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Torsten Hebel/Daniel Schneider – Freischwimmer | Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und dem großen, weiten Mehr – SCM

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7291-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5645-5 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

3. Auflage 2016
© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Gesamtgestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Fotos: Lea Rebecca Wörner / www.learebecca.de

Inhalt

# Über die Autoren

# Vorwort

#1 Im eiskalten Wasser

#2 Aus Rot wird Bunt

#3 Vom Schauspieler zum Theologen

#4 Von der Kanzel auf den Kiez

#5 Im Aufbruch –
Im Gespräch mit Daniel Schneider

#6 Gott führt in die Freiheit –
Im Gespräch mit Stefan Jung

#7 Ob es Gott wirklich gibt, ist nicht mein erstes Thema –
Im Gespräch mit Christina Brudereck

#8 Urlaub von Gott –
Im Gespräch mit Andreas Malessa

#9 Ich spüre, dass Gott an dir festhält –
Im Gespräch mit Kai Scheunemann

#10 Ich liebe Gott auch mit meinem Verstand –
Im Gespräch mit Klaus Douglass

#11 Je abhängiger ich von Gott bin, umso mehr mutet er mir zu –
Im Gespräch mit Heinrich Christian »Heiner« Rust

#12 Jesus hat Lobbyarbeit geleistet –
Im Gespräch mit Martin Schaefer

#13 Kämpfe nicht zu sehr gegen die Vorstellung, dass es einen Gott geben könnte –
Im Gespräch mit Tim Niedernolte

#14 Den Glauben an Jesus empfinde ich als eine große Befreiung –
Im Gespräch mit Klaus Göttler

#15 Ich habe keinen festen Standpunkt – ich bin unterwegs –
Im Gespräch mit Bettina Becker

#16 Die unerwartete Begegnung

# Nachwort

# Danke

# Nachtrag

# Anmerkungen

»There is nothing to prove and nothing to protect.
I am who I am and it’s enough.«
Richard Rohr1

Für Layla und Levi

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# Über die Autoren

Torsten Hebel# TORSTEN HEBEL,

geboren 1965 in Gummersbach, absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zum Tischler, studierte Schauspiel in den USA und besuchte eine theologische Ausbildungsstätte im Westerwald. Als Jugendreferent arbeitete er in Düsseldorf und anschließend bei »Friends« in Marburg. In dieser Zeit wurde er als Redner und Evangelist deutschlandweit bekannt und konnte in den Jahren 2000, 2004 und 2007 das Jugend-Live-Event »JesusHouse« maßgeblich mitprägen. Heute leitet er eine selbst gegründete sozial-kulturelle Kinder- und Jugendarbeit in Berlin (www.bluboksberlin.de) und ist weiterhin als Redner, Referent und Kabarettist europaweit unterwegs.

Daniel Schneider# DANIEL SCHNEIDER,

geboren 1979 im ostwestfälischen Bünde, ist Journalist und Theologe. Er arbeitet als Drehbuchautor für die TV-Sendung »Planet Wissen«, als Sprecher und Autor für die Radiosendungen »Kirche in 1LIVE« und »Kirche in WDR 2« und ist als Redner, Referent und Moderator unterwegs.

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# Vorwort

Werte Leserin, werter Leser,
überlegen Sie ganz genau, was Sie jetzt tun. Noch können Sie umkehren. Noch ist es nicht zu spät. Sie können das Buch direkt wieder zuklappen, weglegen, verschenken, es auf einer Parkbank liegen lassen oder von Ihrem Computer löschen!

Es ist Ihre Entscheidung.

Noch da?
Mutig!

Ich freue mich, dass Sie sich auf dieses Abenteuer einlassen. Sie lernen Torsten Hebel kennen. Ziemlich gut sogar. Denn wenn sich ein Mensch wie Torsten auf die Suche nach dem »großen, weiten Mehr« macht, dann wird es existenziell. Und egal, ob Sie ihn bisher als Kabarettisten, Theologen, Gründer der blu:boks Berlin oder noch gar nicht wahrgenommen haben:

Sie sitzen alle im selben Boot und durchqueren ein wildes (Seiten-)Meer aus Geschichten, Gedanken und Gesprächen. Aber aufgepasst: Wenn Sie beim Lesen gerade den Rückenwind spüren und sich entspannt zurücklehnen, wechselt die inhaltliche Windrichtung und eine steife Brise wird Sie in Atem halten. Das Thema des Buchs ist wie geschaffen für stürmische Überlegungen. Kein Wunder, wenn es um Sehnsuchts- und Glaubensthemen geht. Vor allem die großartigen Reisebegleiter, die als Torstens Gegenüber wertvolle Richtungswechsel verursachen, sind dafür mitverantwortlich.

Als wir uns auf die Reise begeben haben, wussten wir nicht, wo wir ankommen werden. Das Ende des Buchs hat sich aus dem Weg ergeben. Torsten wusste nur, dass es an der Zeit ist, diese Reise anzutreten. Denn so wie bisher konnte es nicht mehr weitergehen. Der Glaube an Gott in der bisherigen Form funktionierte für ihn nicht mehr.

Mittlerweile halten Sie ein Exemplar der dritten Auflage des Buches in Ihren Händen. Unzählige Rückmeldungen haben vor allem Torsten, aber auch mich erreicht. Der »Freischwimmer« ist im Gespräch.

Er wird meistens gelobt, aber auch kritisiert. Das Buch polarisiert und zeigt damit: Torsten ist auf seiner Reise nicht alleine unterwegs. Viele Menschen stellen sich ähnliche Fragen, und genau deshalb hat Torsten seine Glaubensreise öffentlich gemacht. Wir freuen uns sehr, dass der »Freischwimmer« einen Nerv dieser Zeit trifft.

Und jetzt bilden Sie sich bitte Ihre eigene Meinung. Ich entlasse Sie in die Welt des »Freischwimmers« und wünsche Ihnen eine relevante und inspirierende Zeit mit dieser Lektüre.

Daniel Schneider, im November 2016

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#1
Im eiskalten Wasser

Wenn ein vierjähriger Junge aus gegebenem Anlass »Jetzt wirst du gleich sterben« denkt, dann ist irgendetwas faul. Das war es auch. Im Winter 1969 wäre ich fast ertrunken. Dieses Erlebnis beschert mir nicht nur einen dramaturgisch perfekt sitzenden Bucheinstieg, sondern gehört tatsächlich ganz an den Anfang meiner Geschichte, und damit sage ich: »Herzlich willkommen in meinem Leben.« Mein Name ist Torsten Hebel und ich lade Sie ein, mit mir auf eine Reise zu gehen. Auf meine Reise.

Kleiner Tipp vorab: Packen Sie gedanklich festes Schuhwerk ein, denn so manche Wegstrecke meiner Vita verläuft auf unwegsamem Gelände. Auch die Sportschuhe dürfen nicht fehlen, da mein Leben mich zuweilen selbst überholt hat und ich nur mühsam Schritt halten konnte … Wissen Sie was? Packen Sie einfach Ihren kompletten Schuhschrank ein, denn was am Ende dieser Reise wartet, weiß nur Gott. Wenn es ihn gibt. Seien Sie in jedem Fall darauf vorbereitet, die Schuhe ausziehen zu müssen, denn ich gewähre Ihnen einige Einblicke in das Wohnzimmer meiner Seele. Der erste Moment ist gerade zwei Sätze alt. Denn die Frage, ob es Gott gibt, beschäftigt mich sehr. Es ist ein guter Grund, warum ich mich überhaupt auf diese Reise begebe. Als ehemaliger Evangelist und Prediger wirkt das vielleicht überraschend, aber wenn wir erst mal ein Stück gemeinsam unterwegs sind, werden Sie merken, warum ich die Existenz Gottes infrage stelle.

Einblicke in das Wohnzimmer meiner Seele

In anderen Momenten werden Sie nasse Füße bekommen, auch wenn Sie nur am Beckenrand stehen bleiben und beobachten, wie ich mich freischwimme. Vielleicht tauchen Sie ja gemeinsam mit mir ab und lassen sich auf einige Gedankengänge ein, die auf den ersten Blick ungehörig, naiv und trotzdem mutig sind. Das wäre mir am liebsten.

Das Tempo dieser Reise werde ich nicht alleine vorgeben. Wertvolle Menschen sind Wegbegleiter auf Zeit und werden den Rhythmus meiner Reise zu einem großen Teil mitbestimmen. Doch zuerst möchte ich ein bisschen von mir erzählen. Meine Vergangenheit ist wichtig, um meine Gegenwart zu verstehen.

»So, Torsten, jetzt wirst du gleich sterben.« Es ist ein kalter Wintertag in Gummersbach. Meine Mutter nimmt mich, wie jeden Tag, mit zu ihrer Arbeit in einem kleinen Kiosk. Dort verkauft sie Snacks, Zeitschriften und heiße Getränke. Christel, meine Mutter, ist eigentlich Schneiderin, aber um ihre damals vier Kinder zu ernähren, ist sie sich für Nebenjobs nicht zu schade, und als Jüngster muss der kleine Torsten mit. Normalerweise habe ich rund um den Kiosk mit Spielzeug aus Naturmaterialien oder weggeworfenen Coladosen gespielt und mir so die Zeit vertrieben.

An diesem Morgen erregt eine Baustelle unweit des Kiosks meine Aufmerksamkeit. Es ist eine deutlich abgesperrte Fläche rund um ein Staugewässer und damit ein guter Grund, Coladosen und Co. links liegen zu lassen. »Geh bitte nicht zu der Baustelle dort drüben, das ist gefährlich.« Die Worte meiner Mutter verstärken den Drang, wenigstens einen näheren Blick auf den geheimnisvollen Ort zu werfen.

Ich kann zwar noch nicht lesen, aber die Piktogramme der Verbotsschilder machen mir sehr deutlich, dass ich auf keinen Fall hinter die Absperrung darf. Eigentlich. Ich gelange ungesehen in die Baustelle, kein Bauarbeiter ist zu sehen, und stehe schnell am zugefrorenen Wasser. Ich werfe einen Stein auf die Eisfläche. Klack. Das Eis hält. Dann einen großen Stock. Hält ebenfalls. Ich blicke mich suchend um. Was ist eine Steigerung von Stock und Stein? Richtig, mein Bein. Vorsichtig teste ich, ob das Eis trägt. Dann stelle ich mich mit beiden Beinen auf die Eisfläche. Auch das funktioniert. Berauscht von meinen Erfolgserlebnissen, vergesse ich alles um mich herum und bewege mich in die Mitte des Gewässers. Wow! Was für ein Gefühl. Plötzlich erschreckt mich ein bedrohliches Knacken, das Eis bricht unter mir und schon lande ich im eiskalten Wasser. Ich rudere mit den Armen, will um Hilfe rufen, schlucke Wasser, huste und meine schwere Winterkleidung, bestehend aus Cordhose und Lodenmantel, zieht mich unter die Wasseroberfläche. Schnell verliere ich die Orientierung und strample unkontrolliert hin und her. Einige Zeit später schwindet meine Energie und mein Körper wird immer schwächer. »So, Torsten, ich glaube, jetzt stirbst du«, schießt es mir durch den Kopf. »Gleich bekommst du keine Luft mehr und dann bist du tot. Du musst nach oben schwimmen. Irgendwie.« Aber ich habe die Orientierung verloren. Wo ist oben? In welche Richtung muss ich mich bewegen? Alles scheint in Zeitlupe zu geschehen. Es ist still um mich herum, zumindest kann ich mich an keine Geräusche, sondern nur an Gefühle erinnern. Seltsam, dass ich mich relativ klar und ruhig empfunden habe. Fast schon wie jemand, der sich selbst beim Ertrinken zusieht. Nur ein Gedanke schießt mir immer wieder in den Kopf: »Wo ist oben?« Die Zeit verliert ihre Bedeutung. »Seltsam«, denke ich, »so ist das also, wenn man stirbt!«

Ab diesem Moment kann ich das Geschehen nur noch sehr verschwommen und wie durch einen Schleier wiedergeben. Ich bilde mir ein, dass die Dunkelheit des Wassers und des Eises mit einem Mal durch einen grellen Lichtstrahl erhellt wird. Ich versuche, mich mit allerletzter Kraft auf die Quelle des Lichts zuzubewegen, werde dann von irgendetwas oder irgendjemandem gepackt, mit einer ungeheuren Wucht aus dem Wasser gezogen und auf die abgesperrte Fläche der Baustelle gelegt. Ab diesem Augenblick werden die Erinnerungen wieder klarer. Ich liege japsend, klitschnass und frierend, aber sehr lebendig auf den ungehobelten Bohlen der Baustelle. Ich rieche das Holz. Zuerst denke ich, ein Junge aus der Nachbarschaft habe mich gerettet. Ich kenne ihn und irgendwie bilde ich mir ein, seine Stimme gehört zu haben. Ich weiß nicht, was diese Stimme rief. Vielleicht hat er mich gerettet? Das wäre eine gute und logische Erklärung. Ich schaue mich um. Doch da ist niemand. Keine Menschenseele weit und breit. Ich weiß bis heute nicht, wem oder was ich meine Rettung zu verdanken habe, und diese Frage hat mich auch nie beschäftigt.

Ich stehe unter Schock, rapple mich auf und renne so schnell mich meine Beine tragen zurück zum Kiosk. Völlig durchnässt stehe ich vor meiner Mutter, die von alledem nichts mitbekommen hat, und schreie wie am Spieß: »Mama, Mama, ich wäre fast ertrunken!« Es folgt ein kurzer Moment, in dem meine Mutter vor Angst erstarrt, dann ruft sie: »Mein Gott! Was ist passiert?« Ich erkläre es ihr, so gut ich kann. Aber irgendwie kann ich es nicht. Was genau ist passiert? Keine Ahnung.

Aber eines weiß ich: Ich habe Mist gebaut. Habe mich über die Anordnungen meiner Mutter hinweggesetzt und bin fast ertrunken. Eher vor lauter Schreck als aus Strafe haut sie mir wenige Augenblicke später ein paar um die Ohren. Und so stehe ich da: schuldbewusst, mit nassen Klamotten, brennenden Wangen und mit meiner ersten, wenn auch sehr leichtsinnigen Abenteuererfahrung.

Aber eines weiß ich:
Ich habe Mist gebaut

Meine Mutter ist der Schreck ebenfalls mächtig in die Glieder gefahren. Die Kinder waren ihr Ein und Alles. Mein älterer Bruder Detlev hat mal gesagt: »Mama hat sich für ihre Kinder aufgeopfert.« Und auch sonst musste sie sich im Leben durchbeißen. Als ich drei Jahre alt war, haben sich meine Eltern getrennt. Ich war der Jüngste und habe die genauen Umstände nie detailliert erfahren. Von meinem Bruder weiß ich einiges, aber Scheidung war grundsätzlich ein Tabuthema in der damaligen Zeit. Das alles passierte zwar um die berüchtigten 68er-Jahre, aber die wilde Befreiung von dem angestaubten Establishment war bei uns in Gummersbach noch nicht wirklich angekommen. Zumal meine Mutter fromm war. So richtig und im besten Sinne des Wortes. Geistlich gesehen war sie vom Glauben an Gott geprägt, und auch die profane Wortbedeutung passte wunderbar. Mama war rechtschaffen und tüchtig. Aber so viel Lebensenergie meine Mutter aus dem Glauben an Gott auch zog, sie hat ebenso die Schattenseiten eines bestimmten rigiden, christlichen Systems abbekommen. Allerdings war es ihr selbst nicht bewusst, nehme ich an. Darüber haben wir selten gesprochen.

Nach der Scheidung wurde meine Mutter von ihrer damaligen Gemeinde quasi vor die Tür gesetzt. Und die Kinder gleich mit. Christliche Nächstenliebe hatte für die Geschwister dort so ihre Grenzen, und im Rahmen einer fragwürdigen Ethik war eine geschiedene Frau für diese Gemeinde nicht mehr tragbar, zumal sie auf den ersten Blick nicht unschuldig an dieser Trennung war. Doch all das gehört in die Privatsphäre meines Vaters und meiner Mutter. Aus diesem Grund werde ich Begebenheiten und Gründe für diese Trennung nicht weiter kommentieren. Das steht mir nicht zu, denn eine Scheidung ist immer kompliziert und hat mit vielen Ebenen und subjektiven Blickwinkeln zu tun. Bis zu ihrem Tod hat meine Mutter aber unter der Scheidung gelitten, und selbst vierzig Jahre später plagten sie noch Schuldgefühle und Zweifel. »Reicht die Gnade Gottes so weit, dass ihr diese Trennung vergeben werden kann?« Dasselbe gilt für meinen Stiefvater Manfred. Er kam wenig später in mein Leben, und das war mein großes Glück. Die beiden haben sich gesucht und gefunden. Ich denke, sie waren glücklich miteinander. So glücklich, wie Ehepaare, die einen stressigen Alltag zu bewältigen haben, sein können.

Meinen Stiefvater nannte ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr »Onkel Manfred«, und erst als junger Erwachsener begriff ich wirklich, was der Mann für meine Mutter und uns vier Kinder geleistet hat. Um uns finanziell über Wasser zu halten, ist er tagsüber seinem normalen Job als Drucker nachgegangen und in der Nacht ist er Taxi gefahren. Irgendwann beschloss ich, diesen künstlichen Begriff »Onkel« mit »Papa« zu ersetzen. Denn das war er für mich, weil er mich wie seinen eigenen Sohn behandelte. Gemeinsam haben meine Mutter und mein Stiefvater noch eine Tochter bekommen, sodass ich mit vier Geschwistern aufgewachsen bin. Zu meinen drei Schwestern und meinem Bruder habe ich bis heute ein gutes Verhältnis.

Ich wurde hauptsächlich von meinen älteren Schwestern erzogen, denn auch meine Mutter arbeitete rund um die Uhr. Diese Aufopferung meiner Eltern ist einer der größten Liebesbeweise, den meine Geschwister und ich bekommen haben. Mein Stiefvater war eher ein »Kopfmensch«, und trotzdem habe ich mich, gerade wegen seines Einsatzes für seine Kinder, die ja alle nicht einmal von ihm stammten, absolut geliebt gefühlt. Manfred hat damals viel mit mir unternommen. Er erklärte mir all die verschiedenen heimischen Baumarten, ging mit mir in den Wald, um Vögel zu beobachten, versuchte mir vieles von dem beizubringen, was er wusste und was er liebte. Und er kannte sich wirklich gut in der Natur aus. Natürlich hätte ich mir genau das von meinem leiblichen Vater gewünscht. Zeit meines Lebens habe ich darunter gelitten, dass ich kein besonders herzliches Verhältnis zu meinem Vater hatte. Dabei habe ich mir seine Liebe so sehr ersehnt. Wie mein Vater mit der Trennung umgegangen ist, weiß ich nicht genau. Wir haben nie darüber geredet. Wir haben überhaupt selten miteinander kommuniziert.

»Ich bin nicht gut genug, deshalb liebt mich mein Papa nicht«

Dabei hätten mir seine Worte so viel bedeutet. Für ein lobendes Wort von meinem leiblichen Vater hätte ich als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener viel gegeben. Das war alles für ihn bestimmt keine einfache Zeit. Da werden auch viele Tränen geflossen sein, nehme ich an. Aber als Kind kann man nicht so weit denken. Da sieht man bloß, dass der Papa nicht mehr da ist, und fragt sich, ob das vielleicht was mit einem selbst zu tun hat. Wahrscheinlich hatte er einfach keine Zeit oder keine inneren Ressourcen, um sich emotional um seine Kinder zu kümmern. Und die Zeiten waren anders als heute. Fest steht: Ich habe die Schuld an dieser fehlenden Beziehung schon als kleiner Junge bei mir gesucht. Ich habe oft gedacht: »Ich bin nicht gut genug, deshalb liebt mich mein Papa nicht.«

Ich mache ihn nicht für die Probleme meines Lebens verantwortlich. Aber dass Liebesentzug seit frühester Kindheit ein Thema für mich ist, kann ich einfach nicht leugnen. Ohne die Zuwendung meiner Mutter hätte ich diese negativen Gedanken nicht verarbeiten können. Sie war liebevoll, humorvoll und voller Emotionen. Sie hat übrigens einen großen Anteil daran, dass ich Kabarettist geworden bin, denn das schauspielerische Talent und den Humor habe ich von ihr geerbt. Ich habe sie sehr geliebt und ich war mir meistens auch ihrer Liebe gewiss. Meine Mutter war den Menschen zugewandt, und auch meine Freunde mochten sie sehr. Es kam durchaus vor, dass ich nach einer langen Nacht am späten Vormittag verschlafen in unsere Küche kam und dort meine Freunde vorfand. Kakao oder Kaffee trinkend und im intensiven Gespräch mit meiner Mutter. Unser Haus war ein richtiger »Meetingpoint«, und die Seele war meine Mama. Sie ist vor drei Jahren gestorben und hat eine große Lücke in meinem Leben hinterlassen. Ebenso wie mein Stiefvater, der leider kurz danach von uns gegangen ist.

Für meine Mutter war der Glaube an Gott und die Gemeinschaft mit anderen Christen unheimlich wichtig. Die Freie evangelische Gemeinde Gummersbach hat uns als Familie damals, als wir wegen der Scheidung aus der anderen konservativ freikirchlichen Gemeinde rausgeflogen sind, aufgenommen. Dort hat meine Mutter im Chor gesungen und war in unterschiedlichen Gemeindegruppen sehr aktiv. Sie hat sich durch das Negativerlebnis »Gemeinderausschmiss« nicht abschrecken lassen, und wir, meine Mutter, mein Stiefvater und meine drei Schwestern, haben in der FeG Gummersbach ein neues geistliches Zuhause gefunden. Ich fühlte mich dort sehr wohl, ungeachtet der Tatsache, dass unser Familienmodell »Patchwork« einen exotischen Farbklecks in dem gutbürgerlichen Gemeindekontext darstellte.

Wir wohnten direkt neben der Kirche, und selbstverständlich war ich am Sonntag, frisch gestriegelt und mit Bundfaltenhose ausstaffiert, Dauergast im Kindergottesdienst. Diese Gemeinde wurde mein zweites Zuhause. Von den sieben Tagen in der Woche war ich als Jugendlicher sicherlich an fünf Tagen in der Gemeinde. Hier habe ich meine Begabung als Schauspieler entdeckt, erste Andachten gehalten, ich wurde anerkannt und gelobt. In dieser Gemeinde hatte ich meine ersten Gotteserfahrungen, und doch habe ich gleichzeitig ein Glaubenssystem eingeatmet und unbewusst aufgenommen, das sich später, gemeinsam mit meiner Persönlichkeitsstruktur, als eine ganz schlechte Kombination herausstellte. Denn Theologie ist zu einem großen Teil Biografie. Wir geben den Dingen die Bedeutung, die uns aufgrund unseres Erlebten logisch erscheinen. Und so habe ich vieles so interpretiert, wie es mir die Spuren meines Lebens vorgegeben haben.

»Ich bin nicht gut genug für Gott und ich werde nie gut genug sein.« Solche Gedanken, genährt durch die gefühlt fehlende Annahme und Akzeptanz wichtiger Bezugspersonen, garantiert keine gesunde Entwicklung. Weder pädagogisch noch theologisch. Zwei Kräfte kämpften lange in mir. Die eine Kraft sagte mir: »Streng dich gefälligst an! Nur wenn du der Beste bist, bekommst du Anerkennung und Liebe!« Und mit der gleichen Stimme machte die andere Kraft in mir alles zunichte: »Egal, was du machst, Torsten, es reicht nicht!« Also ganz nach dem Motto: »Du hast keine Chance, also nutze sie!«

Um meine gefühlten Defizite auszugleichen, entwickelte ich einen unheimlichen Ehrgeiz und gewiefte Strategien, mit denen ich mir Erfolg erarbeitete. Mein Improvisationstalent zum Beispiel, von dem ich heute als Kabarettist und Schauspieler abhängig bin, hat sich gerade in dieser Zeit entwickelt. Ich lernte schnell, wie man sich verhalten muss, um in unterschiedlichen Gruppen und bei unterschiedlichen Menschen gut anzukommen. Heute weiß ich, dass man all dies mit sozialer Kompetenz umschreibt. Auch mein Talent zum Reden und meine rhetorischen Fähigkeiten entwickelten sich unter den gegebenen Umständen schnell und präzise. Und doch, auch wenn ich bei den meisten meiner Mitmenschen gut ankam, konnte ich mir selber die Zuneigung und Anerkennung nicht zugestehen.

Mein Gott war der allmächtige Schöpfer, der mich in meiner Schwachheit als Sünder unverdient liebt und trotzdem immer auf meine Defizite zeigt und akribisch darauf achtet, ob ich mir nicht doch den einen entscheidenden Fehltritt leiste, der mich vom Himmel in die Hölle stößt. Wenn ich etwas gut gemacht hatte, hörte ich mich sagen: »Gott ist groß, dass er durch mich armen Wicht so etwas schafft«, und wenn ich etwas verbockt hatte, dann fühlte es sich so an, als bliebe der ganze Dreck an mir hängen. Dieser fiese Dualismus schwebte lange über meinem Leben. Alles Gute gehört Gott. Alles Schlechte mir. Das Fatale an dieser Denkweise war mir lange Zeit nicht bewusst. Stimmte es nicht, dass der Mensch ein Sünder ist und nichts Gutes in ihm wohnt? Und ist nicht Gott allein gut? War es nicht so, dass mein Geist »willig«, aber dieses vermaledeite »Fleisch« schwach war und ich aus diesem Grunde einen täglichen Kampf gegen mich selbst führen musste? Ich lebte wie in einer schizophrenen Welt. Ich war begabt, talentiert, sah nicht übel aus, fühlte mich aber wie eine wandelnde Mogelpackung auf zwei Beinen, denn innerlich war ich mir immer bewusst, dass ich, so wie ich bin, nicht gut bin. Ich fühlte mich wertlos. Außen hui und innen pfui.

Ich fühlte mich wertlos

Aber das nahm ich als normal für mich hin. Das war alles so, wie es sein musste. Denn viele meiner christlichen Wegbegleiter fühlten und agierten genauso. Heute, mit Abstand betrachtet, kommt es mir so vor, als wäre ich einer unter vielen gewesen, die dieses oder Ähnliches erlebt haben. Auf der einen Seite Wertschätzung – wenn es denn in Zusammenhang mit Gott geschah – und auf der anderen Seite tiefste Verachtung für alles, was den strengen Maßstäben eines frommen christlichen Lebens nicht standhalten konnte.

Die Entdeckung meiner Sexualität tat ihr Übriges dazu. Ich möchte ein konkretes Beispiel nennen: Selbstbefriedigung war Sünde. Das war nicht nach Gottes Plan. So kämpfte ich Tag für Tag, Woche für Woche dagegen an. Ich las Bücher und hörte mir Vorträge zu diesem Thema an. Wenn es doch passierte, beichtete ich. Man betete mit mir. Wir flehten den allmächtigen Gott an, dass er diesen »Stachel im Fleisch« von mir nehmen möge. Natürlich klappte das nur bedingt. Denn die Entwicklung der Sexualität gehört zu einem gesunden Menschen. Doch ich fühlte mich unrein. Ich kam gegen diese Empfindungen oft nicht an. Ich lebte also in einem ständigen Bewusstsein, dass ich Gott von Mal zu Mal enttäusche. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sich meine normale Entwicklung als pubertierender junger Mann mit meinem inneren christlich geprägten System einen nicht endenden Kampf lieferte. Garniert mit Sätzen wie »Du bist, was du tust!« wurde in mir das Bewusstsein genährt, dass ich, so wie ich bin, falsch bin. Und weil ich falsch bin, bin ich nicht wertvoll. Und weil ich nicht wertvoll bin, ist die Gnade Gottes umso größer, dass er solch einen sündigen Menschen überhaupt liebt. Noch vieles könnte ich an dieser Stelle hinzufügen, doch das würde der Sache nicht gerecht werden. Es geht bei diesen Erlebnissen nicht um »die Gemeinde«, sondern um einzelne Menschen in dieser, die teilweise sehr extrem fanatisch und konservativ waren. Denn trotz allem habe ich viel Positives aus dieser Zeit mitgenommen. Manche dieser Freundschaften und Beziehungen bestehen noch heute. Ohne die Förderung und Ermutigungen, ohne die soziale Nestwärme von damals, wäre ich heute nicht in der Lage, die Dinge zu tun, die ich teilweise sehr erfolgreich tue. Ich bin mir sicher, dass die Zeit in der Gemeinde mich vor vielem bewahrt und entscheidend weitergebracht hat.

Ich hätte manchmal gerne die Fähigkeit, in die Vergangenheit zu reisen. Dann würde ich erst mal nachschauen, wer mich damals aus dem eiskalten Wasser gezogen hat, und danach dem Torsten von damals ganz oft ins Ohr flüstern: »Schöne Grüße aus der Zukunft! Du bist wertvoll. Du bist richtig. Du bist geliebt für das, was du bist. Brutto und komplett. Ohne Abzüge und mit allen Stärken und Schwächen.« Denn darum geht es doch beim Menschsein, oder? Ich hatte damals vergessen, dass auch Christen keine Heilige, sondern vor allem einfach Menschen sind.