Cover
Titlepage

Für meine Eltern.
Und für Mathilda
.

»… es ist etwas über mich gekommen, wie halt manchmal

etwas über einen kommt – ein Heimweh oder ein Fernweh

oder irgendein Weh – vielleicht nur die Wehmut?

Kann sein, dass es das Fernweh und die Wehmut zusammen

waren, die miteinander den Fernwehmut oder

ganz einfach den Fernmut ergeben.«

Katharina von Arx, Bitte nehmt mich mit.
Eine Weltreise per Anhalter, 1956

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PROLOG

Losgehen

Rückblende: Wie eine Frage und 11,88 Euro mein Leben veränderten

Walz ist, was du daraus machst

DAS BÜNDEL SCHNÜREN

Meine Regeln für die Wortwalz – Ein Bannkreis und viele Verbote

Das Crowdfunding – Ich bin nicht allein

Wandergesellen-Shitstorm – »Das brummt nicht«

Das Reisegepäck – Weniger ist schon zu viel

AUF DIE WORTWALZ, FERTIG, LOS!

Losgehen - Letzter Schnaps am Ortsschild München

Draußen sein – Die ersten Tage auf der Wortwalz

Im Tausendsternehotel – Mit dem Rad durch die Fränkische Schweiz

Bayreuth – Eine Reise in die Provinz

HEUTE HIER, MORGEN DORT

Die Sommerbaustelle – Jetzt ist alles anders

Hamburg – In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung

Harburg – Ein Mann und sein Herzblutblatt

Burgdorf – Hier ist meine Heimat(zeitung)

FUSSSTAPFEN STATT FUSSFASSEN

Ab in den Süden – Nächte auf der Kuhweide und im Kloster

Ostalbtraum in Aalen – Wie ich das Bleiben verlernte

Ein einheimischer Wandergeselle aus Oberalfingen erzählt unserer Gastreporterin von seinen Erfahrungen auf der Walz

Wie weit man kommt, wenn man kein Ziel hat – Über den Albstieg mit Blaulicht nach Lahr

DIE GROSSE FREIHEIT – ANKOMMEN IM UNTERWEGSSEIN

Abreiseverlumperung – Hängenbleiben in Freiburg

Heimatlose im Westerwald – Willkommenskultur hierzulande

Weimar – Wildwechsel in der Zone

100 TAGE WORTWALZ: DIE REISE IST UM – UND GEHT WEITER

Mehr als ein Zaungast – Die Heimgehtippelei eines Bäckergesellen

Wir Tippelschwestern – Unterwegs mit Schreinerin Heike

Wo ist mein Ortsschild – Heimkehren ist schwerer als losgehen

EPILOG

Danksagung

Bildnachweis

PROLOG
Losgehen

Jetzt nicht umdrehen. Einfach Schritt für Schritt weitergehen. Bloß nicht über die Schulter schauen. So will es die Tradition. Mit langsamen, festen Schritten entferne ich mich vom Münchner Ortsschild. Dort hinten, in meinem Rücken, stehen die Freunde und Kollegen, die mich gerade verabschiedet haben. Alle waren gekommen, mit ihren Händen hatten sie mir eine Räuberleiter gebaut und mich auf das Schild gehoben. In luftiger Höhe saß ich eben noch auf dem gelben Wegweiser, leicht schwindelig. München klemmte zwischen meinen Knien. Ich klammerte mich am Stahlrahmen fest, weil meine Füße kaum Halt fanden. Gerade erst hatte ich eine Flasche Schnaps zur Hälfte leergetrunken und unter dem Ortsschild vergraben. In drei grässlichen Schlucken den Wodka die Kehle runtergekippt, morgens um 11 Uhr bei Nieselregen. Ja, so will es die Tradition. Wenn ein Wandergeselle seinen Heimatort verlässt, dann verbuddelt er eine Flasche Hochprozentigen, die halb leer ist. Wenn er nach über drei Jahren Wanderzeit voll von Erlebnissen und neuen Erfahrungen zurückkehrt, dann ist die Flasche halb voll …

Ja, wer sich der Haltlosigkeit hingibt, klammert sich an jeden Kalauer. Ich schultere den roten Rucksack und laufe los in mein großes Abenteuer. Und darf mich nicht noch einmal umdrehen.

Rückblende: Wie eine Frage und 11,88 euro mein Leben veränderten

»Was hält dich denn?«, hatte mich Sarah am anderen Ende der Leitung gefragt. Uff. Es war diese Frage, die mich aus der Bahn warf. Ich wusste keine Antwort. Was hielt mich? Mein Büro? Mein Zimmer? Meine Laufstrecke an der Isar? Nein, es war nur meine Angst. Meine Angst vor dem Abenteuer direkt vor meiner Haustür.

Sarah ist Wandergesellin, eine Frau, die sich selbst nicht schont. So jemanden zu finden, das war mein Rechercheauftrag gewesen, im Frühjahr 2013: »Jessica, such uns mal eine Frau, die außerhalb ihrer Komfortzone lebt!« Okay, das kriege ich hin, dachte ich mir. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Redakteurin bei der Zeitschrift Cosmopolitan. Ich war 24, hatte mein Studium und die Journalistenschule abgeschlossen und saß nun am Schreibtisch, kerzengerade und kreuzunglücklich. Meine erste Festanstellung. Ich kam mir furchtbar erwachsen vor. Und ich dachte heimlich: Ein Hamsterrad sieht von innen tatsächlich aus wie eine Karriereleiter. Ich war kurz vor Koma. 25 Urlaubstage sollte ich von nun an im Jahr haben, dabei ziepte das Fernweh im Bauch. Und jetzt diese Recherche, ein Teilchenbeschleuniger. Als ich mich das erste Mal mit Sarah unterhielt, der freireisenden Bäckerin, ahnte ich noch nicht, wie dieses Gespräch mein Leben umwälzen sollte. Sarah erzählte mir von der Walz.

Alles an Sarahs Alltag war ein Abenteuer: Sie wusste morgens nicht, wo sie abends sein würde. Sie gab kein Geld fürs Reisen und fürs Übernachten aus. Sie trampte durch die Gegend, manchmal schlief sie draußen, im Tausendsternehotel. Ich staunte, wie wenig sie zum Leben brauchte. Ihre Kluft, bestehend aus Schlaghose, Weste und Staudenhemd. Ein Jackett mit Pepitamuster. Einen Hut, einen Stock und ein Bündel mit Werkzeug und Wechselwäsche. Mehr nicht. Warum sie auf die Walz gegangen sei, wollte ich wissen. Als gelernte Bäckerin habe sie nach der dreijährigen Ausbildung nicht einfach einen Job annehmen wollen. Sie habe Neues ausprobieren wollen. In Dresden lernte sie Christstollen zu backen, in Bayern Brezen.

In meinem Kopf blitzt eine Idee auf. Am Abend nach diesem Telefonat notierte ich in mein Tagebuch: »Ich will eine Vagabundin sein!« Wenn Sarah als Bäckerin auf die Walz ging, dann wollte ich das als Journalistin auch machen. Mein Handwerk ist das Fragenstellen, mein Beruf ist das Schreiben. Warum soll nicht auch ich durchs Land ziehen und meine Arbeit anbieten? Ich wollte auch auf die Walz gehen, auf die Wortwalz! Noch in der Nacht setzte ich mich an den Rechner und reservierte eine Internetadresse. Es klingt seltsam, aber durch die Erbeutung des Domainnamens www.wortwalz.de hatte ich das Gefühl, meinen neuen Traum ein bisschen wahrscheinlicher gemacht zu haben.

Doch dann passierte mit dieser Idee genau das, was meistens passierte. Sie landete in der Schublade.

Ein ganzes Jahr verging, ohne dass etwas geschah. Ich hatte zwar verstanden, dass eine Festanstellung in einer Redaktion nicht das Richtige für mich ist, und arbeitete inzwischen als selbstständige Journalistin. Aber ich fühlte mich wie ein unfrankierter Rückumschlag, oben in der Ecke stand »Bitte freimachen«. Aus der Idee der Wortwalz war nichts geworden. In die Schublade mit den Ideen hatte ich lange nicht geschaut. Da flatterte eines Tages ein Brief ins Haus: Die jährliche Zahlungsaufforderung für die registrierte Domain www.wortwalz.de. »Bitte überweisen Sie 11,88 Euro.«

Ich starrte den Zettel an. Mein Herz klopfte. Ich war wütend auf mich: »Schon wieder hast du nichts aus einer Idee gemacht!« Die 11,88 Euro fühlten sich an wie ein riesiger Verlust. »Was hält dich denn?«, hatte ich wieder Sarahs Frage im Ohr. Ja, was hielt mich davon ab, als reisende Reporterin durch die Republik zu ziehen? An der Journalistenschule haben doch auch immer alle gesagt, Journalismus sei ein Handwerk. Ich hatte nur Angst, mich zum Narren zu machen, und Scheu vor den Reaktionen der Wandergesellen. Dann fiel mir der Satz ein, den eine Mentorin einst zu mir gesagt hatte: »Frau Schober, jetzt machen Sie einfach mal ein halbes Jahr lang das, was Ihnen Spaß macht.« Und da, mit dem Brief in der Hand, aufgewühlt wie das Streu in dem Hamsterkäfig, aus dem ich flüchten wollte, beschloss ich: Ich gehe jetzt auf die Wortwalz.

Ich hatte lange genug am Schreibtisch gesessen. Ich wollte wieder raus aufs Land. Geschichten auf dem Acker sammeln. Vor zehn Jahren hatte ich als Schülerin meine ersten Artikel für die Lokalzeitung geschrieben, damals für den Regionalteil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Meine Themen waren Kartoffelfeste und Kaninchenzüchtervereine gewesen, Löschübungen bei der Freiwilligen Feuerwehr, Polizeieinsätze bei Fußballspielen in der Kreisliga und die Insektensammlerbörse. Wie ich das geliebt hatte! Als Zwölftklässlerin hatte ich für den Burgdorfer Anzeiger geschrieben und immer das Gefühl: An einem Wochenende Lokalzeitungmachen lerne ich mehr als in einer ganzen Schulwoche. Auch während des Studiums hatte ich nebenbei für Regionalblätter geschrieben, immer da, wo ich gerade wohnte. Erst später begann ich für Magazine und überregionale Medien zu berichten und mich von den Lokalzeitungen zu entfernen.

Aber gerade dort, bei den Provinzblättern, kann man die große Welt im Kleinen beobachten. Ich glaube an das Lokale. Ich liebe die Geschichten vom kleinen Mann und von der kleinen Frau. Die zähen Sitzungen im Bezirksausschuss. Die Frage, ob Herr Müller seinen Haselnussstrauch fällen darf oder nicht. Die Rührigkeit der Landfrauen beim Kleiderbasar. Die Schnittchen im Schützenverein. Mein Herz schlägt für Skurriles und Banales. Für Zeitungen mit Namen wie Trierischer Volksfreund oder Märkische Oderzeitung in Königs-Wusterhausen. Aber ich weiß auch, dass es sich bei dieser Form des Journalismus um eine bedrohte Spezies handelt. Auflagenzahlen sinken, immer weniger junge Menschen lesen Zeitungen. Klagelieder über den Untergang der Printmedien höre ich zuhauf, eine ganze Branche stellt ihre Zukunft in Frage. Der Wunsch, zu diesen Lokalzeitungen zu reisen, war ein bisschen so, als würde ich in Zeiten der Erderwärmung Urlaub auf den Halligen machen: Jetzt wollte ich mir das Ganze noch mal angucken, bevor es unterging.

Doch war es nicht nur die berufliche Neugier, die mich trieb. Es war diese Mischung aus Arbeiten und Reisen, die mich faszinierte. Den Grundgedanken der Walz fand ich charmant: Nach deiner Ausbildung bist du noch lange nicht fertig. Zieh los und lerne in unterschiedlichen Betrieben. Reise und bilde dich fort. Verfeinere dein Handwerk bei den Meistern deiner Zunft. Und werde die, die du sein kannst. Alles folgt dem Motto: Reise, um zu arbeiten. Arbeite, um zu reisen.

Deshalb wollte ich diese Reise Wortwalz nennen. Ich wollte herausfinden, ob sich diese Jahrhunderte alte Tradition auch auf mein Handwerk, das Schreiben, das Geschichtenerzählen, anwenden ließe. Von Anfang an wusste ich, dass das nicht leicht werden würde. Ich ahnte, es würde Ärger geben. Ich hatte schon viel zu der alten Tradition der Walz recherchiert, jener faszinierenden Idee, der seit dem Mittelalter gelernte Handwerker folgen, die sich für mindestens drei Jahre und einen Tag auf den Weg machen. Ich hatte schon verstanden, dass es strenge Regeln und viele Geheimnisse gibt. Und mir war klar: Ich habe keinen Gesellenbrief. Nach meiner Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule erhielt ich zwar ein Zertifikat, doch Journalistin kann sich in diesem Land jede nennen. Und deswegen muss hier in aller Deutlichkeit gesagt werden: Ich bin keine Wandergesellin. Für immer werde ich Kuhkopp bleiben. So nämlich nennen Wandergesellen all jene, die keine zünftigen Reisenden sind. Das Rotwelsche, die alte Gaunersprache, hält noch einen weiteren Begriff parat: Speckjäger. Das sind jene, die versuchen sich Vorteile zu erschleichen, womöglich sogar in Kluft reisen, ohne echte Wandergesellen zu sein. Man möge mich so nennen. Dies sind die gesammelten Bekenntnisse einer Speckjägerin, einer vegetarischen und wohlmeinenden allerdings. Ich verkleidete mich nicht, ich wollte bloß reisen, lernen und arbeiten. Mit meiner Wortwalz lehnte ich mich an die Walz an. Die Walz war eine Gehhilfe für mich, eine Krücke. Sie hatte mich überhaupt erst in Bewegung gebracht. Die Tradition der Walz sollte mir ein gedanklicher Wanderstock sein, mit dem ich von meinem Schreibtisch losstolperte.

Walz ist, was du daraus machst

Es geht in dieser Geschichte um Vertrauen und Ehrenwort. Unter Wandergesellen gilt der Spruch: Verlasse einen Ort nie so, dass nicht noch ein weiterer Reisender nach dir kommen kann. Und dieser Ehrenkodex gilt auch für eine Journalistin, die so viel von Wandergesellen lernen durfte wie ich. Unterwegs merkte ich: Die große Herausforderung des Reisens ist es, ein guter Gast zu sein. Meine Maxime als Schreibende lautet, nirgends verbrannte Erde zu hinterlassen. Es soll später niemand sagen, dass er oder sie nie wieder mit einer Journalistin reden wird. Das wäre mein Scheitern. Diese selbst gestellte Forderung ist schwer einzuhalten in Zeiten, in denen Texte – gerade in Lokalzeitungen – von zu wenigen Menschen in zu kurzer Zeit zusammengezimmert werden müssen. Aber dieser Anspruch ist mir ein Herzensanliegen.

Lange habe ich gehadert, dieses Buch zu schreiben. Letztlich waren es die vielen Rückmeldungen auf eben jenen Wort-walz-Blog, den ich gründete, aber auch die Briefe von Unbekannten, die Bitten von Kollegen, nun endlich »die ganze Geschichte zu erzählen«, und auch die Fragen von manchen Reisenden, die mich zurück an den Schreibtisch trieben.

Und deshalb wird dieses Buch eine Zumutung. Ein Hin- und Hertippeln zwischen Schweigen und Erzählen. Denn in den Monaten nach meinem Aufbruch sollte es mir nicht nur gelingen, einen besonderen Einblick in die Welt des Lokaljournalismus zu bekommen, sondern auch in die der reisenden Wandergesellen. Manche Handwerker nahmen mich mit, ließen mich bei Treffen zureisen, stritten sich mit mir und erzählten, warum die Walz etwas ganz Besonderes und ihnen so sehr schützenswert ist. Ich saß mit Wandergesellen am Lagerfeuer und trampte mit ihnen im Regen entlang der Autobahn. Ich durfte einen klitzekleinen Teil des Weges mitgehen. Dafür bin ich dankbar. Und deshalb gibt es viele Dinge, die ich in diesem Buch nicht erzählen kann, manche Namen habe ich geändert. Aus Respekt vor den Menschen und der Walz. Und weil ich verstanden habe, dass es manchmal besser ist, nicht zu berichten.

Okay, dann los jetzt. Es hat keiner gesagt, dass es nicht anstrengend werden würde. Dies ist kein Buch über die Walz. Oder über Wandergesellen. Es ist auch kein Lehrbuch über den Lokaljournalismus. Es ist ein Menschenbuch. Ich möchte hier von meiner knapp viermonatigen Wortwalz als reisende Reporterin durch Deutschland erzählen und von meinen Begegnungen am Wegesrand. Denn diese Reise hat etwas mit mir gemacht. Und ich habe immer noch den Spruch der Bäckergesellin Sarah im Kopf: »Walz ist das, was du daraus machst.«

Das Bündel schnüren

1

Auf die Wortwalz, fertig, los!

2

Heute hier, morgen dort

3

Fußstapfen statt Fußfassen

4

Die große Freiheit – Ankommen im Unterwegssein

5

100 Tage Wortwalz: Die Reise ist um – und geht weiter

6

Meine Regeln für die Wortwalz – Ein Bannkreis und viele Verbote

Doch wie geht man los ohne Vorgänger? Die schreibende Zunft kennt keine Reisetradition. Wenn ich jetzt auf Wortwalz gehe, dann will ich mich am Kodex der Wandergesellen orientieren. Die Regeln der Reisenden scheinen mir nützlich. Ich bestelle Bücher und spreche fortan auf der Straße jeden Handwerker an, den ich sehe – kein einziger entpuppt sich als ehemaliger Wandergeselle. Ich schaue den famosen Film Für den unbekannten Hund, in dem die Berliner Filmemacher Gebrüder Reding eine Geschichte rund um die Walz erzählen. Darin taucht der schöne Satz auf: »Alles Mögliche ist verboten auf Wanderschaft. Wie du dich verhältst, das ist entscheidend.«

Offiziell kann auf Wanderschaft gehen, wer einen Gesellenbrief hat. Außerdem darf ein Wandergeselle noch keine 30 Jahre alt sein, darf keine Schulden und bestenfalls auch keine Vorstrafen haben. Ledig und kinderlos sollen Wandergesellen sein, damit sie nicht etwa vor der Verantwortung zu Hause davonrennen.

Ich nehme mir die Notizen von meinem Interview mit der Bäckergesellin Sarah vor gut einem Jahr vor. Regel Nummer eins: das Handyverbot. Wandergesellen reisen digital amputiert. Kein Smartphone, kein Blackberry. Das sorgt für eine seltsame Asymmetrie. Der Reisende ist unerreichbar für Freunde und Familie, während daheim alle in Sorge bangen. Kommunikation wird zur Einbahnstraße. Auch die Wandergesellin Sarah konnte ich kaum für Nachfragen erreichen. Ich schickte ihr unzählige Mails. Wochen später klingelte sie von wildfremden Nummern durch.

Ein Handy ist also verpönt. Manche Wandergesellen nageln es an den Türrahmen. Ich werde meins auf dem Büroschreibtisch liegen lassen. Ich werde nicht jederzeit meine Eltern anrufen können. Ich werde kein Googlemaps zur Verfügung haben. Und mir auch nicht über Couchsurfing ein Bett organisieren können. Dazu kommt, dass ich keinen Laptop mitnehmen werde. Manche meinen zwar, das sei heute das Handwerkszeug einer Journalistin. Um Geschichten zu erzählen, muss ich aber vor allem zuhören können. Ich brauche nur einen Stift und einen Zettel. Mehr nicht.

Regel Nummer zwei: Kein Geld fürs Reisen oder Übernachten ausgeben. Für Hotels zu bezahlen ist genauso verboten wie eine Bahnkarte zu kaufen. Von dieser Regel gibt es nur eine Ausnahme, wenn jemand mir die Fahrt oder die Nacht sponsert. Die Reise soll zeigen: Von A nach B kommt man auch ohne Geld, ein Dach überm Kopf wird sich finden. Noch ist es Sommer, ich kann draußen auf meiner Isomatte schlafen. Ich kann überall nach einem Übernachtungsplatz fragen, ich muss bloß den Mund aufmachen. Theoretisch. Praktisch bekomme ich Panik. Wo werde ich unterkommen? Werde ich wie ein Heckenpenner durch die Gegend ziehen?

Nach Hause fahren ist nicht erlaubt. Um den Heimatort eines Wandergesellen wird ein Bannkreis gezogen. Näher als 50 Kilometer darf er oder sie nicht an den Ort heran. Eine Nogo-Area, eine Bannmeile. Sie wird als kreisrundes Sperrgebiet in die Deutschlandkarte eingezeichnet. Und wenn die Autobahn nur fünf Kilometer in den Bannkreis hineinreicht? Vergiss es, tabu. Manche Wandergesellen bekommen unterwegs regelrechte Albträume, dass sie aus Versehen die trennscharf eingezeichnete Grenze übertreten. Bannkreisträume nennen sie das. Für mich hört sich das zunächst nicht so schwer an, diese Sperrzone zu meiden. Die eigentliche Herausforderung scheint mir zu definieren: Wo ist eigentlich mein Heimatort? Ist das mein Wohnort, also München, wo ich seit fünf Jahren lebe? Oder ist das der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern leben, also eine Kleinstadt bei Hannover? Oder ist es mein Geburtsort, Frankfurt an der Oder, mit dem ich fast nichts verbinde? Für manche ist Heimat umzäunbar: Schule, Lehre, Elternhaus – alles an einem Ort. Bei mir ist das anders. Bei mir fühlt sich Heimat zerfleddert an. Ich kann nicht mal genau sagen, wo ich zu Hause bin. Ich bin im Osten geboren, im Norden aufgewachsen, habe lange im Süden gelebt. Ich beschließe, München zum Zentrum meines Bannkreises zu machen. Da darf ich jetzt also erst mal nicht mehr hin. Für wie lange noch mal?

Drei Jahre und ein Tag gehen Wandergesellen auf die Walz. Warum der eine Tag? Weil die Wanderschaft länger sein soll als die dreijährige Lehrzeit. Nur die Handwerkervereinigung der »Freien Vogtländer Deutschlands« macht da eine Ausnahme, bei denen sind es mindestens zwei Jahre auf Tippelei. Ob nun zwei oder drei Jahre, hier habe ich ein Problem. Für so lange zu gehen, traue ich mich nicht. Ich beschließe, es sollen drei Monate und ein Tag sein. Ich betrachte es als Experiment. Und die drei oben genannten Regeln einzuhalten, scheint mir schon schwer genug. Es gilt also: kein Handy und kein Laptop, kein Geld ausgeben fürs Reisen und fürs Übernachten und ein 50-Kilometer-Bannkreis um München herum.

Mit einem Gerücht muss ich noch aufräumen. Viele den-ken, Wandergesellen reisen für Kost und Logis durchs Land. Das ist streng genommen falsch. Wenn ein Handwerker arbeitet, dann erwartet er dafür auch einen Lohn. Nicht bloß eine warme Kartoffelsuppe und ein Dach überm Kopf. Viele Wandergesellen haben mich darauf hingewiesen, dass sie ganz regulär nach Tarif für ihre Arbeit bezahlt werden. Und deshalb nehme auch ich mir vor, in den Lokalredaktionen die dort übliche Bezahlung zu verlangen. Zumal ich weiß, wie beschämend gering die Honorare bei Lokalzeitungen sind. Freie Mitarbeiter werden oft nach Zeilengeld bezahlt. Als Studentin habe ich manchmal 25 Cent pro Zeile bekommen, da kommt bei einem 100-Zeilen-Text, für den man einen ganzen Tag recherchiert hat, nicht viel rum. Lokaljournalisten sind also chronisch unterbezahlt, zumindest die meisten freien Mitarbeiter. Und deshalb will ich nicht diejenige sein, die in einer Redaktion aufschlägt und sagt: »Hallo, ich bin auf Wortwalz, ich schreibe auch für lau!« Ich will nicht dazu beitragen, dass der Lokaljournalismus noch weiter entwertet wird. Also schreibe ich nicht für »Kost und Logis«, auch wenn viele das später falsch verstehen werden. Sondern meine Aufforderung an meine Chefs lautet: »Zahlen Sie mir bitte das, was auch Ihre freien Mitarbeiter fürs Schreiben bekommen.«

Das Crowdfunding –
Ich bin nicht allein

Mit meinen Einnahmen als freie herumreisende Lokaljournalistin werde ich nicht reich werden. So viel steht fest. Ich habe aber laufende Ausgaben in München, weil ich mich ja nicht traue, mein geregeltes Leben komplett aufzulösen. Deshalb will ich noch etwas anderes ausprobieren: Crowdfunding. In der letzten Zeit habe ich beobachtet, dass sich immer mehr kreative und journalistische Projekte so finanzieren. Auf Portalen im Netz stellen Menschen ihre Ideen vor. Andere schauen sich die Videos an, und wem ein Projekt gefällt, der klickt auf »unterstützen«. Mal sind es fünf Euro, mal 25 Euro mal 250 Euro. Die Summe kann verschwindend gering wie ein Taschengeld sein, das Kleinvieh macht die Reise möglich.

Bevor mein Crowdfunding losgeht, brauche ich eine Internetseite. Die baue ich selber. Wenn ich schon unter dem Motto losmarschiere »Journalismus ist ein Handwerk«, dann gehört wohl dazu auch, den Internetauftritt allein zu zimmern. Wie mühsam das ist! Bald habe ich gehörig die Nase voll vom Selbermachen. Aber immerhin hat mich das Ganze auf diese Weise kaum etwas gekostet. Eben nur diese 11,88 Euro für die Domain-Registrierung damals. Mein Lieblingsnachbar Frank dreht mit mir ein Video. Das Twitter-Profil namens »Wortwalz« habe ich mir schon vor einem Jahr gesichert. Damals hatte ich gemeinsam mit meinem Journalistenkollegen Max weiter am Konzept der Wortwalz gearbeitet. Wir hatten uns sogar um ein Stipendium beworben, um Geld für die Reise zu sammeln. Und eine Absage kassiert. Max stieg aus, ich sagte: »Ich mach’s trotzdem.« Die erste Lektion der Reise lautete: Mach weiter, auch wenn der Mut dich verlässt.

Das Crowdfunding für die Wortwalz soll 30 Tage lang auf dem Portal Startnext laufen. Als ich das Video veröffentliche, kribbelt es mir in den Fingern wie bei einer Online-Auktion auf Ebay. Ich habe mir einen kleinen Kniff überlegt: Ich will nur 142 Euro sammeln, eine symbolische Summe. So viel kostet ungefähr eine Zugfahrt durch Deutschland. Doch im Grunde brauche ich kein Geld für ein Zugticket, denn ich will ja tram-pen und möglichst viel zu Fuß gehen. Eine Wandergesellin hat mir dazu ein Beispiel aus ihrem Reisealltag erzählt: Eigentlich fährt sie nie Zug. Außer in ganz seltenen Fällen, wenn ihre Freunde zusammenlegen und ihr ein Schönes-Wochenende-Ticket für die Bahn kaufen. Dann treffen sie sich außerhalb ihres Bannkreises. Wenn ihre Freunde das anbieten, dann willigt die Wandergesellin ein. Frei nach dem Motto: »Was von Herzen gegeben wird, wird von Herzen genommen.« So will ich es beim Crowdfunding auch machen. Wenn die Menschen mir etwas geben wollen, dann nehme ich es dankbar.

Und sie wollen geben. Ich bin überrascht. Innerhalb weniger Stunden habe ich die 142 Euro zusammen. Und mit jedem Klick steigt die Summe des gesammelten Geldes. Die Besucherzahlen meiner Webseite schnellen in die Höhe. Die Süddeutsche Zeitung will mich interviewen. Mein Postfach quillt über, die Menschen sind begeistert von meinem Vorhaben, dabei bin ich doch noch nicht mal losgelaufen. Wie auf einem Luftpolster schwebe ich an diesen Tagen ins Büro. Eine Crowd, die deine Idee unterstützt, ist wie Rückenwind. Nach 30 Tagen sind tatsächlich 2132 Euro von 74 Unterstützern zusammengekommen. Es ist, als hätte man mir 74 Mal auf die Schulter geklopft.

Der beste Nebeneffekt ist, dass sich mehrere Dutzend Lokalredaktionen bei mir melden. Von Celle bis Regensburg, von Aalen bis Hamburg. Kollegen schreiben mir, wie gut sie die Idee finden, den Lokaljournalismus zu erkunden, und laden mich zu sich ein. Andere bieten mir ein Bett, eine Führung durch ihre Stadt oder Kontakte zu Redaktionen an. Der Lokaljournalismus wird sonst offenbar so sehr belächelt, dass jetzt gleich alle einen Luftsprung machen, wenn mal eine sagt: »Ich nehme mir ein Herz für den Underdog.« Besonders rührt mich die Redaktion der Schwäbischen Post in Aalen. Auf Face-book schicken sie mir ein Foto der versammelten Redaktionsmannschaft und dazu den Text: »Wortwalz! Genial! Gerade sind wir in der Redaktion der Schwäbischen Post in Aalen um einen Computer herumgestanden und haben dein Video geschaut. Wir sind begeistert von deiner Idee und haben überlegt, wie wir dich abhalten können, in den Norden zu fahren, sondern erst einmal im Süden zu bleiben und uns in Aalen zu besuchen. Unser Chefredakteur Lars Reckermann hat dir gerade 150 Euro gespendet und wir überlegen schon, wie wir dich unterbringen könnten.«

Mit solchen Reaktionen habe ich nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, wundere ich mich, dass bisher alles so gut läuft.

Wandergesellen-Shitstorm –
»Das brummt nicht«

Es kommt dann doch noch anders. Während sich meine Idee der Wortwalz in virtuellen Netzwerken und sozialen Medien rasant verbreitet, braucht es ein wenig Zeit, bis die ersten Wandergesellen auf der Straße davon Wind bekommen. Und die fühlen sich offenbar auf den Schlips getreten, im Wortsinn. Mehrere Reisende hatten mich vorher gewarnt. Auch Sarah hatte mir geschrieben: »Habe noch mal über deine Idee, deine Reise Wortwalz zu nennen, nachgedacht. Dass du es auf keinen Fall Walz nennen solltest, bei dieser Meinung bleibe ich! Das Konfliktpotential ist zu groß. Wenn du herausfindest, was die Walz bedeutet, wirst du verstehen, warum dieses Wort deinem Vorhaben in keinster Weise gerecht wird!« Ich denke lange nach. Und werde bockig. Ich halte mich an die Empfehlung, keine Kluft zu tragen, aber den Namen des Projekts, den kann und will ich jetzt nicht mehr ändern. Ich bin keine Wandergesellin, gebe mich auch nicht als eine aus.

Dann klingelt mein Telefon: »Moin, hier ist ein Tischlergeselle, wenn du Jessica bist, müssen wir mal reden. Der Schnack auf der Straße läuft gerade nicht gut für dich.« Oha, denke ich mir. Eine Stunde lang telefoniere ich mit dem Gesellen. Er mache sich ein bisschen Sorgen, ob ich da wirklich jedes Fettnäpfchen am Straßenrand mitnehmen will. Geduldig erklärt er mir, was ihn an meiner Idee störe: Ich erwecke den Eindruck, ich wolle in der traditionellen Kluft auf die Straße. Ich solle im Untertitel der Website die Formulierung »Gesellenwanderung durch den Lokaljournalismus« ändern. Ich solle unbedingt in einer Zeichnung von Wandergesellen, die ich auf meiner Internetseite verwende, den Schlips wegretuschieren, der eine falsche Assoziation wecken würde. In welches Wespennest habe ich da bloß gestochen?

Dann geht es auf Facebook weiter: Dort postet ein Wandergeselle eine Art Fahndungsfoto von mir und sagt, man solle mich nach Hause schicken, wenn man mich auf der Straße treffe. In seinem Slang heißt das: »Brummt nicht! Primme in deinen Harz und bleib da … oder geh als Backpacker los! Aber vergewaltige nicht das Wort Walz und die alte Tradition, die wir Handwerksgesellen täglich leben. Drei Jahre lang. Du wirst nie verstehen, was das bedeutet.« Eine Wandergesellin schreibt mir: »Wir hassen Trittbrettfahrer. Denkt euch doch euer eigenes Ding aus, du kannst doch Praktika machen, wie es sich für Bürogummis gehört!« Ich sitze still am Laptop und komme ins Grübeln. Ich bin noch gar nicht losgelaufen und schon gibt es Leute, die sagen: Eine Journalistin hat auf der Straße nichts verloren. Manche befürchten, ich würde als eine Art verkleidete Reisereporterin ihrer lang gehüteten Tradition schaden. Es gebe gute Gründe, warum nicht einfach jeder Hans-Wurst auf die Walz gehen kann. Man müsse ein Handwerk gelernt haben und einen Gesellenbrief haben.

Aber ich muss auch lachen, denn ich frage mich: »Warum meckern die denn ausgerechnet auf Facebook rum?« Ist doch eine Farce, dass sich die Konservativen unter den Wandergesellen ausgerechnet im digitalen Massenmedium Nummer eins beklagen. Jene, die um den Erhalt ihrer Tradition fürchten, haben sie doch schon längst selbst untergraben. Indem sie vorm Computer rumhängen und mir Drohgebärden schicken. Und wie traditionell ist die Tradition denn heutzutage wirklich? Stehen die Gesellen etwa beim Trampen an der Autobahn und warten auf eine Pferdekutsche? Natürlich bin ich eine Zumutung – aber dass Reporter reisen, ist nicht neu. Schon 1931 ging ein Journalist auf Tippelei und schrieb ein Buch, das heute nur noch antiquarisch erhältlich ist. In Servus Kumpel beschreibt Paul Ettighoffer, Jahrgang 1896, in altdeutscher Schrift die »Tippelabenteuer eines warmherzigen Reporters, der nicht mit Kleinauto und dickgefüllter Brieftasche die Romantik der Landstraße gesucht hat, sondern selbst in schäbiger Kluft, ohne Kragen und Geld als richtiger Kumpel mit den Zünftigen an Rhein und Mosel gewandert ist«. Ein Bruder im Geiste.

Letztlich nehme ich das Ganze mit Humor. Denn während einige mir ein Bein stellen wollen, bevor ich überhaupt losgelaufen bin, komme ich auf diese Weise auch in Kontakt mit vielen Wandergesellen, die mir mehr von der Tradition des Reisens erzählen. Ein älterer Tischler, der früher auf der Walz war, schreibt mir eine Nachricht: »Ich weiß, wie schwierig das Leben auf der Straße sein kann, deinen Berichten nach zu urteilen hast du dich schon sehr gut in Gesellenkreisen informiert, wahrscheinlich bist du aber auch nicht immer auf Wohlwollen gestoßen. Es existiert eine gewisse Reserviertheit der Presse gegenüber, daher möchte ich dich darin bestärken, dich nicht von intoleranten zünftig Reisenden entmutigen zu lassen und dein Ding so durchzuführen. Auch das Schreiben ist ein ehrbares Handwerk genauso wie Zahntechniker oder Blechblasinstrumentenbauer, genau diese Vielfalt macht das reisende Volk aus.« Ich seufze. Der Tischler lädt mich auf seinen Hof in Norddeutschland ein, dort wartet jetzt ein Bauwagen auf mich. Keiner kann mir verbieten auf die Straße zu ziehen. Freiheit ist für alle da.

Das Reisegepäck – Weniger ist schon zu viel

Auf die Wortwalz, fertig, los. Jetzt muss ich Sachen packen. Es ist Ende Juli, noch zwei Tage bis zur Abreise. Was nehme ich nur mit? Die Bäckergesellin Sarah schickt mir per Mail eine Packliste. Besonders rührt, dass sie rät: »Vergiss nicht einen USB-Stick mit deinen Dokumenten mitzunehmen.« Sie hat sich wirklich Gedanken gemacht, was ich unterwegs brauche. Dabei arbeitet sie gerade in einer deutschen Bäckerei in Kanada, so weit weg. Ich bin ein bisschen traurig, dass ich keinen Reisenden gefunden habe, der mich in den ersten Tagen begleiten wird. Ich werde allein unterwegs sein. Also keine Fehler beim Packen machen.

persönliche Dokumente (Perso, Versicherungskarte, Impfpass)

USB-Stick mit den Daten für deine Umsatzsteuervoranmeldung

Schlafsack (Isomatte optional)

2 Hosen (bequem, aber alltags- und baustellentauglich)

3 T-Shirts

Unterwäsche

Zahnbürste + Pasta

Deo (parfümfrei)

Bikini oder Badeanzug

kleines Handtuch

dünne Stoffjacke