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Lance
Armstrong

 

Wie der erfolgreichste Radprofi aller Zeiten die Welt betrog

 

 

 

Juliet Macur

Deutsch von Werner Roller

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Copyright © 2014 by Juliet Macur

 

All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.

 

Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

 

Copyright © 2014 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

 

Übersetzung: Werner Roller

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt

Redaktion: Dorit Aurich

Lektorat: Julia Niehaus

Layout und Satz: Dirk Brauns

Umschlagfotos: Frontcover: Joel Salcido / Autorenfoto Klappe: Andrew P. Scott

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de

 

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

 

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

 

eISBN 978-3-8419-0345-7

 

 

 

Für meine Liebsten, Dave und Allegra

Für meine Helden, Mama und Tata

 

 

 

Das hier ist mein Körper, und ich kann mit ihm machen, was ich will. Ich kann ihn schinden, studieren, ihn optimieren, ihm zuhören. Alle Welt will wissen, was mich antreibt. Was treibt mich an? Ich sitze auf meinem Rad und reiße mir sechs Stunden am Tag den Arsch auf.

Was treibt Sie an?

Lance Armstrong

Inhalt

Prolog

Erster Teil – Lügen der Familie

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Zweiter Teil – Lügen im Radsport

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Dritter Teil – Lügen der Medien

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Vierter Teil – Lügen der Fahrerzunft

Kapitel 13

Kapitel 14

Fünfter Teil – Lügen des amerikanischen Helden

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Sechster Teil – Die Wahrheit

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Dank

Anmerkungen/Fußnoten

Auswahlbibliografie

Prolog

Das Zehn-Millionen-Dollar-Anwesen, mit dem sich Lance Armstrong einen Traum erfüllt hat, verbirgt sich hinter einer hohen, cremefarbenen Mauer aus texanischem Sandstein und einem soliden Stahltor.1 Besucher fahren auf einem kreisförmigen Zufahrtsweg vor und halten unter einer imposanten Eiche, deren ausladende Äste auf eine Villa im spanischen Kolonialstil mit einer Wohnfläche von 725 Quadratmetern weisen. Der Baum ist ein Symbol für Armstrongs berühmten Willen. Er stand früher auf der anderen Seite der Anlage, knapp 50 Meter westlich vom Haupthaus. Armstrong wollte ihn vor der Eingangstreppe haben. Die Verpflanzung kostete 200 000 Dollar. Seine engsten Freunde witzeln, der Agnostiker Armstrong habe damit nur zeigen wollen, dass es Gott nicht braucht, um Himmel und Erde in Bewegung zu setzen.

Lance Armstrong und ich haben seit fast einem Jahrzehnt eine zwiespältige Beziehung zueinander. Sieben Jahre sind vergangen, seit sein Agent Bill Stapleton zum ersten Mal drohte, mich zu verklagen. Damals war ich nur eine von vielen Reporterinnen und Reportern, die Armstrong zu manipulieren, zu umgarnen oder zu drangsalieren versuchte. Klagen gegen Autoren, die es wagten, seine märchenhafte Geschichte zu hinterfragen, waren seine schnelle und bequeme Art, Menschen davon zu überzeugen, dass es sich nicht lohnte, kritisch über ihn zu berichten. Im Lauf der Jahre kam er zu dem Ergebnis, dass er mich als Feindin betrachten musste, als eine von vielen, die er und seine Berater im Auge behalten mussten.

Erst jetzt, nach seinem Sturz, haben wir uns auf etwas geeinigt, was einem Waffenstillstand nahekommt. Er würde es zwar bestreiten, aber ich weiß, dass er diesem Treffen mit mir zugestimmt hat, weil er denkt, dass es ihm vielleicht gelingt, Kontrolle über den Tenor meines Buches zu bekommen. Keine Chance, habe ich ihm gesagt. Nach zahlreichen straf- und zivilrechtlichen Ermittlungen zu der Frage, ob Armstrong ein ausgefeiltes Dopingprogramm organisierte und damit siebenmal die Tour de France gewann; nach all den Aussagen von Fahrern, die ihn besser kannten als jeder andere Mensch und unter Eid allen öffentlichen Rechtfertigungen widersprachen, die Armstrong je abgegeben hatte; nachdem er gelogen, gelogen und abermals gelogen hatte, erkennt der berüchtigtste Sportler unserer Zeit, dass ich plötzlich die Dinge in der Hand habe. Und ich erkenne, dass er sich selbst jetzt noch in eine Position hineindenkt, in der er absolute Macht ausübt. »Sie können schreiben, was Sie wollen«, sagt er mir bei einer unserer vielen Unterhaltungen. »Aber Ihr Buch soll Cycle of Lies (Originaltitel; etwa: Rad der Lügen) heißen? Das muss geändert werden.«

Ich habe in fünf verschiedenen Ländern Einzelinterviews mit ihm geführt; in nach durchgeschwitztem Lycra riechenden Mannschaftsbussen bei der Tour de France, in schicken Hotelzimmern in New York City, auf den Rücksitzen von Limousinen, in öden Besprechungsräumen und stundenlang am Telefon. Jetzt, im Frühjahr 2013, nachdem seine ganze Welt zusammengebrochen ist und die Umzugslaster mit den Möbelpackern, die sein geliebtes Anwesen ausräumen werden, bereits unterwegs sind, bin ich nach Austin in Texas gekommen, um ihn zum ersten Mal bei sich zu Hause zu treffen. Ja, prima, kommen Sie nur her, sagte er. Von endlosen Nachrufen auf seine ruhmreiche (und jetzt als betrügerisch entlarvte) Karriere geplagt, wollte er sicherstellen, dass ich »die wahre Geschichte« schreiben würde.

Jetzt parke ich also hier unter der großen Eiche, die Armstrong verpflanzen ließ, weil – warum nicht? Ich betrachte das Haus und denke an seine gelben Trikots. Einen Monat, nachdem die United States Anti-Doping Agency 1000 Seiten Beweismaterial gegen Armstrong veröffentlicht und ihm seine Tour-Siege aberkannt hatte, hatte er über Twitter ein Foto von sich selbst verbreitet, auf dem er, die Arroganz in Person, auf einer L-förmigen Couch in diesem Haus fläzte, die feierlich ausgeleuchteten und gerahmten sieben gelben Trikots an der Wand hinter sich: »Bin wieder in Austin und hänge ab.« Werde ich ihn sieben Monate später immer noch im Zustand der Uneinsichtigkeit antreffen? Noch bevor ich den Zündschlüssel abgezogen habe, taucht ein engelsgleiches Gesicht unter wuscheligem braunem Lockenhaar am Wagenfenster auf, und zwei kleine Vorschulkind-Hände patschen an die Scheibe. Das ist Lance’ jüngster Sohn Max. Armstrong steht in Flipflops hinter ihm, er trägt ein schwarzes T-Shirt über schwarzen Basketball-Shorts, die bis zu seinen narbigen Knien reichen. Seine Augen verbirgt er hinter einer dunklen Sonnenbrille. »Sag hallo zu Juliet, Max«, fordert er den Sohn auf. »Hallo, Juu-liii-ett!«, sagt Max. Dann dreht er sich zu seinem Vater um und bittet um ein Eis, eine Bitte, die seinen Vater vor sich hin lächeln lässt, wie ich es bis dahin noch nie bei ihm gesehen habe. »Ja, du bekommst ein Eis«, sagt Armstrong. »Du warst brav, Kumpel, wirklich brav.« Wir gehen die Eingangstreppe hinauf, an der Tür hält Armstrong inne. Er lässt den Blick zum Baum wandern, zum Haus, zu dem Leben, das er genossen hat. »Ein großartiger Ort, nicht wahr?« »Ja«, sage ich. »Werden Sie ihn vermissen?«

 

Armstrong will nicht umziehen, er muss. Nachdem Sponsoren die Zusammenarbeit mit ihm beendet haben, fallen nach Schätzungen etwa 75 Millionen Dollar künftige Einnahmen weg.2 Wenn er alle Prozesse verliert, bei denen er der Beklagte ist, bedeutet das Zahlungsverpflichtungen in Höhe von über 135 Millionen Dollar.3 Die Mietverträge für ein Penthouse am Central Park in Manhattan und ein Haus in Marfa in Texas hat er gekündigt, um »die Geldverbrennungsrate zu verringern«, wie er es ausdrückt. Der nächste Schritt ist die Aufgabe dieses Anwesens in Austin, das er gegen einen sehr viel bescheideneren Wohnsitz unweit des Stadtzentrums eintauscht.

Seine ehemaligen Sponsoren – unter anderem Oakley, der Fahrradhersteller Trek, RadioShack und Nike – haben dafür gesorgt, dass er zusehen muss, wie Geld ins Haus kommt. Er hält sie für Verräter. Er sagt, der Umsatz bei Treks habe bei 100 Millionen gelegen, als er bei diesem Unternehmen einen Vertrag unterschrieb, und 2013 die Eine-Milliarde-Grenze erreicht.4 »Wer ist dafür verantwortlich?«, fragt er. »Der hier, verdammt noch mal.« Er drückt den rechten Zeigefinger gegen die Brust. »Tut mir leid, aber das stimmt. Ohne mich geschieht gar nichts.« Als ihn seine Sponsoren fallen ließen, gab er ihre Sachen weg. Es besteht durchaus die Möglichkeit, einen seiner Freunde in Dallas mit einem Paar handgefertigter gelber Nike-Sportschuhe zu sehen, auf deren schwarze Zungen in kleiner gelber Blockschrift »LANCE« aufgestickt wurde. Ein Goodwill-Laden in Austin verfügt über ein reichhaltiges Sortiment an Nike-Kleidungsstücken und Oakley-Sonnenbrillen. Die Möbelpacker, die eine Woche vor meinem Besuch bereits das Gästehaus leer geräumt haben, werden es nur noch mit den Resten der Markenware zu tun bekommen, die in der Garage gelagert sind: mit schwarzen Livestrong-Mützen von Nike, schwarzen Nike-Matchsäcken mit hellgelben Swooshes, mit Oakley-Brillengläsern und -gestellen und einer Schachtel voll Mützen, auf denen »Yes on Prop 15« (Ja zum Vorschlag Nr. 15) zu lesen ist. Alles Werbeartikel für eine im Jahr 2007 den Wählern in Texas zur Abstimmung vorgelegten und von Armstrong unterstützte Eingabe zur Finanzierung der Krebsforschung und -prävention sowie der Aufklärung über Krebs aus Steuermitteln.

Armstrong zog 1989 von Plano, einem Vorort von Dallas, in die moderne Großstadt Austin. Er kam als ungeschliffener, streitlustiger, pickeliger Teenager mit welligen braunen, an den Spitzen gefärbten Haaren. Im linken Ohr einen Goldring, um den Hals eine Silberkette mit einem Anhänger mit den Umrissen von Texas, in der Tasche einen Führerschein mit einem Geburtsdatum, das ihn älter machte, als er war. Armstrong verdiente damals etwa 12 000 Dollar im Jahr. Mit der Unterstützung eines örtlichen Wohltäters namens J. T. Neal, der ihn aufgenommen hatte, wohnte er für eine Monatsmiete von 200 Dollar in einem Studio-Apartment.5 Er möblierte es mit einem überdimensionierten schwarzen Ledersofa, einem dazu passenden Stuhl und einem rot-weiß-blau bemalten Schädel eines Longhorn-Rindes aus Texas über dem Kaminsims. Von der beengten Einzimmerwohnung in die Traumvilla: ein Bild für Armstrongs Aufstieg zu einem modernen amerikanischen Heiligen – ein Sieger über den Krebs, der in einem mörderischen Etappenrennen die besten Radrennfahrer der Welt in die Schranken wies, mit jeder Frau ausging, die er wollte, und im Lauf dieser Entwicklung Millionen verdiente.

Armstrong liebt dieses Haus. Er liebt die offenen Räume, die raumhohen Fenster. Er liebt die weite, von Landschaftsgärtnern gestaltete Auffahrt, auf der seine Kinder Fußball spielen, und den kristallklaren Pool (ein »Negative-Edge Pool, kein Infinity Pool, nicht zu verwechseln«).6 Hinter dem Haus stehen Reihen hoch aufragender italienischer Zypressen. Er kam 2006 hierher, nachdem er mit dem siebten Sieg bei der Tour einen neuen Rekord aufgestellt hatte, und nannte diesen Ort sein sicheres Zuhause – in diesem Haus »kommt mir keiner dumm«.7 Er, der allen nahezu ohne Pause unternommenen Versuchen, ihn als Doper zu entlarven, entgangen war, konnte sich hier nach links wenden, den Hauptkorridor hinunter, dann nach rechts abbiegen, in seinem begehbaren Weinkabinett verschwinden, sich eine Flasche Tignanello nehmen und auf sein Glück trinken.

Auf einem Tisch neben einem Sofa steht ein 90 Zentimeter langes Modell des Gulfstream-Jets, Armstrongs bevorzugtem Langstreckenflieger. Es ist weiß lackiert, mit schwarzen und gelben Rennstreifen. Beim Start pflegten er und seine Kumpels aufzustehen und zu »surfen«, während das Flugzeug in den Himmel stieg. Armstrong verkaufte die Maschine im Dezember 2012 für acht Millionen Dollar, mit Blick auf die Kosten und Zahlungsforderungen, die im Zusammenhang mit den diversen Prozessen, die seit der Enthüllung seiner Betrügereien durch die USADA gegen ihn laufen, auf ihn zukommen werden.8

Genau in dem Augenblick, in dem wir uns im Medienzimmer im zweiten Stock des großen Hauses niederlassen, platzen seine beiden Zwillingstöchter Grace und Isabelle herein. Die beiden elf Jahre alten Mädchen sind das genaue Ebenbild ihrer Mutter Kristin: wunderschön und blond. Ihr offenes Lächeln entblößt glänzende silberne Zahnspangen. »Hallo Dad! Hast du die Röcke für uns im Internet gekauft?«, fragt Isabelle, während sie und ihre Schwester das Sofa zugleich als Trampolin benutzen. »Ja, Dad, hast du die Röcke gekauft?«, sekundiert Grace. »Nein, noch nicht«, antwortet Armstrong. »Es ist Zeit für ein Bier. Es wäre nett, wenn eine von euch Ladys mir ein Bier holen würde. Ein Shiner Bock.« Grace ruft: »Shiner Bock! Weißt du’s nicht, das ist ein Bier – das schreibt man B-O-C-K. Das hat keinen Schraubverschluss.« Armstrong sieht mich an, sobald er das Bier in der Hand hat, und sagt: »So sieht also mein schreckliches Leben aus. Einfach nur schrecklich.«

Er sagt, wie sehr er es mag, dass Kinder im Haus sind – Kinder sind durchschaubar und reinen Sinnes, zu jung, um ihn zu täuschen. Ich frage, ob er sich von den Leuten ausgenutzt, ob er sich benutzt fühlt. »Äh, ja.« »Von wem?« »Von allen. Reihen Sie sich ein.«

 

Der junge Mann, der sein Wohnzimmer einst mit einem Ochsenschädel schmückte, hat sich zu einem Sammler anspruchsvoller, teurer Kunstwerke entwickelt. Sein Nerv für Kunst ist offenkundig, wenngleich gewöhnungsbedürftig. Beim Betreten des Hauses sieht man eine 3,30 Meter hohe und 1,50 Meter breite bunte Glasscheibe, die sich bei näherer Betrachtung als Meer aus Hunderten von fixierten Schmetterlingen erweist – ein Werk von Damien Hirst mit dem Titel The Tree of Life. Hirst ist für seine provozierenden Installationen bekannt (zu denen auch ein in einem Glaskasten präsentierter abgeschnittener Kuhkopf zählt, an dem sich Maden gütlich tun). Als Hirst im Jahr 2009 ein Armstrong-Rennrad mit Schmetterlingen dekorierte, bezeichnete die Tierschutzorganisation People for the Ethical Treatment of Animals dieses Werk als »entsetzliche Barbarei«.9

Je mehr ich in diesem Haus von Armstrongs Kunstsammlung zu sehen bekomme, desto seltsamer kommt mir sein Kuratoren-Auge vor. Seine Auswahl als makaber zu bezeichnen, ist zu harmlos, das Wort »kontrovers« klingt zu naiv. Alles, was Armstrong über irgendeines dieser Werke sagt, beschränkt sich auf »verdammt cool«. Man sehe selbst: Über der offenen Feuerstelle im geräumigen, konventionell eingerichteten Esszimmer ist, flankiert von Marmorschüsseln, die einmal Weihwasserbecken waren, ein Foto von Urin und Blut zu sehen. Piss and Blood No. VII ist eine Arbeit von Andres Serrano, der seit seinem 1987 aufgenommenen Foto von einem Plastik-Kruzifix im Urin des Künstlers berüchtigt ist. Es hat etwas Harmonisches, in einem Raum mit diesem Foto und einem Sportler zu sein, der für sich in Anspruch nimmt, Hunderte von Dopingtests, die an seinen Urin- und Blutproben vorgenommen wurden, bestanden zu haben.

Am anderen Ende des Raumes liegt Armstrongs schwach beleuchtetes Arbeitszimmer, das in dunklen Holzfarbtönen gehalten ist: ein Ort zum Grübeln. Von seinem Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers aus hat Armstrong einen direkten Blick auf seine Tour-de-France-Trophäen, sieben in dunklem Purpur leuchtende Porzellanpokale mit feinen goldenen Mustern. Sie sind hoch oben an der Wand ausgestellt, über Bücherregalen, jedes Stück wird von einem eigenen Scheinwerfer angestrahlt. Links von seinem Schreibtisch ist Kunst zu sehen, die auf seine zerbrochenen Beziehungen zu Familienangehörigen, Freunden, Geliebten und Teamkollegen verweisen mag: Eine sepiafarbene Fotografie von Luis González Palma zeigt einen Mann und eine Frau, die eng umschlungen tanzen. Aber stimmt das denn? Auf den zweiten Blick sehe ich die spitzen Stacheln, die aus den Rücken der beiden Gestalten ragen. Armstrong räumt lediglich ein, dass dies ein düsteres Werk sei.

Und dann ist da noch die Jesus-Kunst. Rechts vom Schreibtisch nimmt das Gemälde eines spanischen Malers aus dem 17. Jahrhundert fast die gesamte Wand ein. Es ist eine Kreuzigungsszene. Vier Frauen beten zu Füßen Christi, dessen gesenkter Kopf von einem leuchtenden goldenen Heiligenschein umstrahlt wird. Vor einigen Jahren hing dieses Werk in der Kapelle, die Armstrong für seine Ex-Frau, eine Katholikin, in ihrer Wohnung in Girona einrichten ließ. Er selbst ist nicht religiös. Er sagt, er betrachte die organisierte Ausübung von Religion als Versammlung von Heuchlern. Verlässt man sein Büro und biegt um eine Ecke, findet sich, über einem Treppenhausschacht, eine weitere Darstellung der Kreuzigung. Den ans Kreuz genagelten Jesus erkennt man nur aus bestimmten Blickwinkeln, dann erst entfaltet das Bild seine ganze Wirkung. »Ein Mann hat die Schuld für Tausende Sünden auf sich genommen«, lautet Armstrongs Kommentar. Selbst in Gegenwart des Kruzifixes spricht er über sich selbst. Ob er erreichen will, dass ich ihn als Märtyrer für ein Jahrhundert der Doper im Radsport darstelle? Ist das die Absicht, die er gerade verfolgt? Er geht zu einem Tischchen in seinem Büro und nimmt eine Skulptur auf, die einen Arm von der Hand bis zum Ellbogen darstellt. Die Skulptur des japanischen Künstlers Haroshi besteht aus zahlreichen Schichten zusammengepresster Skateboards. Der Mittelfinger der Skulptur ist ausgestreckt. »Das fasst die Geschichte meines Lebens ziemlich gut zusammen«, sagt er. Dann hält er mir die Skulptur vors Gesicht. Ich sehe Armstrongs Hände. Auf beiden Handflächen sind kleine Wunden. Dort wurden Zysten weggebrannt, erklärt er. Ich denke an die Wundmale Christi. »Leck mich am Arsch«, sagt er lachend.

 

Vor sieben Jahren sagte er zu Luke, Grace und Isabelle, seinen drei ältesten Kindern aus seiner gescheiterten Ehe, dass sie zum Zeitpunkt ihres Highschool-Abschlusses in diesem Haus bei der großen Eiche leben würden.10 Er sei ihnen das schuldig. Sie waren ihm unzählige Male von Texas nach Frankreich und Spanien gefolgt. Jetzt könnten sie endlich Wurzeln schlagen. »Ich verspreche euch: Dad wird nicht wieder umziehen.« Sie würden nur sechs Minuten von ihrer Mutter Kristin entfernt wohnen und hätten ihren festen Platz an dem vertrauten riesigen Küchentisch, der von Schwarzweiß-Fotos der Familie umgeben ist. Und sie würden wissen, wo ihr Dad an den meisten Abenden der Woche zu finden war – auf einem Sofa vor dem Fernseher, in dem er sich die CNN-Sendung Anderson Cooper 360 o ansah. Im Sommer 2012 ließ Armstrong noch den ersten Stock des Hauses ausbauen, damit die größer werdende Familie ein siebtes Zimmer hatte. Das Haus war vorher schon sein Hauptquartier. Er lebte dort mit seiner Freundin Anna Hansen, einer gertenschlanken Blondine, und ihren beiden Kindern, dem vier Jahre alten Max und der zwei Jahre alten Olivia, die wie Shirley Temple aussah. Armstrong und sein Clan hatten geplant hierzubleiben, geborgen und glücklich, und das für lange Zeit. Aber jetzt kommen die Möbelpacker. Wir schreiben den 6. Juni 2013, das ist fünf Jahre vor dem Zeitpunkt, zu dem Luke vermutlich seinen Schulabschluss machen wird. Am nächsten Morgen wird eine kleine Kolonne von schwarzen Lastwagen den Zufahrtsweg hinauffahren, und aus diesen Fahrzeugen werden Arbeiter in schwarzen kurzärmeligen Hemden steigen. Jetzt schon herrscht eine begräbnisähnliche Stimmung. Die Möbelpacker haben bereits das 150 Quadratmeter große Gästehaus ausgeräumt, eine Mini-Villa, deren hellbraune Fassade farblich gut zum orangefarbenen Ziegeldach passt.

Am 7. Juni komme ich wieder um zu beobachten, wie die Arbeiter das Hauptgebäude ausräumen. Sie nehmen Armstrongs Tour-Trophäen aus den beleuchteten Regalen, verpacken sie in grüne Luftpolsterfolie und legen sie in blaue Kartons. Im Umzugskarton mit der Nummer 64 verstaut ein Arbeiter einen silbernen Rahmen mit einem 17,5 mal 12,5 Zentimeter großen Foto von Armstrongs Discovery-Channel-Team aus dem Jahr 2005, das nach seinem siebten und letzten Tour-Sieg gemeinsam beim Abendessen sitzt. Er, seine Teamkollegen und der langjährige Teammanager Johan Bruyneel halten sieben Finger hoch. Jeder der Männer trägt ein gelbes Livestrong-Gummiarmband am Handgelenk. Auf dem Tisch stehen viele halb volle Weingläser. Eine Szene aus einem früheren Leben. Karton Nr. 64 wandert mit allen anderen in einen Lastwagen. Ich folge den Arbeitern, die alle weiße Baumwollhandschuhe tragen, in den Medienraum. Dort nehmen sie die sieben gerahmten gelben Trikots von der Wand. Am Vortag, als Armstrong und ich in diesem Raum saßen, hatte er eine Idee. Er fragte, ob ich mich auf die Couch legen und für ein Foto unter den Trikots, die noch da waren, posieren wolle. »Das wäre lustig«, meinte er. Ich verstand den Witz nicht.

 

Armstrong hatte das große Haus verlassen, noch bevor es dämmerte, für immer. Um 4.15 Uhr, am Morgen des 7. Juni 2013, fuhr er mit Hansen und seinen fünf Kindern zum Austin/Bergstrom International Airport, um dort mit einem Linienflug nach Big Island, Hawaii, aufzubrechen, wo die Familie den ersten Teil des Sommers verbringen wollte.11 Armstrong sagt mir später, er habe sich nicht nach dem Haus umgedreht, das er gebaut hatte. Er sagt, Gefühlsregungen dieser Art seien ihm fremd. Der Umzug bedeute nur, dass ein Teil seines Lebens beendet sei und ein neuer beginne. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, erklärt er. Vielleicht glaubt er die Worte, die aus seinem Mund kommen. Vielleicht auch nicht.

Mehrere Tage danach befanden sich nur noch zwei seiner Besitztümer auf dem Anwesen. Eines davon passte in keinen Umzugslaster: ein schwarzes Pontiac GTO-Cabrio, Baujahr 1970, ein Geschenk der Sängerin Sheryl Crow, mit der er eine öffentlich ausgelebte Romanze hatte, ehe er davonradelte und kurz bevor sie an Krebs erkrankte. Das Auto, das auch an ein Versagen Armstrongs erinnert, ist 70 000 Dollar wert.12 Im Wohnzimmer des Gästehauses ist ein vollständiges Schlagzeug stehen geblieben. Noch ein Belegstück aus dem Leben, das der Mann abgelegt hat. Oh beat the drum slowly and play the fife lowly, kommt mir in den Sinn, als ich das Instrument betrachte, Worte aus einem Lied (Streets of Laredo, amerikanisches Volkslied. Anm. d. Ü.), das ich aus der Zeit kenne, als ich selbst in Texas lebte und arbeitete:

 

Take me to the valley, and lay the sod o’er me,

For I’m a young cowboy and I know I’ve done wrong.

 

Erster Teil
Lügen der Familie

Kapitel 1

Lance Armstrongs Mutter Linda ist in ihrer eigenen Geschichte immer die Heldin. Nach ihrer Version führten sie und Lance im Oak-Cliff-Viertel von Dallas in den Sozialwohnungen auf der falschen Seite des Trinity River einen Kampf ums Überleben.1 Sie hatten niemanden außer einander. Seinen Vater lernte der Junge nie kennen; sie zog ihn allein auf.2 Sie sagt, sie habe ihm das Fahrradfahren beigebracht, ihn zu sportlichen Aktivitäten ermutigt, seine Ausrüstung bezahlt, ihr Haus gekauft, ihn zu all seinen Rennen begleitet, Sponsoren beschafft und jeden Samstagmorgen um 7 Uhr mit ihm das Haus verlassen, damit er beispielsweise einem Feld von vorpubertären Mittelstreckenläufern die Grenzen aufzeigen konnte.3

In ihrer Autobiografie No Mountain High Enough: Raising Lance, Raising Me ergötzt sie sich immer wieder an der selbst gestellten Frage: »Wie schaffte es eine alleinerziehende Mutter, einen echten Superhelden großzuziehen?«4 Noch bevor die Geschichte beginnt, warnt sie in der Vorbemerkung ihre Leserschaft vor ihrer »vollkommen voreingenommenen, subjektiven, einseitigen, rationalisierten und geschönten« Darstellung.5 Sie räumt sogar ein: »Jemand anders könnte vielleicht eine ganz andere Perspektive anbieten«6 und fordert die infrage kommenden Personen auf, ihr eigenes Buch zu schreiben.

Für ihre drei Ex-Ehemänner Eddie Gunderson, Terry Armstrong und John Walling benutzt sie in diesem Buch Pseudonyme. Lance’ Vater nennt sie nach einer freundlichen, duldsamen Figur aus Leave It to Beaver, einer Fernsehshow aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, »Eddie Haskell«. Die Gundersons waren Lance Armstrongs erste Familie. Eddie Gunderson und Linda Mooneyham heirateten noch während ihrer Highschool-Zeit. Das Baby kam sieben Monate später. Die Mussheirat vereinigte zwei Problemfamilien. Beide Armstrong-Großväter waren massive Trinker gewesen, deren Frauen nach dem einen oder anderen alkoholbedingten Zwischenfall mit den Kindern das Weite gesucht hatten.7 Sein Großvater väterlicherseits war so bösartig, dass er Katzenbabys in Einmachgläser steckte, um sie zu ersticken.8 Armstrongs Vater war ein Alkoholiker, der in seinem Leben genauso viele Ehefrauen hatte wie die Mutter Ehemänner – vier.9 Als Armstrong 20 Jahre alt wurde, hatte er bereits drei verschiedene Väter gehabt: einen biologischen, einen Adoptiv- und einen Stiefvater.10 (In ihrem Buch bezeichnet Linda Armstrong das Misslingen ihrer Liebesbeziehungen als Ergebnis von »dummen, selbstschädigenden, der eigenen Intuition widersprechenden und völlig umnachteten« Entscheidungen.)11 Später wurde Lance dann im Durcheinander von einem Dutzend Ersatzvätern seiner eigenen Wahl herumgeschubst.

Als Vortragsrednerin in Sachen Motivation verdient Linda ihren Lebensunterhalt mit Binsenweisheiten über die Mühen, die mit der Erziehung des größten Radrennfahrers aller Zeiten verbunden waren. Sie erzählt ihrem Publikum: »Alle Umstände waren gegen uns«, und »es ging ums Überleben«. Sie berichtet, wie Lance einmal ohne ein langärmeliges Trikot zu einem Rennen in den Bergen von New Mexico anreiste. Die anderen Fahrer trugen modische Sportbekleidung, er musste sich ihre winzige pinkfarbene Windjacke ausleihen, um sich warm zu halten. Er brach den Streckenrekord. Sie spricht über den »Aufstieg aus der Armut ohne Geld zu persönlichem Erfolg«12 und betont, dass sie bei den Leistungen ihres Sohnes eine wesentliche Rolle gespielt habe: »Ich bin überzeugt, ein Kind ist das, was seine Eltern aus ihm machen.«

Nach ihrer Erzählung war sie die einzige ständig präsente Person im Leben ihres Sohnes. Schon früh machte sie deutlich, dass sie – und nur sie – ihren Sohn formen würde. Die erste Phase in diesem Prozess begann, als sie ihn aus der Gunderson-Familie herausnahm.13 Armstrongs Mutter hat ihre Version dieser Geschichte jahrelang verbreitet. Es ist eine Geschichte, die eine ganze Lebenszeit später Willine Gunderson Harroff, Eddies Mutter, und seiner Schwester Micki Rawlings die Tränen in die Augen treibt.

Linda Armstrong erzählte, sie habe Lance allein erzogen. Andere Menschen, ganz gleich, was sie beisteuerten oder wie lange sie daran teilnahmen, hätten in seinem Leben nur kleine Nebenrollen gespielt.14 Sie bezeichnete sich als alleinerziehende Mutter, obwohl sie bis Lance sechzehneinhalb Jahre alt war nur ein Jahr lang keinen Ehemann hatte15 – und in dieser Zeit, so berichtet die Familie ihres ersten Ehemannes, habe man ihr geholfen und auf den Jungen aufgepasst, während sie arbeiten ging.16 Die Medien bauschten die Tragödie und den Triumph, die in solchen Schilderungen lagen, immer weiter auf. Einer der größten Athleten der Sportgeschichte war nach dieser Darstellung von einer minderjährigen Mutter aufgezogen worden, die um ihre Existenz kämpfte und dabei niemanden an ihrer Seite hatte als ihren kleinen Sohn .

 

Nach Willine Gunderson waren die anderen Mitglieder aus Lance’ Familie mit Lindas Legendenbildung durchaus nicht einverstanden. Die Gundersons haben ihre eigene Version von Lance’ Kindheit.17 Zunächst einmal hieß Lance’ Vater bei ihnen Sonny. Er war ein gut aussehender, blauäugiger Rebell mit glänzendem braunem Haar und einem schelmischen Grinsen, und er war gern mit von der Partie, wenn seine Freunde Kassettendecks aus parkenden Autos stehlen wollten.18 Einmal fuhr er mit dem Motorrad zu einer Highschool-Freundin – und vor Ort durch die Hintertür direkt in die Küche des Hauses, was die Eltern des Mädchens veranlasste, die Polizei zu holen.

Die Gundersons lebten in Wynnewood, einem von der Mittelschicht geprägten Wohngebiet, das mit den »Sozialwohnungen von Dallas«, von denen in Lindas Werbevideos für ihre öffentlichen Vorträge die Rede ist, nichts zu tun hat. Unter ihren Nachbarn war auch – die Familie Mooneyham.19 Linda war eine Homecoming-Prinzessin an der Highschool und ein Star im Drillteam der Schule. Sonny lud sie ein, mit ihm auszugehen. Schon bald gingen sie fest miteinander und fuhren in seinem aufgemotzten Pontiac GTO in der Stadt herum. Sein Böser-Bube-Charme ließ ihn an einem Winterabend 1970 Linda zuflüstern: »Make love, not war.«20 Sie wurde schwanger. Als die 16-jährige Linda eine Abtreibung verweigerte, wies ihre Mutter sie aus dem Haus. Das junge Mädchen blieb allerdings keineswegs auf sich allein gestellt – Stichwort: »alle Umstände waren gegen uns« –, sie zog bei Sonny ein, dessen Familie sie gern aufnahm. In ihrem neuen Zuhause wurde sie zur De-facto-Adoptivtochter von Willine Gunderson, die von den anderen Familienmitgliedern »Mom-o« genannt wurde.

Willine war eine alleinerziehende Mutter, deren Ex-Ehemann den Unterhalt für die Kinder grundsätzlich verspätet zahlte, wenn überhaupt. Sie arbeitete 43 Jahre lang für die First National Bank in Dallas. Ihr Familiensinn war ausgeprägt, sagt sie. Sie bestand darauf, dass ihre beiden Töchter und Sonny dreimal pro Woche gemeinsam zum Gottesdienst gingen. Über ihren abwesenden Ex-Ehemann verlor sie nie ein böses Wort. Die Kinder sollten sich ihr eigenes Urteil über ihn bilden. Während Lindas Schwangerschaft wurden die beiden gute Freundinnen.

Linda und der 17 Jahre alte Sonny heirateten an ihrem 17. Geburtstag in einer Baptistenkirche, die voller Mitschüler war, und zweifellos entging einigen von ihnen der Babybauch unter dem fließenden weißen Plisseekleid der Braut nicht. Das war im Februar 1971. Der Junge kam im September. Er erhielt seinen Vornamen nach Lance Rentzel, dem Wide Receiver und Starspieler der Dallas Cowboys, der im Jahr zuvor verhaftet worden war, weil er sich vor einem zehnjährigen Mädchen entblößt hatte.21 Sein Vater sah am Fenster auf der Entbindungsstation, dass der Kopf des Neugeborenen missgestaltet war, er war zu lang und zu schmal. Lance war mit einem Geburtsgewicht von 4,3 kg zur Welt gekommen, und seine Mutter war eine zierliche Person.22 »Was ist mit seinem Kopf?«, fragte der Vater, dem Tränen die Wangen hinunterliefen.23 »Das gibt sich«, sagte eine der Schwestern. »Alles wird gut, das weiß ich.«

Linda fand eine Teilzeitstelle in einem Supermarkt. Sonny arbeitete in einer Bäckerei und trug Zeitungen aus, aber die Vaterschaft führte bei ihm nicht zu einem plötzlichen Reifeprozess. Schon als Minderjähriger brachte er es auf eine Reihe von Auftritten vor dem Jugendgericht.24 Seine erste Nacht im Gefängnis als Erwachsener verbrachte Sonny Gunderson 1974, als sein Sohn zweieinhalb Jahre alt war und er und Linda bereits in Scheidung lebten.25 Er war verhaftet worden, weil er ein Auto aufgebrochen hatte. Die Ehe hielt nur knapp über zwei Jahre. In ihrem Buch behauptete Linda später, Sonny sei so grob zu ihr gewesen, dass sie im Genick und an den Armen blaue Flecken davongetragen habe. Jahre später räumte ihr Ex-Ehemann ein, sie geschlagen zu haben, aber nur einmal.26 Nach der Scheidung verbrachte er mehrere Monate in einem zombieähnlichen Zustand, wie Gunderson seiner Familie erzählte. Er wollte das, was er kaputt gemacht hatte, wieder in Ordnung bringen, wusste aber nicht wie. Oft saß er auf der anderen Straßenseite, mit Blick auf die Kindertagesstätte, und sah seinem Sohn auf dem Spielplatz zu. Unterhalt konnte oder wollte er keinen zahlen, die Zahlungsaufforderungen, die regelmäßig in seinem Briefkasten landeten, ignorierte er.

Bei der Familie seines Vaters hieß Armstrong Lance Edward Gunderson. An Weihnachten und bei anderen Familienzusammenkünften war er dort noch immer zu Gast und spielte mit seinen Cousins und Cousinen. Die Gundersons besitzen Fotos von ihm, die allmählich vergilben und abgegriffen aussehen. Die Großmutter bewahrt ein Fotoalbum mit Bildern im 10-mal-10-Zentimeter-Format auf, das Armstrongs Mutter für sie angelegt hat. Im Namen ihres Sohnes schrieb Linda eine Widmung in das Album: »Für Mom-o Willine, alles Liebe, Lance.«

 

Auf nahezu jedem Foto, auf dem Willine »Mom-o« Gunderson mit dem kleinen Lance zu sehen ist, küsst sie den Jungen und schließt dabei die Augen. Augenblicke, die aus der Sicht einer Großmutter ewig währen könnten. Ein Teil der Schuld daran, dass dieser Zustand nur von kurzer Dauer war, fällt ihrem Sohn zu. Gunderson benahm sich selbst wie ein Kind, sobald er Lance zu sehen bekam. Er ließ den Jungen auf seinem Zehngang-Rad und auf seinem Motorrad mitfahren, und die Großmutter und die beiden Schwestern sahen Vater und Sohn dabei zu. Einige dieser Ausfahrten endeten mit erbitterten Streitigkeiten. Einmal kehrte Lance mit einer vierteldollargroßen Verbrennung zu seiner Mutter zurück, weil er mit der Wade an den Motorradauspuff gekommen war. Ein andermal war er mit dem Fuß in die Fahrradspeichen gekommen, was ihm einen blutigen Zeh eintrug. Linda warf Sonny Nachlässigkeiten vor und beschimpfte Willine, weil sie nicht verhindert hatte, dass der Junge sich in ihrer Obhut verletzte. Willine sagte zu der jungen Mutter: »Du kannst ihn nicht sein Leben lang in einen goldenen Käfig sperren.« Linda gab zurück: »Ich bin diejenige, die weiß, was für ihn am besten ist.«27 »Sie war mütterlich«, sagt Willine, »aber sie war so jung und verstand nicht, dass Babys mehr als nur einen Menschen lieben. Sie wollte nicht, dass er außer ihr noch jemand anderen liebte. Aber Babys lieben jede Person, die ihnen liebevoll begegnet. Das verringert doch nicht die Liebe, die sie für ihre Mutter empfinden.«

Als für Linda der Punkt erreicht war, an dem sie Sonnys Gegenwart nicht mehr ertrug, reichte sie am 15. Februar 1973 die Scheidung ein. Im Mai 1974, ein Jahr, nachdem das Scheidungsurteil gesprochen worden war, heiratete sie Terry Armstrong, einen Handelsvertreter. Was Sonny damals nicht wissen konnte: Sein Leben mit Lance sollte schon bald vorbei sein. Die Armstrongs zogen weg, was jedem Kontakt mit den Gundersons ein Ende setzte, und Terry adoptierte Lance. Linda behauptete in ihrer Autobiografie, Willine habe damals zugestimmt, dass es für Lance das Beste sei, wenn er die Gundersons niemals wiedersähe. Aber sobald jemand etwas in dieser Art zu Willine sagt, reagiert sie bis heute umgehend: »Oh nein, nein.«

Den letzten persönlichen Kontakt mit Linda und ihrer Familie hatte Willine, als Lance fünf oder sechs Jahre alt war. Sie brachte Weihnachtsgeschenke für ihn zu seiner Großmutter mütterlicherseits. »Linda hat mir gesagt, ich soll von dir nichts mehr annehmen«, sagte die eine Großmutter zur anderen. »Die Kleinigkeiten, die du ihm schenkst, sind den Ärger nicht wert, den Linda jedes Mal mit Lance hat, nachdem er mit dir zusammen war.« Mit tonloser Stimme, wie zu sich selbst, sagte die erschütterte Willine: »Du hast nicht das Recht, die Familie auseinanderzureißen«, dann ging sie unverrichteter Dinge, die Geschenke in Händen und Tränen in den Augen.

Noch jahrelang trugen Willine und Micki Lance’ Foto in ovalen Goldmedaillons um den Hals. Im Medaillon der Großmutter ist er als etwa zehn Monate alter Säugling im feuerroten Strampelanzug zu sehen, das andere Bild zeigt ein Kleinkind mit schiefem Lächeln. Die letzte Begegnung mit Lance hat Willine bis heute vor Augen. Sie hütete den Jungen, der damals etwa vier Jahre alt war. Die Mutter hatte es eilig, als sie ihn abholte, und fand ihn unter dem Esstisch der Familie Gunderson. Die Großmutter erinnert sich, dass er fröhlich rief: »Ich werde jetzt hier unten wohnen. Ich brauche nicht viel Platz und wohne einfach unter diesem Tisch.« Aber die Mutter packte Lance am Arm und bugsierte ihn zur Tür hinaus. Der Junge weinte, als die beiden gingen. Linda knallte die Tür hinter sich zu. Die Großmutter sah ihren Enkel niemals wieder.

Die Gundersons wussten nicht, dass die Armstrongs in Richardson wohnten, einem Vorort nördlich von Dallas, und sie hatten auch kein Geld, um sie durch einen Rechtsanwalt oder Detektiv ausfindig machen zu lassen. Sie hegten die Hoffnung, dass Armstrong eines Tages, vielleicht, wenn er selbst Kinder hatte, nach ihnen suchen würde. Die Gottesdienstbesucher in ihrer Kirche – der Four Mile Lutheran östlich von Dallas, die seine Verwandten vor 165 Jahren mitgegründet und mitgebaut hatten – beteten jahrelang jeden Sonntag für ihn. Gelegentlich schrieben die Gundersons an Armstrong, doch er antwortete nie. Selten einmal riefen sie bei Lindas Familie an, hörten dabei aber nur das Klicken eines Telefonhörers, der wieder auf die Gabel gelegt wurde.

Lindas Bruder Alan tat sein ehemaliger Schwager Sonny leid. Alan war für die Gundersons die einzige Informationsquelle in Sachen Lance. Einmal kam er zu Sonny und brachte ihm ein Schulfoto seines Sohnes mit, ein 20 mal 25 Zentimeter großes Farbbild. Die Gundersons betrachteten Lance’ Gesicht auf diesem Foto genau, schließlich war es seit über fünf Jahren das erste Bild, das sie von ihm sahen. Er hatte die gleichen tiefblauen Augen wie sein Vater und die gleichen hohen Wangenknochen. Sie fragten sich, ob er wohl auch andere Familieneigenschaften mit auf den Weg bekommen hatte: War Lance vielleicht hart und stur? Hatte er Probleme im Umgang mit Autoritäten? Sah er die Welt in Schwarz und Weiß? Hegte er einen unbestimmten Groll?

Armstrongs Großmutter ist heute fast 90 Jahre alt. Als sie 80 Jahre alt wurde, zog sie bei Micki ein, die in einem der wohlhabendsten Viertel von Dallas wohnt, in dem Herrenhäuser und große Anwesen mit Wachhäuschen das Straßenbild prägen. Ihr Mann Mike Rawlings wurde 2011 zum Bürgermeister gewählt. Willines dichtes, früher braunes Haar ist mittlerweile schneeweiß. Ihre einst kerzengerade Haltung ist jetzt dauerhaft gekrümmt. Sie benutzt eine Gehhilfe und sieht nur noch mithilfe einer dicken Brille und bei hellem Licht. Auch ihr Gehör lässt nach, doch der Verstand funktioniert perfekt. Neben ihrem Bett hat sie Fotos von sechs ihrer sieben Enkel und von sechs ihrer elf Urenkel – aber kein einziges Bild, auch kein Kinderfoto, von Lance oder einem seiner fünf Kinder. Als hätte es ihn in ihrer Familie nie gegeben.