuche hat.

»Warte, ich bin nicht zu Hause. Ich hole ihn bei dir ab.«

»Wir fahren aber jetzt los.«

Sie einigen sich, dass Rory den Koffer im Nachbarhaus abholen wird.

Rory und Louise verabschieden sich schnell.

Im Auto witzelt sie: »Ich weiß ja, dass du gehen wolltest, aber war das nicht ein bisschen überstürzt?«

Er lacht. »Und was wirst du mit dem restlichen Abend anfangen?«

»Weiß noch nicht. Vielleicht arbeite ich an meiner Website.«

Das hatte er befürchtet. Die Taufe sollte für sie eine Gelegenheit sein, einmal auszuspannen. Seit der Eröffnung des Geschäfts hatte sie sich keine Pause gegönnt.

»Wirst du das schaffen, die ganze Nacht und morgen den ganzen Tag zu arbeiten?«, fragt sie.

»Wäre nicht das erste Mal.« Er kann sich gar nicht mehr vorstellen, wie er das als junger Assistenzarzt gemacht hat. Barry tut ihm leid, weil er nach all diesen Jahren noch immer Bereitschaftsdienst machen muss. »Erinnere mich daran, dass ich mir niemals Kinder anschaffe.«

»Schaff dir niemals Kinder an.«

»Ich meine nur ... sieh dir doch an, was es Barry gebracht hat. Dee und er waren in Vancouver, in Vancouver, wo sie sorglos und glücklich waren, und dann müssen sie hergehen und unbedingt ein Kind in die Welt setzen. Plötzlich sind sie wieder da; und er muss bei null anfangen und eine Praxis gründen. Es ist doch Wahnsinn, und er hat immer noch nicht viele Patienten. Also verdient er auch nicht viel. Deshalb muss er nachts Bereitschaftsdienst machen und bei Tag versuchen, wach zu bleiben, falls einer seiner kostbaren Privatpatienten zufällig krank wird. Und jetzt kommt schon das zweite Kind. Warum tun Menschen sich das an?«

»Versteh ich auch nicht«, sagt Louise und zieht ihr Blackberry hervor, das Rory ihr geschenkt hat, damit sie auch unterwegs ihre E-Mails abfragen kann. Ein Fehler, wie ihm jetzt klar wird, denn es bedeutet lediglich, dass sie ihre Arbeit überallhin mitnimmt. Na ja, es könnte schlimmer sein. Sie könnte sich ein Kind wünschen. Schon der Gedanke an diese Verantwortung, an diesen Druck ist so schrecklich, dass eine Sterilisation beinahe verlockend scheint. Beinahe.

Rory betrachtet das Logo an der Seite des silbernen Seat Ibiza, der der Notarztzentrale gehört – ein Stethoskop und ein Arztkoffer –, und runzelt die Stirn. Ist es nötig, derart die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Er duckt den Kopf und setzt sich auf den Beifahrersitz; auf der anderen Seite steigt der Fahrer ein, ein untersetzter Mann um die vierzig, slawisches Aussehen.

Rory stellt sich vor und streckt die Hand aus.

»Renatis«, sagt der Mann und schüttelt sie.

»Viele Anrufe?«, fragt Rory.

»Drei. Zuerst fahren wir nach Blackrock.«

Sie machen sich auf den Weg. Renatis macht einen schüchternen Eindruck, er ist sehr schweigsam.

»Wo kommen Sie her?«, fragt Rory schließlich.

»Aus Litauen.«

Rory nickt. Über Litauen weiß er nichts. Aber auf einen Geographievortrag hat er jetzt auch keine Lust. Auf dem Armaturenbrett vibriert ein Blackberry, es blinkt rot. Rory sieht zu, wie Renatis an der nächsten Ampel nachsieht.

»Okay. Also ein hohes Fieber in Rathmines«, sagt er. »Schickt das Zentrum die Nachrichten jetzt per E-Mail?«

Renatis nickt.

»Die wunderbare Welt der modernen Technologie.«

»Ist billiger«, sagt Renatis.

Als sie in Blackrock sind, hat Rory erfahren, dass Renatis ebenfalls Arzt ist und nur als Fahrer arbeitet, weil er darauf wartet, dass seine Qualifikation anerkannt wird. Während Rory bei den Patienten ist, sieht Renatis sich die Karte an, um über den schnellsten Weg zum nächsten Fall zu entscheiden. Danach hört er sich englische Sprachkassetten an.

»Okay.. Ist ganz guter Job. Ich lerne Englisch und gleichzeitig die Stadt.«

»Ihr Englisch ist schon ganz gut.«

»Ich lerne von meinem Sohn. Er lernt schnell, in der Schule, wissen Sie.«

Rory nickt und hofft, dass damit das Thema Kinder erledigt ist. Die Nacht ist noch lang.

Der Anruf aus Blackrock und auch die folgenden sind unkompliziert – typisch überängstliche Eltern. Im Laufe der Nacht bemerkt Rory, dass Renatis eine Reihe von Ausdrücken wiederholt, die er selbst gerade gebraucht hat. Rory war sich gar nicht bewusst, dass er Redewendungen wie ›total geil‹ und ›verpiss dich‹ gebrauchte, er hätte es auch vorgezogen, nicht daran erinnert zu werden. Ihr sechster Fall, kurz vor Mitternacht, ist in einem Wohnblock nicht weit von Dun Laoghaire.

»Das ist keine gute Gegend«, sagt Renatis mit einem Blick auf das schwach beleuchtete Gebäude.

Rory verzieht das Gesicht. »Ach, so schlimm ist es nicht. In der Innenstadt würde ich mir eher Sorgen machen.«

Renatis scheint nicht überzeugt.

Rory, den Türgriff schon in der Hand, beruhigt ihn. »Keine Sorge, Sie werden sich bald an die Stadt gewöhnt haben.«

Renatis nickt, verschließt aber trotzdem die Türen. Selbstsicher geht Rory auf das Haus zu, seine Schritte hallen laut wider. Der vermummte Held betritt das feindliche Lager, geht es ihm spöttisch durch den Kopf, als er im Licht der Straßenlaterne seinen Schatten sieht. Dann hat er die Treppe erreicht, die zu den Wohnungen führt. Ein Junge im Kapuzenshirt geht an ihm vorbei. »Wie geht's?«, fragt er schnell, ehe er zwei Stufen auf einmal nimmt.

Im ersten Stock findet er die Wohnung, die er sucht. Ein Mann mittleren Alters macht ihm auf, er wirkt erleichtert. Rory entschuldigt sich wegen der Verzögerung, wie er es immer tut, die durchschnittliche Wartezeit ist zwei Stunden. Der Mann führt ihn ins Schlafzimmer, wo seine Frau zusammengekrümmt auf der Seite liegt, das Gesicht von Schmerzen verzerrt. Rory nimmt die Krankengeschichte auf und betastet vorsichtig ihren Bauch. Ehe er sich für eine Karriere als Facharzt am Krankenhaus entschloss, hatte Rory sich als Allgemeinmediziner qualifiziert, deshalb kann er jetzt bei Hausbesuchen einspringen. Es ist zwar schon etwas her und vieles ist ihm nicht mehr so präsent, aber man braucht kein Genie zu sein, um zu sehen, dass diese Patientin dringend weitere Untersuchungen braucht und ins Krankenhaus muss, möglicherweise muss sie operiert werden. Er gibt ihr eine Spritze gegen die Schmerzen und ruft den Krankenwagen. Eigentlich möchte Rory bei ihr bleiben, bis der Krankentransport da ist, aber inzwischen ist die Liste der Anrufe lang geworden. Er beruhigt die beiden, dass der Krankenwagen bald da sein wird.

Er schließt die Wohnungstür hinter sich und geht die Treppe hinunter, wobei er noch immer überlegt, ob er nicht besser dageblieben wäre. Da vertritt die Gestalt im Kapuzenshirt, die er schon vorhin gesehen hat, ihm den Weg. Rory bleibt stehen. Als er die Spritze sieht, macht er zögerlich einen Schritt zurück. Der Typ kommt näher, durch das Fenster fällt der schwache Lichtschein einer benachbarten Wohnung. Sein Gesicht, das noch immer halb im Schatten der Kapuze liegt, ist lang, mager und gespenstisch blass. Hastig sieht er sich um.

Er sagt nur zwei Worte: »Die Tasche.«

Rory hebt die Hand. »Also, die gehört mir nicht. Da ist auch nicht viel drin ... nur Penicillin ...«

»Gib mir die Tasche, du verdammtes Arschloch.«

Rorys Knie werden weich. »Okay, hier«, sagt er mit möglichst ruhiger Stimme. »Nimm sie.« Er hält sie ihm hin. Doch statt sie ihm aus der Hand zu reißen, greift der andere nach seinem Arm und reißt ihn mit einem gewaltigen Ruck nach vorn, so dass sich ihre Gesichter plötzlich ganz nahe sind. Zwei stark verkleinerte Pupillen. Der Geruch nach Zigarettenrauch. Rory lässt die Tasche los und will gerade zurücktreten, da passiert es – eine plötzliche Bewegung und ein scharfer Riss nach unten in seiner rechten Wange.

»Und das nächste Mal etwas plötzlich, du Arschloch.«

Er wird zurückgestoßen. Er stolpert und versucht, das Gleichgewicht wiederzufinden, während er mit vor Schreck geweiteten Augen sieht, wie sein Angreifer um die Ecke biegt. Er verschwindet leise und schnell in die Nacht, in der er zu Hause ist. Mit blutender Wange bleibt Rory in der unheimlichen Stille zurück.

Sein Überlebenswille wird wach. Er muss die Wunde auswaschen, schnell. Er macht auf der Treppe kehrt und nimmt zwei, drei Stufen auf einmal, bis er wieder oben an der Wohnung angekommen ist, die er gerade verlassen hat.

Er hält die Hand über die Wange und sagt dem Mann, er müsse zur Toilette. Im Spiegel des Badezimmerschränkchens sieht er sein blasses Gesicht, das sich gespenstisch gegen sein dunkles Haar abhebt. In seinen Augen spiegelt sich immer noch die Angst, sie sind dunkler als gewöhnlich, fast schwarz. Er befühlt die Wunde und tastet nach dem Wasserhahn. Es gibt schlimmere Verletzungen. Aber es geht nicht darum, wie es aussieht. Es geht darum, was drin sein kann. HIV? Hepatitis B? Oder C? Die Infektionsrate unter den Drogenabhängigen in Dublin ist hoch, sehr hoch. Sein Angreifer sah nicht danach aus, als seien ihm Druckräume und saubere Spritzen wichtig. Wann hat er die Nadel zum letzten Mal benutzt? Und warum hat Rory ihm nicht einfach den verdammten Koffer hingeworfen und ist gerannt? Mit Wasser und Seife schrubbt er den Riss und versucht, ihn zum Bluten zu bringen. Er hört, dass draußen die Mannschaft vom Krankenwagen angekommen ist, und sucht im Badezimmerschrank nach einem Desinfektionsmittel. Haarpomade, Zahnpasta, Shampoo, Conditioner, Rasierklingen, schließlich ein Deospray. Er nimmt die Verschlusskappe ab und zielt auf sein Gesicht. Besser als nichts.

Als er wieder im Flur ist, gibt er dem Rettungsteam Anweisungen über den Zustand der Patientin, wobei er die Hand über die Wange hält. Er tritt zur Seite, als sie der Frau auf die Trage helfen, dann begleitet er sie nach unten zum Krankenwagen, dessen Blaulicht lautlos in der Dunkelheit blitzt. Wenn er nur bei ihr geblieben wäre, dann wäre das alles nicht passiert.

Renatis zögert nicht lange. Er lässt den Motor an und rast hinter dem Krankenwagen her. Jetzt haben sie dasselbe Ziel, um die restlichen Notrufe wird sich ein anderer Arzt kümmern müssen. Draußen geht das Leben weiter. Mäßiger Verkehr, hauptsächlich Taxis, niemand ist in Eile. Auf den Fußwegen Menschen, die nach einem netten Abend nach Hause gehen. Die Ampeln an den leeren Kreuzungen versehen in regelmäßigem Rhythmus ihren Dienst. Doch das alles sieht Rory nicht. In ihm tobt ein Kampf. Wenn er das tut, worauf Renatis besteht und was er selbst jedem anderen auch raten würde (nämlich sofort in die Notaufnahme zu gehen, um sich testen und impfen zu lassen), setzt er seinen Beruf aufs Spiel. Denn wenn das Testergebnis für HIV oder Hepatitis B oder C positiv ist, wird er zum Risiko und seine Karriere ist beendet. Doch wenn er nichts tut, es einfach ignoriert und das Beste hofft, setzt er sein Leben aufs Spiel.

Das nächste Mal, wenn ein Litauer ihn wegen seiner Stadt warnt, wird er auf ihn hören, verdammt noch mal.

Kapitel 3

RORY WARTET IN einem schmalen Korridor in der Notaufnahme, zusammen mit einer ständig länger werdenden Schlange kranker und verletzter Dubliner, von denen einige, wie er, sitzen können, andere liegen Kopf an Kopf auf einer Reihe von Tragen. Das Standardverfahren für Notaufnahmen in einem Land, dessen boomende Wirtschaft zu den erfolgreichsten der Welt gehört. Rorys Freundin Sinead hat seine Wartezeit schon um Stunden verkürzt, indem sie ihm das eigentliche Wartezimmer, erspart und ihn gleich in den Korridor geschickt hat. Die Leute, die jetzt hier mit ihm warten, haben bereits Stunden im Wartezimmer hinter sich. Und während er deshalb einerseits Schuldgefühle hat, wünscht er sich andererseits, er käme gleich dran und müsste gar nicht warten. Das Blut in seinen Adern ist infiziert, Zeit ist alles. Er würde sich ja selbst testen und impfen, wenn man es ihm erlaubte und er mit dem Verfahren vertraut wäre. Aber er ist kein Notarzt, und so etwas passiert auch nicht oft.

Und während Sinead und ihre Kollegen sich um einen Mann bemühen, der einen Herzstillstand hatte, sitzt Rory da und starrt lieber auf seine Hände als auf den Teenager, der mit blutgetränktem Verband um den Kopf ihm gegenübersitzt. Oder auf den grauhaarigen Mann hinter ihm, dem eine Schwester Elektroden auf der Brust befestigt. Oder auf die alte Frau, deren Tochter versucht, ihr zu erklären, dass sie bald wieder zu Hause sein wird und ihre Medizin nehmen kann. Sie sind seit acht Stunden hier und haben immer noch keinen Arzt gesehen, und sie hätte längst ihre Tabletten einnehmen müssen.

Zwei Paar glänzender schwarzer Schuhe erscheinen in Rorys Blickfeld zu seinen Füßen. Er hebt den Kopf und sieht zwei Polizisten vor sich. (Als der Litauer ihm riet, die Polizei anzurufen, hatte er auf ihn gehört.) Er fragt sich, ob man ihn gleich hier vor allen anderen verhören wird, dann erinnert er sich daran, dass ja hier jeder längst seine Privatsphäre verloren hat. Einer der Polizisten schlägt vor, irgendwo hinzugehen, wo es ruhiger ist. Rory entscheidet sich dagegen. Lieber verzichtet er auf seine Privatsphäre als auf seinen Platz in der Warteschlange.

Er geht alles durch und findet, dass er sich ganz gut erinnert, bis sie nach Einzelheiten fragen: Hat er Markennamen auf der Kleidung oder an den Schuhen bemerkt, irgendwelche farbigen Streifen auf dem Kapuzenshirt, andere besondere Merkmale? Sie sind sehr geduldig. Sie sagen, er soll sich keine Sorgen machen, wahrscheinlich stehe er noch unter Schock. Morgen werde er sich an mehr erinnern. Schock oder nicht, Rory weiß, dass er sich nicht erinnern wird. Er kann mit keinen brauchbaren Einzelheiten aufwarten. Der ›Jugendliche‹, den er soeben beschrieben hat, könnte einer von tausend abgemagerten, verwahrlosten Drogenabhängigen sein. Der ältere der Polizisten zieht seine Karte heraus und schreibt etwas darauf. Er informiert Rory, dass er die Untersuchung leiten wird. Doch da es Sonntagnacht ist, wird er um sechs Uhr Feierabend machen und erst Mittwochnachmittag wieder im Dienst sein. Rory soll sich morgen früh auf der Polizeiwache melden und einen ausführlichen Bericht abgeben. Rory, dem seine medizinische Behandlung im Moment wichtiger ist, dankt ihm und steckt die Karte ein. Die Impfung ist wesentlich dringender.

Endlich wird er ins Behandlungszimmer gerufen. Er blinzelt in das helle Licht, ihm fällt auf, wie ernst alle aussehen und dass alles sehr schnell geht, Dinge, die er nie zuvor bemerkt hat. Wie anders es doch ist, wenn man auf der anderen Seite ist, wie einem die Kontrolle entgleitet, wie machtlos und verängstigt man sich fühlt. In einer kleinen Kabine sitzt er auf dem Rand der Liege und wartet wieder.

Sinead kommt herein und entschuldigt sich für die Verzögerung. Dann schickt sie sich an, ihm Blut abzunehmen.

Rory sieht auf seinen nackten Arm, um den jetzt ein Stauschlauch liegt; er sieht zu, wie die Nadel in die Vene eindringt und wie sein dunkles Blut in das Röhrchen mit dem Gummipfropf läuft. Er hat nie Probleme gehabt, das zu beobachten – bis jetzt. Sinead arbeitet ruhig und umsichtig. Sie ist eine gute Ärztin, denkt er. Dann fällt ihm ein, dass er noch nie darüber nachgedacht hat, was eigentlich die Kriterien dafür sind, oder ob er selbst ein guter Arzt ist.

Er vertraut Sinead. Sie nimmt das hier ernst, Gott sei Dank.

Nachdem sie eine Reihe von Röhrchen gefüllt hat, zieht sie die Kanüle heraus, drückt einen Tupfer auf die Einstichstelle und löst den Stauschlauch. Rory hält den Tupfer im gebeugten Arm fest, während Sinead die Röhrchen versorgt und sich anschickt, Formulare auszufüllen. Erst jetzt bemerkt er, dass sie Handschuhe trägt. Das tut weh und er versucht, die Demütigung zu verdrängen, indem er sich sagt, es macht nichts – sie muss sich schützen, er würde es ebenfalls tun.

»Hepatitis B und C und HIV, nicht wahr?«, fragt er.

»Ja. Hör mal, Rory ...« Sie stellt das Kästchen mit den Blutproben hin und verschränkt die Arme. »Ich habe im Referenzlabor angerufen ...« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Es ist nicht ganz so einfach. Wir können dich gegen Hepatitis B impfen. Der Impfschutz ist gut, wenn er auch nicht hundertprozentig ist. Und wir können auch mit dem Anti-Retrovirus anfangen, um einer eventuellen HIV-Infektion vorzubeugen. Aber wir können nichts tun, um Hepatitis C zu verhindern, falls du damit infiziert sein solltest.«

Von den drei Krankheiten ist dies die weitaus häufigste unter den Heroinsüchtigen der Stadt, man schätzt, dass bis zu sechzig Prozent infiziert sind. Erst vor einer Woche hatte Rory eine Überschrift in der Irish Medical Times gesehen. Wenn der Artikel für ihn relevant gewesen wäre, hätte er ihn gelesen. Er fühlt sich schon jetzt krank.

»Wie schnell werden wir wissen, ob ich infiziert bin?«, fragt er, wobei er sich um eine ruhige Stimme bemüht.