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Inhalt

Liebe Leser!

Eine Busfahrt in Jerusalem

Damen bitte hinten einsteigen!

Schneller als der Messias

Schilder

Sportbegeistert

»Hier seid ihr zu Hause!«

Was ist Heimat?

Der heiße Wüstenwind

Das Gesicht des modernen Israel

Das Lied der Sechzig

Biblische Lieder werden lebendig

Singt, erzählt, lest vor und unterhaltet euch mit euren Kindern!

Kindergärten feiern 60 Jahre Israel

Kibbuzim, gestern und heute

Der Moschaw – das jüdische Dorf

Siedlungen in besetzten Gebieten

Habt ihr die Juden lieb?

Mea Schearim und seine Lagerfeuer

Per Satellitensender und Radar

Wie Berge Jerusalem umgeben…

Der Priestersegen

Ämterrennerei in der Heiligen Stadt

Pflichtbesuch Jerusalem

Bar-Mizwa – Geburtstag mit großen Verpflichtungen

Schawuot, das Wochenfest

Pidjon Ben – Die Auslösung des Erstgeborenen

Ein Volk, zerstreut und abgesondert

Eine unliturgische Weihnachtsmeditation

Schnee! Schnee! Schnee!

Wie religiös sind die Juden in Israel?

Die Sprache der Bibel im Alltag

»Jude« oder »jude«

Magen David – der Davidstern

Schidduch, die Heiratsvermittlung

Die jüdische Hochzeit

Demografische Krise

Eine Verzögerung der Erlösung

Abtreibungen

Wie kann das einem Bibelleser passieren?

Die jüdische Ehe

Zivilehe

Scheidung

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen

»Brot und Salz, Gott erhalt’s«

Zwischen Tränen und Hoffnung

Anmerkungen

Liebe Leser!

Israel ist anders als Deutschland, anders als wir erwarten, anders als wir es uns vorstellen und nicht selten anders als wir uns das wünschen. Mancher wird darüber stolpern, dass man sich in Israel duzt. Wir haben das in diesem Buch durchweg aus dem Hebräischen in die deutsche Sprache übernommen. Hat nicht schon Gott sein Volk auf diese Art und Weise angesprochen, »per du«, also ganz persönlich?!

Die Einwohner des Heiligen Landes sind keine Heiligen, sondern ganz normale Menschen mit Stärken und Schwächen. Doch wer sind diese Menschen? Was beschäftigt sie? Welchen Sport mögen sie? Welche Feste sind ihnen wichtig? Was ist eigentlich ein Kibbuz und was macht einen Moschaw aus? Wie kam es zu israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten? Wie sieht eine ideale jüdische Ehe aus und was sagt das jüdische Gesetz zur Scheidung? Gibt es Abtreibungen in einem Land, dessen Gesellschaft sich rühmt, das Leben als höchstes Gut zu schätzen? Auf diese und mehr Fragen wollen wir hier eingehen.

Mit dieser Sammlung von Geschichten wollen wir Ihnen einen Einblick in unseren Alltag vermitteln, Ihnen weitergeben, was wir selbst erlebt, gelernt und verstanden haben. Wir wünschen, dass Ihnen dieses Buch Israel ein wenig näherbringt, Sie unterhält und zum Nachdenken anregt. Es gibt noch viel zu lernen und zu entdecken. Lassen Sie uns das gemeinsam tun!

Ihre Krista und Johannes Gerloff
Jerusalem, im Frühjahr 2012

Eine Busfahrt in Jerusalem

»Nahag, Nahag! – Busfahrer, Busfahrer! Mach hinten die Tür auf !« Die Fahrgäste haben eine Mutter mit Kind erblickt, die im Laufschritt versucht, den Bus einzuholen. Aus Sicherheitsgründen darf man eigentlich nur vorne einsteigen. Doch der Fahrer beugt sich dem Willen der Masse und hält gehorsam wieder an.

»Nahag, Nahag! – Warum hast du angehalten, wenn niemand einsteigt?!«, meldet sich ein Ungeduldiger. Der Umweg durch das ultraorthodoxe Viertel gehört zum Fahrplan, geht ihm aber gegen den Strich. »Und wenn jemand hätte aussteigen wollen?«, sucht sich der Busfahrer zu rechtfertigen. »Die sind doch schon bei der Tankstelle ausgestiegen!«, wirft eine stämmige Frau ein, die den Überblick behalten hat. Ihre Nachbarin pflichtet ihr bei.

In dem Moment ruft einer, der an der Strecke wohnt: »Busfahrer! Halte an!« – »Haaalte aaan!«, verstärken ihn andere Fahrgäste. Gehorsam bleibt der Stadtbus stehen, wo gar keine Haltestelle ist. Ein Herr in mittleren Jahren mit Rucksack und Schildmütze steigt aus.

Unter dem Schild »Füße nicht auf die Sitze legen« streckt ein müder Soldat seine verstaubten Stiefel auf den schäbigen Sitz gegenüber. Zwei hübsche Soldatinnen steigen ein. Der müde Krieger wird aufmerksam und verwickelt die beiden in ein lebhaftes Gespräch. An seiner bequemen Lage ändert er nichts.

Zwei orthodoxe Mütter klappen mit sicherem Griff einhändig ihre Kinderwagen zusammen. An der anderen Hand halten sie ihre Sprösslinge. Kunstvoll balancieren sie dann voll beladen durch den engen Bus, bis sie ihre Kinderwagen zwischen Sitze eingeklemmt haben. Die Kinder werden mit Bamba versorgt, den allgegenwärtigen Erdnussflips, ohne die eine israelische Kindheit undenkbar ist. Ihre Mütter vertiefen sich auf Englisch in ein Gespräch. Eine Russin erzählt ihrer Sitznachbarin, wo man am günstigsten einkaufen kann.

Hinter einer gepflegten Dame mit Einkaufstaschen steigt ein rothaariger Junge mit Gitarre ein. Schüchtern fragt er, ob der Bus auch in der Prophetenstraße oder in der Straße der Stämme Israels anhalten würde. Gedankenverloren entwertet der Nahag die Fahrkarte des Jungen mit der Lochzange und antwortet dann seelenruhig, dass er dort nicht halten werde.

Inzwischen hat die Dame ihre Plastikbeutel verstaut und setzt sich, ohne lange nachzudenken, auf den freien Platz neben einen bärtigen Mann mit schwarzem Hut. Orthodoxe Juden dürfen aber nicht neben einer fremden Frau sitzen, weil sie diese »berühren« könnten. Deshalb bleibt dem gläubigen Herrn nichts anderes übrig, als aufzustehen und sich einen anderen Platz zu suchen. Eine schwarzhaarige Studentin mit langem Rock nutzt die Zeit und öffnet ein kleines Gebetbuch, das sie immer bei sich trägt.

Der Bus wird voller. Es ist drückend heiß. Einem älteren Passagier fallen die Augen zu. Plötzlich wird er aufgeweckt durch einen Schüler, der sich neben ihn setzt, ihm den Rücken zudreht, die Beine in den Gang streckt und den Schulranzen auf dem Schoß seines schlafenden Nachbarn ablegt.

Je näher der Bus dem Stadtzentrum kommt, desto enger und verstopfter werden die Straßen. Das Hupen der Fahrzeuge wird häufiger und lauter. »Frau, hast du nicht gemerkt, dass du die Straße überquerst?!«, schreit der Busfahrer eine Passantin an, die gebannt auf ihr Mobiltelefon starrt und weder sieht noch hört, was um sie herum geschieht. Dass sie eben fast überfahren worden wäre, stört sie offenbar nicht. Passagieren und Busfahrer reißt der Geduldsfaden. »Wer hier mit seinem Auto rumfährt, verdient Prügel!«, lässt der Nahag seinem Unmut freien Lauf.

In der Tat: Wer sich mit dem Privatwagen durch den Stadtverkehr drängt, um anschließend auch noch einen teuren Parkplatz bezahlen zu dürfen, sollte lieber eine Fahrt in Jerusalems öffentlichen Verkehrsmitteln genießen!

Seit einiger Zeit gibt es in den Bussen der Egged ganz neue Schilder: »Das Aussteigen außerhalb der Haltestellen ist verboten!« Eigentlich sollte ich der israelischen Busgesellschaft vorschlagen, auch die Schilder anzubringen, die in meiner tschechischen Heimat in öffentlichen Bussen fordern: »Während der Fahrt ist das Ansprechen des Fahrers verboten.«

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An einer Bushaltestelle in Tel Aviv

Damen bitte hinten einsteigen!

Schon lange wird in Israel diskutiert, ob man auf Wunsch der Ultraorthodoxen in öffentlichen Bussen Männer und Frauen trennen sollte, sodass Männer und Jungen vorne sowie Frauen und Mädchen im hinteren Teil des Busses sitzen. Diese Vorstellung erweckt großes Unbehagen bei mancher modernen Israelin: »Wenn die Ultraorthodoxen auf Trennung pochen, von mir aus! Aber warum sollen gerade wir Frauen hinten sitzen?« Solchen Meinungen wird in öffentlichen Medien viel Platz eingeräumt. Sogar orthodoxe Frauen drücken ihr Missfallen über die Unterdrückung in der religiösen Gesellschaft aus.

Israel ist ein demokratisches Land, in dessen Grundgesetz die Gleichberechtigung verankert ist. So landete die ganze Angelegenheit schließlich vor Gericht mit dem Ergebnis, dass ein weiteres Schild in öffentlichen Bussen angebracht wurde: »Abgesehen von Plätzen, die für Behinderte und Senioren reserviert sind, hat jeder Reisende das Recht auf jedem beliebigen Platz zu sitzen. Eine diesbezügliche Missachtung gilt als Gesetzesübertretung.« Die ultraorthodoxe Gesellschaft hat eigene Gesetze, Regeln und Bestimmungen. Deswegen hat man sich in Jerusalem entschieden, in bestimmten Buslinien freiwillig getrennt zu sitzen.

An der Haltestelle hält ein Bus der »Kav Hafrada«, also der »Trennungslinie« genannten Nummer 40. Bislang war ich ihm erfolgreich ausgewichen. Beim Warten frage ich eine orthodoxe Frau, was sie davon halte: »Ich bin wirklich froh«, antwortet sie. »Manchmal setzt sich neben dich so ein ekliger Bursche!« Diesen Aspekt hatte ich in den Medien noch nie gehört. Es gibt doch nichts Besseres als eine Busfahrt, wenn man so richtig unters Volk kommen möchte.

Einmal warte ich schon lange, als sich ein Bus nähert, dessen Nummer verschwommen und unlesbar erscheint. Als ich frage, welche Linie das eigentlich ist, geht die Tür schon wieder zu und der Bus fährt ab. Laut protestiere ich, wie das in Israel üblich ist. »Jetzt warte ich hier eine halbe Stunde und verpasse den Bus nur, weil seine Nummer unlesbar ist!« »Das ist wirklich nicht fair«, zwei bärtige Männer mit schwarzen Hüten stimmen mir zu. »Fahr mit uns im Vierziger Bus«, laden sie mich ein, »dann kannst du deinen Bus einholen.«

Ich möchte meinen Termin im Stadtzentrum nicht verpassen und zögere nicht lange. Der Bus kommt, die Herrn steigen vorne und ich ganz brav hinten ein. Aber was nun? Normalerweise lässt man den Fahrschein beim Busfahrer entwerten. Der aber sitzt ganz vorne. Aus dem Fernsehen weiß ich, dass irgendwo in der Mitte eine Lochzange sein sollte, mit der die Frauen ihre Fahrkarte selbst entwerten. Ich finde keine. So stehe ich in meiner Cordhose mitten unter frommen Frauen mit Röcken und Kopfbedeckung und frage unschuldig: »Was soll ich tun? Was macht frau in so einem Fall?« Die mitreisenden Damen sprechen nicht mit mir, sie deuten nur nach vorne. Der Bus hat nämlich drei Türen und die Zange befindet sich beim mittleren Eingang, wo es von schwarz gekleideten Männern nur so wimmelt.

Wackelnden Schrittes, weil der Bus mich hin und her wirft, bewege ich mich nach vorn: Bloß keinen orthodoxen Mann streifen oder gar auf ihn geworfen werden. Das wäre aus religiösen Gründen sehr unangenehm. Da nicken mir schon die zwei bärtigen Männer, die mit mir eingestiegen sind, freundlich zu und bieten an, meine Fahrkarte zum Busfahrer zu bringen. Auch wollen sie mir eine zum Umsteigen holen, damit ich nicht zweimal zahlen muss. Auch über diese freundlichen Ultraorthodoxen haben die Medien nicht berichtet.

Meinen eigentlichen Bus habe ich dann tatsächlich überholt. Dann bin ich aber in den falschen Bus eingestiegen, weil ich vermutet hatte, er fahre auch ins Zentrum. Angesichts des Gedränges beim Einsteigen, entschied ich mich spontan, durch die mittlere Tür einzusteigen – zumal als Frau und weil ich schon ein Ticket zum Umsteigen besaß. Doch dieses Mal schien das dem Busfahrer überhaupt nicht zu gefallen. »Steig sofort wieder aus«, rief er ein paar Mal, bis ich begriffen hatte, dass er mich meinte. Dann hat er mich an das andere Ende von Jerusalem gebracht, wo ich wieder warten musste.

Als endlich ein Bus in Richtung Stadtmitte kam, fragte ich den Busfahrer: »Welche Strecke fährst du?« Irgendwie hatte ich in Erinnerung, dass dies keine direkte Linie sei. »Das kommt darauf an, wie viel der Reiseleiter erzählt«, frotzelte der Fahrer. »Sei nicht böse, ich meine es ernst: Wie fährst du?« Noch hatte ich die Hoffnung nicht verloren, in die Stadtmitte zu gelangen. »Wir machen einen Ausflug«, erwiderte er. So genoss ich im menschenleeren Bus mit zwei Rentnern, die alle Zeit der Welt zu besitzen schienen, eine Rundfahrt durch Jerusalem. Auf einmal hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Meinen Termin habe ich verpasst. Dafür ist eine typische Geschichte aus dem Alltag in Israel entstanden.

Schneller als der Messias

Aller üblen Nachrede zum Trotz war sie dann doch eher da als der Messias: Die Jerusalemer Straßenbahn, die erste im Heiligen Land überhaupt. Erste Pläne für eine Straßenbahn in der Heiligen Stadt hatte der griechisch-libanesische Ingenieur George Franjieh bereits 1892 entworfen. Baubeginn war aber erst 110 Jahre später, im Jahr 2002. Die ersten Testfahrten begannen 2010. Man munkelte, keine Straßenbahn der Welt sei so lange Probe gefahren.

Bis zuletzt hielt sich hartnäckig das Gerücht: Der Messias kommt, bevor in Jerusalem eine Straßenbahn fährt. Immerhin fünf Jahre lag der Straßenbahnbau hinter der Planung zurück. Doch dann, an jenem denkwürdigen Freitagmorgen, dem 19. August 2011, durfte die Jerusalemer Öffentlichkeit endlich die letzte Neuheit der uralten Stadt in Gebrauch nehmen. Mehr als 40 000 Jerusalemer sollen die Straßenbahn, die vom Herzlberg – auf der Straßenbahnanzeige »Hertzel« geschrieben – bis nach Pisgat Zeev im Norden der Stadt fährt, am ersten Tag ausprobiert haben. 14 Züge waren auf 13,8 Kilometer Strecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h im Einsatz.

Rakevet HaKala heißt »Leichtbahn« oder »der leichte Zug«. Von einem »Zug der Erleichterung« – so könnte man den hebräischen Begriff auch wörtlich übersetzen – ist jedoch weder vor Inbetriebnahme noch zu Beginn des Einsatzes wenig zu spüren: Die Waggons wurden bereits vor Jahren in Frankreich erworben und standen seither im Norden der Stadt auf dem Abstellgleis. Die monumentale Hängebrücke am Eingang von Jerusalem wurde schon vor langer Zeit feierlich eingeweiht und das Einzige, was Jerusalems Straßenbahn noch fehlte, waren Gleise.

Kurz vor Inbetriebnahme der Bahn kollabierte das vollständig computerisierte Ticketsystem. »Die Reparatur wird mindestens einen Monat in Anspruch nehmen«, besagte die Prognose. Kurzerhand entschied die Betreiberfirma CityPass in Absprache mit Regierung und Stadtverwaltung, dass die Verkehrsneuheit in den ersten Wochen kostenlos fährt.

In jedem Waggon fährt ein Schaffner mit, der den straßenbahnunerfahrenen Jerusalemern genau erklärt, wie man richtig Straßenbahn fährt: »Bitte festhalten!« Und: »Bitte nicht an die Tür lehnen!« Auf die Frage, was denn passieren würde, wenn man sich während der Fahrt an die Tür des sich so hochmodern gebenden Gefährts lehnen würde, meint der Experte todernst: »Das löst die Notbremse aus.« Das Verkehrsministerium soll völlig neue Verkehrsregeln für die Straßenbahn erlassen haben, die offensichtlich erst noch ins Bewusstsein der Verkehrsteilnehmer sickern müssen.

Ein Vater aus dem ultraorthodoxen Viertel Mea Schearim steigt zu. Staunend betrachtet er die technische Errungenschaft seiner Heimatstadt von innen und vergisst darüber seine Kinder. Fröhlich turnen diese im Gestänge, als die nagelneue Straßenbahn mit einem unsanften Ruck an der nächsten Station anhält. Die Kinder purzeln zwischen die Füße der Fahrgäste. Festhalten will gelernt und die Notwendigkeit dafür erfahren sein – zudem müssen die frisch gebackenen Straßenbahnführer noch lernen, wie man fahrgastfreundlich anhält.

Vor dem Damaskustor drängt eine Gruppe von muslimischen Pilgern über die Gleise. Immerhin ist Fastenmonat Ramadan und der Muezzin ruft vom Haram Asch-Scharif, dem Tempelberg, zum Gebet. Eine Gruppe von Polizisten steht bereit, welche die Frommen auf die Bedeutung der roten Ampel hinweist. Erschrocken weichen die Araber zurück – gerade noch rechtzeitig, bevor die gigantische Silberschlange vorbeizischt und durch sanftes Klingeln ihre Vorfahrt erzwingt.

An der nahe gelegenen Haltestelle verteilen junge Araber Werbematerial, das dem alteingesessenen Jerusalemer die Vorteile der Rakevet Kalah erklären soll. »Du musst dir eine Genehmigung holen, um mit mir reden zu dürfen!«, erklärt die freundliche Palästinenserin nachdrücklich: »Sonst dürfen wir nicht mit dir reden!« Auch das ist erstmalig. Normalerweise dürfen Journalisten mit allen reden – nur bestimmte Funktionsträger müssen sich autorisieren lassen, um mit uns reden zu dürfen.

Diese jungen Jerusalemer, die offensichtlich keine jüdischen Israelis sind, scheint der Gebetsruf von der Al-Aksa-Moschee ebenso wenig zu kümmern wie die Tatsache, dass es im Vorfeld der Straßenbahneröffnung auf internationaler Bühne zu heftigen Diskussionen um deren politische Korrektheit gekommen war. Immerhin fährt die Straßenbahn auch durch die Stadtteile French Hill, Schuafat und Pisgat Zeev – alles Gebiete, die Israel erst im Sechstagekrieg von 1967 erobert hat, weshalb sie in Europa als völkerrechtswidrig besetzt gelten.

Eine holländische Bank und ein schwedischer Pensionsfonds haben deshalb die Betreiber boykottiert. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat mit Anklagen vor französischen Gerichten versucht, die freie Fahrt der Straßenbahn zu behindern, und sich noch im Jahr 2009 darum bemüht, die Straßenbahnbetreiber mit lukrativen Millionenangeboten aus den Golfstaaten dazu zu bewegen, das Jerusalemer Projekt einzustellen.

Ein israelischer Sicherheitsbeamter tastet mit seinem Metalldetektor einen älteren Palästinenser ab. Der lächelt und erklärt freundlich: »Morgen bringe ich alle meine Kinder, damit sie Straßenbahn fahren können.« – »Hoffentlich nur die Kinder und sonst nichts…«, murmelt der Sicherheitsmann und wendet sich dem nächsten Fahrgast zu.

Staatskontrolleur Micha Lindenstrauß hatte bereits im Mai 2008 moniert, dass das Projekt um 128 Prozent teurer würde als ursprünglich veranschlagt. Daran sind nicht nur die Gerichtsverfahren schuld, die das Jahrhundertprojekt der Heiligen Stadt begleitet haben. Die Planer haben sich alle Mühe gegeben, das Umfeld der Bahn ansprechend zu gestalten. So wurden entlang der Route in den Jahren 2009 bis 2011 mehr als 3 500 Bäume gepflanzt – bis das Transportministerium zu der Einsicht kam, dass Bäume zu nahe an den Gleisen die Sicht behinderten. Daher wurden mittlerweile bereits mehr als 170 Bäume wieder ausgegraben.

Schilder

Schilder sind in unserem Leben unentbehrlich, etwa Verkehrsschilder. An ihnen merkt man, welchen Herausforderungen sich Israel stellen muss. Das große orangefarbene Schild in der Negevwüste warnt in drei Sprachen – auf Hebräisch, Arabisch und Englisch: »Vorsicht, Kamele!« Inmitten eines Dreiecks steht ein Kamel.

Zwischen zwei Waggons der neuen Straßenbahn in Jerusalem sind gleich zwei Schilder angebracht, auf denen eine durchgestrichene Person abgebildet ist. Das bedeutet wohl, dass es verboten ist, zwischen den beiden Waggons durchzusteigen. Aus europäischer Sicht ist nur schwer vorstellbar, dass überhaupt jemand auf den Gedanken kommen könnte, zwischen zwei Straßenbahnwaggons hindurchzuklettern. Aber geduldiges Warten gehört nicht zu den israelischen Tugenden.

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Warnschilder zwischen den Waggons von Jerusalems neuer Straßenbahn

Obwohl ich schon viele Jahre in Jerusalem lebe, kann ich mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass hinter mir immer gehupt wird, wenn ich an einer Ampel, die grün wird, nicht wie eine Rakete starte. Kurz vor der roten Ampel hat man noch versucht mich zu überholen, um danach genug Zeit zu haben, mitten auf der Straße mit einem Bekannten von Autofenster zu Autofenster palavern zu können. Ich vermisse ein Schild, das bestimmt: Alle Autofahrer, die im Vorbeifahren einen Nachbarn, Freund oder Bekannten getroffen haben, werden gebeten am Straßenrand zu parken und ihre Unterhaltung fortzuführen, ohne den Verkehr zu behindern. Das Warten, bis jemand ausgeredet hat und die Straße wieder frei macht, fällt auch mir unheimlich schwer.

Sportbegeistert

Wieder einmal im Bus werde ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Busfahrer und Fahrgast. Der Passagier gibt sich als Yeruschalmi – als gebürtiger Jerusalemer – zu erkennen und zeigt, wo sich im heute dicht bebauten Orthodoxenviertel einst ein Fußballplatz befand. Die Tel Aviver beobachten derweil mit Nostalgie und Unbehagen, wie ihr altes Fußballstadion abgerissen wird. An seiner Stelle sollen moderne Hochhäuser gebaut werden.

Vor ein paar Jahren reisten die Spieler der Basketballmannschaft Makkabi Tel Aviv nach Prag zu einem Spiel mit der russischen Mannschaft ZSKA Moskau. Das Ganze wurde im jüdischen Staat mit großem Interesse verfolgt. Ein israelischer Reporter befragte auf dem Prager Wenzelsplatz Passanten und erfuhr, dass die Tschechen sich ziemlich einig waren: Fußball und Hockey sind interessant; Basketball lässt sie kalt. In Israel wurde folgendermaßen kommentiert: Hätte man Eis, interessierte man sich auch für Hockey und ebenfalls für Fußball – hätten die israelischen Spieler nur europäisches Niveau.

Heute ist man in Israel stolz auf den Stürmer Yossi Benayoun, der momentan von der englischen Mannschaft Chelsea an den FC Arsenal ausgeliehen ist, und auf Itay Shechter, der immerhin 2011 für den FC Kaiserslautern zwei Bundesligatore geschossen hat.

Die beliebtesten Sportarten in Israel sind – nicht nur vom Sofa aus gesehen – Fußball und Basketball. Jedes Städtchen hat seine eigene Mannschaft. Die meisten Sportvereine heißen Makkabi, Po’el oder Beitar.

Makkabi heißt der internationale jüdische Sportverein, der 1921 auf dem 12. Zionistenkongress im tschechischen Karlsbad gegründet wurde und bis heute weltweit unter der jüdischen Jugend tätig ist. Die Makkabäer waren Helden des erfolgreichen jüdischen Aufstands gegen den hellenistischen Herrscher Antiochus Epiphanes im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Sie gelten als Symbol der Treue zum Gott Israels und zu jüdischen Werten angesichts heidnischer Kulte. Die weltweite Makkabi-Uni-on MWU organisiert alle vier Jahre eine jüdische Olympiade, die »Makkabiade«.

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Wenn die Jerusalemer Basketballspieler von HaPoel Yeruschalayim antreten, tobt das Stadion

Auch Beitar war ursprünglich eine jüdische Jugendorganisation, die 1923 von Zeev Jabotinsky in Riga gegründet worden war. Der Name Beitar erinnert einerseits an eine Ortschaft dieses Namens unweit von Bethlehem, wo der Tradition zufolge der Anführer des zweiten jüdischen Aufstands gegen die Römer, Simon Bar Kochba, 135 nach Christus gefallen war. Andererseits ist Beitar ein Akronym für Brith Yosef Trumpeldor. Joseph Trumpeldor war ein jüdischer Kriegsheld der russischen Armee, der gemeinsam mit Jabotinsky an der Gründung der Jüdischen Legion beteiligt gewesen war, die im Rahmen der britischen Armee gegen das osmanische Reich kämpfte. Trumpeldor fiel 1920 bei einem arabischen Angriff auf die jüdische Ortschaft Tel Chai in Galiläa.

Po’el heißt einfach »Arbeiter«. In der Regel sind die so bezeichneten Gruppen Arbeitersportvereine.

Israelis treiben allgemein gern Sport und melden ihre Kinder außer zu Fußball und Basketball auch zu Schwimmkursen, Gymnastik, Judo, Tennis und anderen Aktivitäten an. Seit der Einwanderungswelle aus Russland gibt es in Israel auch Eiskunstlauf. Sport ist auch ein wichtiges Schulfach in Israels Schulen, bis zum Abitur. Am Strand des Mittelmeers sieht man viele Jogger und auch alle Arten von Wellenreiten, Surfen und Segeln sind sehr beliebt.

Bei den Olympischen Sommerspielen 2004 gewann der Windsurfer Gal Fridman die erste olympische Goldmedaille in der Geschichte Israels, nachdem er bereits 1996 aus Atlanta eine Bronzemedaille mitgebracht hatte. Seine Kollegin Lee Korzits errang im Dezember 2011 im australischen Perth zum zweiten Mal den Weltmeistertitel der Damen. Von den paralympischen Spielen kommen israelische Athleten regelmäßig mit Medaillen zurück.

Doch Sportler aus Israel haben es nicht immer leicht. So konnte Shachar Pe’er, die in der Weltspitze Tennis spielt, 2009 in Dubai nicht an einem Turnier teilnehmen, weil die Arabischen Emirate ihr die Einreise verweigerten. In Neuseeland konnte sie zwar antreten, wurde aber zuvor von palästinensischen Demonstranten behindert.

Im gleichen Jahr fand in der Türkei die Schachjugendweltmeisterschaft statt. Als die Israelin Marsel Efroimski gewann, wartete sie bei der Siegerehrung vergeblich auf ihre Nationalhymne. Die türkischen Organisatoren wollten die Ha Tikvah nicht spielen lassen. Auf dem Ben Gurion Flughafen wurde sie dann von ihrer Familie und Freunden mit der israelischen Hymne begrüßt.

Tiefpunkt der jüdischen Sportgeschichte sind zweifellos die Olympischen Spiele 1972 in München. Elf israelische Sportler wurden damals von palästinensischen Terroristen ermordet. Seitdem wird ihrer bei der Eröffnungszeremonie der Makkabiade regelmäßig gedacht.

Seit 2011 gehört Jerusalem zu den Gastgebern eines internationalen Marathons. »Nur wenige Städte der Welt können auf der Strecke eines einzigen Marathons so viele atemberaubende und inspirierende Aussichten bieten wie Jerusalem!«1 Mit diesen Worten lädt Bürgermeister Nir Barkat zu dem großen Ereignis für den 16. März 2012 Sportfans aus der ganzen Welt in die Hauptstadt Israels ein.

»Hier seid ihr zu Hause!«

Jeder kann auf Youtube den Rocksänger mit der Kippa sehen, der mit ansteckender Begeisterung singt: »I was born in the USA, I am making Aliya today«