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Martin Suter

Der Teufel
von Mailand

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2006

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Nach dem Plakat von Reinhard Gruber,

›Farbenprächtiges Lienz‹,

aus der Plakatserie ›Vier Jahreszeiten Lienz‹,

1985 (Ausschnitt)

 

 

Für Albert
und Anita Hofmann

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23653 8 (9. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60334 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Jenseits des Erscheinungsbildes der Außenwelt, welches unsere Wirklichkeit darstellt, verbirgt sich eine transzendentale Wirklichkeit, deren wahres Wesen ein Geheimnis bleibt.

Dr. Albert Hofmann

[7] 1

Es roch nicht mehr schieferblau, und auch die Stimmen konnte sie nicht mehr sehen.

Das Zimmer lag im Halbdunkel. Durch die Jalousien drang gerade soviel Tag, wie Sonia brauchte, um ihren Weg durch die Möbel und Kleidungsstücke zur Tür zu finden.

Sie öffnete sie und stand in einer Diele. Durch die verzierten Milchglasscheiben der Wohnungstür drang das Licht vom Treppenhaus – und ging aus.

Sie tastete sich an der Wand entlang zu der ersten der drei Türen, die sie im Treppenhauslicht hatte erkennen können. Eine davon mußte die Toilette sein.

Die Türklinke fühlte sich kühl an. Nichts weiter. Nicht zartbitter oder süßsauer, einfach kühl.

Sie betrat ein verdunkeltes Zimmer und hörte tiefe, regelmäßige Atemzüge. Hörte. Nicht hörte und sah. Immerhin.

Leise schloß sie die Tür, tastete sich zur nächsten und stand in einer hell erleuchteten Küche.

Am Küchentisch saßen zwei Männer. Sie tranken schweigend Kaffee und rauchten. Überall standen halbleere Gläser und Teller mit Essensresten herum. Im Spülbecken türmte sich das Geschirr.

[8] Die Männer schauten zur Tür, und an der Art, wie sie sie anstarrten, merkte sie, daß sie nackt war.

»Die Toilette?« fragte sie. Wo sie nun schon einmal hier war.

»Nächste Tür«, sagte der eine. Der andere starrte nur.

Sonia gönnte ihnen auch einen Blick auf ihre Rückseite und verließ den Raum.

In der Toilette stank es nach Erbrochenem, das jemand von der Brille zu wischen versucht hatte. Papier war keines mehr da.

Sie schaute in den Spiegel, um herauszufinden, ob sie so schrecklich aussah, wie sie sich fühlte.

Nein, ganz so schlimm war es nicht. Aber etwas beunruhigte sie: Das Gesicht, das ihr entgegenblickte, weckte keinerlei Gefühle in ihr. Weder Sympathie noch Vertrautheit, noch Nachsicht, noch Mitleid. Sie hatte nichts zu tun mit der Frau in diesem Spiegel.

Sie prüfte den Zustand des Handtuchs und sah davon ab, es sich um die Hüften zu schlingen. Sie verließ die Toilette so, wie sie sie betreten hatte.

Das Licht im Treppenhaus war wieder angegangen und leuchtete ihr den Weg zum Zimmer.

Dort fand sie einen Schalter und betätigte ihn. In den vier Ecken zuckten vertikale Leuchtstoffröhren auf. Die rote, die gelbe und die blaue brannten nach ein paar Sekunden. Die grüne fuhr fort zu flackern.

Außer den vier Röhren besaß das Zimmer keinen Wandschmuck. Auf dem Parkettboden herrschte eine Unordnung, die älter sein mußte als eine Nacht.

Sonia fand ihren Slip und zog ihn an.

[9] »Haben wir miteinander geschlafen?«

In der Tür stand einer der Männer aus der Küche. Er war barfuß, trug eine schwarze Hose und ein weißes T-Shirt. Sein Gesicht war unrasiert und seine schwarzen Haare zerzaust. Bei beidem war sie sich nicht sicher, ob es zu seinem Styling gehörte.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Der Mann grinste und zog die Tür hinter sich zu. »Vielleicht fällt es uns dabei wieder ein.«

»Noch einen Schritt, und ich trete dir in die Eier.« Sonia fuhr fort, ihre Kleider zusammenzusuchen. Der Mann blieb stehen und hob die Hände, als wollte er zeigen, daß er unbewaffnet war.

Sonia fand ihren BH und zog ihn an. »Was war das für ein Zeug?«

»Acid.«

»Ihr habt gesagt, es sei California Sunshine.«

»Blue Mist, Green Medge, Instant Zen, White Lightning, Yellow Dimples, California Sunshine: alles Namen für Acid.«

Daß Sonia sich nicht erinnern konnte, war gelogen. Ihr fiel es schwerer, etwas zu vergessen, als etwas zu behalten. Ihr Gedächtnis war ein gewaltiges Archiv von Bildern, die sie nach Bedarf abrufen konnte. Auch Wörter hatte sie als Bilder archiviert, Konjugationstabellen, Gedichte, Namen.

Und auch Zahlen. Die Einer-, Zweier-, Dreier-, Vierer-, Fünfer- und Sechserreihen waren in roter, blauer, gelber, grüner, violetter und orangefarbener Kreide auf schwarzem Schiefer gespeichert, in der verschnörkelten Schulschrift [10] von Fräulein Fehr, ihrer Lehrerin. Alles die falschen Farben, außer dem Gelb für die Drei. Als sie Fräulein Fehr darauf aufmerksam machte, wies diese sie zurecht. Es gebe keine richtigen und falschen Farben für Zahlen, hatte sie behauptet. Damals hatte Sonia begonnen, diese Dinge für sich zu behalten.

Die Siebenerreihe trug die rundere Handschrift der viel jüngeren, viel netteren Fräulein Keller, deren Namen sie ebenfalls als Bild abgelegt hatte: »Ich bin Ursula Keller« in rosa Kreide auf schwarzer Wandtafel. So hatte sie sich der Klasse vorgestellt, als sie Fräulein Fehr vertreten mußte. Erst für ein paar Wochen, dann für ein paar Monate und, nachdem die ganze Klasse und die ganze Schule eine Blume mitbringen mußte für das arme Fräulein Fehr, für immer.

Alle Zahlenreihen ab sieben trugen die Handschrift von Fräulein Keller. Bis zum heutigen Tag konnte Sonia sie bei Bedarf einfach ablesen.

Damals, als sie das in der Schule tat, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Abschreiben war verboten, und was sie tat, war ja nichts anderes. Ihre Rechenaufgaben, ihre Wörter, ihre Verse schrieb oder las sie einfach ab von den Bildern, die sie im Kopf hatte. Sie konnte sich nicht richtig freuen über ihre guten Noten und legte Fräulein Keller eines Tages ein Geständnis ab. Erst als diese ihr versicherte, aus dem Kopf abschreiben sei nicht verboten, verflogen die Gewissensbisse.

Diese Gabe hatte ihr während der ganzen Schul- und Ausbildungszeit mehr geschadet als geholfen. Sie konnte zwar die kompliziertesten Algebraformeln aufstellen, wenn sie sie vorher schon einmal gesehen hatte, aber [11] nachvollziehen konnte sie sie nie. Das gleiche galt für chemische und physikalische Formeln, Flüsse, Städte, Jahreszahlen, Vokabeln und Gedichte. Deswegen galt sie immer als eine phänomenale Begabung ohne jeglichen Ehrgeiz. Sie bestand ihre Matur mit der Minimalnote, die ihr die Lehrer als Denkzettel für soviel Talentverschwendung gaben.

Die Bilder der letzten Nacht hatte sie natürlich auch gespeichert.

Die regennasse Straße, in deren Pfützen sich, neonblau und halogenweiß, Fragmente des Schriftzugs des Meccomaxx spiegelten.

Die Gestalten auf der Tanzfläche, die sich anstatt im gemächlichen Rhythmus des Trance Sounds im Zeitraffer des Stroboskops bewegten.

Die Bar mit den in blutrotes Licht getauchten Gesichtern, unter denen sich auch die der beiden Männer aus der Küche befanden.

Die zwei im blauen Fixerlicht der Damentoilette fast unsichtbaren Tabletten auf ihrer Handfläche.

Und dann plötzlich die Musik als Zeitlupenaufnahme einer Lawine aus silbernen und schlachtschiffgrauen Würfeln, die auf sie zurollten und -hüpften und -taumelten. Und die Stimme des einen Mannes aus der Küche – er hatte einen sandgelben Namen –, die als Muster aus gewellten schwarzen und weißen Bändern perspektivisch in der oberen rechten Ecke der Projektionsfläche verschwand. Muster, die jedesmal, wenn er etwas sagte, vor ihren Augen entstanden.

Und später – wieviel später? – die weiße Tapete, die sich [12] in ihre Pixels auflöste, welche sich zu dunklen Flecken verdichteten oder als Wogen über die Wand zogen wie die Ähren, wenn der Sommerwind über ein Kornfeld weht.

Wie lange hatte sie dem Treiben der Pixels zugeschaut? Minuten? Stunden? Nach wieviel Zeit war der Mann mit dem sandgelben Namen – Pablo? Ja, Pablo –, nach wieviel Zeit war Pablo aufgetaucht und hatte die Pixels vertrieben?

Auch von ihm gab es Bilder. Das Yin-Yang-Tattoo auf der rechten Hinterbacke. Das krause Fell über dem Kreuzbein, das sich dunstblau anfühlte. Und wieder die Stimme, jetzt farbig, aber immer noch graphisch, ein später Vasarely.

»Normalerweise erinnern sich die Frauen, ob sie mit mir geschlafen haben«, sagte Pablo.

»Die Männer normalerweise bei mir auch.« Sonia hatte sich fertig angezogen. »Hast du meine Handtasche gesehen?«

»Wie sieht sie aus?«

»Wie eine E-Gitarre klingt.«

Das Taxi sah aus, als lebte der Fahrer darin. Und auch der Fahrer machte diesen Eindruck. Es stank nach abgestandenem Rauch und dem Big Mac, der zwischen Fahrer- und Beifahrersitz in der offenen Styroporschachtel lag und von dem er bei jedem Rotlicht ein Stück abbiß.

Sonia fingerte am Fensteröffner, aber die Scheibe reagierte nicht.

»Ist Ihnen heiß?«

»Nein.«

[13] »Gut. Ich friere nämlich.«

»Ich will nur verhindern, daß ich Ihnen das Polster vollkotze.«

Der Fahrer drückte auf einen Knopf, und die Scheibe neben Sonia glitt ins Innere der Türverkleidung.

Die kühle Luft eines schmutzigen Apriltages blies ihr ins Gesicht. Der Taxichauffeur schlug vorwurfsvoll den Kragen seines Lumbers hoch.

Erst kurz vor Sonias Fahrziel brach er sein Schweigen. Sie wurden von einem Polizisten angehalten und mußten warten, bis eine der drei Ambulanzen, die am Straßenrand parkten, weggefahren war.

Hinter einer Absperrung stand eine kleine Menschenmenge und starrte auf das Rambazamba, eine Bar mit Live-Volksmusik, deren Eingang nun von zwei Uniformierten bewacht wurde.

»Vielleicht hätten die einen andern Namen wählen sollen«, fand der Fahrer.

»Vielleicht«, antwortete Sonia. Dann wartete sie stumm, bis der Polizist sie durchwinkte.

Vor dem Haus, in dem sie wohnte, stand ein Kastenwagen. »Kohler«, stand auf der Seite, »Umzüge und Selbstumzüge«. Das »O« von »Kohler« war ein gelber Smiley. Auf dem Asphalt hinter der Ladefläche warteten ein paar schäbige Möbelstücke darauf, verstaut zu werden.

Alle Möbel sehen schäbig aus, wenn sie hinter einem Möbelwagen stehen, dachte Sonia. Als sie hier einzog, hatte sie gehofft, daß niemand aus ihrem Bekanntenkreis sie beobachtete. Das Risiko war allerdings klein gewesen. Die Leute, die Sonia kannten, mieden diese Gegend. Das war [14] einer der Gründe, weshalb sie hierher gezogen war, obwohl sie sich etwas Besseres hätte leisten können.

Sie bezahlte das Taxi und stieg aus. Der Fahrer hielt es nicht für nötig, ihr die Tür zu öffnen, obwohl sie ihm ein Trinkgeld gegeben hatte. So hielt sie es eben auch nicht für nötig, die Tür wieder zu schließen. Sie verstand nicht, was er ihr nachrief.

Im Treppenhaus mußte sie ein paar Stufen zurück, um zwei jüngere Männer mit einem roten Sofa durchzulassen. Den einen der beiden kannte sie vom Sehen. Wenn sie nicht so kaputt gewesen wäre, hätte sie »Ziehen Sie aus?« oder sonst etwas Geistreiches gesagt.

Als sie die Wohnung betrat, fing es bereits an zu dämmern. Wieder ein Tag vorbei, den sie gern aus der Erinnerung löschen würde. Aus dem Wohnzimmer drang das metallische Geräusch, das entstand, wenn Pavarotti in seinem Käfig herumturnte. Sie ging zu ihm und nahm das Tuch weg. »Entschuldige, Pavarotti, ich bin eine Schlampe.«

Sie gab ihm frisches Wasser und frisches Futter und klemmte einen neuen Hirsekolben zwischen die Stäbe. »Schlampe«, flötete sie, »sag Schlampe.«

Im Schlafzimmer brannte Licht, auf dem ungemachten Bett lagen die Kleider, die sie anprobiert und verworfen hatte, als sie sich gestern zum Ausgehen kleidete. Im Glas auf dem Schminktisch war noch ein Schluck des Champagners, mit dem sie sich in Partystimmung gebracht hatte.

Die Küche sah nicht viel besser aus als die, in der sie sich vor einer Stunde nackt wiedergefunden hatte. Im Kühlschrank fand sie eine Flasche mit einem Rest Mineralwasser, aus dem längst die Kohlensäure entwichen war.

[15] Sie zog sich aus und warf ihre Wäsche in den Korb im Bad. Im Waschbecken lagen ein paar Slips im Wasser. Die Seife des Handwaschmittels hatte sich auf dem schwarzen Material als weiße Schicht abgelagert. Wie Kreide auf dem Meeresgrund.

Sonia zog den Duschvorhang zurück, drehte an den Duschhahnen, bis die Temperatur stimmte, kletterte in die Sitzbadewanne, stellte sich unter den fast zu heißen Wasserstrahl und fing an zu heulen.

Ein langgezogener Schrei riß sie aus dem Schlaf. Sie stand auf, zog ihren Kimono an, ging zur Wohnungstür und öffnete sie einen Spalt weit. Vom Treppenhaus drang das untröstliche Weinen einer Frau herauf. Und ab und zu die barsche Stimme eines Mannes.

Sonia verriegelte die Tür wieder und ging ohne Zögern zum Telefon. Sie wählte den Notruf der Polizei. »Amboßstraße hundertelf, erster, zweiter oder dritter Stock, da braucht eine Frau Hilfe.«

Während sie am Fenster stand und auf den Streifenwagen wartete, kamen die Bilder.

Die zerberstende Scheibe neben der Türklinke.

Die Hand, die hereinfaßte.

Der noch blutleere tiefe Schnitt zwischen Daumen und Zeigefinger.

Die Hand, die nach dem Wohnungsschlüssel tastete.

Der Schnitt, der plötzlich blutete.

Die Speichelfäden in den Mundwinkeln, wie damals, als er bei der Beförderung zum Leiter Private Equity übergangen wurde.

[16] Das Blut. Überall das Blut von Frédérics Hand und ihrer Lippe.

Blut auf der frischen Dispersionsfarbe. Blut auf seinem weißen Hemd. Blut auf ihrem weißen Maler-Overall.

Immer wieder die drei Worte. Drei scharf geschliffene, stahlglänzende Dreiecke: Ich. Kill. Dich.

Das schneeweiße Trägerhemd auf der schwarzen Haut eines der Senegalesen vom vierten Stock.

Frédérics Blut auf dem Weiß dieses Hemdes, rund und rot wie auf der japanischen Flagge.

Die Offizierspistole aus Frédérics linker Schreibtischschublade.

Frédéric mit dem Gesicht zum Boden.

Die Handschelle am Gelenk seiner blutenden Hand.

Noch immer drang das Weinen vom Treppenhaus herauf. Weit hinten in der Amboßstraße pulsierte ein blaues Licht, kam näher und näher, bis sie den Streifenwagen sah. Ohne Sirene näherte er sich dem Haus, langsam wie die Eskorte eines Staatsbesuchs.

Zwei Uniformierte stiegen aus, blickten zur Fassade herauf und gingen auf die Tür zu.

Es klingelte. Sonia schrak zusammen, ging zur Gegensprechanlage und drückte auf. Sie öffnete die Tür und horchte ins Treppenhaus.

Schritte, Klingeln, Stimmen. Allmählich verstummte das Weinen. Jetzt klingelte es an ihrer Wohnungstür.

»Ja?« fragte sie durch die geschlossene Tür.

»Polizei. Haben Sie angerufen?« Die Stimme klang grob und ungehalten.

[17] Sonia öffnete. Beide Polizisten waren jung. Beide trugen Gürtel voller Waffen und Polizeiutensilien, die sie zwangen, die Arme leicht abzuwinkeln. Der Blonde sah freundlicher aus als der Brünette. Aber es war der Brünette, der sprach.

»Der Hund ist gestorben«, blaffte er, »und deshalb rufen Sie die Polizei?«

»Ich wußte doch nicht, weshalb die Frau weinte.«

»Und weshalb haben Sie nicht nachgeschaut?«

»Ich hatte Angst.«

»So, so, Angst.« Der Beamte schaute an Sonia vorbei in die Wohnung. »Sind Sie allein?«

»Wieso?«

»Ob Sie allein sind.«

»Ja, warum?«

Er gab keine Antwort, starrte sie nur an.

»Ich dachte, die Frau wird geschlagen.« Weshalb verteidigte sie sich überhaupt?

Der Blonde machte Anstalten zu gehen. Aber der andere war noch nicht fertig. »Nicht jede heulende Frau ist ein Fall von Gewalt gegen Frauen.«

»Ich werde es mir merken.« Sonia legte die Hand auf die Türklinke und schob die Tür ein wenig zu.

Der Polizist stellte einen Fuß gegen die Tür.

»Komm, Karli«, sagte der Blonde.

»Gleich. Haben Sie getrunken?«

»Wollen Sie mich verhaften wegen Schlafens in angetrunkenem Zustand?«

Der Freundliche verbiß sich ein Grinsen. Dem andern schoß das Blut in die Wangen. »Von solchen wie dir laß ich [18] mich nicht verarschen. Von solchen wie dir schon gar nicht. Mit solchen wie dir bin ich noch immer fertig geworden. Noch immer.«

»Komm, Karli.« Der blonde Polizist zupfte seinen Kollegen am Ärmel. Der blieb noch einen Augenblick stehen, unentschlossen, ob er eine wie die ungeschoren davonkommen lassen wollte. Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz um und ging auf die Treppe zu.

»Danke, daß Sie angerufen haben«, sagte der Blonde leise und folgte dem andern.

Sonia verriegelte die Tür. Es gab im Haus, soviel sie wußte, nur einen Hund. Einen fetten, kurzatmigen Köter mit kahlen Stellen, der vielleicht einmal ein Spitz gewesen war. Er gehörte einer Frau aus dem Balkan. Sie wohnte mit ihrem Mann im zweiten Stock, war ziemlich hübsch und viel zu jung für einen solchen Altweiberhund. Wer hätte geahnt, wie sehr sie an dem Tier hing.

Sonia kamen wieder die Tränen. Sie ging ins Bett und versuchte, sich in den Schlaf zu weinen.

Aber die Bilder mit Frédéric schoben sich wieder auf die Projektionsfläche vor ihrem Gesicht. Sie stand auf, ging ins Bad und spülte ein Rohypnol mit einem Zahnglas Hahnenwasser herunter.

Sie schlief bis zum nächsten Mittag. Tief und ohne Bilder.

Sonia trug ihren Puma Tracksuit aus der Zeit, als sie dreimal die Woche joggen wollte. Pavarotti schimpfte gegen den Lärm des Staubsaugers an. Im Korridor lagen zwei Berge Wäsche. Der eine für die chemische Reinigung, der andere [19] für die Waschmaschine. Schon dreimal war sie in der Waschküche gewesen, jedesmal waren beide Waschmaschinen belegt gewesen.

Sie trug Latexhandschuhe wie eine Chirurgin und ein Kopftuch wie eine Putzfrau in einem Film aus den sechziger Jahren. Sie ließ die Fugendüse langsam über die Stelle gleiten, wo die Fußleiste auf den Teppichboden traf. Jeden Krümel und jedes Stäubchen, das sich in den paar Monaten angesammelt hatte, seit sie diesen spießigen sandfarbenen Spannteppich verlegt und diese trostlose Fußleiste aus Kunstholz angebracht hatte, wollte sie aufsaugen und zuunterst in dem Müllcontainer im Hof versenken.

Über eine halbe Stunde widmete sie dem Teppichboden von knapp zwölf Quadratmetern. Dann schaltete sie den Staubsauger aus und trug den Wäschekorb in den Keller.

In der Waschküche brannte Licht. Eine Frau kauerte vor einer der Waschmaschinen und schaufelte eine Trommel Wäsche in einen türkisfarbenen Plastikkorb. Ihr kurzes Top war hochgerutscht, und über die nackte Stelle zwischen Hose und Oberteil verliefen zwei diagonale blaue Striemen.

Sie rappelte sich hoch, sah sich um und fuhr zusammen. Es war die Frau aus dem zweiten Stock. Man sah ihr immer noch an, daß sie geweint hatte.

»Tut mir leid wegen dem Hund«, sagte Sonia.

»War schon alt.« Sie nahm den Wäschekorb. »Maschine frei.«

Sie standen sich einen Moment gegenüber, jede mit ihrem Korb voller Wäsche. »Alles okay?« fragte Sonia.

»Alles okay«, antwortete die Frau.

Sonia ging zur Seite und ließ sie durch.

[20] Auf dem Weg zurück in die Wohnung leerte sie den Briefkasten. Er enthielt die Zeitungen der letzten zwei Tage und einen Brief. Als Absender trug er ein diskretes B&Z auf der Rückseite. Sonia kannte die Initialen: Baumann & Zeller, Frédérics Anwälte. Sie warf ihn ungeöffnet zu den Papieren auf dem Küchentisch und setzte den Frühlingsputz fort.

Sie entfernte die schwarzen Lederkissen ihres verhaßten Corbusier-Sofas – alle hatten Corbusier-Sofas – und legte sie auf den Boden. Dann saugte sie Gestell und Polster mit der Polsterdüse, bis die Stäubchen, Fussel, Flusen, Fädchen und Erinnerungen an die Besucher der letzten Monate restlos entfernt waren.

Danach machte sie sich einen Gin Tonic ohne Gin, zog frische Chirurgenhandschuhe an und holte den Brief. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, holte Gin und schüttete einen Schuß ins Tonic. Als sie einen Schluck nahm, merkte sie, daß ihre Hände zitterten.

Sie durchwühlte den Müllsack unter dem Spülbecken und fand das Päckchen Zigaretten, das sie vor ein paar Stunden angewidert weggeschmissen hatte. Streichhölzer fand sie keine. Sie drückte auf den Zündknopf des Gasherds und steckte sich die Zigarette an der Gasflamme an. Dann stellte sie sich ans offene Fenster und rauchte.

Ein kalter Ostwind trieb graubraune Wolken vor sich her. Manchmal machten sie Platz für ein paar Sonnenstrahlen, die die Straße für ein paar Augenblicke in ein grelles Bühnenlicht tauchten. Die Passanten, die mißmutig ihren Geschäften nachgingen, schauten dann verwundert in den Himmel und hielten eine Hand vor die Augen, als wollten sie ihr Inkognito wahren.

[21] Der Brief enthielt die Aufforderung, ein Gesuch um die vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen ihren geschiedenen Ehemann Dr. Frédéric Forster zu unterschreiben, und ein paar neue Begründungen, weshalb dies unumgänglich sei. Das wußte sie, ohne den Brief zu öffnen. Sie würde ihn unbeantwortet lassen und damit die Freilassung von Frédéric weiter verzögern.

Aber eines Tages würde er auf freiem Fuß sein. Das war ein Gedanke, an den sie sich schon lange gewöhnt hatte. Nur was sie dann tun würde, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Mit der Zukunft hatte sie sich in ihrem früheren Leben bis zum Überdruß befaßt.

In den Winterferien planten sie die Sommerferien. Beim Abendessen das Menü für den nächsten Abend. Beim Wohnungskauf den Hauskauf für dann, wenn Kinder da waren. Als keine Kinder kamen, die In-vitro-Behandlung. Während der In-vitro-Behandlung die Adoptions-Szenarien. Bei der Beförderungsfeier den nächsten Karriereschritt. Beim Umzug nach London den Umzug nach New York. Beim Schlafengehen das Aufstehen. Beim Anziehen das Ausziehen. Über der Zukunft war in ihrem früheren Leben die Gegenwart in Vergessenheit geraten.

Der Müllwagen fuhr vor. Zwei Männer in orangefarbenen Overalls sprangen ab, verschwanden im Hofeingang, schoben einen Container heraus und schauten zu, wie er von der Hydraulik hochgehoben und in den Laderaum gekippt wurde. Sonia mußte an den toten Spitz denken. Vielleicht befand er sich in einem der Müllsäcke, die mit lautem Dröhnen zusammengepreßt wurden. Gemeinsam mit ihren Staubsaugerbeuteln voller schlechter Erinnerungen.

[22] Sie schloß das Fenster. Der Wellensittich beäugte sie durch seinen kleinen Spiegel. »Am besten, wir verschwinden von hier, Pavarotti.«

Der Vogel öffnete den Schnabel, zeigte seine klobige Zunge und begann, an seiner Sitzstange zu nagen.

Kurz vor Mitternacht sah die Wohnung aus, als hätte noch nie jemand darin gewohnt. Die Kleider waren in der Reinigung, die Wäsche lag wieder im Schrank, Bad und Küche rochen nach Putzmittel, das Wohnzimmer nach Teppichschaum und das Schlafzimmer nach frischer Bettwäsche. Sonia war geduscht, ihr schwarzes Haar gefönt, sie hatte den grünen chinesischen Seidenpyjama angezogen, den sie sonst nur zur Grippe trug.

Besser ging es ihr trotzdem nicht. Zum Gefühl der Unwirklichkeit, das von der letzten Nacht zurückgeblieben war, und zum täglich wachsenden Widerwillen gegen sich selbst, sprang sie wieder die Angst an, die ihr seit jenem Tag im Dezember auflauerte.

Sonia ging in die Küche und machte sich einen Pfefferminztee. Während sie darauf wartete, daß er sich etwas abkühlte, blätterte sie die Zeitung durch.

Im Rambazamba hatte ein Gast auf den Barman und einen Gast geschossen. Er hätte ihn dreimal vergebens gerufen, während der Barman mit dem Gast gesprochen habe, gab der Täter als Grund an. Der Barman war lebensgefährlich verletzt, der Gast war tot.

Bei den Stellenangeboten fiel ihr ein Inserat auf. Sie riß es heraus für den Fall, daß sie morgen immer noch entschlossen war, ihr Leben zu ändern.

[23] Die Frau, die die Tür öffnete, gehörte zu den Menschen, die Gespräche verstummen lassen, wenn sie einen Raum betreten. Sie war höchstens Mitte Zwanzig.

»Verzeihen Sie«, sagte Sonia, »ich wollte zu…«

»Barbara Peters?«

Sonia nickte.

»Ich bin Barbara Peters. Und Sie sind Frau Frey?« Sie gab ihr die Hand. »Kommen Sie herein.«

Sie betrat die Junior Suite Nummer sechshundertfünf. Ein großes Zimmer mit Queen-Size-Bett, einer Sitzgruppe und einem Schreibtisch. Internationale Viersterne-Norm, wie Sonia sie aus ihrem früheren Leben kannte.

Barbara Peters bot Sonia einen Sessel an. »Ich habe mir eine Physiotherapeutin anders vorgestellt.«

»Ich mir eine Hotelbesitzerin auch.«

Die junge Frau lachte und sah noch schöner aus. »Wer fängt an?«

»Womit?«

»Mit den Fragen.«

»Normalerweise der Arbeitgeber.«

»Also: Welchen Beruf haben Sie ausgeübt in den sechs Jahren seit Ihrem letzten Arbeitszeugnis?«

»Ich war verheiratet.«

»Das ist doch kein Beruf.«

»So, wie mein Mann ihn verstand, schon.«

»Was ist Ihr Mann?«

»Banker. War.«

»Nicht mehr?«

»Nicht mehr mein Mann.«

»Verstehe. Geht mich ja auch nichts an.«

[24] »Nein.«

Einen winzigen Augenblick war Barbara Peters etwas irritiert. Dann lächelte sie. »Und jetzt möchten Sie wieder einsteigen.«

»Ich trage mich mit dem Gedanken.«

»Sie müssen nicht?«

»Sie meinen materiell?«

»Ja.«

Sonia überlegte. »Materiell nicht, aber sonst schon.«

Barbara Peters zögerte kurz vor der nächsten Frage. »Haben Sie sich in den sechs Jahren weitergebildet?«

»Sie meinen, ob ich fachlich noch à jour bin?«

»Ja.«

»Sind wir jetzt beim finanziellen Teil?«

»Ja.«

»Für eine Universitätsklinik vielleicht nicht.«

»Aber für ein Wellness-Hotel schon?«

»Genau.«

Barbara Peters zeigte wieder ihr bezauberndes Lächeln. »Jetzt Sie.«

»Haben Sie Fotos?«

Frau Peters stand auf, ging zum Schreibtisch und kam mit einer Zeichenmappe zurück. Sie enthielt verschiedene Layouts für einen Hotelprospekt. Alle zeigten auf der Titelseite das Bild eines schloßartigen Gebäudes mit zwei Türmen aus Naturstein, die eine komplizierte Dachstruktur aus steilen Giebeln, hohen Kaminen und gezackten Zinnen überragten. Die Fassaden waren unterbrochen von gotischen Fenstern, verspielten Erkern, Schießscharten und schwindelerregenden Balkonen. Das Ganze sah aus, als sei [25] es die Ausführung einer Zeichnung, die ein von einer Kinderkrankheit genesender Knabe vor hundert Jahren im Bett geschaffen hatte.

Das Eigenartigste war eine Konstruktion aus Stahl und Glas, die in die linke Flanke des Bauwerks verkeilt war. Als wäre das Schloß mit einem Raumfahrzeug kollidiert.

»Hotel Gamander«, sagte Barbara Peters, halb stolz, halb amüsiert.

»Geerbt?« Sonia fiel keine bessere Reaktion ein.

»Gekauft. Gekauft und renoviert und erweitert.«

Am liebsten hätte Sonia gefragt: Warum? Wenn sie genug Geld hätte, ein Hotel zu kaufen, wüßte sie tausend Dinge, die sie tun würde. Hotel kaufen war nicht darunter.

Aber sie fragte: »Der neue Teil ist der Wellness-Bereich?«

»Sportbad, Thermalbad, römisch-irischer Zyklus, Sauna, Whirlpool, Fitness, Massagen, Solarien. Und was Ihnen sonst noch einfällt.«

»Fango.«

»Fango.«

Sonia nahm eines der Layouts in die Hand und blätterte darin. Mehr aus Verlegenheit als aus Interesse.

»Welchen finden Sie am besten?«

»Sie meinen von den Prospektentwürfen?«

Barbara Peters nickte.

»Ehrlich gesagt: keinen.«

»Sie haben die Stelle«, lachte die junge Hotelbesitzerin.

Eine Viertelstunde lang besprachen sie die Konditionen. Eigentlich waren sie sich einig, als Sonia sagte: »Ich habe einen Wellensittich, ist das ein Problem?«

[26] »Ich hasse Vögel.« Barbara Peters sah nicht aus, als scherze sie.

Sonia seufzte und stand auf. »Schade. Der Vogel ist nicht verhandelbar.«

Barbara Peters zögerte. »Macht er Krach?«

»Nur beim Staubsaugen.«

»Und Sie halten ihn im Zimmer?«

»Klar.«

»Haben Wellensittiche nicht diese ansteckende Papageienkrankheit?«

»Die haben Tauben auch.«

»Tauben hasse ich auch.«

»Wie gesagt: Pavarotti ist nicht verhandelbar.«

»Pavarotti? So laut?«

»So dick.«

Sonias neue Chefin lachte. »Dann nehmen Sie den Scheißvogel halt mit.«

Wenig hätte gefehlt, und Pavarotti hätte den Lauf der Dinge verändert.

Drei Uhr nachmittags und fast schon Abend. Ein rußgrauer Himmel lastete schwer auf der Stadt und ließ eine Mischung aus Regen und Schnee auf die wettergeplagten Passanten nieseln. Der April war seinem Ruf als wechselhafter Monat nicht gerecht geworden: Bis heute war er beständig gewesen. Beständig schlecht.

Sonia kaufte einem entmutigten Mann aus einem Land mit mehr Sonne eine Arbeitslosenzeitschrift ab, bestimmt die fünfte oder sechste dieser Ausgabe, die sie erwarb, und betrat das Warenhaus. Sie war fast die einzige Kundin, [27] die durch die glitzernde Parfümerieabteilung ging, vorbei an den festlich geschminkten Verkäuferinnen. Auch sie nicht viel zuversichtlicher als der Arbeitslose vor dem Eingang.

Sonia war am thailändischen Imbiß in der Lebensmittelabteilung mit Malu verabredet. Am Nachmittag seien da kaum Leute, und man könne sich ungestört unterhalten. Sonia vermutete, Ort und Zeitpunkt dieser Verabredung hätten mehr mit dem Tagesablauf ihrer Freundin zu tun und deren momentaner finanzieller Lage.

Als Sonia auf den Imbiß zusteuerte, sah sie von weitem, daß Malu schon da war.

Malu war eine große, laute Blondine mit einer Vorliebe für Rosa und Violett. Sie war die einzige Person aus Sonias früherem Leben, mit der sie noch Kontakt hatte. Malu hieß eigentlich Vreni und hatte das Kunststück fertiggebracht, hintereinander mit drei verschiedenen Männern aus Frédérics Bekanntenkreis liiert gewesen zu sein, ohne aus diesen Kreisen ausgeschlossen zu werden. Dafür hatte Sonia sie immer bewundert. Nicht, daß sie auch nur die geringste Lust gehabt hätte, es ihr gleichzutun, einer von der Sorte hatte ihr vollauf genügt. Aber daß Malu es schaffte, sich einen Dreck um die Konventionen dieser Leute zu kümmern und trotzdem von ihnen akzeptiert zu werden, verdiente Sonias Hochachtung.

Malu war auch die einzige, die sie nicht wie einen Paria behandelte, nachdem sie sich von Frédéric abgesetzt hatte. Sie trafen sich nach wie vor zum Mittagessen, und sie war es auch gewesen, die Sonia in das Clubleben der Stadt eingeführt hatte. Malu war immer der Meinung gewesen, eine [28] Frau sollte ein Privatleben haben, besonders, wenn sie in festen Händen war.

So war es denn auch Malu, die als erste von Sonias Plänen erfuhr. Sie billigte Sonias Entscheidung nicht. »Keinen Fußbreit, erinnerst du dich?«

»Ich weiche nicht, ich will nur mein Leben ändern. Das hier tut mir nicht gut.« Sonia erzählte ihr von ihrem LSD-Trip.

»Du hast Farben gerochen und Stimmen gesehen? Und beklagst dich? Gib mir die Adresse von dem Typen.«

»Es war kein gutes Erlebnis.«

»Deswegen mußt du doch nicht gleich in der Versenkung verschwinden.«

»Es ist das Gegenteil von Versenkung. Ich gehe in die Höhe. Berge, Höhenluft, Sonne und den ganzen Tag Wellness.«

»Wellness für die andern, du knetest die Hängeärsche.«

»Ich bin Physiotherapeutin, nicht Masseuse.«

»Sonia, tu ihm den Gefallen nicht. Laß dich nicht vertreiben.«

»Erst wenn ich weg bin, glaubt er, daß ich nicht zu ihm zurückkomme.«

»Du hast keine Ahnung von Männern. Er will dich nicht zurückhaben. Er will nur derjenige sein, der Schluß macht. Glaub einer alten Frau.« Malu bezeichnete sich als alte Frau, seit sie ihren vierzigsten Geburtstag nicht gefeiert hatte. Vor einem halben Jahr.

»Mir ist lieber, ich bin nicht in der Nähe, wenn sie ihn rauslassen.«

»So bald lassen sie den nicht raus.«

[29] »Sie dürfen ihn nicht länger behalten, als seine Strafe dauern würde.«

»Der Mann ist geisteskrank. Eine Gefahr für die Gesellschaft.«

»Nur für einen winzigen Teil der Gesellschaft. Mich.«

Eine junge Thailänderin in einer Seidenbluse mit Stehkragen brachte Sonias Tom Yang Gung. Sie beugte sich über die Schale und sog den Duft ein. Er roch rotgelb und fühlte sich an wie eine spitz zulaufende Spirale.

»Ist was mit der Suppe?« fragte Malu besorgt. Sie hatte sie empfohlen, aber für sich selbst Saté-Spießchen bestellt.

»Nein, sie riecht wunderbar.« Sonia tauchte den Porzellanlöffel ein, ließ ihn etwas abkühlen und versuchte. Es war, als schlürfte sie eine brennende Wunderkerze. Silberne Funken füllten ihre Mundhöhle und verglühten auf ihrer Zunge. Tränen schossen ihr in die Augen.

»So scharf?« erkundigte sich Malu.

Sonia nickte. Langsam und konzentriert löffelte sie die Suppe aus. Aber die Tränen flossen weiter.

»Immer noch die Suppe?«

»Immer noch das Leben«, antwortete Sonia.

»Vielleicht hast du recht. Vielleicht solltest du von hier weg.«

Später, beim Abschied, fragte Malu: »Und was hast du mit der Wohnung vor?«

Am gleichen Abend rief Frédéric an. Sie wußte, daß er es war, bevor er ein Wort gesagt hatte. Sie hielt den Hörer ans Ohr, sagte »ja« und wartete.

Sie hörte einen Atemzug und sah gleichzeitig eine [30] verschwommene Kontur aus einem sonderbaren Kobaltgrün. »Was willst du, Frédéric?«

Als er zu sprechen begann, wurde die Kontur schärfer.

»Ich muß mit dir reden.«

»Ich nicht.« Sonia beendete das Gespräch. Das Kobaltgrün löste sich auf, als hätte es jemand mit klarem Wasser vermischt.

Aber das Herzklopfen blieb. Sie nahm es mit in den Korridor, in die Küche, ins Bad und legte sich schließlich damit aufs Bett. Sie versuchte, sich auf andere Geräusche zu konzentrieren: das Rauschen des Abflußrohrs im Bad, das Ticken des Heizkörpers, die Schritte aus der Wohnung über ihr, das Klimpern aus Pavarottis Käfig. Ihr Herz beruhigte sich nicht, aber sein Pochen trat etwas in den Hintergrund.

Was war das gewesen, dieser kobaltgrüne Schatten? Er gehörte zu Frédéric, kein Zweifel. Aber warum hatte sie ihn durchs Telefon gesehen?

Nein, sie hatte den kobaltgrünen Schatten nicht gesehen. Sie hatte ihn gehört.

Sonia stand vom Bett auf und ging in die Küche. Im Korridor fiel ihr Blick auf die Stelle an der Wand, zum ersten Mal seit langem. Der Fertiggips, mit dem das Einschlagloch zugespachtelt war, hatte beim Eintrocknen eine Delle hinterlassen.

Sie öffnete einen der beiden sizilianischen Weine, die sie sich für eine besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Bei Wein mußte sie sich wenigstens nicht beunruhigen, wenn er rot roch und rund schmeckte.

[31] 2

Pavarotti saß in einem Transportkäfig, welcher – mit einem Frottiertuch umwickelt – in einer kleinen Louis-Vuitton-Reisetasche steckte. Sie hatte sie einst von Frédéric geschenkt bekommen und nie benutzt. Sonia fand Louis-Vuitton-Taschen vulgär, aber für Tiertransporte gerade noch akzeptabel.

Sie saß allein in einem Viererabteil, hatte die Tasche neben sich gestellt und die Sitzbank gegenüber mit ihrer Handtasche und ihrer Reiselektüre belegt. So hoffte sie, Mitreisende davon abzuhalten, sich zu ihr zu setzen. Noch gut vier Minuten mußte sie durchstehen, bis der Zug den Bahnhof Chur verlassen würde.

Sie blickte durch das Muster aus Wasserläufen hindurch auf den Bahnsteig. Ein dicklicher Halbwüchsiger warf eine Münze in einen Automaten voller Junk-Food und drückte eine Zahlenkombination. Nichts geschah. Er drückte noch einmal. Wieder geschah nichts. Jetzt drückte er auf die Geldrückgabetaste. Nichts.

Er schaute sich um und begegnete Sonias Blick. Sie hob die Schultern.

Der Junge schlug auf die Armatur des Automaten. Erst sachte, dann immer wütender.

Bestimmt sabotiert durch das Bundesamt für [32] Gesundheit, dachte Sonia und mußte lächeln. Seit heute morgen, als sie Malu die Schlüssel ihrer Wohnung übergeben hatte, war sie guter Laune. Es war, als hätte sie eine schwere Last abgeworfen.

Sie begann ein neues Leben mit leichtem Gepäck. Außer Malu wußte niemand, wo sie hingegangen war. Und auch ihre neue Handynummer kannte sonst niemand.

Malu nahm die Wohnung mit allen Möbeln, denn sie wollte nicht einziehen, sie brauchte sie nur, um, wie sie sich ausdrückte, »ein wenig Spielraum in die enge Beziehung mit Alfred zu bringen«. Am Ende der Sommersaison wollte sie sie wieder für Sonia freigeben.

Aber Sonia wußte, daß sie nie mehr in diese triste Straße zurückkehren würde. Nie mehr das muffige Treppenhaus hinaufsteigen. Nie mehr den Schlüssel in das neue Sicherheitsschloß der zweckmäßig reparierten Tür stecken. Nie mehr in der billigen Einbauküche Fertiggerichte wärmen. Nie mehr die fremden Küchengerüche aus der Badezimmerlüftung. Nie mehr der Lärm von Haß und Liebe aus den Nachbarwohnungen. Nie mehr mitten in der Nacht ein Taxi rufen, nur um die Tristesse ihrer Wohnung mit der Melancholie einer Lounge zu tauschen.

Der Zugführer ließ einen langen, klagenden Pfiff ertönen. Der Jugendliche versetzte dem Automaten einen letzten Fußtritt und sprang auf. Mit einem Ruck fuhr der Zug an.

Sonia vertiefte sich in ihr Handbuch für Balneologie, um falls nötig den Blickkontakt mit einem platzsuchenden Passagier zu vermeiden. Aber niemand kam, außer dem Schaffner. Er kontrollierte ihre Fahrkarte und wünschte eine gute Fahrt.

[33] Nach wenigen Minuten hatte die Bahn die Peripherie der kleinen Stadt erreicht. Sonia sah freudlose Wohnsiedlungen, auf deren Fassaden der Regen seine Spuren hinterlassen hatte, und häßliche Industriebauten kleiner Firmen, deren unbeholfene Schriftzüge aufdringlich leuchteten in der düsteren Regenlandschaft. Sonia wandte sich ihrem Buch zu.

»Ist hier noch frei?«

Sonia sah widerwillig auf. Eine alte Frau in einer gelben Regenhaut stand neben dem Abteil und blickte vorwurfsvoll auf die belegte Sitzbank. Sonia räumte wortlos ihre Sachen weg. Die Frau zog ihre Regenhaut aus. Darunter war sie ebenfalls gelb gekleidet. Eine Hose mit einem von Gelb dominierten Schottenmuster. Ein Twinset aus Jäckchen und Pullover aus gelber, fleckiger Kaschmirwolle. Einen gelben Schal mit einem zarten Blumenmuster. Auch ihre Haare waren gelb. Nur die Augen waren grün und von einem Lidstrich in ähnlicher Farbe eingefaßt. Ihre Lippen waren chinarot geschminkt.

Sonia konzentrierte sich wieder auf ihr Buch. Sie spürte, daß die Frau sie anstarrte. Aber Sonia heftete ihren Blick fest auf das Handbuch der Balneologie. Sie hatte keine Lust auf eine Reisekonversation.

Ausgerechnet jetzt begann Pavarotti zu schimpfen. Sonia versuchte, es zu ignorieren. Bis die Frau sagte: »Ihre Wellis brauchen Luft.«

Sonia spähte durch den halb geöffneten Reißverschluß in das Innere der Tasche. Sie fühlte sich bemüßigt zu sagen: »Er hat genug Luft.«

Die Frau schwieg einen Moment. Dann fragte sie: »Hat er keinen Spielgefährten?«

[34] »Nein, er ist Single.«

»Einzelhaft. Ich nenne es Einzelhaft. Wellis sind Schwarmtiere.«

»Pavarotti haßt Wellensittiche.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Er hatte schon zwei Spielgefährten. Beide hat er totgehackt.«

»Totgehackt?« stieß die gelbe Frau ungläubig aus. »Dann ist das Tier fehlgeprägt.«

»Er ist nur lieber allein. Soll vorkommen.«

»Ich hoffe, er hat wenigstens einen Spiegel.«

»Auch darauf hackt er ein.«

»Naturäste. Keine gedrechselten Holz- oder Plastikstangen. Davon bekommt er Ballengeschwüre.«

»Er sitzt auf einem Buchenzweig aus biologischer Bodenhaltung.«

»Machen Sie sich nur lustig.«

Der rote Zug fuhr durch eine enge Schlucht. Tannen mit regenschweren Ästen säumten die Strecke. Zuweilen stach das zarte Grün einer Lärche heraus. Der alte Wagen zweiter Klasse rumpelte über die Schienen. Sonia mußte den Zeigefinger benutzen, um den Zeilen ihres Buches zu folgen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die alte Frau. Die starrte auf die Tasche, als versuchte sie, telepathischen Kontakt mit Pavarotti aufzunehmen.

Ihre Hände hatte sie auf die Knie gelegt. Sie waren ungewöhnlich groß und ungeschlacht. Die Fingernägel trugen das gleiche Chinarot wie ihre Lippen und wölbten sich über die Nagelbetten wie lackierte Nußschalen.

Sonia begannen diese Hände unheimlich zu werden. Sie [35] blickte auf. Die Gelbe schaute ihr direkt in die Augen. »Ich habe mein ganzes Leben lang schwer gearbeitet«, sagte sie, wie um ihre Hände zu rechtfertigen.

Sonia wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.