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1

Die Luft hing wie nasse Wäsche zwischen den Häuserblocks. Kein Wetter für Asthmatiker. Crinelli fuhr Fahrrad, wie er ermittelte: ohne Umwege, schnell und hochkonzentriert. Alle störenden Gedanken blendete er aus. Das kam einer guten Meditation schon sehr nahe.

Als er von der Hauptstraße abbog, begann es wieder zu regnen. Nicht heftig, eher so, als ob eine Gartenbrause federweiche Wasserfäden sprühte.

Hier war es. Elisabethstraße 72. Crinelli kettete sein Rad an ein Verkehrsschild und griff zum Gepäckträger. Er fluchte laut. Wenn er doch einmal einen dieser Plastiktütenklauer in die Finger bekäme, er würde den Typen eigenhändig erwürgen. Wie er den Moment hasste, wenn er sich nach der Arbeit auf einen nassen Ledersattel setzen musste. Nicht nur, dass es die Hosen ruinierte, auch das Leder wurde stumpf, und das störte seinen gleichmäßigen Fahrstil ganz erheblich.

Missmutig steckte er sich eine Zigarette an und ging auf den Beamten zu, der die Eingangstür zum Tatort bewachte. Das Gebäude stand zwischen zwei höheren Geschäftshäusern. Kriegsschaden oder Brand, dachte Crinelli. Er erfuhr den Namen des Hausmeisters und klingelte. Ihm öffnete ein Mann im Trainingsanzug.

»Herr Kasulke? Hauptkommissar Crinelli, Mordkommission Köln. Sie haben den Toten gefunden?«

 

Kurz bevor er sich ins Wochenende verabschieden wollte, war Crinelli von seiner Kollegin Hammerschmidt über den Toten in der Elisabethstraße informiert worden. Von den Wochenenden erwartete Crinelli nicht mehr viel, seit Maria und er sich getrennt hatten. Also machte er sich selbst auf den Weg zum Einsatzort im Kölner Norden.

»So isses«, nuschelte der Mann und schob seinen dicken Bauch noch etwas weiter nach vorne, als ob er auch noch besonders stolz auf ihn wäre.

»Seit wann befindet sich der Tote auf dem Dach?«

»Seit nach’m Fußballspiel.«

»Was für ein Fußballspiel? Die Uhrzeit, bitte.«

»Gegen neun oder so. Weiß nicht mehr so genau.«

»Gehen Sie jeden Freitag so gegen neun aufs Dach?«

Man hörte den laufenden Fernseher. Eine der unzähligen Quizshows. Dieser Kerl würde niemals über die Tausend-Euro-Frage hinauskommen, dachte Crinelli.

»Nee, Herr Kommissar, wo denken Sie hin? Nach acht gehe ich nicht mehr vors Loch. Da draußen treibt sich doch nur Pack rum. Unsereins bleibt bei Dunkelheit besser zu Hause. Nee, die alte Muhrmann hat mich angerufen und sich beschwert, dass ihr Fernseher nicht mehr läuft.«

»Auch Fußballfan?«, fragte Crinelli, während er sich den Namen in seiner Kladde notierte. »Ich hab Sie was gefragt«, erinnerte er den Hausmeister unwirsch, nachdem Kasulke nichts sagte.

»Weiß ich doch nicht. Wieso? Moment, Sie meinen ... Ach so! Nee, die Muhrmann doch nicht, außerdem war das doch vorgestern, Buß- und Bettag.« Crinelli sah Kasulke fragend an. »Na, der Anruf. Die alte Dame hat mich vorgestern angerufen und gesagt, es hätte einen fürchterlichen Schlag getan und dann sei das Bild weg gewesen.«

»Moment mal, Sie haben die Leiche vor zwei Tagen entdeckt und erst heute die Polizei gerufen?« Crinelli schien bereit, Kasulke anstelle des Plastiktütenklauers zu exekutieren.

»Nee, Herr Kommissar, ich kenne doch meine Pflichten als Bürger. Den Toten habe ich erst heute Mittag entdeckt. Wo denken Sie denn hin? Ich kann doch nicht jeder Beschwerde hier im Haus sofort nachgehen. Wenn Sie wüssten, wie viel sich von allein erledigt, Herr Kommissar, nee, nee.«

Crinelli gab auf. Er erfuhr noch, dass es im Haus, Kasulke mitgezählt, sechs Parteien gab, dann stieg er die Treppe hoch zum Dach.

 

Im ersten Stock links stand der Müll vor der Tür, und es war mehr als nur eine Tüte. Das erklärte, zumindest teilweise, den fauligen Geruch. Im Mauerwerk steckte die Feuchtigkeit. In den Ecken blühte der Putz schwarz aus, Schimmel. Der letzte Anstrich musste lange zurückliegen. In der zweiten Etage stand eine alte Frau in ihrer Wohnungstür. Sie war das genaue Gegenteil von Kasulke. Klein und sehr dünn.

Crinelli stellte Eva Muhrmann wenige kurze Fragen. Sie antwortete leise. Menschen, die einsam leben, verlieren mit der Zeit das Gefühl für die Modulation ihrer Stimme, hatte er irgendwo gelesen. Die Frau erzählte ihm die Geschichte ausführlicher, als er sie eigentlich wissen wollte. Jeden Abend, pünktlich um acht Uhr, setzte sie sich vor den Fernseher, wo sie schnell einschlief. Nach ein oder zwei Stunden erwachte sie dann meist wieder und ging ins Bett. Am Mittwoch war sie aber von einem lauten Krach geweckt worden. Sie hatte sich erschreckt und sich die schlimmsten Dinge ausgemalt, weshalb auf dem Fernsehbildschirm nur noch Schneegestöber zu sehen war. Sie war in den Flur geschlichen, um nachzuschauen, ob noch andere der Bewohner den Krach gehört hätten. Aber da war niemand, und so hatte sie schließlich den Hausmeister informiert. Seitdem wartete sie darauf, dass etwas geschah – was aber nicht der Fall war, bis vor etwas mehr als einer Stunde zwei Polizisten nach oben aufs Dach gingen, von denen einer kurz darauf wieder verschwand.

Crinelli versuchte die aufgeregte Frau zu beruhigen,

versprach, sich um alles zu kümmern, bedankte sich für ihr umsichtiges Verhalten und stieg endlich die Leiter hinauf, über die man auf das Flachdach gelangte.

 

Der Tote lag auf der nassen Dachpappe. Der sichernde Beamte stand einige Meter weiter links, die Arme vor der Brust verschränkt, und empfing Crinelli mit einem bemüht freundlichen Nicken. Es war dunkel, doch Crinelli erkannte sofort, weshalb bei Eva Muhrmann der Fernseher versagt hatte. Der kümmerliche Rest des Antennenmasts ragte aus dem Rücken des Toten. Der Mann war aufgespießt worden. Crinelli besah sich die umliegenden Häuserwände. Wenn nicht ein Flugzeug den Toten verloren hatte, musste er aus einem der Nachbargebäude gestürzt sein. Das linke Haus hatte keine Fenster zu dieser Seite hinaus. Das gegenüberliegende Gebäude war ein neues Bürogebäude mit einer kompletten Glasfassade. Hinter keinem der Fenster brannte noch Licht.

Crinelli schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden. Rauchen am Tatort war verboten. Er ging neben dem Körper in die Hocke. Offenbar hatte der Mann sich bei dem Sturz auch noch das Genick gebrochen. Sein Kopf war derart verdreht, dass Crinelli direkt in die toten Augen blickte. Er löste seine kleine Taschenlampe vom Schlüsselbund und leuchtete in das blassfahle Gesicht des Toten. Vereinzelter Bartwuchs auf tief eingefallenen Wangen. Zentimeter für Zentimeter tastete der Lichtkegel den Leichnam ab. Crinelli streifte sich Gummihandschuhe über und hob den Oberkörper des Mannes ein wenig an. Er trug einen speckigen dunklen Anzug, schwarze, stark abgetretene Schuhe, ein am Kragen durchgescheuertes, weißes Hemd und eine dunkle Strickkrawatte. Strickkrawatten waren nicht gerade in, das wusste selbst Crinelli.

Er nahm die Zigarette aus dem Mund und rollte sie zwischen den Fingern hin und her. Alles an diesem Fundort stimmte Crinelli traurig. Das nach Verwesung riechende Haus, seine abgerissenen Bewohner und die Leiche selbst. Irgendwie erinnerte ihn der Tote an einen Leichenbestatter kurz vor dem finanziellen Ruin.

»Armes Schwein«, sagte er in Richtung des uniformierten Kollegen. Der Grüne nickte beflissen, sah den Kommissar aber weiterhin nur erwartungsvoll an. »Haben Sie schon was unternommen?«

Ein fragender Blick anstelle einer Antwort. Natürlich nicht, dachte Crinelli. Der Grüne wartete auf Anweisungen. Wer nichts tat, machte auch nichts falsch. Crinelli nickte mehrmals hintereinander mit dem Kopf und suchte sein Handy. Ein Piepton kündigte das baldige Aufgeben des Akkus an. Er wählte Hammerschmidts Nummer. Sie antwortete nicht. Danach versuchte er Bohlen zu erreichen – wieder kein Glück. Auch in der Zentrale der Mordkommission nahm niemand ab.

»Das gibt’s doch nicht«, fluchte er laut.

Der Beamte grinste und imitierte Crinellis Kopfnicken. Crinelli dachte kurz nach und wollte eben die Nummer der Leitstelle wählen, um sich von dort aus verbinden zu lassen, als sein Handy plötzlich klingelte.

Es war Kleinert. »Crinelli!«, hörte er ihn ins Telefon blaffen, im Hintergrund lauter Krach.

»Verdammt, Crinelli, wo stecken Sie denn? Ich brauche Sie hier. Wir brauchen jeden verfügbaren Mann.«

»Was ist denn los?«, fragte Crinelli eher lustlos.

»Anschlag!«, schrie sein Vorgesetzter, als könnte dieses kleine Wort die ganze Welt erklären. »Ein verdammter Anschlag. Hier sieht es aus wie Dresden 45.«

»Was für ein Anschlag, Chef? Und wo?«

»Auf einen ICE, verstehen Sie? Irgendwelche Scheißkerle haben einen fahrenden Zug angegriffen. Hier draußen, auf freier Strecke zwischen Siegburg und Köln. Überall Leichen. Ich brauche Sie hier, Crinelli. Ich schicke Ihnen einen Wagen. Wo sind Sie?«

»Elisabethstraße. Aber ich habe hier selbst einen Fall. Ein toter Mann auf einem Dach. Ich brauche dringend die Spurensicherung. Im Präsidium hebt nur keiner mehr ab.«

»Das können Sie vergessen. Sie können alles vergessen, auf absehbare Zeit sogar. Verstehen Sie mich, Crinelli? Hier ist es wie in der Hölle. So was haben Sie noch nie gesehen. Leichen, Schwerverletzte, der Wahnsinn. Das hier hat ab jetzt absolute Priorität. Lassen Sie den Mist auf dem Dach die anderen machen und kommen Sie sofort her. Wie war die Adresse? Elisabethstraße?«

»72. Aber es gibt keine anderen, Herr Kleinert ...«

Die Leitung war tot.

 

Es gab ein paar Dinge im Leben, die Crinelli nicht mochte. Zum Beispiel, wenn ihm jemand vorschreiben wollte, dass eine Ermittlung Vorrang vor einer anderen hatte. Andererseits war Kleinert kein Mann, der übertrieb. Im Gegenteil, für Crinellis Geschmack hätte sein Vorgesetzter in einigen Situationen sogar auch mal etwas mehr Temperament zeigen können. Ein Anschlag auf einen ICE. Überall Leichen, hatte Kleinert gesagt. Crinelli wurde nervös.

»Und, was glauben Sie, was hier geschehen ist?«, fragte Crinelli den Kollegen.

Der Streifenpolizist zuckte zusammen. Eben noch hing der Kommissar tief gebeugt über dem Toten, und jetzt stand er direkt neben ihm.

»Ich denke«, fing er zaghaft an, »der Mann ist tot. Mehr kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.«

Crinelli gab dem Kollegen die Hand. »Messerscharf«, sagte er, »bleiben Sie hier, bis irgendjemand kommt und die Leiche einsammelt, verstanden?«

Dass der Kollege eifrig nickte, sah Crinelli schon nicht mehr.

Auf dem Weg zurück auf die Straße telefonierte er mit der Leitstelle und befahl dem Dienstgruppenleiter, sofort einen Kollegen von der Spurensicherung zu schicken: »Und wenn der aus München eingeflogen werden muss«, schrie er, »oder seid ihr mit dem bisschen Anschlag schon überfordert?«

Dem am Treppenabsatz wartenden Kasulke nickte er zum Abschied lediglich zu.

Sie können alles vergessen, auf absehbare Zeit. Der Dienstwagen ließ auf sich warten. Crinelli ging zum Nachbarhaus und studierte die Namen auf dem Klingelbrett – ausschließlich Firmenadressen. Er trat drei Schritte zurück und blickte an der Fassade hinauf. Den Text der defekten Leuchtreklame auf dem Dach konnte er nicht entziffern. Türkisch. Trotzdem versuchte er den Namen halblaut vor sich hin zu sprechen. Er würde wohl wiederkommen müssen. Sie können alles vergessen, auf absehbare Zeit.

2

Ein heranpreschender Krankenwagen, der sich mit einem wilden Hupkonzert Gehör verschaffte, zwang den Fahrer, seinen Wagen an den Straßenrand zu steuern. Je länger der Trip dauerte, desto unruhiger rutschte Crinelli auf der Rückbank hin und her. Er wollte aussteigen und die letzten Meter zu Fuß laufen, aber in dem Wirrwarr aus Menschen und Material wäre er verloren gegangen. Er harrte aus und klopfte dafür mit den Fingerknöcheln immer schneller gegen die Scheibe. Sein linkes Bein wippte auf und ab.

So was haben Sie noch nie gesehen. Kleinert hatte recht gehabt. In all seinen Jahren bei der Polizei hatte es nie etwas Vergleichbares gegeben. Die Wut über den Abzug von »seiner« Leiche kam ihm angesichts des ganzen Durcheinanders auf diesem Gelände inzwischen lächerlich vor.

Blaulicht markierte den eigentlichen Tatort. Dutzende Übertragungsfahrzeuge versperrten den Weg zum Ziel. Crinelli kurbelte das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus. Der Gestank nach Abgasen hing in der feuchten Luft und legte sich schwer auf seine Lungen. Im schwarzen Nachthimmel schwebte ein halbes Dutzend Helikopter. Die Rettungshubschrauber tauchten aus dem Dunkel auf und gingen über dem Tatort in den Sinkflug über. Die Übrigen umkreisten unaufhörlich die Anschlagstelle. In ihnen saßen die Kameraleute der Nachrichtensender und die Reporter der Boulevardblätter.

Das Blitzlicht eines Fotografen blendete Crinelli. Bunte Ringe tanzten vor seinen Augen. Als er langsam wieder die Konturen seiner Umgebung wahrnahm, bemerkte er das Mikrophon, das ihm der Reporter durch das Fenster hineinstreckte. Der Kommissar knurrte, drückte das Mikro von sich weg und schloss das Fenster. Dann erreichten sie den Unglücksort.

 

Crinelli war in einer völlig anderen Welt gelandet. Unzählige Spurensicherungsbeamte in ihren weißen Anzügen hasteten über die Wiese. Dazwischen Hundeführer, Grüne, Sanitäter mit Tragen und die Kripo. Im Hintergrund thronte der Zug. Große Scheinwerfer waren auf ihn gerichtet. Der Lärm der Hubschrauber erstickte jeden anderen Laut. Blaulicht tauchte alles in ein nervös zuckendes Licht.

Crinelli überlegte, wohin er zuerst gehen sollte. Unter all den Polizisten erblickte er nur wenige bekannte Gesichter. Von Kleinert keine Spur. Er harrte einen Moment aus – fasziniert, und doch hatte er das Gefühl, hier nicht hinzugehören. Schritt um Schritt ging er in Richtung ICE. Niemand nahm von ihm Notiz. Als er den Hügel unterhalb der Gleise erreichte, hatte Crinelli sich wieder gefangen.

Er besah sich den Zug. Die Täter mussten sehr gut ausgestattet gewesen sein. Modernste Waffen und anderes technisch hochwertiges Gerät. Ein Kugelhagel hatte die ersten drei Waggons regelrecht zerfetzt. Solche Einschusslöcher riss keine kleinkalibrige Munition. Und um die Außenhaut eines fahrenden Objekts zu durchschlagen, brauchte man mehr als nur irgendein großes Gewehr. Über solche Waffen verfügte legalerweise nur das Militär.

Von wo hatten die Täter geschossen? Crinelli drehte sich um und entdeckte in einiger Entfernung die Spurensicherung bei der Arbeit. So grausam sich diese zum Schlachtfeld gewordene Wiese auch präsentierte, der Tathergang war vergleichsweise leicht zu rekonstruieren. Der oder die Attentäter hatten sich hinter einer Reihe von Bäumen so lange versteckt gehalten, bis der Zug nahe genug herangekommen war, um das Feuer zu eröffnen. Zunächst hatten sie die Lok beschossen und

danach die folgenden Waggons der ersten Klasse angegriffen. Großkalibriges Dauerfeuer, den Rest erledigte der fahrende Zug selbst. Ziemlich sicher hatte es den Zugführer als Ersten erwischt, zumindest würde dies das abrupte Bremsen erklären. Crinelli erinnerte sich, dass ein Programm den ICE sofort stoppt, wenn der Mann auf der Lok nicht alle 30 Sekunden einen Knopf drückt und damit ein elektronisches Okay an das Kontrollzentrum der Bahn übermittelt. Der Tathergang war offensichtlich, aber warum schoss jemand auf einen fahrenden Personenzug?

 

Crinelli atmete zweimal tief durch, dann betrat er den Großraumwagen. Das Erste, was er sah, waren die Scherben. Sie bedeckten Sitze und Boden wie eine geschlossene Schneedecke. Sie lagen auf den Köpfen der Opfer wie kleine Kristalle.

Das Zweite, was er sah, war Blut. Es mischte sich mit dem vielen Glas und schuf so Kunstwerke von verwirrender Schönheit.

Und dann die Stille. Er hatte das Gefühl, als ob selbst der Lärm der Hubschrauber hier nicht einzudringen vermochte. Wenn die Beamten überhaupt miteinander sprachen, dann im Flüsterton.

Er schaute in die Augen eines Mannes, der eine tote Frau im Arm hielt. Daneben weitere leblose Körper, einige völlig zerfetzt, andere saßen immer noch auf ihren Plätzen, als wäre nichts geschehen. Vor ihm im Gang lag ein ganzes Knäuel, als hätten sich alle gleichzeitig auf einen Ball geworfen, den sie jetzt unter sich begruben. Crinelli kletterte über zwei Sitze und bahnte sich so einen Weg durch den ersten Waggon. Dass nicht alle in dem Abteil tot waren, gab ihm etwas Hoffnung. Viele waren aber so stark verletzt, dass die Zahl der Opfer in den kommenden Tagen nochmals steigen würde.

Den Durchgang zum nächsten Wagen versperrten ein junger Mann und ein noch jüngerer Arzt, der bei einem leblosen

Körper kniete. Als der Mediziner Crinelli in seinem Rücken bemerkte, sah er zu ihm hoch und schüttelte den Kopf.

Crinelli wartete, bis der Arzt sich dem nächsten Opfer zuwandte. Der Tote saß in seinem Sitz, als hätte er es sich gemütlich gemacht für eine lange Reise. Die Szene wirkte friedlich, hier hatte niemand Angst gehabt. Kopfhörer hingen lose um seinen Hals. Crinelli verfolgte die Kabel abwärts. Im Schoß des Toten lag ein tragbarer DVD-Player. Crinelli starrte ungläubig auf das Bild. Das Gerät war noch intakt, und auf dem Display gab ein Sänger ein umjubeltes Konzert. The more you ignore me, the closer I get. »Scheiße«, flüsterte Crinelli.

Crinelli kletterte aus dem Zug und sog begierig die kalte Luft ein. Er hatte den Geruch von süßlichem Blut und Exkrementen in der Nase. Ihm war flau zumute. Er kannte blutgetränkte Tatorte. Und er kannte den Geruch von Leichen. Aber gewöhnen konnte er sich daran nicht. Um nicht zu verkrampfen, ließ er seine Arme locker herunterbaumeln. Er schüttelte sie aus, bevor er seine Hände mehrmals schnell hintereinander öffnete und wieder zur Faust ballte. Er drückte den Rücken durch und steckte sich eine Zigarette an. Es dauerte einige Züge, bis sich sein Pulsschlag wieder normalisierte.

»Crinelli, hier unten, verdammt nochmal.«

Kleinert lag seltsam gekrümmt im Gras. Crinelli beugte sich zu ihm hinunter.

»Was machen Sie denn da, Chef?«

»Blöde Frage. Holen Sie einen der Sanis. Ich glaube, mein Bein ist hinüber. Dieses verdammte Loch.«

Crinellis Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.

»Was grinsen Sie denn so dämlich? Sind Sie verrückt geworden?«

»Grinsen, Chef? Das muss das Licht sein. Tut es sehr weh?«

»Ja natürlich, meinen Sie, ich liege hier aus Spaß?«

»Wird schon nicht so schlimm sein. Lassen Sie mal sehen.«

Crinelli tastete sich von Kleinerts Knie an abwärts. Was er zu fassen bekam, war nicht etwa Haut, sondern Knochen. Als er seine Hand zurückzog, war sie voller Blut – kein Wunder, dass Kleinert vor Schmerzen wimmerte. Ohne auf die Verletzung einzugehen, erhob sich Crinelli und suchte nach dem nächstbesten Sanitäter. Der Erste, den er ansprach, schüttelte nur mit dem Kopf, nachdem ihm Crinelli sein Anliegen in kurzen Worten dargelegt hatte. Man brauchte sich keine Illusionen zu machen: In diesem Durcheinander zählte ein gebrochener Knöchel nichts.

Inmitten der vielen Notbehandlungseinheiten entdeckte Crinelli schließlich Arne Weymann, den Chef der Gerichtsmedizin. Er war tief über einen Verletzten gebeugt. Crinelli wartete einen Moment, dann tippte er ihm auf die Schulter. Der Doktor drehte sich zu ihm um und richtete sich auf. Er überragte Crinelli um anderthalb Köpfe.

»Crinelli. Hab Sie schon vermisst. Wo haben Sie gesteckt?«

Der Kommissar zuckte mit den Achseln. »Auf einem anderen Tatort, wo sonst?«

»Ich hab schon viel in meinem Leben gesehen, Crinelli...«, fuhr Weymann fort und brach unmittelbar wieder ab. »Haben Sie mal ’ne Zigarette? Ich glaube, ich brauche eine Pause.«

Crinelli streckte ihm die Packung entgegen und gab ihm Feuer, bevor er sich selbst eine ansteckte.

»Schade, dass Sie keinen Carlos dabeihaben, Doc.« Weymann liebte spanischen Brandy. »Ich könnte einen vertragen. Da drüben gibt es übrigens ein Problem. Kleinert hat sich den Fuß gebrochen. Er liegt hinten auf der Wiese. Ich glaube, es ist was Ernstes. Ich weiß, dass Sie dafür im Moment eigentlich keine Zeit haben, aber könnten Sie ihn sich trotzdem mal ansehen?«

»Unglücklicher Zeitpunkt. Was ist passiert?«

»Er ist in ein Loch getreten und dabei umgeknickt. Der Knochen drückt sich seitlich aus dem Fleisch. Blutet wie Sau.«

»Blut, Blut, gibt’s denn nichts anderes mehr heute Nacht?« Weymann stöhnte auf. »Na gut, ich schicke einen Kollegen rüber zu ihm. Ich kümmere mich darum, versprochen.«

 

Crinelli war noch keine zwei Schritte von Weymann entfernt, als er erneut seinen Namen hörte.

»Verdammter Mist! Crinelli, warten Sie. Wo haben Sie denn gesteckt? Suche Sie schon. Haben Sie Kleinert gesehen? Der ist wie vom Erdboden verschwunden.«

René Böker war der Leiter der Zentralen Kriminalitätsbekämpfung in Köln und damit sowohl Kleinerts als auch Crinellis oberster Boss. Unter Stress neigte er zu schwer nachvollziehbaren Gedankensprüngen.

»Der liegt da hinten und ist außer Gefecht, aber nun glauben Sie bloß nicht ...«

»... außer Gefecht?«, schrie Böker hysterisch. »Außer Gefecht, was heißt das? Crinelli, sind Sie verrückt? Ich brauche jeden Mann, verstehen Sie?«

»Herr Böker, Kleinert hat sich den Fuß gebrochen. Er braucht sofort Hilfe.«

»Nein!«, rief Böker. »Das kann jetzt nicht sein. Er ist doch eben erst ... Crinelli! Hilft nichts! Dann müssen Sie eben wieder ran. Los, los, los! Ich mache Sie sofort zu Kleinerts Vertretung.«

 

Mit Kleinerts erster Verletzung vor über zwei Jahren hatte alles angefangen. In den Skiferien war er gestürzt und hatte sich einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Crinelli vertrat ihn – aber ohne sich über die Konsequenzen für seine Arbeit im Klaren zu sein. Plötzlich stand er im Mittelpunkt. Die Kollegen, die ihn vorher als Einzelgänger akzeptiert hatten, suchten jetzt seinen Rat. Mit einem Mal hockte er in stundenlangen Sitzungen und durfte die Einsätze nur mehr koordinieren, die er lieber selbst geleitet hätte. Er musste Streit zwischen den Kommissariaten schlichten, Mitarbeiter loben und Fehlverhalten tadeln. Alles an seiner neuen Arbeit missfiel ihm. Jeden Morgen hoffte er darauf, Kleinert käme durch die Tür und alles wäre wie zuvor. Stattdessen verzögerte sich die Rückkehr, die Rehamaßnahme musste verschoben werden, Kontrollen ergaben, dass der Knochen nicht richtig zusammengewachsen war – alles lief schief. Und während der ganzen Zeit sehnte sich Crinelli zurück zu seinen Ermittlungen, zu den Tätern, deren Motive er zu verstehen versuchte, um dann im entscheidenden Moment zuzuschlagen. Sein Interesse an der Polizeiarbeit galt ausschließlich dem Verbrechen und den Menschen, die es verübten. Den Rest des Jobs nahm er dafür lediglich billigend in Kauf.

Spätestens als auch noch Böker seine Nähe zu suchen begann, wusste Crinelli, dass er einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte. Böker bat um Rat bei Entscheidungen, zu denen seine eigene Erfahrung als Jurist nicht ausreichte, zwang ihn zur Teilnahme an Pressekonferenzen und interessierte sich ständig dafür, was er gerade tat und wo er sich aufhielt. Crinelli fühlte sich eingeengt und den neuen Herausforderungen nicht länger gewachsen.

Bis zum heutigen Tag war er sich unsicher, ob seine Idee, die Stadt zu verlassen, um mit seiner Frau Maria aufs Land zu ziehen, wirklich allein mit Marias Schwangerschaft zu tun gehabt hatte oder ob nicht auch der geheime Wunsch nach mehr Distanz zum Präsidium eine gewichtige Rolle gespielt hatte.

Zunächst schien es die richtige Entscheidung gewesen zu sein. Zwar war es für Maria anfangs nicht einfach gewesen, sich an das Dorf und seine Bewohner zu gewöhnen, doch auch sie war froh, dass ihr Kind in einer Umgebung aufwachsen würde, in der es sich frei bewegen konnte, ganz ohne die Gefahren der Großstadt. Außerdem konzentrierte sie sich mehr und mehr auf ihre Arbeit als Autorin. Mit dem Umzug ließ für Crinelli auch der Druck aus dem Präsidium nach. Er genoss das Leben auf dem Land und freute sich zusammen mit seiner Frau auf das Kind.

Niemals würde er den Tag vergessen, als ihn am Morgen das Telefon weckte. Ganz in der Nähe war die geschändete Leiche eines kleinen Mädchens gefunden worden. Der Körper hatte sich in einem alten Wehr verfangen, das direkt hinter dem Dorfausgang lag.

Ein Fall, dessen drängende Bilder er seither niederrang, ohne sich von ihnen befreien zu können. Zu tief hatten sich die Einzelheiten der grauenvollen Mordserie in sein Gedächtnis eingebrannt. Wahrscheinlich hätte er selbst diesen Fall irgendwann abstreifen können, wenn Maria nicht gegen Ende der Ermittlungen bei einem Autounfall das so sehnsüchtig erwartete Kind verloren hätte. Für Crinelli gehörten die Ereignisse zusammen, sie waren untrennbar mit dem abgeschiedenen Tal im Bergischen Land verknüpft. Niederkirchen war von einer beschaulichen Idylle zu einem Albtraum geworden und trug überdies die Schuld daran, dass seine Beziehung mit Maria zerbrochen war. Sie hatten das Haus aufgegeben und waren zurück in die Stadt gezogen – getrennt.

Und nun wollte Böker wieder ihn. Es war jedoch ein schlechter Zeitpunkt, um sich mit ihm darüber zu streiten.

 

»Herr Böker, wer hat eigentlich die Einsatzleitung bei dieser Sache hier?«, fragte Crinelli, worauf Böker sich wie King Kong mit beiden Fäusten auf die Brust trommelte. Das kann dann aber nur schief gehen, dachte Crinelli und fragte weiter: »Ist das nicht eher eine Sache für die Bundespolizei, schließlich handelt es sich um einen Anschlag auf die Bahn?«

Endlich fand Böker seine Sprache wieder. »Natürlich, die haben uns doch angerufen und gebeten, den ersten Angriff zu fahren. Ist doch selbstverständlich.«

»Okay. Und wo stecken die Kollegen jetzt?« Böker deutete auf den Befehlskraftwagen. »Im Bef.KW? Sollten Sie selbst dann nicht auch besser dort sein?«

Böker nickte heftig und sagte: »Aber deshalb brauch ich Kleinert doch.«

Crinelli fasste seinen Vorgesetzten sanft am Arm und zog ihn hinter sich her auf das Fahrzeug zu. Kaum hatten sie den Kommandostand betreten, war Böker wieder klar, wusste, was er wollte, und konnte sich verständlich machen. Böker war ein elender Schreibtischtäter, ein Exjurist eben und ganz sicher kein Mann für Tatorte, das stellte Crinelli in dieser Nacht nicht zum ersten Mal fest.

 

»Meine Herren, ich glaube, wir sind uns dann weitestgehend einig.« Der Generalstaatsanwalt sah die Männer der Reihe nach an und erhielt zustimmendes Nicken. Vor ihm saßen der Leiter der Bundespolizei West, der Leiter der Abteilung Staatsschutz des LKA Düsseldorf, Böker sowie die Führungscrew des BKA, bestehend aus deren Präsidenten, Gernot Hueber, einem der beiden Vizepräsidenten sowie dem Leiter der Abteilung SO – schwere und organisierte Kriminalität. Dahinter die Reihe der zweiten Ebene, zu der nun auch Crinelli als Kleinert-Ersatz gehörte. Die Luft war stickig, und es herrschte Rauchverbot. Die meisten der Männer hielten dampfend heißen Kaffee in den Händen.

Böker hatte Crinelli während der aufgeregten Diskussion zweimal direkt angesprochen. Dabei ging es um leicht zu beantwortende organisatorische Fragen. Trotzdem war er bei seinen Ausführungen ins Stocken geraten. Danach hielt er sich zurück. Sollten die anderen zunächst einmal ihre Sicht der Dinge darstellen. Er wollte sich erst ein genaues Bild vom Stand der Ermittlungen machen, bevor er erneut in die Diskussion eingriff. Das ging ihm meist so, wenn er zu spät zu einem Tatort kam. Es fiel ihm schwer, dann in den Fall hineinzukommen. Er brauchte jungfräuliches Gelände.

»Nach Prüfung der Sachlage«, fuhr der Generalstaatsanwalt fort, »verfüge ich, dass der Fall ans BKA Wiesbaden überstellt wird.« In der ersten Reihe setzte unruhiges Gemurmel ein. »Ich weiß, ich weiß, meine Herren.« Der Generalstaatsanwalt winkte besänftigend mit den Händen. »Ein Zuganschlag ist ja eigentlich Sache der Bahnpolizei, aber bedenken Sie, dass wir uns hier auch im direkten Zuständigkeitsbereich der Kölner Polizei befinden. Es wäre ebenso eine Sache für Dr. Böker und seine Leute.« Er sah Böker direkt an.

»Das sehe ich genauso«, sagte Böker und schwieg dann, ohne eine Erklärung anzufügen. Crinelli hatte einen guten Blick auf seinen Chef. Es machte nicht den Eindruck, als brenne er darauf, den Fall zu übernehmen.

»Sehen Sie. Zwei Dienste, und beide sind zuständig. Eine Übernahme durch das BKA erscheint mir schon aus diesem Grunde sinnvoll. Ihre Leute, Dr. Böker, stehen ebenso wie die Männer des LKA dem Bundeskriminalamt unterstützend zur Seite.«

»Und was ist mit dem BND?« Crinelli konnte nicht sehen, wer die Frage gestellt hatte.

»Ja, was ist mit dem BND? Keine Ahnung, meine Herren, aber es ist nicht auszuschließen, dass auch der BND Nachforschungen anstellen wird. Schließlich ist das hier eine Sache der nationalen Sicherheit. Ziemlich sicher haben wir es doch mit ausländischen Tätern zu tun, und damit ist der BND dann sowieso im Spiel. Im Augenblick wissen wir das aber alles noch nicht. Lassen Sie uns deshalb zunächst bei unserem Modell bleiben. Ich hoffe, Sie verstehen meine Entscheidung und tragen sie in aller Konsequenz mit?«

Wieder blickte der Generalstaatsanwalt in die Runde. Wie Crinelli diese Phrasendrescher hasste und tragen sie in aller Konsequenz mit. So eine Scheiße. Niemand hier würde freiwillig etwas an den anderen abgeben, von Böker vielleicht einmal abgesehen, der komplizierten Dingen gerne aus dem Weg ging.

»Dieser alles in den Schatten stellende Anschlag erfordert Ihre intensive Zusammenarbeit, meine Herren. Ich weiß, dass ich auf Sie zählen kann, und trotzdem möchte ich meinen Standpunkt noch einmal unmissverständlich deutlich machen: Alleingänge, welcher Art auch immer, wird es bei dieser Ermittlung nicht geben. Alles, was auch nur entfernt in einem Zusammenhang mit diesem Fall stehen könnte, wird unmittelbar ans BKA weitergeleitet. Wir werden zu diesem Zweck eine Extraleitung einrichten, die rund um die Uhr besetzt ist. Ich denke, wir haben uns verstanden. Das ist mir sehr wichtig, denn wenn wir jetzt gleich diesen Wagen verlassen, wird die Hölle über uns hereinbrechen.«

»Ja«, sagte Gernot Hueber, der Präsident des BKA, und drehte sich in die Runde, »es gibt keine verdammte Fernsehanstalt und keine Zeitung, die nicht ihre Reporter da draußen postiert hätten. Es sind Hunderte, und wie mir gerade berichtet wurde, sind auch die meisten Auslandskorrespondenten hierher unterwegs. Nebenbei bemerkt, würde ich es sehr begrüßen, wenn das LKA die Sache mit der Lufthoheit etwas ernster nähme.«

Der Chef des LKA richtete sich auf. »Moment mal, Hueber. Sie wissen genau, dass die Dinge nicht so simpel sind. Schließlich können wir die Hubschrauber nicht einfach abschießen.«

»Kein Grund zum Streiten«, griff der Generalstaatsanwalt wieder ein. »Der Luftraum über diesem Gebiet ist ab sofort Sperrgebiet. Aber ihre Bilder hat die Presse ohnehin schon im Kasten.«

»Was wissen wir eigentlich über die Täter?« Crinelli stellte seine Frage mitten ins Gespräch hinein. Er hatte gar nicht die

Absicht gehabt, sie laut zu äußern, und war jetzt selbst überrascht.

»Hauptkommissar Crinelli, schön, Sie an Bord zu haben«, antwortete der Generalstaatsanwalt, als wäre ihm dessen Anwesenheit gerade erst aufgefallen. »Nun, zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nichts. Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit, und ein Bekennerschreiben liegt uns noch nicht vor ...«

»Bekennerschreiben? Gehen Sie von einem terroristischen Anschlag aus?«, wollte der Leiter des LKA wissen.

»Wir wissen zwar noch nichts über die Täter, aber man braucht kein Hellseher zu sein, um die Hintermänner dieses Anschlags zu benennen«, antwortete der Generalstaatsanwalt.

»Al-Qaida«, flüsterte Böker für alle hörbar. Crinelli schüttelte den Kopf. Spekulationen über Täter ohne handfeste Beweise waren unter Profis verpönt. So etwas machte man einfach nicht. Hier, in diesem engen Raum voller Technokraten, schien das jedoch anders zu sein.

»Na sicher, Al-Qaida, was denken Sie denn?«, sagte Hueber. »Der fundamentalistische Terror ist in Deutschland angekommen, meine Herren, und genau darüber werden die Presseleute mit uns allen sprechen wollen. Darüber sollten wir uns im Klaren sein.«

»Richtig«, sagte der Generalstaatsanwalt, »und noch etwas werden die tun: Sie werden jeden Gefallen einfordern, den Sie ihnen vielleicht noch schulden. Deshalb verhänge ich mit sofortiger Wirkung ein absolutes Informationsverbot.«

»Was ist eigentlich mit der Politik?«, wollte Böker jetzt wissen.

»Der Innenminister sitzt schon im Flugzeug«, antwortete der Generalstaatsanwalt. »Er will sich selbst ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe machen. Der Verteidigungsminister ist unterrichtet und verlässt in diesem Augenblick eine Konferenz in Brüssel, und der Anruf der Bundeskanzlerin ist avisiert. Sie will

dauerhaft und direkt über die Entwicklung in diesem Fall informiert werden. Ein weiteres sicheres Indiz dafür, dass dies hier mehr als nur eine regionale Katastrophe ist. Außerdem vermute ich – nicht zuletzt deshalb –, dass die Bundesregierung selbst die Informationshoheit in diesem Fall an sich ziehen wird.«

»Verdammter Mist! London, Madrid und jetzt Köln«, sagte Böker.

Seltsamerweise bewirkten die Städtenamen London und Madrid bei Crinelli mehr als die Versammlung ranghöchster Sicherheitsbeamter und deren Sonntagsreden zuvor. Irgendwie verliehen sie dem Geschehen vor der Tür des Wagens eine andere Dimension. Es war in der Tat schwer vorstellbar, dass es sich bei diesem Anschlag nicht um das Werk von Terroristen handeln sollte. Für einen Einzeltäter war das da draußen eindeutig zu groß.

»Meine Herren, Dr. Böker hat recht. Der U-Bahn-Anschlag in London und der Anschlag in Madrid waren die ersten Ziele des fundamentalistischen Terrors in Europa und ein deutliches Zeichen dafür, dass es nicht länger nur um die USA geht. Diese Wiese hier ist soeben in den Mittelpunkt der Welt gerückt, und die Menschen rund um den Globus werden sie auf die Landkarte der schwersten Verbrechen setzen. Zwar sind unsere Opferzahlen geringer als in den genannten Orten, Gott sei Dank sind sie das, aber darum geht es nicht ...«

Während sich der Generalstaatsanwalt in den Schilderungen dessen erging, was nun von offizieller Seite aus zu erwarten stand – Ansprachen der Minister, der Bundeskanzlerin, Interviews mit den Hinterbliebenen der Opfer, derzeit ging man von etwas mehr als 20 aus –, schaute Crinelli in die Gesichter der Kollegen. Alle wirkten hochkonzentriert und zur gleichen Zeit eingeschüchtert. Kurz bevor der Generalstaatsanwalt zum Ende seines Schlussvortrags kam, bemerkte Crinelli noch einen flüchtigen Blickkontakt zwischen dem BKA-Präsidenten Hueber und seinem Vize, aber das konnte Zufall sein.

Als Crinelli den Einsatzwagen verließ, war er froh, nicht in der ersten Reihe der Ermittler zu stehen. Von der politischen Dimension dieses Falls fühlte er sich überfordert. Doch er war auch enttäuscht. Für wenige Stunden war diese Wiese auch sein Tatort gewesen. Es würde ihm schwer fallen, einfach nach Hause zu fahren und so zu tun, als existierte dieser Anschlag für ihn nur in dem Maße wie für jeden Bürger des Landes. Diese Wiese barg ein Geheimnis. Zum zweiten Mal im Laufe einer Nacht hatte man ihn von einem Fall abgezogen, dessen Umstände er gerade erst in sich aufgenommen hatte.