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»Ist doch die Zunge des Menschen gelenk und

an allerlei Reden reich, und endlos erstreckt

sich umher das Gefilde der Worte.«

(Homer)

PRAELUDIUM:

Die Ulias

(von Humor)

 

 

Am tausendsten Tage des Kampfes

Tränkt Blut die Ebene von Pistazien.

Der tapfere Vector mit seinem Pfeile aus gehärtet Schnabelholz

Durchbohrt den Intrigen Ixos.

Mit einem Schuss seiner ehernen Nille

Zerschmettert er dem Amorphos von Algebra

Den Helm.

Hirn rinnt in den Fluss Pangasius.

Spießt den Boliden Pankreas mit scharfer Pinzette,

Enthauptet den Propyläen Pythagoras,

Bruder des Perplex, Sohn des Perfides.

Dazu mit einem Streiche die sieben Söhne

Des Mieders Meningitis.

Blutig trieft das Erz, die Trojaner jubeln.

Da kömmet herbeigeeilt auf vierspänn’gem Streitwagen

Der furchtbare Virer Aggrogides,

König von Chlamydien,

Herrscher über Penis und Pergola,

Lyrer von Leikos,

Zu rächen die sieben Knaben des fürstlichen Freundes.

Vor dem Wagen die vier fleischfressenden Rappen von Rhodos,

Zwei wollen nach links und zwei wollen nach rechts,

(Ist halt ein Streitwagen, bruharhar, kleiner Scherz …)

Geradeaus donnert

Des Edlen Gefährt zu auf Vector,

Den Unverwundbaren, hieb und stichfest gemacht

Von der Zauberin Anastasias heiliger Feuerschorle.

Nur eine Stelle an der linken Arschbacke

Nicht imprägniert,

Genau dahinein trifft des Aggrogides Geschoss.

Pussygleich aufjaulet Vector,

Fest umklammert den uralten Stoffbären

Phonotheides,

Geschenk seiner Großtante Gabi von Göttingen.

Schwarzes Blut schießt rauchend aus klaffender Wunde

Im Popo. Und stirbt.

Die Virer jubeln.

Dann wieder die Trojaner.

Dann die Virer.

So wendet sich stündlich das Schlachtenglück.

Von den Zinnen Pistaziens herab blickt schreckgeweiteten Ohres

Die schöne Vagina,

Tochter des Herpes und der Hypothenuse,

Geraubt vom liederlich kühnen Taramas,

Jüngster Bruder des unglücklichen Vectors,

Und zagt um ihren Einsatz:

Die Quote 2,85 für 1,

Auswärtssieg.

PROLOGOS

 

Es war keine gute Zeit für Griechenland. Die Drachme verfiel zusehends. Troja drohte, die Währungsunion zu verlassen, die Perser forderten den Peloponnes, um in dem Ferienparadies ihre Flotte zu stationieren, und jeden Tag gab es ein Dutzend Erdbeben. Man hatte das Gefühl, dass die Götter verrückt sein mussten, und das waren sie wohl auch.

Auf Erden also unfähige und grausame Könige, denen auf dem Olymp wiederum durchgeknallte Götter vorstanden, deren oberster, Zeus, der schlimmste von allen war. Notgeil, jähzornig und im Gegensatz zu Hitler noch nicht mal Vegetarier. Die junge Zivilisation schien schon jetzt zu einem Tollhaus zu verkommen.

Kein Wunder, dass unter diesen Umständen rechtsradikale Gruppierungen aus dem Boden schossen wie Giftpilze. Deren mächtigste war die »Goldene Morgenlatte«. An jede antike Säule zwischen Thessaloniki und Iraklion plakatierten sie, Griechenland den Griechen, Eure Götter sind nicht unsere Götter oder Erhebt euch mit der Goldenen Morgenlatte.

Dabei gab es kaum Fremde im Land. Allenfalls mal ein verirrter Kelte, persische Profiringer und ein paar Sumerer (eigentlich sagte man »Babylonier«, stritt sich aber, ob das pc wäre, weil der Ausdruck implizierte, dass sie nicht richtig sprechen konnten – für die Leute von der Goldenen Morgenlatte waren sie hingegen schlicht »Kanaken«). Vor allem aber nahm keiner von ihnen, wie die Rechten stets behaupteten, »den Griechen die Arbeitsplätze weg«. Zumindest keine bezahlten, denn die Ausländer waren in der Regel Sklaven.

Dem Eurystheus, König von Mykene, war der Wahlkampf völlig schnuppe. Der hatte ohnehin keinerlei Konsequenzen. Ob Chaospraktiker, organisierte Hermaphroditen und Prädemokraten hier oder Goldene Morgenlatte, Silberne Morgenlatte und Gar Keine Morgenlatte dort: Er war der König und er blieb der König. So hatten es »die Götter verfügt«, wie er sein perfekt ineinandergreifendes Geflecht aus Überwachung, Einschüchterung und Korruption umschrieb.

Außer den Sklaven gab es im ganzen Land nur eine einzige Person, die ohne jede Entlohnung ackerte. Dafür besaß der arme Idiot ein auf vierundzwanzig Jahre befristetes Anstellungsverhältnis, und zwar bei ebenjenem Eurystheus, der auch noch sein Cousin zweiten Grades war. Der Name des Idioten war Herakles von Theben, ein, trotz diverser psychosomatischer Gebrechen, liebenswerter Halbgott.

Einer dieser Makel war sein schier unglaublicher Jähzorn. Manchmal genügte es, dass nur irgendwo eine Stecknadel zu Boden fiel, und er raste, schrie und tobte. Der Boden, auf den die Stecknadel gefallen war, musste daraufhin auf tausend Morgen Fläche im Stück herausgerissen und verbrannt werden. Und selbst dann schrie er noch weiter. So nahm es nicht wunder, dass er eines Tages seine Frau Megara und die drei gemeinsamen Kinder erschlug und kopfüber in die Biotonne stopfte.

Deutlich ruhiger geworden, saß er wenig später auf der Anklagebank im Nachbarkaffstaat Mykene und wunderte sich nicht übel über sich selbst. Au wei, das konnte schlimm ausgehen: Aus irgendwelchen an den Haaren herbeigezogenen Gründen würde man ihm das dumme Missgeschick vielleicht sogar als Mord (!) auslegen. Den Rechtsverdrehern war im Grunde alles zuzutrauen.

Er hatte sich zwar damit gerechtfertigt, dass jemand auf der Treppe plötzlich das Licht ausgeschaltet und er Frau und Kinder im Dunkeln mit Einbrechern verwechselt habe, besonders perfiden gar, die ihre Stimmen so verstellten, dass sie täuschend echt wie Kinder klangen, die laut »Papi, nicht! Wir sind’s doch, Papi!« und »Mami, Mami!« weinten, doch damit kam er nicht wirklich durch. Dabei hatte tatsächlich jemand das Licht ausgeschaltet, aber nicht auf der Treppe, sondern in des Herakles Kopf. Und bei diesem gewissen Jemand handelte es sich auch noch um Zeus’ Göttergattin Hera, die irgendetwas gegen ihn zu haben schien.

Das war natürlich Pech. Doch sein Glück im Unglück war ein leichter Promi-Bonus. Denn er selber war ja auch nicht irgendwer, sondern ein Sohn von Uschi Glas des Zeus und damit Halbgott. Das war zwar kein richtiger Beruf, aber doch ein nützlicher Status. In seiner Geburtsstadt Theben wurde er auf der Straße erkannt, nicht selten gab es in den Kafeneions der Stadt einen Frappé aufs Haus, bei der Besichtigung eines Rinderstalles oder einem Spaziergang in den Styx-Auen sprachen ihn die Leute an und baten ihn um Autogramme.

Entsprechend gewogen zeigte sich das Gericht. Von »schwerer Kindheit« über »Notwehr« bis hin zu »Blackout« versuchte es alles, um den Angeklagten seiner Tatverantwortung zu entheben. Zupass kam ihm auch, dass das einzige erwachsene Opfer eine Frau war. Und zwar keine Göttin oder stadtbekannte Quellnymphe, sondern nur eine gewöhnliche Sachbearbeiterin in der Fuhrwerkszulassungsstelle Theben. Megara. Nach der würde kein Hahn lange krähen. Gut, ihr Vater Kreon vielleicht, der König von Theben, doch Gerichtsstand war Mykene. Und so reduzierte sich der Schuldspruch schließlich auf: »fahrlässiger Irrtum im Dunkeln in einem besonders schweren Fall«. Herakles atmete auf.

Doch zu früh. Das Strafmaß war noch nicht verkündet. Zur Entscheidungsfindung schickte der Richter die Schöffen zum Orakel nach Delphi, wo man Logik seit je für den Namen eines Kinderspielzeugs hielt.

Mit entsprechendem Ergebnis kamen die Laienrichter auch zurück: Sozialstunden. Na ja, »Stunden« war nicht ganz der passende Ausdruck. »Sozialjahre« hätte es besser getroffen. Aber es war eben auch ein »besonders schwerer Fall«. Das Urteil umfasste vierundzwanzig Arbeiten, die über einen Zeitraum von vierundzwanzig Jahren ausgeführt werden mussten. Obwohl einige der Prüfungen wie »Beim Cholerischen Quatschkopp klingeln und einfach wegrennen« auf den ersten Blick nur Sekunden in Anspruch nehmen würden, musste man sie ja auch noch ordentlich protokollieren, vor- und nachbereiten. Dieser Aufwand war keinesfalls zu unterschätzen.

Auffällig an den Arbeiten war, dass sie sämtlich von Eurystheus in Auftrag gegeben wurden. So einiges fügte sich auf einmal hin zum ganzen Bilde: Eurystheus war ja der König und stand dem Gericht sowohl als Richter wie auch als Staatsanwalt vor. Endlich war sogar Herakles klar, warum beide eine Krone trugen. Er maulte noch kurz etwas von unzulässiger Verquickung privater und öffentlicher Interessen. Geschenkt. Der Deal stand. 

Die vierundzwanzig Arbeiten des Herakles

Dem Anämischen Löwen ein Bein stellen

Dem Pyknischen Wagenlenker an den Karren fahren

Dem Koch von Syrakus in die Suppe spucken

Die Megascharfe Maus von Milo ansprechen (nüchtern!) und ihr die Handy-Nummer abluchsen

Bei Rot über die Straße von Messina gehen

Dem Perfides, Tyrann von Tirana, alle vier Reifen zerstechen

Dem Levantinischen Lausbuben die Leviten lesen

Den Buckligen von Brindisi auslachen und mit dem Finger auf ihn zeigen

Der Thyrrenischen Tante tausend Drachmen aus der Börse ziehen

Dem Krassen Köter von Korinth in den Arsch treten und ihn mit der Schnauze in seine eigene Kackwurst tunken

Das Orakel von Delphi kreuzweise durch den Kakao ziehen

Beim Cholerischen Quatschkopp klingeln und einfach wegrennen

Den Phönizischen Frechdachs voll in die Pfanne hauen

Eine Kurzstrecke für die Bombastische Bimmelbahn von Babylon lösen und damit eiskalt bis zur Endstation durchfahren

Dem Hysteriker von Hormus ins Hirn scheißen

Eine superschmutzige Kaffeetasse in die Goldene Geschirrspülmaschine von Smyrna stellen (obwohl die schon total voll war)

Dem Assyrischen Esel ein Ohr abkauen

Den Halbschaurigen Schmachtfetzen von Mykene abspielen

Der Forensischen Hexe die Zunge rausstrecken

Den Lakonischen Lackaffen im Regen stehen lassen

Im Heiligen Tempel von Echinacea einen gewaltigen Koffer abstellen (und alles auf den Priester schieben)

Den Kretischen Klops mit einem Riesenhapps verschlingen

Den Neppolitern von Gieros ein Schnippchen schlagen und ohne zu bezahlen über das Drehkreuz vor ihrer »Sehenswürdigkeit« steigen

Das Arschloch von Alexandria auf den Arm nehmen

 

Epilogos

Bonus-Track: Den Störrischen Sirenen ordentlich den Marsch blasen

Register

Dem Anämischen Löwen ein Bein stellen

Die erste Arbeit, die Eurystheus seinem Gratisknecht auftrug, hatte es gleich ordentlich in sich. »Eine harte Nuss«, wie Eichhörnchen und Mathematiker sie unisono kategorisieren würden. Der Einsatzort lag eine Wochenreise entfernt, was im Vergleich zu kommenden Arbeiten allerdings noch ein Katzensprung war.

Der Anämische Löwe war ein Riesenarschloch, nur traute sich das zwischen Olymp und Hades keiner auch nur laut zu denken. Stattdessen einigte man sich auf eine Sprachregelung, die von vergiftetem Lob à la »Halt ein Typ mit Ecken und Kanten«, »Einer, der ehrlich sagt, was er denkt« oder »Wunderbar eigenwilliger Kerl« nur so troff. In Wahrheit ging er jedem mit seiner Wehleidigkeit unendlich auf den Sack. Seine tatsächlich diagnostizierte leichte Blutarmut machte ihn dabei noch unleidlicher, als er es ohnehin schon gewesen wäre. Den Wisch mit seinen Blutwerten trug er wie einen Freibrief zum Nervtöten für alle sichtbar in einer Klarsichtfolie um den Hals.

Zu sehen, wie er sich theatralisch die Tatze vor die Stirn schlug und hauchend eine Ohnmacht ankündigte, brachte jeden Beobachter dieser abgeschmackten Show zur Weißglut. Denn der Löwe wusste, ähnlich wie seine Cousine, die Migräne von Myrtha, jede konstruktive Kommunikation bereits im Keim zu ersticken. Immer nur ging es um ihn und um seine angebliche Krankheit oder seine Sammlung kleiner Porzellanpüppchen, das einzige Thema, das er abseits seines Gesundheitszustands gelten ließ. Er war eine grauenhafte Diva, die von jedermann und in jeder Lebenslage Rücksicht erwartete, sich selbst jedoch verhielt wie die Axt im Walde. Zwar war er schwach auf der Brust, doch stark mit der Klappe. Manchmal, wenn ihm danach war, setzte er sich in einen Rollstuhl und ließ sich in seiner Heimatstadt Anäma die steilen Gassen hochschieben. An manchen Stellen betrug die Steigung fast achtzehn Prozent. Dabei kommandierte er launig »Hau ruck« oder »Schneller« und schlug mit seinem dreckigen langen Schweif scheinbar unabsichtlich nach dem Helfer. Die blutigen, an den Rändern mit Kot verschmutzten Striemen infizierten sich häufig und heilten schlecht. Zivildienststelle und Himmelfahrtskommando waren in Anäma eins.

Gegen Mittag des achten Tages traf Herakles auf der Fuhrwerksstation nahe dem kommunalen Elefantenfriedhof ein und begab sich zum nächsten Kiosk. Er hatte noch etwas Zeit, denn der Anämische Löwe war erfahrungsgemäß noch nicht mal aufgestanden.

»Eine Amphore alkoholfreien Retsina und eine Mykener Morgenpost bitte.«

»Wir haben hier leider nur den Anämischen Anzeiger

»Dann eben den. Danke.«

Auf einer Parkbank blätterte Herakles lustlos in der Lokalzeitung. Die Artikel wirkten ziemlich blutleer. Eine Abbildung der Porzellanpüppchensammlung des Anämischen Löwen. Das jüngste Bulletin seiner Schamanen, Wunderheiler und Physiotherapeuten, verbunden mit den »wärmsten Genesungswünschen der gesamten Redaktion«. Ein zweites Bild mit den Porzellanpüppchen des Löwen von hinten.

Endlich aber war die Zeit gekommen, da der Löwe auf seiner täglichen Mitleidstour auch jenen Park durchquerte, in dem Herakles auf ihn wartete. Schon von Weitem kündigte der Jammerlappen durch lautes Ächzen und Stöhnen seine Ankunft an. Gegen sein gottserbärmliches Gewinsel erschien selbst der Heulende Hypochonder von Hymen wie ein echter Indianer. Vor ihm her rannte eine Horde von Mitbürgern, Frauen und Männer, Junge und Alte, Edelleute, Handwerker und Soldaten. Sie alle flohen vor der Gefahr, den Rollstuhl schieben zu müssen.

Nur Herakles blieb seelenruhig sitzen.

Als der Anämische Löwe seiner gewahr wurde, ließ er ein triumphales Gejaul vom Stapel. »Schieb mich den Berg hoch«, befahl er barsch. »Ich bin sehr, sehr krank!«

Im klassischen Altertum hatte man keine Wahl – das wusste der Löwe natürlich. Die Götter hatten die unbedingte Pflicht zur Barmherzigkeit gegenüber Greisen, Krüppeln und Siechen ausgerufen. Auch wenn sie sich wie üblich selber nicht daran hielten: Es galt das heilige Gebot der Mildtätigkeit. Das war nicht wie heute, da man die Alten und Schwachen auf eine Müllkippe des Pflegenotstands verfrachtet, wo sich Geier und Marabu als private Betreiber die letzten verwertbaren Reste – Sparguthaben, Wertpapiere, Schmuck – aus dem Elend herauspicken.

In der Antike war die einzige Möglichkeit, dem Schlamassel zu gewährleistender Fürsorge zu entkommen, noch kränker zu sein als der angeblich Hilfsbedürftige. Daraus ergab sich ein erniedrigender Wettstreit der eingebildeten Kranken, der zu einer fratzenhaften Persiflierung des paralympischen Gedankens führte.

Das war auch die Karte, die Herakles zu spielen gedachte. Er hub soeben zu einer Antwort an, als eine abgerissene Gestalt aus dem Gebüsch brach und die beiden verwirrt anblinzelte. Jeder kannte ihn: Es war Odysseus, ein völlig verpeilter Stromer, der nie wusste, wo er war und wo er hinwollte. Meist brabbelte er in endlosen Selbstgesprächen leise vor sich hin, nur zwischendurch polterten mal ein paar Phrasen laut aus ihm heraus. Schwer zu verstehen, wie alles andere auch, doch es klang so ähnlich wie: »Mein Haus, meine Insel, meine Frau.«

»Sag mal«, bat ihn Herakles nach außen hin ruhig, doch innerlich angespannt. »Kannst du uns beide bitte mal kurz in Ruhe lassen? Wir haben hier was zu klären. Geht das, ja? Meinst du, das geht?«

Odysseus blickte stumm zu Boden. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man glauben können, dass er angestrengt nachdachte. Ohne ein Wort verschwand er schließlich wieder.

»Ich bin noch kränker als du.« Herakles zog nun endlich seinen Trumpf aus der Tasche: ein zusammenphantasiertes Attest, das von Müller-Wohlfahrt Äskulap, dem Gott der Heilkunst, persönlich stammte. Beziehungen musste man eben haben oder zumindest wissen, wer gern einen geblasen bekam. »Ich leide an chronischer Ejaculatio Praecox. Streng genommen dürfte ich nur noch liegen.«

Der Anämische Löwe wusste genauso wenig wie Herakles, was diese Diagnose bedeutete, und wurde ob der gefährlich klingenden Malaise seines Gegenübers grün vor Neid. In seinem blinden Zorn vergaß er sich und schnellte wie ein Springteufel aus dem Rollstuhl.

Auf diesen Moment hatte Herakles gewartet. Blitzschnell eilte er hinzu und stellte dem Schwächling ein Bein. Der Löwe fiel hart auf die Fresse und fing sofort an, fürchterlich zu plärren.

»Jetzt biste krank«, spottete der Halbgott. »Jetzt kannste weinen. Und hier …« Er ließ den Anämischen Anzeiger auf den Kopf des Gestürzten fallen, wo das Presseorgan krachend in tausend Stücke zersprang. »… haste noch was zu lesen. Das ist ja immer ganz schön, wenn man krank ist. Gute Nacht und gute Besserung!«

Beflügelt machte er sich auf den Weg zurück zur Fuhrwerksstation. 

Dem Pyknischen Wagenlenker an den Karren fahren

Herakles nahm den Einkaufszettel in die Hand und las: »Ei. Blut. Kakao …« Er stutzte: »Wieso eigentlich Blut?«

»Der König von Sparta kommt am Samstag mit seinem Gefolge zum Abendessen. Und die Spinner vertragen ja im Grunde nichts anderes. Wenn die irgendwas essen, wo kein Blut drin ist, kriegen sie sofort Megablähungen. Dann kann ich hinterher den Palast neu tapezieren. Nein danke.«

Herakles fand Eurystheus’ Bemerkung respektlos gegenüber dessen Gästen. Er selber mochte die Spartaner und fand, sie waren ihm irgendwie ähnlich mit ihrem stets leicht wehmütigen Blick in die Ferne, der Klugheit und stillen Schmerz verriet. Mit ihrer Wortkargheit. Mit ihrer entschlossenen Grausamkeit gegen den Feind, die nun mal ein notwendiges Übel war, um die Welt zu verbessern und vom Unrat zu befreien. Und natürlich hasste er es auch, von seinem Dienstherrn zwischen den eigentlichen Arbeiten noch zusätzlich für banale Botengänge herangezogen zu werden.

Doch Widerspruch war zwecklos. »Ein lupenreiner Demokrat«: Das war das allgemeine Urteil der Experten über den König von Mykene. Wen auch immer man fragte, ob seine Königskollegen wie den Kotzbrocken von Karpathos und den Argbold von Anthrazyt, oder ob Ares, den Gott des Gemetzels, sie alle wussten nur Lobendes über Eurystheus’ Regierungsstil zu sagen. Klar gab es auch ein paar Oppositionelle. Aber das waren aufrührerische Tröpfe, die zum Schutze des Volkes und sicher auch zu ihrem eigenen Besten im Kerker darbten, und zwar dort, wo er am tiefsten war.

Nach Herakles’ Einschätzung konnte Eurystheus nur bestimmen, delegieren und verurteilen. Damit hatte sich das Portfolio seiner Fähigkeiten schon erschöpft. Dennoch standen in Mykene die Statuen an jeder Ecke: Eurystheus mit nacktem Oberkörper hoch zu Ross. Eurystheus mit nacktem Oberkörper ringt mit einem Löwen. Eurystheus mit nacktem Oberkörper bringt zwei Adlerküken das Fliegen bei und hilft ihnen dann noch bei den Hausaufgaben. Natürlich stilisierte die künstlerische Freiheit – besser noch: der künstlerische Überlebensdrang – zu einem feuchten Traum, was in natura eher einem rachitischen Hähnchen glich.

Mit grimmiger Miene stapfte der Halbgott über den Wochenmarkt und verrichtete seine Besorgungen. Nachdem er sie im Palast abgeliefert hatte, machte er sich mit einem spezialgefertigten Rennfuhrwerk endlich auf nach Pyknien.

Dort angekommen, fragte er einen Passanten nach dem Weg zur Rennstrecke. »Entschuldigung – wo geht’s denn hier zum Start?«

»Keine Ahnung«, antwortete der und grinste dämlich, »ich weiß, dass ich nichts weiß.« Erst an dieser hohlen Phrase erkannte ihn Herakles: Vor ihm stand Sokrates, ein berühmter Spaßvogel und Philosoph – das war damals nicht nur kein Widerspruch, sondern ein und dasselbe. Ein-en-gende Schubladen heutiger Denkungsweise bildeten sich erst später mit Hunnen, Goten und Vandalen heraus.

»Geht ’ne Frau zum Gynaikologos …«, begann der Komiker nunmehr munter loszuschwatzen. Vor Jahren hatte er mal eine Witzesammlung herausgebracht, die berühmten Zellophanischen Zoten, und lebte seitdem recht gut von den Tantiemen.

»Lass gut sein.« Herakles seufzte resigniert. Bereits bei seiner zweiten Arbeit bekam er einen Vorgeschmack auf das, was ihn fürderhin erwarten sollte: Anstatt ihn nach Kräften zu unterstützen, würde man ihm allerorten Knüppel zwischen die Beine werfen, schale Witze auf seine Kosten machen und seiner ambitionierten Aufgabe mit Ignoranz begegnen. Besser, er gewöhnte sich schnell daran.

Der Festplatz, auf dem das Wagenrennen beginnen sollte, war zum Glück auch ohne Hilfe leicht zu finden. Die ganze Welt schien darauf zuzuströmen. Herakles schloss sich der Menge an und holte sich im Organisationstempel seine Startnummer ab.

Mit seinem Fuhrwerk reihte er sich in die Formation der wartenden Rennteilnehmer ein und beäugte die Konkurrenz aus dem Augenwinkel. Links neben ihm scharrte ein herrischer Hermaphrodit mit den Hufen seiner Pferde: der Propyläe Pythagoras, Sohn des Perfides und Tochter der Kamasutra. Rechts knabberte der Sensible Saftsack von Syphilis an seinen Fingernägeln. Unter vielen anderen erwarteten auch der Lümmel von Lykien, der Kormoran von Kantor und der Flinke Fötus von Fanx, ein beachtenswerter Nachwuchsstar, den Startschuss. Doch ganz außen lauerte siegesgewiss der Lokalmatador: der unschlagbare Pyknische Wagenlenker.

Was die Kunst des Wagenlenkens betraf, hatten die Götter die große Gießkanne mit dem Talent fast vollständig über Pyknien ausgeschüttet. Für die anderen Völker blieben da gerade ein paar Tropfen. Scherzhaft wurde behauptet, die pyknischen Kinder würden bereits mit Rädern statt Beinen geboren. Ein Körnchen Wahrheit enthielt die Redensart sogar: Die Pykner waren durch die Bank von rundlicher Gestalt, sodass selbst ihr Schritt ein wenig einem Rollen glich.

Noch nie war es einem Auswärtigen gelungen, den »Großen Preis von Pyknien« zu gewinnen. Zu deutlich war die Überlegenheit der Einheimischen. Und geriet deren Sieg dann ausnahmsweise doch mal in Gefahr, so halfen Schiedsrichter, fanatische Zuschauer oder die Gundula.

Das Schnalzen des Startkatapults eröffnete das Rennen. Vom Start weg inszenierte Herakles einen Ausreißversuch. Der Pyknische Wagenlenker ließ ihn ungehindert ziehen. Verächtlich kicherte er in sich hinein: Dem Fremden würde bald die Luft ausgehen, führte dieser doch törichterweise auch noch einen schweren Anhänger im Schlepptau.

Schnell hatte Herakles eine beachtliche Strecke Weges zwischen sich und die anderen Fahrer gelegt. Dass das keine ökonomische Rennaufteilung war, war ihm schnuppe, denn zu gewinnen war ja nicht sein Auftrag. Er verfolgte einen anderen Plan, der einen solchen Frühspurt nun mal erforderte.

Als es bergauf ging, schaltete Herakles einen Gang herunter: Er hielt kurz, öffnete die Klappe des Hängers, trieb die dort schon ungeduldig trippelnden, zähen Schneeponys, ein Mitbringsel seines ehemaligen Austauschschülers Thoralf Gulbrandsson aus Thebens lappländischer Partnergemeinde Kaurismakkilainenpoppanttalä, nach vorne und spannte sie anstelle der großrahmigen Araberhengste ein, die für die Dauer der Steigung nunmehr auf dem Hänger rasten durften. Den Trick hatte sonst keiner drauf. Der verschaffte ihm einen wichtigen Vorteil: die erste Gangschaltung beim ersten Boxen-Stopp der Menschheitsgeschichte.

Trapp, trapp, trapp. Mit kleiner Übersetzung erklommen die Ponys scheinbar mühelos die Höhe. Oben angekommen, bremste Herakles erneut und blickte auf die klobige Sonnenuhr an seinem Handgelenk: In etwa zehn Minuten dürfte der Pykner an der Spitze des Verfolgerfeldes eintreffen. Links und rechts ragten schroffe Felswände empor. Dieser Engpass wäre ideal, um den Widersacher abzupassen und ihm an den Karren zu fahren.

Da hallte ein grässliches Kreischen durch die schmale Schlucht. Herakles erbleichte: die Gundula! Die hatte er ganz vergessen.

Die Gundula war ein grauenhaftes Ungeheuer, eine Mischung aus Hase und Hausdrache. Sie konnte Feuer spucken und sehr weit hopsen. In kürzester Zeit würde sie hier sein. Vielleicht wäre er besser doch nicht alleine so weit vorgefahren.

Herakles scharte sich beschützend um die Ponys. Das war nicht einfach, denn die Ponys waren vier und er war nur einer. Doch er war nun mal ein großer Tierfreund. Hätte damals schon die Evolutionstheorie existiert, die den Menschen auch nur als eine Tierart unter vielen sieht, hätte er bestimmt nicht halb so viele Leute umgebracht.

Hops, hops, hops. Innerhalb von Sekundenbruchteilen überwand die Gundula sieben Meilen und stand brüllend vor unserem Helden. Natürlich spuckte sie nun auch Feuer, eh klar, das volle Programm. Herakles wusste sich nicht anders zu helfen, als behände an ihr hochzuklettern und ihr das Hörgerät aus dem Ohr zu reißen. Damit hatte sie nicht gerechnet, das hatte sie noch nie erlebt. Sie war vollkommen verwirrt und hilflos. Ihr letzter akustischer Eindruck blieb ein langgezogener Piepton.

Herakles schallerte ihr so lange abwechselnd links und rechts eine, bis ihr nach dem Hören auch das Sehen so gründlich vergangen war wie ein belangloser Traum, den man schon vor dem Erwachen wieder vergessen hat. Am Ende war sie so betäubt, dass sie sich sogar dafür bedankte, dass wenigstens das Hörgerät heil geblieben war. Anschließend verzog sie sich leise wimmernd und fauchend.