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Titel

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7439-8 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5905-0 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2019
SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: The Heart’s Appeal
© der amerikanischen Originalausgabe 2018 by Jennifer Harrington, by Bethany
House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan
49516, U.S.A. All rights reserved.

Übersetzung: SuNSiDe, Reutlingen
Cover design by Koechel Peterson & Associates, Inc., Minneapolis, Minnesota/
Jon Godfredson
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Über die Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Nachwort

Dank

Leseempfehlungen

Über die Autorin

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Jennifer Delamere arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Lektorin für Sachbücher und Unterrichtsmaterialien. Sie ist leidenschaftliche Wintersportlerin und liebt es, Romane zu schreiben. In den USA wurden ihre Bücher schon mehrfach ausgezeichnet. Sie ist verheiratet und lebt in North Carolina.

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Februar 1881

Julia Bernay würde sich verspäten – und das, obwohl sie nichts auf der Welt mehr hasste, als unpünktlich zu sein. Unpünktlichkeit bewies einen Mangel an Respekt und warf ein schlechtes Licht auf sie. Julia war auf dem Weg zu einer Vorlesung bei Dr. Anna Stahl, einer Ärztin aus Amerika, und sie war fest entschlossen, einen guten ersten Eindruck zu machen. Nach monatelangem Abrackern am Queen’s College in der Harley Street war dies ihre erste echte Gelegenheit, mit Londons medizinischen Fachleuten in Kontakt zu kommen.

Julia war nun schon fast ein Jahr in London, doch offiziell hatte sie ihr Medizinstudium noch nicht aufgenommen. Ihre anfangs so hochfliegenden Pläne – sie hatte sogleich mit der Ausbildung beginnen wollen – waren rasch zunichtegemacht geworden, als sie die Hochschulaufnahmeprüfung nicht bestanden hatte und hatte feststellen müssen, dass ihre schulische Ausbildung sie nicht ausreichend auf das Studium vorbereitet hatte. Die Vorschriften für die Zulassung zum Arztberuf verlangten, dass sie eine Prüfung ablegte, noch bevor sie Kurse an der London School of Medicine for Women belegen konnte, die zu einem Examen in Medizin führten.

Am Queen’s College wurden in erster Linie Erzieherinnen ausgebildet, doch es bot auch Kurse für Frauen an, die sich für eine akademische Ausbildung in Medizin qualifizieren wollten. Julia hatte sich in den vergangenen Monaten zwar mit vollem Einsatz ihren Studien gewidmet, doch inzwischen brannte sie förmlich darauf, die akademische Grundausbildung hinter sich zu lassen und das eigentliche Medizinstudium beginnen zu dürfen. Und nachdem sie nun endlich die Erlaubnis hatte, Dr. Stahls Vorlesung zu besuchen, wollte sie unter keinen Umständen zu spät kommen!

Unglücklicherweise hatte sich ihr Entschluss, die U-Bahn zu nehmen, als Fehler erwiesen. Um die Bahn herum drängten sich auf dem Bahnsteig die Passagiere, die bereits den dritten Zug hatten kommen und weiterfahren sehen müssen, weil die Dritte-Klasse-Abteile zu überfüllt waren, um auch nur noch einen einzigen Fahrgast aufzunehmen.

Julia hatte einen Dritte-Klasse-Fahrschein gekauft, weil sie sparen musste und sich vernünftigerweise gesagt hatte, dass der Zug zur selben Zeit ans Ziel kommen würde, ganz gleich, in welchem Wagen sie saß. Dabei hatte sie nicht bedacht, dass die Dritte-Klasse-Wagen um diese Tageszeit aus allen Nähten platzten. Die Erste-Klasse-Wagen waren dagegen sämtlich nur halb besetzt.

Jetzt steckte sie in einem Dilemma, denn sie hatte weder Geld noch Zeit zu verschwenden – zumal nach der Nachricht, die sie diese Woche von ihrer Gönnerin erhalten hatte. Mrs Staunton hatte ihr bekümmert mitgeteilt, dass sie aufgrund einer Bankenpleite in Bristol nicht mehr in der Lage war, Julias Ausbildung zu bezahlen. Julia bedauerte die Stauntons, die nun zu kämpfen hatten, doch das Unglück brachte auch sie selbst in eine äußerst missliche Lage. Sie hatte immerhin noch genügend Geld, um ihren Lebensunterhalt einige Monate lang bestreiten zu können, weil Mrs Staunton sich geweigert hatte, die Summe, die sie ihr bereits gegeben hatte, zurückzunehmen. So konnte Julia ihre Vorbereitung für die Hochschulaufnahmeprüfung abschließen und würde danach die offizielle Qualifikation besitzen, das Studium an der London School of Medicine im Oktober aufzunehmen. Wenn sie sich sehr einschränkte, reichte ihr Geld vielleicht sogar noch für das erste Semester. Doch was dann? Sollte sie überhaupt mit dem Studium anfangen, wenn sie gar nicht wusste, ob sie es fortsetzen konnte?

Vielleicht sollte sie ja doch in Erwägung ziehen, bei den Morans zu wohnen. Ihre Schwester Rosalyn und ihr Mann, Nate Moran, lebten in London in einem großen Haus, in dem sie auch Gäste aufnehmen konnten, und waren selbst aber fast das ganze Jahr über auf Tournee mit ihrem Opernensemble. Es wäre auf jeden Fall billiger als die Unterkunft, in der sie zurzeit wohnte, wenn auch weiter von der Universität entfernt. Doch das würde sie mit Rosalyn und Nate besprechen, wenn diese über Ostern nach Hause kamen.

Erst einmal musste Julia die Prüfung bestehen. Vor allem in Latein, einem wichtigen Prüfungsfach, war sie noch sehr unsicher. Da sie kein Geld für einen Privatlehrer hatte, schien ihr die Gefahr durchzufallen größer denn je.

Vielleicht müsste sie darüber nachdenken, in die Krankenpflege zurückzukehren, doch nachdem sie so weit gekommen war, würde ihr der Pflegeberuf nicht mehr die Erfüllung schenken, die sie früher darin gefunden hatte. Wenn sie in den Beruf zurückkehrte, würde sie weder die Zeit noch das Geld für ein Medizinstudium haben. Der Verdienst betrug knapp zehn Pfund im Jahr, die Schwestern wohnten alle zusammen in dürftigen Unterkünften im Hospital und mussten praktisch Tag und Nacht arbeiten. Sie würde ihr Ziel, Ärztin und Missionarin zu werden, vergessen müssen – doch Julia konnte nicht glauben, dass Gott zusehen würde, wie sie ihre Träume für immer aufgab. Er wird euch jeden Tag geben, was ihr braucht, dachte sie. Deshalb sorgt euch nicht um morgen.

Sie holte tief Luft und betete, dass der nächste Zug bald kommen möge.

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Michael Stephenson stand mit seiner Schwester Corinna am Eingang zur U-Bahn-Station, während Miss Laura Maynard, die Dritte im Bunde, noch rasch einem Blumenmädchen einen Strauß abkaufte. Er sah zu, wie Laura die Auswahl auf dem kleinen, ramponierten Blumenkarren prüfte, eine Wahl traf und dem Mädchen ein paar Münzen reichte. Das Blumenmädchen nahm die Münzen lächelnd entgegen und knickste schüchtern.

Laura roch an den Blumen und atmete tief den Duft ein. Sie war blond, schlank und ausnehmend hübsch. In ihrem hellblauen Cape und mit den bunten Treibhausblumen in der Hand, die einen fröhlichen Kontrast zu dem tristen Februartag bildeten, gab sie ein ganz entzückendes Bild ab. Michael bewunderte Lauras Schönheit und ihre elegante Erscheinung und kam zu dem Schluss, dass er ein Glückspilz war, sie eines Tages seine Ehefrau nennen zu dürfen. Plötzlich spürte er einen Stups und drehte sich um. Seine Schwester sah ihn auffordernd an. Offenbar hatte sie etwas zu ihm gesagt. »Tut mir leid, was hast du gesagt?«

Corinna warf einen vielsagenden Blick auf Laura, dann sah sie Michael an. »Ich habe dich an Lady Amberleys alljährlichen Ball im Juli erinnert.«

»Wie praktisch jeden Tag, seit du die Einladung erhalten hast.«

Die Einladung zu diesem Ball war ein gesellschaftlicher Erfolg, für den Corinna jahrelang gekämpft hatte. Dieses Jahr war ihre Mühe – vielleicht auf Lauras Fürsprache hin – belohnt worden. Corinna platzte fast vor Stolz und hatte sofort angefangen, Pläne für das große Ereignis zu schmieden, obwohl es noch Monate bis dahin waren.

Sie stupste ihn erneut an. »Ich war gerade dabei zu sagen, dass der Ball für die Verkündung der wichtigsten Verbindungen berühmt ist.«

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»Ah ja.« Es überraschte ihn nicht, dass Corinna Verlobungen als Verbindungen bezeichnete, da er selbst nur zu gut wusste, was sie damit meinte. Sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um Michael und Laura, die jüngste Tochter des verstorbenen Viscounts Delaford, zusammenzubringen. Diese Verbindung würde ihn auf dem Weg, die gesellschaftliche Position zurückzuerobern, die die Familie Stephenson verloren hatte, einen guten Schritt voranbringen. In Wahrheit verfolgte Michael diesen Plan mit genau derselben Leidenschaft wie Corinna. Bis zum Ball waren es noch fast fünf Monate, doch er rechnete damit, schon lange vorher Lauras Jawort zu erhalten. Im Moment konnte er allerdings der Versuchung nicht widerstehen, seine Schwester zu necken und sie im Ungewissen zu lassen. Er tätschelte ihr den Arm. »Ich glaube, der diesjährige Ball wird sämtliche Erwartungen übertreffen.«

»Ach ja?« Corinnas eifriger Gesichtsausdruck zeigte, dass sie den Köder geschluckt hatte.

»Ja. Ich habe gehört, die Enkelin des alten Herzogs von Norlingthon plant, ihre Verlobung mit diesem radikalen Parlamentsmitglied, Mr John Waverly, bekanntzugeben.«

Corinna kniff die Augen zusammen. »Das habe ich nicht gemeint, wie du sehr wohl weißt.«

Amüsiert über den gesellschaftlichen Ehrgeiz seiner Schwester, beschloss Michael, den Advocatus Diaboli zu spielen. »Aber Corinna, ich kenne Miss Maynard doch erst seit ein paar Wochen. Ganz zu schweigen davon, dass das Trauerjahr nach dem Tod ihres Vaters gerade erst vorüber ist.«

»Ganz genau: Es ist vorüber. Wir dürfen keine Zeit verlieren; sie wird sich vor Verehrern nicht retten können. Außerdem steht der neue Viscount deinen Absichten, dich mit seiner Schwester zu verbinden, sehr viel offener gegenüber.«

Das stimmte. Lauras Vater, der alte Viscount, war absolut dagegen gewesen, dass seine Tochter in die Familie Stephenson einheiratete, nachdem Michaels Vater sie alle in den finanziellen und gesellschaftlichen Ruin getrieben hatte. Lauras Bruder sah das anders. Er hatte erkannt, dass Michael eine große Karriere bevorstand – sowohl was Vermögen als auch was Achtbarkeit betraf. Er war ein junger Mann und hatte nicht das Gleiche miterlebt wie sein Vater, noch maß er der Vergangenheit überhaupt viel Gewicht bei. Ihm lag ganz einfach daran, dass seine Schwester eine gute Partie machte.

»Außerdem«, fuhr Corinna fort, »hast du schon jetzt sehr viel mehr Zeit mit Miss Maynard verbracht als ich mit David, bevor wir geheiratet haben.«

Diese Bemerkung holte Michael zurück in die nüchterne Wirklichkeit. Corinna hatte eine Vernunftehe geschlossen, aus der im Laufe von dreizehn Jahren kaum mehr geworden war, jedenfalls nicht aufseiten Corinnas. Plötzlich spürte er Zweifel in sich aufsteigen. Würde seine Ehe vielleicht genauso enden? Doch dann schob er diesen Gedanken energisch beiseite. Er konnte zwar nicht behaupten, Laura zu lieben, doch es gab auch nichts, was ihm an ihr ausdrücklich missfiel. Warum sollten sie nicht glücklich zusammen werden? Außerdem konnte er nicht vergessen, dass Corinna nicht nur um ihrer selbst willen, sondern mindestens ebenso sehr um seinetwillen einen wohlhabenden Mann geheiratet hatte. Während er darüber nachdachte, murmelte er eine belanglose Antwort.

Doch das genügte seiner Schwester nicht. Sie gab Michael einen dritten energischen Stups. »Michael Stephenson, ich verbiete dir ausdrücklich, Laura Maynard zu heiraten!«

Michael starrte sie entgeistert an. »Warum denn das?«

Sie grinste. »Weil du grundsätzlich nur das tust, was man dir ausdrücklich verbietet.«

Er musste laut auflachen.

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Wenn die nächste Bahn ebenfalls voll war, würde Julia in einen Wagen der zweiten Klasse, oder wenn nötig, sogar in einen der ersten Klasse steigen müssen. Aber was schadete das schon? Schließlich nahm sie damit niemandem den Platz fort. Und außerdem – war sie denn nicht ein Kind Gottes, bereit, ihr Leben seinem Plan zu unterstellen? Und waren vor seinen Augen nicht alle Menschen gleich? Das ständige Herumreiten auf Klassenunterschieden mochte zwar ein Grundzug der englischen Mentalität sein, doch sie glaubte nicht, dass jemand sie anhalten würde, weil sie nicht in die erste oder zweite Klasse passte. Immerhin trug sie heute ihr bestes Kleid. Die Verkäuferin im Secondhandladen hatte ihr versichert, dass es erst ein Jahr alt und also noch nicht völlig unmodern war. Die anderen Fahrgäste, die auf die besseren Plätze warteten, schienen bestenfalls der Mittelschicht anzugehören. Die wirklich Reichen benutzten ihre eigenen Fahrzeuge und würden nie die U-Bahn nehmen. Die Bezeichnung erste Klasse war also ein wenig unzutreffend.

Mit einem schrillen Pfeifen fuhr der nächste Zug ein. Die riesigen runden Glasleuchten über ihr flackerten, als er zum Halten kam.

Ein kollektives Stöhnen ging durch die Menge, als die Leute sahen, dass auch diese Bahn zum Bersten voll war.

Also gut. Julia hatte hart für die Erlaubnis gearbeitet, diese Vorlesung zu besuchen. Sie würde sie nicht verpassen. Sie bahnte sich schnell einen Weg durch die vielen Menschen, achtete jedoch darauf, kein Aufsehen zu erregen. Die Dritte-Klasse-Wagen befanden sich ganz vorn, dicht beim Rauch, der aus der Lok aufstieg. Die Erste-Klasse-Wagen lagen in der Mitte, dahinter schlossen sich zum Ende des Zuges hin die Zweite-Klasse-Wagen an. Julia blickte kurz zu der Wache auf dem Bahnsteig hinüber. Der Mann sprach mit dem Zugführer. Offenbar diskutierten sie ein Problem mit der Lok, doch eine andere Wache sah quer über den Bahnsteig zu ihr herüber. Hatte der Mann sie vorhin bei den Dritte-Klasse-Passagieren stehen sehen?

Julia blieb stehen und versuchte sich den Anschein zu geben, als hätte sie schon die ganze Zeit hier gewartet. Neben ihr standen zwei Frauen, eine Brünette, groß und apart, wenn auch nicht im klassischen Sinne schön. Sie war etwas größer als Julia, die sich mit ihren ein Meter siebzig für durchschnittlich groß hielt. Die andere Frau war klein, mit blassblondem Haar; sie trug ein Cape mit Pelzbesatz. Ihr leicht gelocktes, kunstvoll aufgestecktes Haar blitzte unter einem Hut hervor, der in einem höchst schmeichelhaften Winkel auf ihrem Kopf saß und eine perfekte Ergänzung ihrer Garderobe bildete.

Die beiden waren zu sehr ins Gespräch vertieft, um Julia zu bemerken, doch Julia bekam genügend von ihrem Gespräch mit, um zu verstehen, dass sie einen Einkaufsbummel machten. Vielleicht waren es Hausfrauen, die mit reichen Kaufleuten oder Geschäftsmännern aus dem Finanzviertel Londons, der City, verheiratet waren. Die Blonde beschrieb gerade drei verschiedene Paare Handschuhe, die sie kaufen wollte – das war mehr, als Julia sich an Einkäufen für ein ganzes Jahr vorstellen konnte. Sie dachte ironisch, dass sie zwar nicht als eine dieser Damen durchgehen mochte, aber vielleicht als ihr Mädchen, das sie mitgenommen hatten, um ihre Einkaufstüten zu tragen.

Was auch immer die beiden Männer bei der Lok besprochen hatten, sie schienen das Problem gelöst zu haben. Jetzt forderte der Wachmann auf dem Bahnsteig die Leute auf, sich beim Einsteigen zu beeilen und die Türen zu schließen. Julia hatte keine Zeit mehr, zu den Zweite-Klasse-Wagen hinten am Zug zu laufen. Sie warf einen raschen Blick zu der anderen Wache hinüber, doch der Mann schaute in eine andere Richtung.

Ein Gentleman, der ganz in der Nähe der beiden Damen gestanden hatte, sagte etwas zu ihnen und bedeutete ihnen mit einer höflichen Geste voranzugehen. Die drei stiegen zusammen ein, Julia folgte ihnen und schaffte es gerade noch in den Wagen, bevor die Wache auf dem Bahnsteig die Türen schloss. Sie seufzte erleichtert auf und setzte sich auf einen freien Platz, der nicht am Fenster war. Gleich darauf fuhr der Zug an und dann raste er auch schon in den Tunnel hinein.

Julia war schon ein paarmal U-Bahn gefahren, seit sie in London lebte, doch sie fand es noch immer aufregend. Sie konnte sich nicht an die rauchgeschwängerte Dunkelheit und an das Wissen, dass der Zug mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch einen so engen Raum schoss, gewöhnen. Doch wenigstens war es in diesem Wagen geräumiger als in der dritten Klasse. Sie waren nicht nur weiter vom Rauch entfernt, es war auch hell hier drin und die Sitze waren gepolstert. Zwei weitere Männer hatten bereits in dem Wagen gesessen, als sie einstiegen; sie waren in ihre Zeitungen vertieft und hatten kaum aufgeblickt. Als niemand ihr das Recht streitig machte, hier zu sein, entspannte Julia sich und lehnte sich zurück. Jetzt konnte sie hoffen, noch rechtzeitig den Hörsaal zu erreichen.

Der Gentleman hatte sich auf die andere Seites des Gangs gesetzt, gegenüber von den beiden Frauen; die drei unterhielten sich leise. Julia schätzte ihn etwas älter ein, als sie selbst war, vielleicht knapp dreißig. Er war groß und breitschultrig, hatte dunkles Haar und sauber getrimmte Koteletten. Sein dunkler Anzug saß perfekt, er wirkte selbstsicher und wohlhabend.

Sie rief sich zur Ordnung und schlug The Lancet, eine medizinische Fachzeitschrift, auf, um die Zeit zu nutzen und noch ein wenig zu lesen. Doch dann wurde sie von dem Gentleman und den beiden Damen, mit denen er unterwegs war, wieder abgelenkt. Sie sann darüber nach, in welchem Verhältnis die drei wohl zueinanderstanden, und revidierte ihre frühere Annahme über die Frauen: Die große musste die Schwester des Mannes sein. Die beiden wirkten vertraut und besaßen eine gewisse Ähnlichkeit, jedenfalls in Größe und Haarfarbe. Die Blonde hingegen blickte immer wieder schüchtern zu dem jungen Mann hinüber, als wollte sie sehen, ob er sie auch genügend beachtete. Julia nahm an, dass sie ledig war und ein Auge auf ihn geworfen hatte.

Ob er wohl die Art Mann war, die Frauen wie die Blonde attraktiv fanden? Er selbst sah sehr gut aus – das fiel sogar Julia auf, die solchen Dingen wenig Gewicht beimaß. Dennoch wirkte er nicht eitel oder frivol so wie die Blonde. Um seinen Mund lag ein entschlossener, fast harter Zug. Julia hielt ihn für einen Mann, der einmal ins Auge gefasste Ziele mit großem Ernst verfolgte.

»Willst du nicht doch zu Selfridges mitkommen und noch eine Tasse Kaffee mit uns trinken, bevor du ins Gray’s Inn gehst?«, fragte die Blonde ihn. »Ich würde mich so freuen!«

»Nur unter der Bedingung, dass ich mich verabschieden darf, wenn ihr mit euren Einkäufen anfangt«, erwiderte er lächelnd. Es schien ein warmes, ehrliches Lächeln zu sein. So warm, dass Julias Achtung vor ihm gleich um mehrere Stufen sank. Vielleicht war er ja doch der Typ Mann, dem Frauen wie die Blonde gefielen. Sie hätte es wissen müssen. Gut aussehende Männer schienen sich immer zu schönen Frauen hingezogen zu fühlen.

Doch dann rief sie sich wieder zur Ordnung: Warum interessiert dich das? Sie würde heute eine wichtige medizinische Vorlesung besuchen und in ein paar Jahren nach Afrika in ein Leben als Ärztin und Missionarin aufbrechen. Sie hatte wahrlich Besseres zu tun, als über das Privatleben irgendwelcher privilegierter Londoner nachzudenken.

Beinahe musste sie über ihre eigene Torheit lächeln, als der Mann den Kopf wandte und sah, wie sie ihn anschaute. Offenbar glaubte er, ihr Lächeln gälte ihm, denn er zog die Augenbrauen hoch und nickte ihr grüßend zu. Dabei entdeckte sie ein amüsiertes Glitzern in seinen Augen, als sei er daran gewöhnt, in der U-Bahn von ihm unbekannten Damen angelächelt zu werden. Sie wandte entrüstet den Kopf ab. Sie war ganz bestimmt nicht so eine Person! Wie konnte er es wagen!

Sein Blick glitt von ihrem Gesicht an ihrer Kleidung entlang. Julia wusste, dass er sie einzuordnen versuchte, mit ihrer Secondhandkleidung, dem unmodernen Hut und den Handschuhen, die zwar abgetragen, aber durchaus noch gut waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verlegen und verunsichert. Wie hatte er das mit einem einzigen Blick bewirken können?

Wurde sie etwa rot? Nein. Sie konnte gar nicht rot werden. Julia Bernay wurde niemals rot. Das passierte nur unglückseligen weiblichen Wesen wie der Blonden da vorn. Sie wandte rasch den Blick ab, hob ihr Exemplar des Lancet hoch und vertiefte sich in die Zeitschrift. Er sollte ruhig sehen, dass sie eine ernst zu nehmende Frau war.

Keine der beiden Damen hatte den kleinen Austausch bemerkt. Die Brünette sagte gerade: »Du weißt doch, dass wir dir etwas so Langweiliges wie Einkaufen niemals zumuten würden.« Es klang ironisch. »Trotzdem könntest du dich nach einem Kammerdiener umsehen, der etwas mehr Kreativität in der Wahl deiner Kleidung beweist.«

Der Mann zuckte die Achseln. »Wozu? In meinem Beruf braucht man nicht kreativ zu sein, was die Kleidung betrifft.«

Julia ließ ihre Zeitschrift ein Stückchen sinken und spähte erneut zu ihm hinüber. Was mochte er von Beruf sein? Die Blonde hatte das Gray’s Inn erwähnt. Wahrscheinlich war er also Rechtsanwalt. Das kam ihr plausibel vor. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie er in einem Gerichtssaal stand und vor einer Jury sprach. Er besaß eine Ausstrahlung, die ihm die Aufmerksamkeit der Menschen sicherte. Wie er wohl mit der Perücke und im Gewand eines Anwalts aussah? Bestimmt sehr beeindruckend.

Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Julia sah, dass der Bahnsteig auch hier völlig überfüllt war. Die meisten Leute drängten sich um die Dritte-Klasse-Wagen, doch ein gepflegter Herr in einem Mantel mit Pelzkragen und mit einem Tuch mit Rautenmuster um den Hals stieg in die erste Klasse. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er ihr einen neugierigen Blick zuwarf. Sie versuchte, sich den Anschein zu geben, als fahre sie tagtäglich in der ersten Klasse, doch das war gar nicht nötig. Sein Blick war rasch weitergewandert zu der Blonden, die seine Aufmerksamkeit wesentlich länger fesselte. Dann setzte er sich.

Der Anwalt zog ein Zigarettenetui aus der Tasche und öffnete es. Julia war enttäuscht. Sie hatte erst kürzlich mehrere Artikel gelesen, die auf die schädlichen Auswirkungen des Rauchens hinwiesen. Allerdings gab es auch Ärzte, die die gesundheitlichen Vorteile herausstellten.

»Michael, gibst du mir auch eine Zigarette?«, fragte die Brünette.

Er sah sie missbilligend an. »Aber Corinna, ich glaube nicht, dass David es gut findet, wenn ich seine Frau auf Abwege führe.«

»Dann sieh mich eben nicht als Davids Frau«, entgegnete sie aufgebracht und streckte die Hand aus. »Denk einfach dran, dass ich deine Schwester bin.«

Er antwortete mit einem spöttischen Lächeln: »Nun, wenn du es so siehst …«

Dann stand er auf und trat in den Gang, um ihr eine Zigarette zu geben.

In diesem Augenblick machte der Zug, der bis dahin ganz normal dahingerattert war, urplötzlich eine quietschende Vollbremsung. Dann neigte er sich stark nach links, wobei sich die rechte Seite anhob, als hätte sie sich vom Gleis gelöst. Julia und die anderen Passagiere mussten sich an ihren Sitzen festklammern, um nicht zu Boden geschleudert zu werden. Der Mann, den Julia nur als Michael kannte, wurde nach links geschleudert und stürzte rücklings in ein Fenster. Er versuchte, sich aufzurichten, schüttelte kurz benommen den Kopf und schien dann das Bewusstsein zu verlieren. Als er zu Boden stürzte, schrammten sein Kopf und sein Hals über die Glasscherben, die noch im Fensterrahmen steckten. Die übrigen Scherben fielen mit ihm zu Boden, rutschten über den Gang und mischten sich mit dem Blut, das unter seinem Kopf hervorkam.

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Einen Augenblick lang herrschte ein beinahe gespenstisches Schweigen. Wie Julia waren auch die anderen Fahrgäste im ersten Moment völlig verdattert und versuchten zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Dann wurde die Stille durch Schmerzlaute unterbrochen, während die Leute versuchten, sich aufzurappeln. Einer der Gentlemen stöhnte: »Ich glaube, mein Arm ist gebrochen!« Der Wagen war noch immer stark nach links geneigt. Julia vermutete, dass der Zug bei der plötzlichen heftigen Bremsung entgleist war.

»O nein, o nein«, kreischte die Blonde und starrte zu Tode erschrocken auf den am Boden liegenden blutenden Michael. Julia stolperte nach vorn, um ihm zu helfen, selbst entsetzt über die große Menge Blut, die unter seinem Kinn hervorquoll. Einer der anderen Männer kroch neben ihn, zog ein Taschentuch heraus und versuchte erfolglos, die Blutung zu stillen.

»So geht das nicht«, sagte Julia, streifte ihre Handschuhe ab und zog auch ihren Mantel aus, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. »Gehen Sie beiseite. Ich bin Krankenschwester.«

»Krankenschwester?« Er sah sie überrascht an, doch Julia wollte keine Zeit mit Erklärungen verschwenden. Die Fensterglasscherbe hatte einen tiefen Schnitt an Michaels Hals verursacht und dabei offenbar ein wichtiges Blutgefäß verletzt.

»Wollen Sie, dass er verblutet?«

Die Frage schüchterte den Mann so sehr ein, dass Julia ihn aus dem Weg schieben konnte. Sie nahm Michaels Hand. Mit der anderen Hand fügte sie den Schnitt zusammen und presste dann mit aller Kraft gegen die Wirbelsäule, um die Arterie abzudrücken. Blut lief über ihre Hände und ihr Kleid, während sie sich abmühte, den richtigen Griff zu finden.

»Ist er tot?«, weinte die blonde Frau und rang die Hände.

»Noch nicht«, antwortete Julia knapp. Sie war schon mehrfach bei Notfällen zugegen gewesen, doch diesmal war es so ernst, dass sogar sie beunruhigt war. Sie kämpfte um Fassung, während sie weiterhin versuchte, die Blutung unter Kontrolle zu bekommen.

Michaels Schwester war ebenso erschrocken, doch sie geriet nicht in Panik wie die andere Frau. Als sie sich neben Julia kniete, wäre sie fast auf den Scherben ausgerutscht. »Was tun Sie da? Sie erdrosseln ihn ja!«

»Nein, ich verhindere nur, dass er verblutet. Wir müssen Druck auf die Wunde ausüben, bis ein Arzt kommt.« Sie warf der Frau einen beschwörenden Blick zu. »Vertrauen Sie mir, sonst wird er sterben.«

Das war eine schockierende Aussage, doch sie musste so schonungslos sein. Es sprach für die Frau – Michael hatte sie Corinna genannt –, dass sie sich sofort beruhigte. Julia sah, wie sie mehrmals tief durchatmete, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Dann nickte sie. »Was tun wir als Nächstes?«

Julia hörte Geräusche außerhalb des Wagens. »Was ist da los? Wie weit sind wir von der nächsten Station entfernt? Wir brauchen so schnell wie möglich einen Arzt.«

Der junge Mann, der bei der letzten Haltestelle eingestiegen war, steckte den Kopf durch das zerbrochene Fenster. Seine Handschuhe und der dicke Mantel schützten ihn, als er sich hinausbeugte, um ihre Lage abzuschätzen. »Da ist ein schmaler Weg zwischen dem Zug und der Tunnelwand. Ganz da hinten sehe ich Lichter. Männer mit Laternen, glaube ich. Wir müssen näher an der Station sein, die wir gerade verlassen haben. Jedenfalls kommen sie aus dieser Richtung.«

»Hoffen wir, dass ein Arzt dabei ist«, sagte Julia.

»Wir werden nicht warten, bis sie da sind!«, rief Corinna. »Wir tragen ihnen meinen Bruder entgegen.«

»Nein! Wir dürfen ihn nicht bewegen. Der Druck muss konstant bleiben, damit das Blut gerinnen kann. Die Arterie muss unbedingt geschlossen werden.«

»Sie werden ihn nicht bewegen?« Es war Befehl und Frage zugleich.

Julia konnte sehen, dass Corinna förmlich zerrissen war zwischen ihrem Wunsch, bei ihrem Bruder zu bleiben, und dem Bedürfnis, Hilfe zu holen. »Ich bleibe hier«, sagte Julia. Sie würde sich nicht von der Stelle rühren, bis sie wusste, dass Michael in Sicherheit war.

Das reichte Corinna, um einen Entschluss zu fassen. »Ich suche einen Arzt.« Sie rappelte sich hoch und nahm die andere Frau am Arm. »Laura, komm mit.«

Laura weinte. Sie war noch immer wie erstarrt vor Schreck und konnte Michael nur anstarren.

Corinna gab ihr einen Schubs. »Komm schon«, befahl sie. Endlich setzte die junge Frau sich in Bewegung.

»Ich komme mit«, bot der Mann am Fenster an. »Die meisten haben ihre Wagen bereits verlassen. Es herrscht ein ziemliches Durcheinander da draußen, Sie werden jemanden brauchen, der Ihnen den Weg bahnt.«

Das Verlassen des Wagens war gleich die erst Hürde. Wegen der Neigung des Zuges konnten sie die Tür nur einen schmalen Spalt weit öffnen; weiter ging es nicht, weil der Absatz, der an der Tunnelwand entlanglief, im Weg war. Doch dem jungen Mann gelang es, sich hindurchzuquetschen und an der Mauer hinaufzuhangeln. Dann drehte er sich um und half Laura und Corinna heraus.

»Ich komme auch mit«, erklärte ein anderer Mann. Er hielt seinen linken Arm umklammert. »Ich brauche Hilfe.«

Julia konnte sehen, dass er Schmerzen hatte. Sie hätte ihm gern geholfen, doch sie konnte Michael nicht loslassen. Der Mann mit den Schmerzen streckte bereits seinen unverletzten Arm dem anderen Mann entgegen, der ihn aus dem Wagen herauszog.

Der Fahrgast, der ursprünglich versucht hatte, die Blutung zu stoppen, machte keine Anstalten, ebenfalls zu gehen. »Ich bleibe bei Ihnen, bis der Arzt kommt«, erklärte er.

»Danke, Mr …?«

»Carter.«

»Können Sie mir sagen, ob die beiden Frauen vorankommen?« Julia, die neben Michael auf dem Boden kniete, konnte nicht sehen, was im Tunnel vor sich ging.

Mr Carter schaute aus dem zerbrochenen Fenster. »Da sind sehr viele Menschen, aber der Bursche hilft ihnen und bahnt ihnen den Weg.« Er drehte sich wieder zu Julia um. »Wenn ich Ihnen helfen, wenn ich irgendetwas tun kann …«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Julias Hände ermüdeten bereits. »Es ist unbedingt nötig, dass wir den Druck auf die Arterie fest und konstant halten. Glauben Sie, Sie könnten mir dabei helfen?«

Er kniete sich neben sie. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

Er war ein großer Mann mit fleischigen Händen, die durchaus geeignet waren, den starken, stetigen Druck auszuüben, der nötig war, und er war bereit, ihre Anordnungen auszuführen. Doch auch als er ihren Platz eingenommen und sie das Gefühl hatte, loslassen zu können, hielt sie sich bereit, jederzeit einzugreifen, falls Mr Carters Griff nachlassen sollte. Es sickerte immer noch ein dünner Blutstrom aus der Wunde, doch die Menge war nicht mehr lebensbedrohlich.

Wunderbarerweise brannten die Laternen im Wagen noch, allerdings nur flackernd, als könnten sie jeden Moment ausgehen. Julia betete, dass das nicht geschehen möge.

Als sie sicher war, dass Mr Carter stark genug presste, untersuchte sie Michael genauer. Er hatte noch weitere Schnitte am Kopf und im Gesicht, die jedoch offenbar eher oberflächlich waren. Sie knöpfte seinen Mantel auf, durchsuchte seine Taschen und fand ein Taschentuch, mit dem sie das Blut von den kleineren Wunden tupfte. Sein dunkelbraunes Haar war dicht und doch seidig, als sie es ihm aus dem Gesicht strich. Über eine Wange lief eine kurze, blasse Narbe, fast verborgen von den Koteletten.

Rasch untersuchte sie seinen Körper, der den Gang fast ganz versperrte. Vor wenigen Minuten war er noch so stark und lebendig gewesen. Zwei Finger seiner rechten Hand schienen verrenkt oder gebrochen zu sein. Sie zog ihr eigenes Taschentuch heraus und band die Finger, so gut sie konnte, zusammen, um sie vor weiteren Verletzungen zu schützen. Dann richtete sie vorsichtig ein Bein gerade, das in einem seltsamen Winkel abgespreizt war. Die Knieverletzung würde ihm später mit Sicherheit noch Schmerzen bereiten.

»Ihr medizinisches Wissen scheint sehr fundiert für eine Krankenschwester«, sagte Mr Carter.

»Ich befinde mich in der Ausbildung zur Ärztin.«

Früher waren die Menschen dieser Aussage häufig mit Skepsis begegnet, doch Mr Carter sah sie beeindruckt an. »Wirklich? Erstaunlich.«

In diesem Moment gingen die Lampen aus.

Draußen strömten die Menschen noch immer am Wagen vorbei, in dem verzweifelten Versuch, der Dunkelheit zu entfliehen. Lange Minuten vergingen, dann hörte Julia Rufe. Die Leute von der U-Bahn waren da.

»Ruhe bewahren! Bewahren Sie Ruhe!«, versuchte einer der Männer den Lärm zu übertönen. »Es besteht keine unmittelbare Gefahr! Lassen Sie uns durch! Wir müssen die Verletzten herausholen!«

»Hierher! Er ist da drin!« Corinna stolperte in den Wagen. Mehrere Männer folgten ihr. »Ich habe einen Arzt mitgebracht. Wie geht es meinem Bruder?«

Julia zuckte vor dem hellen Licht der Laternen zurück, die von zwei Männer getragen wurden. »Wir konnten die Blutung in Schach halten«, sagte sie nicht nur zu Corinna, sondern auch zu dem Arzt, der sich neben sie kniete und sich rasch einen Überblick über die Lage verschaffte.

»Sie haben genau das Richtige getan«, sagte er dann zu Mr Carter.

»Die junge Dame hier hat mir gezeigt, was ich tun soll«, antwortete Mr Carter. »Sie studiert Medizin.«

»Wirklich?« Der Arzt warf Julia einen kurzen, anerkennenden Blick zu. »Dann war das eine gute Übung für Sie.«

Corinna sah Julia mit staunendem Unglauben an. »Sie studieren Medizin?«

»Ja.«

Der Arzt öffnete seine Tasche. »Ich habe Klammern dabei, die die Wunde geschlossen halten, bis wir ihn ins Krankenhaus geschafft haben.«

Es fiel Julia schwer, ihren Patienten anderen zu überlassen. Sie blieb dicht bei ihm und sah zu, wie der Arzt und ein Helfer die Wunde versorgten.

Auch Corinna blieb in der Nähe, sie wandte den Blick nicht von ihrem Bruder.

»Er wird wieder gesund werden«, versicherte Julia ihr. »Wir haben den Blutverlust eingedämmt, bevor ein größerer Schaden entstehen konnte.«

Julia sah, dass Corinnas Oberlippe zitterte. Sie wusste, dass die Erleichterung, wenn sie endlich einsetzte, auch einen wahren Stoiker zusammenbrechen lassen konnte. Doch Corinna wahrte die Fassung, wenn auch nur mühsam.

»Jetzt können wir ihn bewegen«, verkündete der Arzt. »Legen wir ihn auf die Bahre.«

Julia holte ihren Mantel, als die Männer Michael auf eine Bahre hievten, die durch das zerbrochene Fenster hereingehoben worden war. »Ich komme mit.«

»Nein!«, rief Corinna aus – viel zu heftig, dachte Julia. »Der Arzt versorgt ihn jetzt. Sie brauchen nicht mitzukommen.« Es war eine brutale Abfuhr – nach allem, was Julia getan hatte. Doch dann fügte Corinna freundlicher hinzu: »Danke. Ich habe … keine Worte.« Ihre Stimme war rau und verriet die Gefühle hinter ihrem kurzen, aber tief empfundenen Dank.

Julia hätte sie so gerne ins Krankenhaus begleitet, doch das konnte sie gegen den ausdrücklichen Wunsch der ebenfalls verletzten Schwester des Mannes natürlich nicht tun. »Ich habe es wirklich gern getan. Gott sei Dank war ich da und konnte helfen.«

Corinna presste die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Michael, als die Männer die Bahre durch das Fenster zu den draußen Wartenden hinaushoben.

Der Arzt und sein Begleiter halfen Corinna aus dem Wagen. Zusammen eilten sie hinter den Männern her, die Michael forttrugen. Julia sah ihnen nach. Immerhin war es beruhigend, dass Michael jetzt in der Obhut eines Arztes war. Die Männer mit den Lampen leuchteten den Trägern der Bahre. Nicht lange und sie waren außer Sicht.

»Wir sollten auch schnellstmöglich hier rauskommen«, sagte Mr Carter. Er hielt die letzte Laterne in der Hand, die die Männer mitgebracht hatten.

»Ja, jetzt sollte ich wohl meine Sachen zusammensuchen.« Julia kehrte zu ihrem Sitz zurück, um ihre Handtasche und die Zeitschrift, die sie gelesen hatte, zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf einen unscheinbaren Gegenstand, der im Wagen auf dem Boden lag. Sie hob ihn auf. Es war eine Visitenkarte mit dem Aufdruck: Michael Stephenson, Rechtsanwalt, Gray’s Inn, London. Die Karte war mit Blut beschmiert, doch Julia wischte sie, so gut es ging, ab und steckte sie ein.

Mr Carter kämpfte sich durch die enge Türöffnung, was ihm wegen seines nicht geringen Leibesumfangs einige Mühe bereitete, doch er schaffte es. Dann half er Julia hinaus.

Im Tunnel befanden sich keine Passagiere mehr. Ein paar Bahnarbeiter waren eingetroffen; sie überlegten, wie sie den Zug zurück auf die Gleise setzen und wieder fahrtüchtig machen konnten. Plötzlich hörte Julia Rufe aus einem Wagen weiter vorn bei der Lok. Ein Arbeiter rief seinen Kollegen zu: »Hier ist noch eine Frau, die Hilfe braucht!«

Julia und Mr Carter waren gleichzeitig mit mehreren Gleisarbeitern bei ihm.

»Sie ist bewusstlos und verletzt, glaube ich«, sagte der Arbeiter. »Ich brauche Hilfe, wenn ich sie herausholen soll.«

Julia und Mr Carter folgten dem Arbeiter in den Wagen, was nicht einfach war. Er war von dem Aufprall völlig zerschmettert, die schlichten Holzsitze zersplittert und nach allen Seiten steckten Holzteile in den seltsamsten Winkeln heraus. Unter einem Balken, der von der Decke herabgestürzt war, lag eine Frau.

Zusammen mühten sie sich ab. Drei Männer hoben den Balken an, ein Vierter schlang seinen Arm um die Frau. Sie wachte aus der Bewusstlosigkeit auf und stöhnte vor Schmerz, als er sie unter dem Balken hervorzog.

Sobald die Frau befreit war, untersuchte Julia ihr Bein. Es war stark gequetscht vom Gewicht des Balkens. Das Schienbein war gebrochen, es war ein offener Bruch. Die Frau war nur halb bei Bewusstsein, ihr Gesicht war schmerzverzerrt und ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Julia sprach unablässig leise und beruhigend auf sie ein, während sie das Bein schiente, sodass die Frau bewegt werden konnte. Zwei Männer trugen sie unter ihren wachsamen Augen heraus. Mr Carter leuchtete ihnen mit der Lampe.

Auf dem Bahnhof herrschte ein maßloser Aufruhr. Überall standen die Menschen herum, die das Unglück miterlebt hatten. Auch auf den Straßen draußen ging alles drunter und drüber. Schließlich gelang es den Bahnbeamten, einen Wagen zu organisieren, mit dem die Verletzten ins Krankenhaus gebracht wurden. Sie legten die Frau hinein, doch Julia fuhr nicht mit.

Auch Mr Carter lehnte jede Hilfe ab, er meinte, er habe außer ein paar oberflächlichen Wunden keine Verletzungen. »Kann ich Sie nach Hause bringen?«, fragte er Julia, nachdem der Wagen abgefahren war. »Ich glaube kaum, dass wir eine Droschke auftreiben können, aber ich kann Sie zu Fuß begleiten.«

»Vielen Dank, aber das ist nicht nötig. Sie möchten doch bestimmt selbst so schnell wie möglich nach Hause.«

»Schon«, gab er zu. »Wenn meine Frau von dem Unglück hört, sorgt sie sich zu Tode. Sie sollte so rasch wie möglich erfahren, dass mir nichts passiert ist.«

»Sie müssen ihr erzählen, dass Sie heute ein Held waren«, sagte Julia. »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.«

»Sie sind hier die Heldin«, meinte er. »Wir hatten Glück, dass Sie da waren, Miss.« Dann tippte er sich an den Hut, verabschiedete sich und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Inzwischen war es später Nachmittag, die Sonne ging bereits unter. Julia war völlig erschöpft. Sie setzte sich auf eine Bank, um Kraft für den Heimweg zu sammeln. Dabei blickte sie wehmütig an ihrem Kleid herunter, das zerrissen und mit Schmutz und Blut bedeckt war. Es war nicht mehr zu retten. Da sie sich kein neues leisten konnte, würde sie mit den paar schlichten Röcken zurechtkommen müssen, die sie noch besaß. Doch sie empfand kein Bedauern über den Verlust – nichts war so wichtig wie das Wissen, dass sie einem Menschen das Leben gerettet hatte.

Sie nahm die blutbefleckte Visitenkarte aus der Tasche, betrachtete sie und las erneut die Worte, die darauf standen. Michael Stephenson, Rechtsanwalt. Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde?

Ja.

Inzwischen hatten die Ärzte die Arterie sicherlich geschlossen und auch die anderen Wunden versorgt. Julia wusste, dass es gut gewesen war, nicht mitzufahren, denn so hatte sie auch der anderen Passagierin helfen können. Doch das minderte nicht ihre Enttäuschung darüber, dass sie Michael nicht hatte ins Krankenhaus begleiten und vielleicht bei der Operation hätte zusehen können. Morgen würde sie ihn besuchen. Sie hatte zwar Vertrauen zu den Ärzten, doch sie wollte sich selbst überzeugen, dass er wohlauf und auf dem Weg zur Besserung war. Vorher würde ihr Herz keine Ruhe finden.

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Michael wusste nicht so recht, wie er das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Durch den Nebel, der ihn umgab, hörte er ein Rascheln, als ob sich neben ihm jemand bewegte, doch sogar dieses leise Geräusch verursachte in ihm hämmernde Kopfschmerzen. Er hielt die Augen geschlossen und holte tief Luft. Gleich darauf wusste er auch, wo er sich befand. Er hatte schon früher manchmal im Haus seiner Schwester und seines Schwagers übernachtet: Die Laken dort dufteten nach Waschlauge und Lavendel.

Seine Nase juckte, so sehr, dass er sich schließlich bewegen musste. Er griff mit seiner rechten Hand danach, um sich zu kratzen, doch stattdessen fasste er sich ins Gesicht. Er stieß einen Schmerzlaut aus, öffnete die Augen und stellte fest, dass seine Hand bandagiert und sein Mittel- und Ringfinger geschient waren. Er starrte die Hand an, ohne zu begreifen, was er sah.

»Oh, du bist wach«, sagte eine fröhliche Stimme.

Nicht ganz sicher, ob er sich bewegen konnte, und eigentlich nicht willens, es überhaupt zu versuchen, drehte Michael seinen Kopf ganz, ganz leicht zu der Stimme hin und sah seinen Schwager neben dem Bett stehen.

David hatte Daumen und Zeigefinger beider Hände in die Hosentaschen gesteckt und strahlte Michael fröhlich an. Er wirkte immer wie ein freundlicher Onkel auf ihn, obwohl er nur zehn Jahre älter als Michael war.

»Wie fühlst du dich?«

Michael verzog das Gesicht. Ihm tat alles weh. »Als sei ich von einem Pferd überrannt worden.«

»Von mehreren Pferdestärken wäre richtiger«, antwortete David lächelnd.

Langsam kehrte Michaels Erinnerung zurück. Er war in dem Zug gewesen. War aufgestanden, um Corinna eine Zigarette zu geben. Als ihm seine Schwester einfiel, machte er eine heftige Bewegung und versuchte sich trotz des Schmerzes, den sie hervorrief, aufzusetzen. »Corinna! Ist alles in Ordnung mit ihr?«

David legte ihm sanft die Hand auf die Brust und drückte ihn in die Kissen zurück. »Mach dir keine Sorgen. Ihr und Miss Maynard ist nichts passiert. Du bist längst nicht so glimpflich davongekommen wie sie.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen.« Michael ließ sich ins Kissen sinken und war erleichtert, dass es seiner Schwester gut ging.

David ging zur Tür, öffnete sie und sagte leise etwas zu einem Diener, der offenbar draußen gewartet hatte.

»Was genau ist eigentlich passiert?«, fragte Michael, als David wieder an sein Bett trat. Seine wenigen Erinnerungen an die Ereignisse waren so fragmentarisch, dass er sich keinen Reim darauf machen konnte.

»Du erinnerst dich an gar nichts?« David zog sich einen schmalen Holzstuhl ans Bett und setzte sich. Der Stuhl quietschte, als er sich vorbeugte und Michael ansah.

Michael wollte den Kopf schütteln, wurde jedoch von einem scharfen Schmerz im Nacken daran gehindert. »Nein«, murmelte er stattdessen. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, war, dass ich aufgestanden war, um Corinna …«

Er hielt mitten im Satz inne, weil ihm einfiel, dass er Corinna versprochen hatte, David nicht zu sagen, dass sie rauchte.

»Du wolltest ihr eine Zigarette geben«, beendete David seinen Satz. Er hob eine Hand, um Michaels Protest zu unterbinden. »Ich weiß es. Sie glaubt, ich weiß es nicht, und ich lasse sie in diesem Glauben. Ich freue mich nicht, dass sie angefangen hat zu rauchen, doch nach dreizehn Jahren Ehe weiß ich, dass es besser ist, sie nicht zu reizen.« Er zuckte lächelnd die Achseln. »Hast du sonst noch irgendwelche Erinnerungen?«

Michael schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. »Ein Gefühl, als hätten sich Hunderte von Messern in mich hineingebohrt.«

Er griff sich wieder ins Gesicht, diesmal mit seiner linken Hand, die unverletzt war. Sein Nacken war ebenso sorgfältig bandagiert wie seine rechte Hand. Und sein Kopf ebenfalls.

»Du siehst aus, als hättest du eine Schlacht mitgemacht und nicht einen U-Bahn-Unfall«, meinte David und betrachtete ihn mit geneigtem Kopf. »Richtig beängstigend, muss ich sagen.«

»Gut zu wissen«, entgegnete Michael trocken. Er versuchte ein spöttisches Grinsen, doch auch das tat viel zu sehr weh.

»An mehr erinnerst du dich nicht?«

»An diesem Punkt habe ich zum Glück vor Schmerz das Bewusstsein verloren. Hat Corinna dir erzählt, was passiert ist?«

»Und ob. Ganz genau. Es kam zu einer Kollision. Der Zug vor euch war liegen geblieben, und der Fahrer hatte noch keine Zeit gehabt, das Warnsignal aufzustellen. Der Führer eures Zuges hat noch versucht zu bremsen, doch dabei ist der Zug entgleist, und du wurdest gegen das Fenster geschleudert.«

»Wurde sonst noch jemand verletzt?«

»Es gab noch weitere Verletzungen, ja, aber deine hat den Vogel abgeschossen.«

Das tröstete Michael längst nicht so, wie David beabsichtigt hatte. »In unserem Wagen war noch eine andere Frau – weißt du, was aus ihr geworden ist?«

»Und ob ich das weiß. Sie hat deine Wunden versorgt. Du wärst wohl verblutet, wenn sie nicht gewusst hätte, wie sie deine Arterie abklemmen muss.«

Michael hätte das für eine Übertreibung gehalten, doch der bohrende Schmerz in seinem Nacken schien es zu bestätigen. »Sie hat eine medizinische Fachzeitschrift gelesen. Ist sie Krankenschwester? Wusste sie deshalb, was zu tun war?«

»Das hat Corinna sie auch gefragt. Die Frau sagte, sie sei nicht nur Krankenschwester, sondern studiere auch Medizin!«

Davids Stimme ließ erkennen, wie sehr er sich der Ironie der Situation bewusst war. Es gab nur einen einzigen Ort in ganz England, an dem Frauen zu Ärztinnen ausgebildet wurden, und Michael arbeitete für einen Mandanten, der genau das zu unterbinden versuchte. Der mächtige Graf von Westbridge hatte einen der Dozenten an der Schule wegen Verleumdung verklagt. Hinter dem Fall steckte noch mehr, doch das erklärte Ziel des Grafen war es, die Schule zu schließen. Es war der wichtigste Prozess, an dem Michael je mitgearbeitet hatte, und wenn er ihn gewann, würde das seiner Karriere ungeahnten Aufschwung geben.

Michael schluckte und leckte sich die trockenen Lippen. »Du sagst, die Frau, die mir geholfen hat, studiert an der London School of Medicine for Women?«

»So scheint es.«

»Weiß Corinna den Namen der Frau oder hat sie sonst eine Information über sie?«

»Ich glaube nicht. Sie hatte nur Augen für dich. Nach der Operation hat sie dich gleich hierherbringen lassen. Seither schaut Dr. Hartmann nach dir. Er war sehr beeindruckt von der Ersten Hilfe, die die junge Dame dir geleistet hat. Sie hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet.«

David fuhr fort, ihm die Szene zu beschreiben. Michael hätte ihm kein Wort geglaubt, wenn seine Verletzungen ihn nicht eines Besseren belehrt hätten.

Am meisten beunruhigte ihn, dass er die ganze Zeit über bewusstlos gewesen und sein Körper von Fremden durch das Chaos auf dem Bahnhof getragen worden war. Er mochte es gar nicht, die Kontrolle zu verlieren, und noch viel weniger gefiel es ihm, wenn sein Schicksal in der Hand anderer lag. Wenigstens war Corinna da gewesen und hatte auf ihn aufgepasst, wofür er sehr dankbar war. Was die Frau betraf, die zufällig im gleichen Wagen wie er gesessen hatte – und zudem Medizinstudentin war: Das konnte Michael nur für einen schlechten Scherz des Schicksals halten.

»Wo ist Corinna?«

»Sie hat sich hingelegt, aber ich habe den Diener geschickt, ihr zu sagen, dass du wach bist.«

Das helle Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, zeigte an, dass es bereits um die Mittagszeit war. Michael hatte nicht gewusst, dass Corinna Mittagsschläfchen hielt. »Geht es ihr nicht gut?«

»Doch, schon. Aber Dr. Hartman meint, in ihrem Zustand kann sie gar nicht vorsichtig genug sein.«

Zustand? Jetzt setzte Michael sich doch auf, ohne darauf zu achten, was ihn das kostete. War sie etwa doch verletzt worden? Er wandte den Kopf, um seinen Schwager anzusehen, doch David grinste ihn nur breit an.

»David, wovon sprichst du?«

»Ah, da ist sie ja«, sagte David, als die Tür aufging und Corinna hereinkam. »Dann können wir es dir ja gemeinsam sagen.« Er nahm Corinnas Hand und zog sie an Michaels Bett. »Als der Arzt sie untersucht hat, hat er eine wunderbare Feststellung gemacht. Wir werden im Juli Familienzuwachs bekommen.«

Jetzt bestand kein Zweifel mehr, was er meinte. Michael blickte zu Corinna auf. Jetzt, wo er danach suchte, sah er, dass sie um die Taille herum nicht mehr ganz so schlank war wie sonst, sondern fülliger geworden war. Gleichzeitig wirkte sie erschöpfter und abgespannter, als er sie je erlebt hatte.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. »Muss ich mir wegen irgendetwas Sorgen machen?«

»Aber nein«, entgegnete Corinna, »es geht mir gut.«

»Das stimmt«, meinte David. »Deine Schwester ist gesund wie ein Pferd.«

Corinna warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Was für ein schrecklicher Vergleich!«

»Tut mir leid, meine Liebe.« David küsste ihr die Hand. »Du weißt doch, dass ich nicht höher von dir denken könnte – zumal jetzt nicht.«

Corinna wirkte angespannt, bemühte sich jedoch zu lächeln. »Wir sind natürlich sehr glücklich«, sagte sie zu Michael. »Aber wie geht es