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für Jenny

Inhalt

 

Wo ich ins Spiel kam

PROLOG

Die Legende von Blind Steamer Trunk

TEIL EINS

Atemtechnik, 1970–1974

Self Portrait No. 25

New Morning

»Watching the River Flow«

Bangla Desh

Doug Sahm and Band

Mit keuchendem Atem

Noch einmal zurück zum Highway 61

Ein Moment der Panik

TEIL ZWEI

Sieben Jahre hiervon 1975–1981

Ein Album voller Wunden

Aus den Liner Notes

Dylan wird boshaft

Dieser Zug hält hier nicht mehr

Save the Last Waltz for Me

Street Legal

Like a Moving Stone, mehr oder weniger

Erstaunliche Chuzpe

Aus Logische Schlussfolgerungen

Aus Themen von sommerlichen Orten

Aus Blinder Terror – Real Life Rock Top Ten, 1980

TEIL DREI

Und acht Jahre davon, 1985–1993

Nummer eins, Tendenz steigend

Voll daneben

Schon wieder ein Comeback-Album

Purer Solipsismus

Real Life Rock Top Ten

Bob Spitz, Dylan: A Biography

Der Mythos von der offenen Straße

Real Life Rock Top 10

Dylan als Historiker

TEIL VIER

Neues Land gesichtet, 1993–1997

Real Life Rock Top 10

Neues vom Friedhof

The 30TH Anniversary Concert Celebration

»Like a Rolling Stone« nach neunundzwanzig Jahren

Dock Boggs

Real Life Rock Top 10

Bob Dylan nach den Kongresswahlen von 1994

Freie Rede und falsche Rede

Real Life Rock Top 10

All diese nutzlose Schönheit

TEIL FÜNF

Neues Land gefunden, 1997–1999

Verfrühte Nachrufe

Eine Landkarte, die man wegwerfen kann

Ein Schritt zurück

Dreißig Platten über Amerika

Tischabfälle

Folkmusik heute – das Grauen

Alte Songs in neuen Schläuchen

TEIL SECHS

Himmel und Hölle, 2000–2001

Der Mann auf der linken Seite

Wo liegt die Desolation Row?

Tombstone Blues

When First Unto This Country

Live 1961–2000 –Thirty-nine Years of Great Concert Performances

»Handsome Molly«

Manchmal klingt er verrückt …

High Water Everywhere

TEIL SIEBEN

Finde ein Grab, 2001–2004

Reden ist Silber …

How Good Can It Get?

Real Life Rock Top 10

The Lost Waltz

TEIL ACHT

Gegen die Uhr, 2004–2010

Chronicles

Die Welturaufführung von No Direction Home

Bücherborde – Paul Nelson, 1936–2006

Folkmusik heute – Verzückung

Ein Trip zur Hibbing High

I’m Not There

Visionen und Visionen von Johanna

Der Anfang und das Ende

The Drawn Blank Series

Tell Tale Signs:Rare and Unreleased, 1989–2006 –The Bootleg Series Volume 8
(Columbia Legacy)

Sam McGees »Railroad Blues« und andere Versionen der Republik

Geschichten von einem schlechten Song

EPILOG

Ich glaube allen Umfragen und ich glaube keiner einzigen

Wahlabend

CODA

Danksagungen

Songtext- und Gedichtnachweise

Impressum

Wo ich ins Spiel kam

 

 

Im Sommer 1963 pilgerte ich zu einem Feld in New Jersey, um mir Joan Baez anzuschauen, ein vertrautes Gesicht in meiner kalifornischen Hei­matstadt Menlo Park und mit einem Mal auch überall sonst – sie war auf dem Titelblatt des Time Magazine gewesen. An jenem Tag trat sie in einer dieser alten, mit einem Zelt überdachten Freiluftarenen auf. Nachdem sie eine Weile gesungen hatte, sagte sie: »Ich möchte Ihnen nun einen Freund von mir vorstellen« – woraufhin ein abge­rissener Typ mit Gitarre auf die Bühne stieg. Er sah staubig aus. Seine Schultern hingen herab und er wirkte ein wenig verlegen. Er trug ein paar Songs vor, allein, dann sang er noch ein oder zwei mit Joan Baez im Duett und danach verschwand er wieder.

Das Ende der Show bekam ich kaum mit. Ich war wie vor den Kopf geschlagen – war perplex. Dieser Typ war da einfach auf die Bühne von jemand anderem gekommen, und obgleich er auf gewisse Weise so gewöhnlich wirkte wie die Leute im Publikum, lag etwas in seinem Gebaren, das einen dazu herausforderte, ihn einzuordnen, ihn zu bewerten und abzuschreiben, und doch war das unmöglich. Die Art und Weise, wie er sang und wie er sich bewegte, verriet einem nicht, woher er kam, wo er gewesen war oder wohin er gehen würde – doch sie weckte irgendwie den Wunsch in einem, all diese Dinge wissen zu wollen. »Oh my name it is nothin’, my age it means less«, sang er an jenem Tag, zu Beginn seines Songs »With God on Our Side«, der das Kernstück seines im folgenden Jahr erscheinenden Albums The Times They Are A-Changin’ sein sollte – und während sich das komplette Buch der amerikanischen Geschichte in diesem Song aufzublättern schien, die Geschichte des Landes, wie sie sich auf eine neue Weise selbst er­zählte, hielt der Song gleichzeitig das Versprechen des Sängers, denn als er sang, konnte man nicht sagen, wie alt er war. Er hätte siebzehn sein können, genauso gut aber auch siebenundzwanzig – und für einen Achtzehnjährigen wie mich war das schon ziemlich alt.

Als die Show vorbei war, sah ich diesen Typen, dessen Namen ich nicht mitbekommen hatte, hinter dem Zelt kauern – es gab keinen Backstagebereich, keine Securityleute, kein Protokoll – und so schlenderte ich zu ihm hinüber. Er war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden. Es war windig und seine Hände zitterten; das Streichholz beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Ich war gerade benommen genug, um ihn anzusprechen: »Sie sind fantastisch gewesen«, sagte ich, nie um eine originelle Formulierung verlegen. »Ach was, ich bin scheiße gewesen«, sagte er, »ich bin echt scheiße gewesen.« Darauf wusste ich wiederum nichts zu erwidern und trollte mich davon. Ich fragte jemand aus dem Publikum nach dem Namen dieses Typen, der gerade mit Joan Baez in ihren schwarzen Jaguar XK-E stieg – damals der heißeste Schlitten der Welt. Zurück in Kalifornien ging ich schnurstracks in den nächsten Plattenladen und kaufte mir The Freewheelin’ Bob Dylan, sein zweites Album und das einzige von ihm, das im Laden vorrätig war. Zu Hause wunderte ich mich darüber, dass manche der Songs – einer über die John Birch Society, einer über einen »ramblin’ gamblin’ Willie« sowie eine mit einer Band eingespielte Nummer, die ich »Make a Solid Road« taufte – nicht mit den in den Liner Notes ­beschriebenen Songs übereinstimmten. Ich ging mit der Platte in den Laden zurück und erklärte dem Besitzer, dass damit etwas nicht stimme. »Ja, ich weiß, die sind alle so«, sagte er. »Ich habe deswegen schon jede Menge Reklamationen gehabt. Kommen Sie nächste Woche wieder, dann habe ich ein korrektes Exemplar für Sie.« Doch ich ging nicht wieder hin. Ich war ganz hin und weg von »Don’t Think Twice«. Ich spielte diesen Song den ganzen Tag lang ab. Ich befürchtete, er könnte auf dem korrekten Exemplar fehlen, wenn ich mein »fehlerhaftes« dafür eintauschte.

Für mich, für viele andere Leute und auf gewisse Weise vielleicht sogar für Bob Dylan selbst gingen sein Leben und sein Werk genau zu jener Zeit auf. Mit Nummern wie »Blowin’ in the Wind«, »Masters of War«, »A Hard Rain’s A-Gonna Fall« und »The Lonesome Death of Hattie Carroll« sowie einem Dutzend weiterer Songs über Konflikte und Gerechtigkeit, über Wahrheit und Lüge, Songs, die episch und zugleich völlig alltäglich sein konnten und die von nichts weiter untermalt wurden als der schlichten Gitarre und der Mundharmonika des Sängers, und dann mit seinen Alben der Mittsechzigerjahre, Bringing It All Back Home, Highway 61 Revisited und Blonde on Blonde, Platten voller visionärer Darbietungen und, in der Regel, mit einem nicht minder ­visionären Rock ’n’ Roll, der nicht auf die Songs aufgesetzt war, sondern diese vollkommen durchdrang – mit diesen Veröffentlichungen avancierte Bob Dylan in der allgemeinen Vorstellungskraft binnen Kurzem zu sehr viel mehr als einem Sänger, dem es zufällig gelungen war, seine Zeit einzufangen. Um das zu schaffen, was ihm gelungen war, so schrieb Dylan Jahre später, musste man jemand sein, »der die Dinge bis auf den Grund durchschauen konnte, und zwar nicht im übertra­genen Sinne, sondern buchstäblich – als bringe man Metall mit dem Blick zum Schmelzen – jemand, der ihr wahres Wesen erkannte und es in ungeschönter Sprache und mit unbarmherziger Klarsicht enthüllte.« In den frühen 1950er-Jahren verfolgten Kids wie Bob Dylan wöchentlich im Fernsehen, wie jemand in der Serie The Adventures of Superman Metall fixierte und es zum Schmelzen brachte. Im darauffolgenden Jahrzehnt »weckte Dylan«, wie Paul Nelson es an anderer Stelle in diesem Buch formuliert, »bei seinen Anhängern wie bei seinen Kritikern ein so intensives persönliches Interesse, dass sie bei ihm nichts mehr als einen Zufall gelten lassen wollten. Begierig auf ein Zeichen verfolgten sie ihn auf Schritt und Tritt und warteten nur darauf, dass er einen Zigarettenstummel fallen ließ. Wenn er es tat, prüften sie die Über­reste sorgfältig und suchten nach einer Bedeutung. Das Beängstigende da­ran ist, sie fanden diese auch – für sie waren derlei Dinge tatsächlich von Belang.«

Dies war die Zeit, wo ich ins Spiel kam, als Autor – fünf Jahre nach der Show in New Jersey, am Ende von Dylans Abenteuer als ein Orakel auf der Flucht, kurz nachdem er sein karges, kryptisches Album John Wesley Harding herausgebracht hatte, ein Album, angefüllt mit Parabeln über die Republik, mit Rätseln über deren Räuber und Gendarmen, und mit Lovesongs, die dem Ganzen den Stachel nahmen.

 

Als Bobby Darin auf drei Hits zurückblicken konnte, verkündete er sein Lebensziel: »Mit fünfundzwanzig will ich eine Legende sein.« Das gelang ihm nicht, Bob Dylan aber schaffte es.

Das sind die Einleitungszeilen eines 1968 von mir verfassten Artikels, der nicht in diesen Sammelband aufgenommen wurde, doch mit Ausnahme zweier früherer Bücher (eins über den Song »Like a Rolling Stone«, eins über die sogenannten Basement Tapes) enthält er so gut wie alles, was ich im Laufe der Jahre über Bob Dylan geschrieben habe. 1969 war Dylan achtundzwanzig. Er war mindestens seit 1964 eine Legende, eine Geschichte, die die Leute weitergaben, als hätte sie sich vielleicht tatsächlich zugetragen. Doch die Zeit raste damals dahin – Bobby Darin, so kann man sich vorstellen, wollte mit fünfundzwanzig eine Legende sein, weil es danach womöglich zu spät gewesen wäre.

Da dieses Buch im Wesentlichen aus Rezensionen, Reportagen, Entdeckungen oder Kommentaren besteht, die in monatlich oder vierzehntägig erscheinenden Magazinen und in Tages- und Wochenzeitungen publiziert wurden, ist es bis zu einem gewissen Grad eine Chronik von Ereignissen, die sich praktisch zu dem Zeitpunkt zugetragen haben, als über sie berichtet wurde, und daher schwebt der Geist jener heroischen Epoche über dem, was ich geschrieben habe. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass ich über jemanden schreibe, der Außergewöhnliches geleistet hat, der eine Musik erschaffen hat, die schon bei ihrem ersten Erscheinen den Eindruck erweckte, womöglich unberührbar zu sein, nicht bloß für andere, sondern auch für Dylan selbst. Es war eine gewaltige Leistung: die Neufassung der volkstümlichen Musik Amerikas, in jedem erdenklichen Sinn, von den Fiddlespielern, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts »Springfield Mountain« ertönen ließen, bis zu Little Richard; eine Rückgewinnung der Vergangenheit, bei der gleichzeitig eine Tür zu etwas aufgestoßen wurde, das vorher noch nie gehört und noch nie gesagt worden war. All dies ist in diesem Buch enthalten. Doch zumindest in der ersten Hälfte ist es nur als ein Schatten präsent, ein Schatten, geworfen von einem Performer, der, als ich über ihn zu schreiben begann, selbst in diesem Schatten verschwunden war.

Die Geschichte, der ich nachging, war zu Anfang die Geschichte von Bob Dylan, wie er versuchte, sein bisheriges Schaffen zu transzendieren, ihm zu entsprechen, ihm auszuweichen, es zu verleugnen oder ihm zu entkommen. Ich war ein Fan; ich suchte nach jenen wegge­worfenen Zigarettenstummeln. Doch wenn Dylans Leistung der voraus­gegangenen Jahre eine unbestreitbare Tatsache war, als ich über ihn zu schreiben begann, so stand damals keineswegs fest, wie sich die ­Geschichte weiterentwickeln und welchen Ausgang sie nehmen würde. Diese Chronik beginnt im Grunde erst mit Dylans 1970 erschiene­nem Doppelalbum Self Portrait; am Ende jenes Jahres sollten sich die ­Beatles aufgelöst haben; Jimi Hendrix, ein großer Fan von Bob Dylan, vielleicht sein bester Interpret und ein potenzieller musikalischer Partner, sollte nicht mehr am Leben sein; und die Vorstellung von Bob Dylan als einem Sänger und Songwriter, der seine eigene Art von Wahrheit zum Ausdruck brachte, sobald er den Mund aufmachte, sollte ebenfalls der Vergangenheit angehören. Und so begann ich voller Unglauben: Soll dies wirklich alles sein? Das kann doch nicht alles sein! Eine Platte, eine Show folgte auf die andere, als die Siebzigerjahre in die Achtzigerjahre übergingen, als Ford Nixon ablöste und Carter Ford und Reagan Carter, und während all dieser Jahre sang Bob Dylan »Even the president of the United States sometimes must have to stand naked« – eine Zeit lang versuchte ich, mir die Platten, die er herausbrachte, oder die Shows, die er ablieferte, schönzureden, doch irgendwann war nicht mehr zu leugnen, wie unecht das alles war.

Wenn dieser Niedergang, dieses, wenn man so will, öffentliche Verschwinden auch zu einer gegebenen Tatsache wurde, so galt dies nicht für die fast schon biblische Geschichte, die die Musik erzählte: die Geschichte, dass Bob Dylan mehr als zwanzig Jahre benötigen sollte, um sich wieder aus der Falle zu befreien, in die ihn sein eigener, früherer Triumph manövriert hatte, dass er nach all der Zeit, die er in der Wüste seines eigenen Ruhmes herumgewandert war – einer Zeit, die, wie Dylan es einmal formulierte, die Imperative der Folkmusik zum Ausdruck brachte, womit er die Bibel meinte oder, genauer gesagt, die Mysterien von Überfluss und Hungersnot, von »sieben Jahren hiervon und acht Jahren davon« –, dass er, der alte Popstar, die angestaubte Ikone, das schlummernde Orakel, wieder aufs Neue beginnen sollte, gleichsam ganz von vorn, wobei dem, was er sagen und wie er es sagen sollte, keinerlei Grenzen gesetzt waren. Niemand konnte wissen, dass dieser Wendepunkt 1992 kommen würde, in Gestalt eines ruhigen, schlichten Albums, das am Tag der Präsidentschaftswahlen erschien und den Zigarettenstummeltitel Good As I Been to You trug, eine Kollektion jener Sorte von Songs, wie Dylan sie in Coffeehouses oder in Wohnungen von Freunden gesungen hatte, bevor er jemals ein Aufnahmestudio von innen gesehen hatte. Es war ein Ereignis, das beinahe unbemerkt verstrich, die beiden folgenden Jahrzehnte aber Felder erschloss, auf denen buchstäblich alles möglich war, wo neue Songs entdeckt werden konnten und jeder alte Song, für sich genommen, jenes Orakel sein konnte, das der Sänger einst für die Leute gewesen war.

Von jenem Punkt an gab es eine neue Geschichte, der ich nachgehen konnte – und diese Geschichte war dermaßen stark, dermaßen überraschend, dass sie alles, was ihr vorausgegangen war, in ein neues Licht tauchte. Das ist der Bogen, den dieses Buch beschreibt.

 

Es gab eine Reihe von Dingen, die mich dazu veranlassten, Autor zu werden, darunter auch die Tatsache, dass ich mich zu einem Bob-Dylan-Fan entwickelte. Ich war nie daran interessiert zu ergründen, was die Songs bedeuteten. Ich war daran interessiert, meine Reaktion auf sie zu ergründen – und die Reaktion anderer. Ich wollte der Musik näher kommen, als es mir durch bloßes Anhören möglich war – ich wollte ins Innere der Musik vordringen, ich wollte hinter sie gelangen, und indem ich über sie schrieb, durch sie hindurch, aus ihr heraus, hinter ihr, schaffte ich dies.

Die in diesem Buch versammelten Beiträge beginnen mit einem Gerücht und sie enden mit einer Präsidentenwahl. Es finden sich darin unmittelbare Reaktionen sowie weite Rückblicke auf der Suche nach noch unentdeckten Geschichten. Doch mehr als alles andere ist es der Versuch, sich an jener Unterhaltung zu beteiligen, die Bob Dylans Werk seit jeher entfacht hat: Das musst du gehört haben! Will er uns auf den Arm nehmen? Ich fasse es nicht! Du wirst es nicht glauben, aber …

Vieles von dem Lärm dieser Unterhaltung findet sich in den über das gesamte Buch verstreuten Beiträgen zu meiner Kolumne »Real Life Rock Top 10«, die ich 1986 für die Village Voice zu schreiben begann und die seitdem zu Art Forum, Salon, City Pages in Minneapolis, Interview und, ihrem derzeitigen Domizil, dem Believer gewandert ist. Doch ebenso viel von dieser Unterhaltung ist in längeren Beiträgen enthalten, in denen verfolgt wird, wie ein bestimmter Song Eingang in unser Leben findet, sei es real, wie bei »High Water« nach den Terroranschlägen von 2001, oder fiktiv, wie bei der Episode der Fernsehserie Homi­cide, die nicht auf die Schlagzeilen der Tagespresse zurückgriff, sondern auf »The Lonesome Death of Hattie Carroll«.

Mehr als die Hälfte dieses Buches wurde in den letzten dreizehn Jahren geschrieben: nicht nur, weil dieser Abschnitt von Dylans Karriere und Werk schon von sich aus unendlich interessant ist, sondern auch deshalb, weil das, was er in diesen Jahren geschaffen hat, sein gesamtes früheres Œuvre, ob gehört oder ungehört, sowie dessen Hintergrund erneut ins Rampenlicht rückte. Es gibt in diesem Sammelband Beiträge, die mir als Ausgangsmaterial für andere Bücher gedient haben, die aber, in ihrer ursprünglichen und kürzeren Form, wie man sie hier findet, womöglich mehr oder zumindest etwas anderes sagen. Es gibt auch Passagen, wo ich mit dem, was ich damals geschrieben habe, falsch lag – für gewöhnlich dann, wenn ich mir einredete, etwas sei besser, als es in Wahrheit war –, doch ich habe diese Stellen nicht korrigiert. Hier und da sind Kürzungen vorgenommen worden, um Wie­derholungen so weit wie möglich zu vermeiden, aber nicht mit dem Versuch, mich smarter erscheinen zu lassen, als ich damals gewesen bin, oder mich nachträglich zu einem besseren Autor zu machen. Es gibt einige frühe Artikel von mir, auf deren Wiederabdruck ich hier bewusst verzichtet habe, weil sie einfach zu naiv sind, um noch einmal ans Tageslicht geholt zu werden. Doch zu allem, was sich zwischen diesen Buchdeckeln findet, stehe ich, auch wenn es Falsches geben mag – in einer Unterhaltung, insbesondere in einer, von der viele irgendwie geahnt haben, dass sie ihr Leben lang andauern würde, kann es vorkommen, dass man sich gelegentlich zu weit aus dem Fenster lehnt oder über das Ziel hinausschießt.

Die Unterhaltung, von der ich hier spreche, geht letztlich auf Bob Dylans Stimme zurück – auf seine Unterhaltung mit seinem Publikum, auf seine Songs, auf anderer Leute Songs, auf ihn selbst. Es ist eine Unterhaltung, an der nicht nur Ma Rainey und Roy Orbison, John F. Kennedy und Brigitte Bardot, Charlie Chaplin und Blind Willie McTell beteiligt sind, sondern auch Medgar Evers und Stagger Lee, Tom Paine und die fifth daughter on the twelfth night, Gene Austin und Robert Burns, Georgia Sam und Martin Luther King, Lyndon Johnson und Diamond Joe, Arthur McBride und Bill Clinton, Barack Obama und Jack-a-Roe. Und im Rahmen dieser Unterhaltung, so glaube ich, hat Bob Dylan sein Versprechen schließlich gehalten. Von Hibbing, Minne­sota, bis zu wer weiß wo er heute Abend auftreten mag, von seinem zwanzigsten Lebensjahr, in dem sein öffentliches Leben in New York begann, bis zum heutigen Tag, also beinahe fünfzig Jahre lang, ist er – mal unbekümmert, mal zögernd, mal unbeholfen, mal mit vollendeter Meisterschaft – seinem Metier nachgegangen, als bedeute sein Alter nichts und sein Name noch weniger. Er hat sich von Staat zu Staat und von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bewegt, als sei nichts gewiss, als sei alles noch offen. Die Unterhaltung, die in seiner Musik und über diese stattfindet, hat das Leben vieler Menschen interessanter gemacht, als es sonst gewesen wäre, amüsanter und frustrierender, und sie hat die Einsätze im Leben derjenigen erhöht, die daran teilgenommen haben.

Das ist die Konstante und das ständig wiederkehrende Thema in diesem Buch; angesichts der zufällig aneinandergereihten, in einem Zeitraum von mehr als vier Jahrzehnten entstandenen Beiträge, wo sich die linke Hand womöglich nicht mehr daran erinnert, was die rechte Hand irgendwann einmal getan hat, sind es am Ende doch dieselben Alben, Singles, Bücher, Filme und Briefe, die man in den Händen hält. Die Konstante ist Bob Dylans Stimme – und damit meine ich die physische Sache, das, was man hört. Es ist nicht die Stimmlage oder der Klang der Stimme. In den Songs, die zum Leben erwachen, sei es bei »See That My Grave Is Kept Clean« im Jahr 1962, sei es bei »Forgetful Heart« im Jahr 2009, ist es der Zugriff, der Standpunkt, die Art und Weise, wie die Stimme in ein Musikstück eindringt, was sie dort anstellt, wie sie sich dort verirrt, wie sie wieder herausfindet, wie sie dieselbe bleibt – was so viel bedeutet wie, dass diese Stimme unvorhersehbar bleibt.

Es ist Musik als eine Partie three card monte, das Glücksspiel, bei dem man von drei verdeckt liegenden Karten eine bestimmte erraten muss. Es geschieht in den Windungen der Wörter in »As I Went Out One Morning«, in den schweren Schritten der Kadenzen von »Ain’t Talkin’«, wenn man plötzlich aus sich herausgerissen wird, aus seinem Haus oder aus seinem Auto oder von der Straße, die man gerade entlangspaziert, und an einem Ort landet, den man wiedererkennt, aber nicht benennen kann. Es ist diese Fähigkeit, die Bob Dylans Stimme definiert, im Großen wie im Kleinen, die Fähigkeit, zu beunruhigen und jene Konventionen, an denen wir unser Leben für gewöhnlich ausrichten, zu unterlaufen – das, was wir zu hören erwarten, das, was wir zu sagen, erzählt zu bekommen, zu lernen, zu lieben und zu hassen erwarten. Es ist die Fähigkeit, mit der Dramatisierung einer einzigen ­Silbe die gesamte Welt in den Brennpunkt zu rücken – die Art und Weise, wie in »High Water« das Wort care am Ende seiner Zeile abfällt wie jemand, der in aller Ruhe aus einem Fenster im zehnten Stock steigt oder geschubst wird –, dieser Fähigkeit habe ich auf den Grund zu gehen versucht.

PROLOG

Die Legende von Blind Steamer Trunk

San Francisco Express Times
24. Dezember 1968

 

Hoch über den Köpfen des Publikums waren drei in Orange und Rot gehaltene Bilder aufgehängt, eine Art Verschmelzung der Masken von Komödie und Tragödie, die von separaten Spotlights angestrahlt wurden. Der Bassist, der mit seinem Instrument Kreise in die Luft zeichnete, tänzelte von einem Ende der Bühne zum anderen und wirkte ­dabei selbst in Bewegung wie eine Standfotografie der Freiheit des Rock ’n’ Rolls. Der Sänger schwenkte seine rote E-Gitarre in Richtung des Leadgitarristen, als er die letzten Zeilen von »Baby Let Me Follow You Down« anstimmte und sich dabei schon auf die Kollision von Tönen vorbereitete, die es sicher gleich geben würde. Und dann legten sie sich ins Zeug; die beiden Musiker wirbelten um ihr Mikrofon herum, ihre Gitarren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, ihre Finger einander fast berührend, während die von ihnen entfesselten Klänge höher und höher stiegen, bis hinauf zu den Deckenbalken, wo ihnen das Dach schließlich Einhalt gebot.

Der Sänger trat nun einen Schritt zurück und wandte sich grinsend dem Publikum zu, während die auf sich allein gestellte Band den letzten Refrain ansteuerte und er, umrahmt von seinem zerzausten Haar, die Hände über die rote Gitarre huschen ließ:

 

You can do anything that you want to baby

That you want to baby

Yes, if you want to baby if you

Just don’t make me hurt!

 

Das war Bob Dylan im Herbst 1965, vor mehr als drei Jahren. Bob Dylan und die Hawks live auf der Bühne – so etwas hatte es vorher noch nie und danach auch nie wieder gegeben. Drei Jahre voller Erinnerungen, drei Jahre des Wartens, der Angst, es könnte für immer mit ihm vorbei sein, drei Jahre der vergeblichen Hoffnungen, ihn ein weiteres Mal auf der Bühne zu erleben. Werden wir uns an den Kitzel erinnern, den er uns beim letzten Mal beschert hat? Erinnerungen verblassen und sie kehren verändert zurück: mit Legenden, mit Bildern, zu groß, um sie vollends zu erfassen.

Legenden geraten aus den Augen, jedoch nicht ganz aus dem Sinn; sie bedrängen einen nie, sondern tauchen einfach so auf, aus dem Tag, von den Straßen, aus den Mauern. Legenden sollen die Glorie des Todes repräsentieren, aber sie können auch Witze erzählen. Die Legende vom blinden Bluessänger bedeutete in Berkeley einmal eine Menge; irgendwie brachte diese Geschichte die Leute in Kontakt mit den Entbehrungen und der künstlerischen Schöpfung »on the road«, den amerikanischen Highway hinunter, vielleicht hin zu den Bergbewohnern, bevor dem Biber in den hoch gelegenen Wasserläufen mit Fallen der Garaus gemacht wurde, zurück zu Ödipus und Homer, dem Mann, der gehen, aber nicht sehen konnte, dem Mann, der von seinem eigenen Geheimwissen geleitet wurde.

Es muss so etwas wie ein Kult sein und Kulte erzählen keine ­Witze. Die Leute drehten sich um und lachten über ihre Legenden und – siehe da! – aus Blind Lemon Jefferson entstanden Blind Joe Death und der unsterbliche Blind Ebbets Field. Es tauchten jedoch neue Legenden auf, einige, die mitunter zu imposant erschienen, um mit ihnen reden zu können, Gestalten von einer unschuldigen Größe, die einen irgendwie nervös machten. Das war die Stimmung, wie sie eines Abends im alten Jabberwock in Berkeley herrschte.

Der Laden war gut besucht und es war spät, Zeit für das ständig wiederkehrende Berkeley-Gerücht. Ein Typ wandte sich an einen anderen und setzte es in Umlauf: »Ich habe gehört also, ich habe gehört, Dylan sei in der Stadt.« Es dauerte keine zwei Minuten und jeder im Raum hatte es ebenfalls mitbekommen. Das Ganze entwickelte eine rasante Eigendynamik. »Jemand hat gesagt, dass er vielleicht hier aufkreuzen wird, aber Näheres weiß ich noch nicht …« Jedes Mal, wenn die Tür auf- oder zuging, drehten sich die Köpfe mit leuchtenden Augen dorthin, um sich gleich wieder wegzudrehen. Nach einer halben Stunde war die Spannung kaum noch auszuhalten.

Hinter der Bühne schmiedete man eifrig Pläne. Ein Mann trat auf die Bühne. Es kehrte augenblicklich Ruhe ein und er begann zu sprechen. »Etwas Unglaubliches ist geschehen. Wie manche von euch vielleicht schon wissen, ist heute jemand in Berkeley eingetroffen, der uns mit seiner Musik begeistert hat wie kaum ein anderer – ein Sänger, ein Musiker, ein Songwriter. Er hat eingewilligt, uns einen Song vorzu­tragen, als einen besonderen Gefallen, doch aufgrund gewisser ver­traglicher Komplikationen – die ich hier nicht im Einzelnen erläutern kann – dürfen wir ihn nicht namentlich ansagen. Aber«, sagte er augenzwinkernd, »ihr wisst sicher alle, wen ich meine.« Es stimmte also tatsächlich. Alle strahlten vor Freude. Der Ansager verzog sich hinter die Bühne, kehrte aber kurz darauf wieder zurück. »Wie ich soeben erfahren habe«, sagte er, »kann B–, äh, kann er wegen der genannten Komplikationen nicht persönlich auftreten. Aber« – und hier folgte eine kurze Kunstpause – »er wird uns etwas vortragen!«

Man konnte ein lautes Poltern hören. Hinter der Bühne wurde eine Gestalt mit einer Mundharmonika in der Hand in eine riesige ­Kiste hinuntergelassen. Drinnen im Lokal rückten alle näher an die Bühne heran. Der Ansager holte zum entscheidenden Schlag aus. »Da er nicht persönlich auftreten darf und da wir ihn nicht beim Namen nennen dürfen, präsentieren wir euch jetzt … Blind Steamer Trunk!« Die gewaltige, vage an einen Überseekoffer erinnernde Kiste wurde auf die Bühne geschleppt, der Deckel sprang auf und aus dem alten, mit rostigen Scharnieren versehenen Holzkasten ertönte ein aufreizend kurzes Mundharmonikasolo im besten Dylanstil. Der Deckel klappte wieder zu und das sperrige Ding wurde in die Nacht hinausbefördert. Blind Steamer Trunk war in die Ewigkeit eingegangen.

 

Bob Dylan, »Baby Let Me Follow You Down«, auf Long Distance Operator (Wanted Man Bootleg, aufgenommen im Berkeley Community Theatre, 4. Dezember 1965). Eine noch heißere Version findet sich auf the bootleg series volume 4: Live 1966 – The »Royal Albert Hall« Concert (Columbia, 1998, aufgenommen in der Manchester Free Trade Hall, 17. Mai 1966).

TEIL EINS

Atemtechnik, 1970–1974