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Die letzte Freiheit

VOM
RECHT, SEIN
ENDE
SELBST ZU
BESTIMMEN

DER
WEG

Der Himmel war blau, und die Welt war, wie sie sein sollte. Wir waren früh aufgestanden, wir hatten einen Kaffee in der Bar am Marktplatz getrunken, wir hatten ein paar Flaschen Wasser gekauft und Schinken und Käse und ein wenig Brot, wir waren durch die kühlen Gassen der Stadt gelaufen, die so ruhig war und alt, Volterra, und als wir aus dem Stadttor traten, da umfing uns das Grün der Toskana mit all ihrer strengen Heiterkeit.

»Hier lang«, sagte Max, nennen wir ihn Max.

»Ich glaube nicht. Ich glaube, es geht hier lang«, sagte ich und war ziemlich sicher.

»Wenn ich etwas weiß, dann, wie man eine Karte liest«, sagte Max, der sich irrte.

»Aber schau doch«, sagte ich, »hier ist Süden, dort sind die Hügel, die wir gestern Abend gesehen haben, und wenn wir nach San Gimignano wollen, dann müssen wir Richtung Osten, also müssen wir da entlang.«

Wir gingen ein wenig den Weg weiter, den ich vorgeschlagen hatte, an einer Tankstelle vorbei und auf ein paar Häuser zu, die sich um eine Kurve schmiegten, und schließlich fragte Max, der Italienisch spricht, einen alten Mann, der uns auf der Straße entgegenkam. Er nickte und deutete in Richtung Osten.

Und als wir schließlich abbogen auf die kleine Seitenstraße, die uns durch Obstgärten und Olivenhaine in Richtung San Gimignano bringen sollte, blieb Max stehen und schaute sich das alles an, das hundertfache Grün, die Bäume in ihrer stillen Bestimmung, die Hügel in ihrem Schwung, den Himmel, die Schönheit, Italien, er fuhr sich durch die Haare und lauschte in die eigene Ruhe und sagte dann: »So muss es doch sein.«

TAUSENDE
VON
KLEINEN
STERNEN

Max hatte mich ein paar Tage zuvor angerufen. Wir hatten eine Weile nicht miteinander gesprochen. Wir hatten uns etwas voneinander entfernt, obwohl er mir immer nah war. Ich weiß nicht, ob wir wirklich je enge Freunde waren, auch wenn wir uns das vielleicht gewünscht hätten. Aber wir hatten immer viel über Freundschaft gesprochen.

»Mir geht es schlecht«, hatte Max am Telefon gesagt, »mir geht es richtig schlecht.«

Er hatte das schon öfter gesagt, es war die Art von Offenbarung, die erfolgreiche Menschen ab und zu gern machen, so scheint es mir, auch weil sie den Schmerz und den Schock genießen, der diese Nachricht anrichtet: bei ihnen selbst und bei denen, die sie damit überraschen.

Denn Stärke war das, was Max ausmachte, Stärke und Selbstvertrauen und eine Souveränität, die manche nicht zu Unrecht für Arroganz hielten, was ihn nicht störte, sondern eher freute und antrieb; es war gut, von anderen nicht gemocht zu werden, das gab einem Sinn und Form in der Ablehnung.

Es war aber auch anstrengend auf Dauer. Vor allem, wenn man nicht so hart ist, wie die anderen denken. Wenn man hart ist, weil das eine Rolle ist, die man sich selbst gibt oder die einem andere geben. Man hält das eine Weile durch, dann bricht etwas, und man spürt ihn erst sehr viel später, diesen Riss, der durch einen hindurchgeht.

Etwas war anders dieses Mal. Er habe es lange nicht gemerkt, wie schlecht es ihm gehe, sagte Max, er habe verdrängt, wie abhängig er sei von den Tabletten, die er nehme, gegen seine Angst, zum Funktionieren, für den Job. Er habe oft geweint, auf dem Weg zur Arbeit, er habe sich Zeit gelassen auf dem Weg nach Hause, sehr viel Zeit, er halte den Druck nicht mehr aus, den die Firma auf ihn ausübe, er müsse sparen in seiner Abteilung, er müsse umgestalten, er müsse den Hass der Leute ertragen, die er entlässt, und wolle das Vertrauen derer nicht enttäuschen, die von ihm abhängen.

Es seien nur seine Kinder, sagte er schließlich, die ihn im Leben gehalten hätten.

Wenn wir gehen, fällt etwas ab von uns, es bleibt etwas zurück, das sich mit jeder Bewegung weiter entfernt, das Alte, das Vertraute, die Trauer, und wir kommen an, im Neuen, im Moment, mit jedem Schritt.

Es ist eine Reduktion in der Weite, es ist der Rhythmus, eine Ordnung, eine Bestimmung. Der Atem, der Körper, die ungewohnte Bewegung, eine Konzentration darauf, wie sich dieser Körper durch eine Landschaft bewegt, die etwas auslöst, eine Klarheit, weil es eine alte Art ist, sich zu bewegen, zu Fuß, mit einem Plan: Wie kommen wir von hier nach dort?

Das ist das Wesen der Karte. Sie reduziert die Möglichkeiten, indem sie alles zeigt. Sie schafft eine Ordnung, die artifiziell ist, weil es nicht die Ordnung des Alltags ist, es ist nicht die Routine der Handgriffe und Gedanken, es ist die Frage danach, wo die richtige Abzweigung ist und was hinter der nächsten Kurve kommt. Mehr gibt es nicht in diesem Moment, das ist alles, was zählt. Von A nach B. Der Rest löst sich auf, eins, zwei, eins, zwei, linker Fuß, rechter Fuß, der stete Atem. Die Welt fällt weg, indem sie entsteht. Wir sind hier, das ist der einzige Sinn in diesem Augenblick, das ist die einzige Realität. Der Atem geht ruhiger, die Gedanken gewinnen Weite.

Vor uns öffnete sich der Blick auf einen Berg, der wie vergessen in der Landschaft stand. »Stendhal«, hatte Max am Morgen vor der Wanderung gesagt, »ist diesen Weg auch einmal gegangen, vor ziemlich genau 200 Jahren.«

200 Jahre. Die Zeit fließt durch einen hindurch, auf so einem Weg, die Zeit, die man braucht, die Zeit, die andere brauchten, die Zeit, die alles ausmacht. Auch die Zeit löst sich auf, indem sie entsteht. Je kürzer die Momente, desto länger dauern sie. Minute um Minute, Schritt für Schritt. Max mochte das, Max verstand das, die herrliche Reduktion.

Es schien ihm zu helfen. Etwas öffnete sich. Er, der immer so viele Ideen hatte, der alles las und vieles wusste, sprach davon, dass er keinen Sinn mehr sehe, dass er nicht wisse, warum er das alles noch dreißig oder vierzig Jahre machen solle, »das ist doch Scheiße, ich kann nicht mehr, ich weiß nichts«, sagte er, der so vieles kann, und die Landschaft nahm auch diesen Kummer gelassen hin.

»Die Liebe«, schrieb Stendhal in »De l’Amour« für die Frau, die er immer lieben sollte, obwohl er sie nicht haben konnte, »ist wie die Milchstraße, ein heller Strahl, der aus Tausenden von kleinen Sternen besteht, von denen jeder einzelne oft wie ein kleiner Nebel ist.«

Aber wenn man das nicht mehr sieht, die einzelnen Sterne, dann sieht man auch die Milchstraße nicht mehr. Dann sieht man nur noch den Nebel. Dann sieht man nichts. Erst kommt der Weltverlust, dann kommt der Ichverlust.

»Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll«, schreibt Georg Büchner in »Leonce und Lena«, »aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an.«

Es ist, als habe Büchner diesen Text für Max geschrieben, jedenfalls für den Max, der nicht mehr wollte, weil er alles gesehen hatte, der sich leer fühlte und wertlos, der nicht mehr wusste, wo vorne war und wo hinten, und der seinen Sinn für Zeit, Orientierung, Ordnung verloren hatte.

Max ist Ende dreißig. Er hat kleine Kinder, er ist verheiratet. Seine Geschichte ist in vielem eine ganz normale Geschichte. Es ist die Geschichte einer Überforderung, wie sie heute, so oder so ähnlich, dauernd vorkommt: Ein guter Vater, eine gute Karriere, eine gute Ehe, Freunde, Reisen, das richtige Sakko, das richtige Auto, ein Haus bauen, eine Wohnung kaufen, die Finanzierung selbst finden, die Flüge selbst buchen, sein Leben selbst navigieren, und alles gleichzeitig, alles in einem Alter, in dem die Kinder früher längst aus dem Haus oder auf dem Internat waren und heute gerade mal zwei, drei oder vier Jahre alt sind, und natürlich steht der Vater nachts auf, um sie zu wickeln, selbst wenn er erst um eins und leicht betrunken von den drei Gin Tonic von der Vernissage nach Hause gekommen ist.

Und weil es manchmal leichter ist, die Welt für das verantwortlich zu machen, was geschieht, als sich selbst genau anzuschauen, folgt aus der Krise, die dieses Leben unweigerlich erleidet, der Versuch einer Erklärung, die scheitern muss. Denn das Leiden ist zu alltäglich. Das macht es nicht einfacher. Der Grund aber dafür ist dann auch im Alltag zu suchen. Das Problem ist die Normalität.

War es also eine Depression, an der Max litt, eine Depression, die aus der Überforderung entsteht, weil er dauernd mit Aufgaben und Entscheidungen konfrontiert war, die ihn in die Enge trieben, weil er alles gleichzeitig sein wollte, alles gleichzeitig tun wollte, weil er keine Grenzen mehr ziehen, keine Prioritäten setzen konnte, weil er ein Alleskönner auf dem Hochseil war und täglich sah, wie weit er abstürzen konnte?

Wenn man aber die Depression in diesem Sinn als eine Metapher für unsere Gegenwart oder für einen Kapitalismus nimmt, den man an vielen anderen Stellen besser und härter kritisieren könnte als an diesem einen Punkt des individuellen Leidens, dann gibt es ein Problem: Man schaut ungenau auf den Einzelfall und man schaut ungenau auf das Ganze. Das eine mag mit dem anderen zu tun haben, so wie jede Zeit ihre speziellen Pathologien produziert – aber das eine lässt sich nicht lösen, indem man das andere kritisiert. Weder ist es für Menschen wie Max eine Hilfe, wenn man die Schuld für seine Probleme in einem umfassenden Kapitalismus sucht. Noch ändert es etwas am Wesen dieses ausdifferenzierten Herrschaftssystems Kapitalismus, wenn man Mitleid für Max hat.

Im Gegenteil: Diese Kritik wirkt wie eine Art von gesellschaftlichem Placebo, die eher systemstabilisierend ist, weil sie von den eigentlichen Fragen ablenkt, die ökonomische sind, und sie auf die Ebene der persönlichen Probleme und der Psychologie reduziert.

Und was bedeutet dieser Gedankenschritt, der häufig gemacht wird, wenn bekannt wird, dass sich jemand tatsächlich umgebracht hat, der an Depressionen litt, Taten, die manchmal sogar in die Schlagzeilen geraten: Ein Fußballstar wie Robert Enke, der sich vor einen Zug stellte und dessen Tod zu großer Bestürzung führte, oder ein Pilot wie Andreas Lubitz, der 149 Passagiere mit in den Tod nahm und dessen Tat zu großer Wut und Verunsicherung führte – was bedeutet diese Beziehung von Depression und Selbstmord? Was bedeutet es für das Nachdenken über die Depression? Und was bedeutet es für das Nachdenken über den Selbstmord, der gar nicht so heißen sollte, denn wenn es kein Gesetz gibt, das den eigenen Tod verbietet, ist es auch kein Mord, weil das ja ein juristischer Terminus ist?

Es gibt die Depression, und es gibt Menschen, die nicht mehr können und sich das Leben nehmen, nicht weil sie frei sind, sondern weil sie unfrei sind. Es geht nicht anders, oft haben sie lange gekämpft, aber die Krankheit war stärker. Es gibt aber auch die Menschen, die nicht an dieser Krankheit leiden und sich umbringen, aus all den Gründen, die so zahlreich sind wie die Kieselsteine am Meer. Wie soll man auf deren Entscheidung reagieren? Sieht die Gesellschaft darin eine Bedrohung oder eine Offenheit, die sie erst einmal ertragen muss?

Anders gesagt: Was bedeutet es für das Leben, wenn es vom Ende her gedacht wird? Nicht als eine Chance, eine Möglichkeit, ein Feld der Freiheit – sondern nur als Gefahr, als Problem, als etwas Illegales, was dort droht, wo ein Mensch sich entschließt, sein Leben und sein Sterben in die eigene Hand zu nehmen? Was passiert, wenn diese existentielle Frage, die nur den Einzelnen betrifft, überfrachtet wird mit einer gesellschaftlichen Angst, die sich aus ganz anderen Schreckenserfahrungen speist, die aber mit dem gleichen Wort verbunden sind – der Selbstmord also als eine Art Über-Metapher dieser Epoche, die im Schatten der Angst steht, spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001?

Damals bekam das Wort vom Selbstmord eine neue bedrohliche Dimension. Menschen wurden zu Waffen, indem sie bereit waren, sich zu opfern. Das war in diesem Maß neu: Sie konnten Menschen zu Tausenden töten und ganze Städte, ganze Nationen in Unsicherheit und Wut versetzen. Das Selbstopfer, der Märtyrer, so religiös, fanatisch, extrem überhöht, wurde zu einer realen Gefahr, in den Bussen von Tel Aviv und auf den Marktplätzen von Kabul, auf den Straßen von Islamabad und in den Hotels von Mumbai – der Selbstmord bekam eine tatsächlich militärische Bedeutung durch die Asymmetrie des Tötens, eine Bedeutung, die sich mit neuer Angst um diese Tat legte, die immer mit Angst und Argwohn behaftet war, seit Jahrtausenden, schon weil der Tod das ultimative Rätsel bleibt.

Es ist, man sieht es schon, eine Eskalations-Argumentation, von Max und seinen Problemen zum Märtyrertod in ein paar Absätzen, es ist die etwas panische Hysterie, die, wie so oft heute, auch diese Diskussion verfolgt, bei der so vieles vermischt wird, was nicht zusammengehört: Kritik am Kapitalismus, extremistischer Terror, Krankheit, Depression, Altern, der gute Wille zu helfen und eine paternalistische Moral, die sich vor dem Einzelnen aufbaut – das alles zusammengefasst in dem ungeheuren Wort vom Selbstmord, das alles verschluckt in einer fast schon gewollten Ungenauigkeit.

Denn die Herrschaft über das Leben ist ja das älteste Mittel der Dominanz, es ist das Fundament, auf dem die politische Ordnung, die Diktatur, die Freiheit beruht, hier entscheidet sich, was individuelle Moral oder höheres Gesetz sein soll, hier ist der Moment, an dem das Denken beginnt, wie Camus meint, und damit auch die Existenz – jede Zeit und jede Macht hat deshalb gute Gründe, sich davor zu fürchten, dass der Mensch sein Schicksal, wenn man es so nennen will, in die eigene Hand nimmt. Diese Autonomie bedroht den Wesenskern einer Herrschaft, die auf Abhängigkeit beruht: Und weil die Freiheit des Einzelnen sich nur aus sich selbst heraus rechtfertigt, gilt das im Grunde für jede Gesellschaft, Regierung, Doktrin, Moral, Instanz.

Um diesen Freiheitsmoment geht es: eine Leere, die alles möglich macht, eine Tat, aus der alles folgt, eine Vernichtung, die uns entstehen lässt. Es ist die Idee des eigenen Todes, die diese Freiheit schafft, die Idee der eigenen Herrschaft über den Tod, woraus die Autonomie erwächst und die Chance, auch über das eigene Leben und die Frage der Freiheit nachzudenken.

Diese Freiheit ist der Ausgangspunkt – aber um an diesen Anfang des Nachdenkens über den Tod wie über das Leben zu gelangen, muss man erst einmal vieles von dem wegräumen, was sich um das Wort und die Tat gelegt hat, ein Paket aus Ängsten, Projektionen, Mutmaßungen, Interessen, all das, was sich schon in dem Wort bündelt, Selbstmord: »Sein selbst morden«, so sagte es Martin Luther 1527, so kam das Wort vom Selbstmord in die deutsche Sprache, es war die christliche Sicht, und die Kirche wollte sich lange aus ihrem Gottesbild heraus die Kontrolle, die vollständige Kontrolle über Leib und Seele der Gläubigen nicht nehmen lassen.

Sprache ist Herrschaft, das sieht man an diesem Angstwort Selbstmord – man könnte auch vom »Suizid« sprechen, ein Begriff aus dem 17.