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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7730-1

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung:

ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © Glenn Ferguson/Arcangel Images

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1.

Der junge Mann, der, kaum dass Gabriel sein Jackett über die Lehne gehängt und sich gesetzt hat, an seinen Tisch herantritt, nimmt all seinen Mut zusammen.

»Es geht um Gott.«

Glückwunsch, denkt Gabriel. Mittwochmorgen, kurz vor neun. Tag zwei nach der Vergabe des Deutschen Buchpreises und zudem erster offizieller Messetag. Ein nichtswürdiger Tag, vielleicht noch nichtswürdiger als all die anderen. Und dieser Milchbart kommt ihm mit Gott.

Das Agent’s Center hat die Leinen losgemacht und Fahrt aufgenommen. Ein nervöses Grundrauschen erfüllt die Luft. Die Harpunen sind abschussbereit, die Jagd auf die dicksten Fische ist eröffnet, auf die Stars der kommenden Saison.

Gabriels erster Blick fällt auf die lederne Aktentasche, die der junge Mann am Griff hält. Ein langer Schlaks, der seine Arme zu weit durch die Ärmel seiner Jacke gesteckt hat. Die Haltung hat etwas Geducktes – wie ein Hund in Erwartung von Schlägen. Kleinkariertes Hemd, steif gebügelt und zugeknöpft bis zum Hals. Wenn der versucht, sich hinzusetzen, bricht es ihm das Genick.

Bevor er dem jungen Mann antwortet, tut Gabriel etwas, das er sich sonst höchst selten gestattet: Er berührt Leonore, die neben ihm steht und die Rechtekataloge bereitlegt, am Arm. Die hält inne, sucht seinen Blick.

»Ich kümmere mich darum«, sagt sie.

Gemeint ist ein doppelter Espresso.

Er blickt seiner Assistentin nach, beobachtet, wie sich ihr der Raum unterwirft, während sie lautlos über den Teppichboden schreitet. Sie glaubt an Reinkarnation, sagt, sie sei bereits in diesem Leben einmal wiedergeboren worden. Gabriel fragt sich, in welcher Gestalt eine wie Leonore wohl beim nächsten Mal wiederkehrt. Als Liebeslied vermutlich. Unsterblich und unantastbar zugleich. Er wird es nicht mehr erleben. Vieles wird ihm erspart bleiben. Denn er wird unter Garantie nicht wiedergeboren werden. Hat er sich geschworen.

Seine Uhr sagt ihm, dass in fünf Minuten der erste Verleger vor ihm sitzen und aus teigigen Wangen auf ihn einreden wird.

»Um Gott also.«

»Ja.«

»Eine Komödie, hoffe ich.«

Brüllerwitz. Eher friert die Hölle zu – um im Bild zu bleiben –, als dass dieser Typ eine Komödie schreibt.

Der junge Mann versucht, nicht vom Pfad abzukommen. Ironie ist für den wie Serbokroatisch.

»Möglicherweise habe ich eine … bedeutende Entdeckung gemacht.«

»Möglicherweise?«

»Ich weiß es noch nicht genau.«

Gabriel lehnt sich zurück.

»Spricht etwas dagegen, wiederzukommen, wenn du es weißt?«

»Das wird möglicherweise nicht möglich sein.«

Möglicherweise nicht möglich. Gabriel spürt die Müdigkeit in sich einsickern, als hinge er an einem Tropf. Wenn Leonore nicht innerhalb der nächsten drei Minuten zurückkommt, wird sie ihn schlafend vorfinden. Oder im Koma liegend.

Erneut blickt er auf die Uhr. Dieser Tag hätte gute Chancen, der längste seines Lebens zu werden. Doch es gibt immer ein Morgen, immer einen neuen längsten Tag.

Das Rauschen ist zu einem Surren angeschwollen. Die Reihen füllen sich. Die Harpuniere haben sich in Stellung gebracht. Und kein Kollege, der nicht wenigstens zu Gabriel herübersehen würde. Er kann den Blick nicht heben, ohne einem anderen zu begegnen. Alle sind sie da, wie jedes Jahr. Die Orientierungslosen, die Emsigen, die Drohnen. Zurück im Bienenstock der Eitelkeiten. Und Gabriel, einer der Stars in ihrer Mitte, trägt seit vorgestern Abend einen Streifen mehr auf den Schulterklappen.

Er verschränkt die Arme vor der Brust.

»Setz dich.«

Der junge Mann zieht den Stuhl mit der stoffbespannten Lehne zurück, setzt sich, legt die Aktentasche auf seine Oberschenkel und die Hände auf die Tasche.

»Wie heißt du?«

»Matthias.«

»Und wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Also schön, Matthias. Du hast drei volle Minuten, um mich neugierig zu machen.«

Der Junge blickt auf seine abgekauten Nägel. Wo anfangen?

»Kennen Sie Charles Burney?«

Gabriel geht im Schnelldurchlauf das Namensregister in seinem Kopf durch. Da ist sicher eine vierstellige Zahl von Namen gespeichert, zu Charles Burney allerdings gibt es keinen Eintrag.

»Nie gehört.«

»Also, das war ein Engländer, der hat im achtzehnten Jahrhundert gelebt und ist viel herumgereist. Er hat Reisen auf den Kontinent unternommen, meine ich, nach Deutschland und Frankreich und Italien und so …«

»Zwei Minuten.«

»Und er hat … Also, er hat Tagebuch über diese Reisen geführt. Die gibt’s auch noch – in einem Archiv …« Der junge Mann unterbricht sich selbst. Diese Ich-gebe-dir-drei-Minuten-Disziplin überfordert ihn. »Ich kann das nicht so schnell«, entschuldigt er sich, »aber ich habe … Also, ich habe etwas für Sie aufgeschrieben, damit Sie wissen, worum es geht.«

Er drückt den Messingverschluss seiner Aktenmappe auf, schlägt die Klappe zurück, fingert an der Rückseite herum und zieht einen versteckten Reißverschluss auf. Großpapas Tasche verfügt allen Ernstes über ein Geheimfach.

Die Hand des jungen Mannes ist zur Hälfte verschwunden, als ihm etwas einfällt.

»Ich sollte das nicht tun.«

Sein Kragen sitzt wie eine eigens für ihn geschmiedete Halskrause.

Zweifel, denkt Gabriel. Immerhin etwas.

»Eine Minute.«

Als die Hand wieder hervorkommt, hält sie einen DIN-A4-Umschlag zwischen den Fingern.

»Ich sollte das wirklich nicht tun«, wiederholt er.

Er klammert sich an den Umschlag, mit beiden Händen, gefangen im Zwiespalt. Es zerrt an ihm, eine Gravitation, dass der Tisch sich neigt.

»Ohne Konflikt«, erwidert Gabriel, »keine Story.«

Kann der junge Mann nichts mit anfangen. Weiß anscheinend nicht, wo er sich befindet: auf dem größten Literaturmarkt der Welt. Hier geht es nicht um Befindlichkeiten, hier geht es um funktionierende Storys und funktionierende Autoren. Um Verkäuflichkeit. Alles andere ist romantisch verklärtes Hollywood oder ZDF am Vorabend. Widerstrebend legt er den Umschlag auf den Tisch. Bis er die Finger davon lösen kann, haben sie Schweißabdrücke auf dem Papier hinterlassen. Doch es ist auch Erleichterung dabei. Wie beim Arzt: als habe er die Verantwortung für alles, was von nun an geschieht, in Gabriels Hände gelegt.

»Es ist«, setzt er an, »also diese Entdeckung ist wirklich …«

»… bedeutend. Möglicherweise.« Gabriel blickt auf die Uhr: Die Zeit ist um. »Wenn sie so groß ist, deine Entdeckung, warum gehst du damit nicht zum Fernsehen?«

An der Veränderung im Gesicht seines Gegenübers erkennt er, dass diese Idee für Matthias undenkbar ist.

»Ich glaube an das geschriebene Wort, Herr Pfeiffer«, sagt der junge Mann mit fester Stimme. »Und ich weiß, dass auch Sie daran glauben.«

Der Mittwoch nach der Preisvergabe. Und noch vor dem ersten Messetermin wird Gabriel mit seinem Glauben konfrontiert. Er wusste es gleich: ein nichtswürdiger Tag.

Der junge Mann lässt sich nicht entmutigen. Gabriel muss einfach der Richtige sein.

»Sonst wären Sie nicht so ein berühmter Literaturagent geworden«, fährt er fort. »Ich weiß noch mehr, nämlich dass Sie auch auf einem Internat waren und dass wir dieselbe Leidenschaft teilen.«

Leidenschaft, auch das noch.

Aus dem Augenwinkel sieht er seine Assistentin zurückkommen, eine schwebende Espressotasse vor sich. Rettung in höchster Not. Der Rand der Untertasse liegt auf ihrem gebogenen Zeigefinger und wird soeben von der Daumenkuppe gehalten. Als trage sie die Tasse nicht, sondern gebe ihr lediglich die Richtung vor. Einmal Gastro, immer Gastro, hat sie ihm mal erklärt.

Gabriel beugt sich vor, stützt die Unterarme auf dem Tisch ab. Unbequemere Stühle als diese gibt es höchstens in taiwanesischen Computerfabriken. Bereits nach fünf Minuten ringt man um eine erträgliche Sitzposition. Auf dem Umschlag steht, mit Füller geschrieben und in einer Schrift, als hätte sich der Schreibende jeden Buchstaben einzeln abgerungen: Für Herrn Gabriel Pfeiffer. Und in einer zweite Zeile: persönlich!

»Wir prüfen das und melden uns.«

»Nein«, platzt es aus Matthias heraus, »lieber nicht. Ich rufe Sie an, nächste Woche. Oder, wenn ich mich nicht melde …«

Er bleibt in seinen Überlegungen stecken, als Leonore um den Tisch kommt und die Tasse vor Gabriel abstellt. Sie duftet wie eine unentdeckte Blume.

Der junge Mann springt auf wie bei etwas Sündhaftem ertappt. Leonore macht ihn noch nervöser. Überhaupt, der ganze Typ: Schuld und Sühne und vergebliches Unterdrücken. Brauchst mich gar nicht so anzusehen, denkt Gabriel. Für die Absolution sind andere zuständig. Und wenn du mich fragst: Die stecken bis zum Hals in der Scheiße.

»Ich muss jetzt gehen«, bringt Matthias hervor.

Gabriel nickt.

Abrupt macht der Junge kehrt, eilt mit ungelenken Bewegungen dem Ausgang zu und verschwindet hinter der Säule mit dem Übersichtsplan.

Über jede der vierzig Tischreihen spannt sich ein Metallskelett, von dem die Strom- und Netzwerkkabel herabhängen. Sechshundert Plätze, die alle künstlich beatmet werden wollen. Das Herz des internationalen Literaturbetriebs.

Leonore schließt das Laptop an, klappt es auf, wartet. Gabriel starrt ins Leere. Schließlich gibt sie das Passwort ein: Bovary.

Er hört sie etwas sagen, versucht, ihren Worten einen Sinn zu geben.

»Hm?«

»Wer das war?«, wiederholt sie ihre Frage.

»Der?« Er erinnert sich an den Umschlag und nimmt ihn in die Hand. »Irgendein Möchtegern-Autor.«

»Und was wollte er?«

Tja, was wollte er? Gabriel blickt zur Säule hinüber und stellt sich vor, wie dieser Matthias, den Rücken gegen die Verkleidung gepresst, auf der anderen Seite lauert.

»Was alle Autoren wollen, nehme ich an.«

»Und das wäre?«

»Ruhm natürlich, grenzenlose Bewunderung, einen Wellnesspark für die eigene Eitelkeit …«

Der Computer ist einsatzbereit. Leonore ruft die Mails ab.

»So sah der gar nicht aus.«

Gabriel hält den Umschlag in die Höhe. Dem Gewicht nach zu urteilen können da nicht mehr als drei oder vier Seiten drin sein.

»Eine literarische Entdeckung! Irgendwas mit Gott. Ein Engländer, der im achtzehnten Jahrhundert Europa bereist und darüber Tagebuch geführt hat.« Er lässt den Umschlag geräuschvoll auf Leonores Tisch fallen. »Viel Spaß damit. Was ist?«

Leonore bedenkt ihn mit einem sorgenvollen Blick.

»Halte durch, okay? Bis Sonntag. Fünf Tage.«

Er seufzt kaum hörbar. Fünf Tage. Unvorstellbar.

»Ich bin müde, Leonore.«

»Weiß ich, Gabriel. Aber bis Sonntag musst du durchhalten. Danach setze ich dich in einen Flieger nach ganz weit weg und du bleibst so lange dort, bis du es nicht mehr aushältst. Um alles andere kümmere ich mich.«

Er lässt seine Stirn in die Handflächen sinken, reibt sich die Augen.

»Sieh dich um, Leonore. Vierhundert literarische Agenturen aus aller Welt. Und nicht eine darunter, die dich nicht mit Kusshand einstellen würde.«

»Diese Diskussion hatten wir schon.«

»Dann übernimm meine Agentur. Ohne dich läuft hier doch schon lange nichts mehr.«

»Trink deinen Kaffee«, erwidert sie. »Da vorne kommt Betzenberg.«

2.

Gabriel war nicht immer so. Destruktiv. Nicht dass er je besonders freundlich oder umgänglich oder rücksichtsvoll gewesen wäre. Ist nicht seine Art. Hat sich stattdessen gerne als Misanthrop gegeben, der er tief in seinem Inneren aber nicht ist. Zumindest nicht war – bis vor sechs Wochen. Inzwischen ist sich Leonore da nicht mehr so sicher.

Fragt man sich natürlich, warum so einer ausgerechnet Literaturagent wird – das Bindeglied zwischen Autor auf der einen und Verlag auf der anderen Seite –, umzingelt von Befindlichkeiten. Frage ich mich auch, würde Gabriel wahrscheinlich antworten. Wer ihn besser kennt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass dieser Job sich Gabriel gesucht hat, nicht umgekehrt.

Er hätte auch auf ein Konservatorium gehen und Musiker werden können, mit Leichtigkeit. Landesmeister bei Jugend musiziert 1976. Das jedoch hätte bedeutet, sich beruflich an seine Vergangenheit zu binden. Ein langsamer Tod durch ein schleichendes Gift. Zum Glück für ihn fand er rechtzeitig heraus, dass er nicht nur zu Musik einen besonderen Zugang hatte, sondern auch zu Literatur.

Soweit Leonore das beurteilen kann, ist er, unabhängig von seinem Erfolg, der Beste. Sie kennt keinen, der auf »der Eingeweideebene«, wie sie das nennt, Literatur so klar sezieren kann wie er. Auch Intuition will gelernt sein, ist harte Arbeit. Verstehen die wenigsten. Gabriel schon. Ein Meister seines Fachs.

In letzter Zeit jedoch birgt jedes Autoren- oder Verlegergespräch die Gefahr in sich, zu havarieren. Seit sechs Wochen. Um genau zu sein, seit Freitag, dem 30. August, kurz vor halb vier. Da ist er zusammengebrochen. Schicksalsblitz aus einem wolkenlosen Spätsommerhimmel. Er hatte sich ein zu prüfendes Manuskript unter den Arm geklemmt, beim türkischen Bäcker an der Ecke einen Espresso getrunken und wollte sich am Kanal auf eine Bank setzen und lesen, als er mitten auf der Straße der Länge nach hinschlug.

Ventrikuläre Fibrillation, besser bekannt als plötzlicher Herzstillstand oder Kammerflimmern. Das Letzte, woran er sich erinnern kann oder glaubt, sich zu erinnern, ist ein entflogener Papagei mit grauem Gefieder, den er gesehen haben will, wie er am Ufer auf einem Baum saß und täuschend echt ein Handyklingeln imitierte.

Leonore hatte gerade Reginald Clarke an der Strippe, einen englischen Kollegen, als sie durch ihr Bürofenster sah, wie Gabriel zusammensackte. Eine vollkommen absurde Bewegung. »I will call you back«, sagte sie geistesabwesend, unterbrach das Gespräch, rief den Notruf an und rannte die Treppe hinunter. Meryem, die sich um die Buchhaltung kümmert, lief ihr hinterher.

Als sie bei Gabriel ankamen, war bereits der untersetzte Apotheker mit der Schuppenflechte von der anderen Uferseite herangewackelt, eine gelbe Plastikkiste unter dem Arm. Im ersten Moment dachte Leonore, es sei ein Verbandskasten, doch es war ein mobiler Defibrillator. »Letzte Woche erst angeschafft«, keuchte er, »bitte öffnen Sie sein Hemd!«

Der Kasten konnte sprechen, gab Anweisungen: »Ziehen Sie die Folie von der Elektrode ab …« Es schien ewig zu dauern, bis es endlich hieß: »Bitte von der Person zurücktreten«, und ein Stromstoß durch Gabriels Körper fuhr, der Wellen über seine Haut schickte. Und dann waren plötzlich Menschen mit Leuchtwesten da – überall Reflektorstreifen –, die ihn in einen Einsatzwagen luden und davonfuhren.

Im Krankenhaus sagten sie ihm, er habe Glück gehabt, großes Glück. Bei einer ventrikulären Fibrillation sinke mit jeder verstreichenden Minute die Wiederbelebungswahrscheinlichkeit um zehn Prozent. Es habe also ungefähr eine Fifty-fifty-Chance bestanden, als der Defibrillator sein Herz auf null zurücksetzte.

»Fühlt sich nicht so an, als hätte ich Glück gehabt«, erwiderte Gabriel.

Tatsächlich war er stinksauer, fühlte sich gedemütigt, aufs Äußerste. Das Leben eines jeden hängt am seidenen Faden, wie man weiß. Doch so sicher man das weiß, so sicher möchte man sich in der Illusion wiegen, er werde schon nicht reißen.

Warum geschieht so etwas: ventrikuläre Fibrillation? Die Hilflosigkeit der Ärzte bei der Suche nach einer Antwort war bemitleidenswert. Die Erklärungsversuche erschöpften sich im Betrachten von Aufnahmen, in Kittelzupfen und Stochern im Nebel.

»Nicht wenige Menschen, denen so etwas widerfährt, gehen danach glücklicher durchs Leben, bewusster«, hatte sich der Chefarzt bei der Entlassung an einer Sinngebung versucht.

Und für so was schloss man eine Privatversicherung ab und ließ jeden Monat sein Konto zur Ader.

Am Arsch, dachte Gabriel. »Wie vielen widerfährt denn so etwas?«

»Sie meinen, wie vielen wie Ihnen?«

Der Arzt hatte ihm ein Faltblatt gegeben, etwas, womit man überall auf der Welt die eigene Unwissenheit verdeckt: Plötzlicher Herzstillstand. Neben bonbonfarbenen Herzen waren dort unter anderem zehn Risikogruppen aufgeführt. Er gehörte zu keiner von ihnen.

»Ja, meine ich.«

»Ich muss zugeben«, der Chefarzt begann seine Brille zu putzen, »ein Fall wie Ihrer ist selten, ausgesprochen selten.«

Am Ende war es immer dasselbe, dachte Gabriel: Sobald man nach dem Warum fragte, gingen ihnen die Antworten aus.

Seit dem 30. August also ist er wie von einem Virus befallen. Als sei durch den Stromstoß des Defibrillators das selbstzerstörerische Element, das ihm schon immer innewohnte, aktiviert worden. Schalter umgelegt. Und das ist es, was Leonore zunehmend Sorgen macht, denn sie kennt diesen Schalter und weiß, wie schwer es ist, ihn nicht zu drücken, wenn der Finger erst draufliegt.

3.

Ungefähr zehn Tischreihen entfernt sieht Gabriel eine Gestalt herannahen. Noch ist das Gesicht unscharf, doch Ulrich Betzenberg ist unzweifelhaft an seinem dynamischen Gang zu erkennen: vital, kraftvoll, ein Macher. Die Arme schlagen aus wie Pendel. Gehört zu den Dingen, die man neuerdings auf Managerseminaren lernt. Im Geiste hört Gabriel die Stimme eines Personal Trainers mit abgebrochenem Psychologiestudium: Kommen Sie, Betzenberg, gehen Sie! Und zeigen Sie mir, was Sie sind! Offensichtlicher lässt sich Kompensation kaum in Bewegung umsetzen.

»Hilf mir, Leonore: Weshalb habe ich ausgerechnet mit Betzenberg den ersten Messetermin?«

Das Schmunzeln zieht ein Grübchen in ihre Wange.

»Damit du es hinter dir hast?«

Er nimmt die Tasse und kippt den Espresso hinunter.

Reihe für Reihe gewinnt die Gestalt an Kontur. Gabriel braucht eine Brille, will aber keine. Was soll das noch, hat er neulich gesagt, mit zweiundfünfzig. »Dein Selbstmitleid ist lächerlich«, hatte Leonore erwidert. Er nahm es als Steilvorlage: »Wenn es nur mein Selbstmitleid wäre!«

Ulrich Betzenberg gehört zu den Top-Ten-Geschäftsführern der deutschen Verlagsbranche. Wenn die anderen ein schlechtes Jahr haben, schafft er es sogar unter die Top Five. Betzenberg selbst hat eigentlich immer ein schlechtes Jahr. Doch solange er der Eigentümerin des Verlags weiterhin willfährig alle sexuellen Bedürfnisse befriedigt, sitzt er relativ sicher im Sattel. Klingt nach Klischee, ändert aber nichts. »Punzenlecker« hießen früher die Schoßhunde mit speziellen Aufgaben. Hat Betzenberg den Spitznamen Penunzenlecker eingetragen.

Kaum einer gibt sich so »potent« wie er. Wirft mit Vorschüssen nur so um sich. Jede Million, die der Verlag Verlust schreibt, wird gegen die Gewinne aus profitabel geführten Unternehmensteilen gerechnet. Unterm Strich ist Betzenberg ein Steuersparmodel.

»Gabriel!« Der Verleger breitet die Arme aus. Wie immer verbirgt er seine Unsicherheit hinter der großen Geste. »Schön, dich zu sehen!«

Reflexartig stellt sich bei Gabriel ein körperliches Verlangen nach Whiskey ein. Doch vor Messeschluss ist da nicht dran zu denken. Achtzehn Uhr. Vorher gibt es Kaffee und Wasser. Hat er Leonore versprochen. Und niemand würde auf die Idee kommen, ein Versprechen zu brechen, das er Leonore gegeben hat. Neun Stunden ab jetzt.

»Hallo, Ulli.« Gabriel deutet mit dem Kinn auf den Besucherstuhl. »Bitte.«

Bevor Betzenberg sich setzt, beugt er sich umständlich über Leonores Tisch und streckt ihr die Hand hin.

»Leonore! Immer eine Freude, Sie zu sehen.«

Sie reicht ihm die Hand und legt noch ein Stewardessenlächeln obendrauf.

»Tag, Herr Betzenberg.«

Gewaltsam reißt der Verleger seinen Blick von ihrem Ausschnitt los, setzt sich, schiebt die Jackettflügel auseinander und veratmet Testosteron.

Wenn Leonore danach ist, spielt sie damit. Mehr als einmal hat Gabriel erlebt, wie Verleger mit von Besitzgier verschwommenem Blick sechsstellige Summen auf Manuskripte geboten haben, ohne auch nur ein Exposé davon zu kennen. Gelingt nicht vielen – Leonore nicht beeindrucken zu wollen.

Die Faszination, die sie ausübt, ist subkutanen Ursprungs. Selbst Gabriel hat eine Weile gebraucht, um das herauszufinden. Es sind die Narben, die man durch ihre Pergamenthaut schimmern zu sehen meint. Ihr Äußeres ist makellos, ein reinweißer Marmorblock, darunter jedoch, eine Ahnung nur, ziehen sich dunkle Adern wie tragische Rinnsale durch den Stein. Da kapituliert jedes Alphamännchen.

Ihr letzter Freund, ein erfolgloser Musiker, hat ihr einen Schrein voller Liebeslieder geschrieben. Als sie sich von ihm losgesagt hat, ist er nach Spanien emigriert, wo er seither Trauerlieder komponiert, die genauso klingen wie vorher seine Liebeslieder. Inzwischen hat er sogar Erfolg. Hätte Leonore sich nicht von ihm getrennt, er wäre nie so weit gekommen. Sagt er selbst. Stand auf der Karte, die seiner letzten CD beilag. Und hofft noch immer.

Betzenbergs Lächeln soll versöhnlich rüberkommen.

»Glückwunsch, alter Fuchs!«

Gabriel fächelt es mit einer gelangweilten Bewegung zur Decke.

Der Verlagsmann blickt zwischen ihm und Leonore hin und her.

»Wie stellst du das bloß immer wieder an?«

»War nicht mein Verdienst. Leonore hat ihn in die Spur gebracht.«

Die Rede ist von Sven Broschinsky, dreiunddreißig Jahre jung und seit gestern Abend auserkoren zum neuen Solisten in Deutschlands Schriftstellerchor. Sauerkirschregen. Sein Roman. Gewinner des Deutschen Buchpreises. Daher die Nachsicht in Betzenbergs Lächeln: Auch er wollte Broschinsky, letztes Jahr. Hat den Braten gerochen. Aber nicht bekommen. Gabriel hat einem anderen Verlag den Zuschlag gegeben, obgleich Betzenberg das höhere Angebot vorgelegt hatte. Und jetzt trägt Bettina von Vangerow die Nadel am Revers.

Der Buchtitel, das sollte man hinzufügen, war nicht Leonores Idee. Sauerkirschregen. Und Gabriels schon gar nicht. Nein, auf den Titel hatte der Autor bestanden. Sonst verweigere er die Veröffentlichung, hatte er getönt. Und dass ein guter Roman auch einen nicht beliebigen Titel aushalten müsse. Ein schlechter Roman hält einen schlechten Titel aus, so viel ist allemal sicher. Und das alles, wo Broschinskys knapp tausend wirre Manuskriptseiten ohne Leonore nicht mal eine Form gefunden hätten, für die es einen Namen gibt. Roman. Großes Wort. Seit vorgestern Abend aber hält er Goethe für seinen Blutsbruder.

Betzenberg lehnt sich konspirativ vor. Im Umkreis von sechs bis acht Metern werden die Antennen justiert.

»Also, mein Lieber – was hast du für mich?«

Gabriel beginnt versonnen im eigenen Rechtekatalog zu blättern.

»Was soll ich dir sagen … Ist schwierig dieses Jahr.«

»Jedes Jahr ist schwierig.«

Gabriel wiederspricht nicht, blättert vor, blättert zurück, pfff …

»Denk dran«, legt Betzenberg nach, »du schuldest mir noch einen!«

Gabriel hält inne. Der meint tatsächlich, was er sagt, glaubt, er habe noch einen gut, weil ihm Broschinskys Manuskript letztes Jahr durch die Lappen gegangen ist.

Auch Leonore unterbricht ihre Arbeit, schwebende Finger über der Tastatur. Sie kennt Gabriels kaum sichtbares Lächeln nur zu gut und weiß, dass er gleich etwas Törichtes tun wird. Der Verleger hingegen lässt die Zähne blitzen. Glaubt ihn im Sack zu haben. Doch er weiß nichts von Gabriels Sucht nach Selbstzerstörung, versteht nicht einmal, wie es so etwas überhaupt geben kann.

Für einen Moment keimt in Gabriel so etwas wie Freude an seinem Job auf. Nichts wirst du von mir kriegen, kein einziges mageres Manuskript. Nicht einmal den schmalbrüstigen Flechendorf, der seine eigene, anämische, völlig unbedeutende Liebesgeschichte wie eine Weihnachtsgans mit Poesie vollgestopft und ihr so den letzten Rest Eigengeschmack ausgetrieben hat. Nicht einmal den werde ich dir geben. Egal, wie viel du bietest. Er nimmt einen Katalog vom Stapel und schiebt ihn über den Tisch.

»Überzeug dich selbst. Die meisten Sachen werden dich nicht interessieren.«

Betzenberg schlägt die erste Seite auf und bleibt augenblicklich hängen. Der Typ ist einfacher auszurechnen als ein überreifer Apfel. Angelique Rosenkranz: jüdische Wurzeln, schwarze Wallelocken, volle, rot geschminkte Lippen. Auserwählt. Leonore hat ein ganzseitiges Porträtfoto mit in den Katalog drucken lassen. Einer wie Betzenberg kommt daran nicht vorbei.

»Was ist mit der?«

»Die ist gut. Unter den vielen neuen Stimmen eine, die bleiben wird.«

»Na also, das ist doch was!«

»Die Rosenkranz? Aber doch nicht für euch.«

Betzenberg strafft sich, seine Brust drängt nach vorn. Eine wie die soll nichts für ihn sein?

»Warum nicht?«

»Viel zu literarisch.«

Leonore bleibt in der Bewegung stecken. Angeliques zarte, kleine Geschichte von der jungen Frau, die zur Beerdigung ihres Großvaters nach Tel Aviv reist und dort auf ihre Jugendliebe trifft, soll zu literarisch sein?

»Dann ist es genau, was ich suche!«, erwidert Betzenberg. »Du weißt doch, dass ich dem Programm eine literarischere Ausrichtung geben will.«

»Aber doch nicht mit der Rosenkranz. Mit der würdet ihr nur über das Ziel hinausschießen, glaub mir.«

Bockig blättert Betzenberg weiter, überfliegt die Synopsis des nächsten Manuskripts.

»Klingt gut«, befindet er.

Gemeint ist Flechendorfs Roman, wenn er denn je einer wird, die mit Poesie gestopfte Weihnachtsgans.

»Könnte der Broschinsky der kommenden Saison sein«, sagt Gabriel.

Betzenbergs Augen leuchten auf wie ein Kinderkarussell. Der nächste deutsche Buchpreis. Hier in seinen Händen. Die Aktie auf die Zukunft.

»Wann kann ich das Manuskript haben?«

»Jederzeit. Ist nur leider schon verkauft.«

»Und wieso, bitte, ist mir das nicht angeboten worden?«

»Preempt.«

Das bedeutet, ein anderer Verlag hat sich die Rechte gesichert, vorab und exklusiv. Ein riskantes Spiel mit hohem Einsatz. Eins, wie Betzenberg es liebt.

»Welcher Verlag?«, will er wissen. Wenn hier einer preempted, dann er.

»Darf ich nicht sagen. Du kennst die Regeln.«

Leonore gibt es auf. Bis hierher hat sie versucht, sich auf die Korrespondenz zu konzentrieren. Hundertsiebenundzwanzig Mails seit gestern Abend: Broschinsky Superstar, der Buchpreis, Interviewanfragen von DIE ZEIT bis Bäckerblume. Jetzt klappt sie ihr Laptop zu und steht auf.

Die Wahrheit ist: Der einzige Grund, weshalb sie Flechendorfs Manuskript überhaupt in den Katalog aufgenommen hat, ist, dass er sie in den vergangenen Wochen derart mit Beschlag belegt hat, dass ihr Wunsch, ihn möglichst schnell an einen Verlag weiterzureichen, inzwischen größer ist als ihr Qualitätsanspruch. Dennoch: Die vorliegende Fassung kann man eigentlich noch niemandem anbieten, und nie im Leben würde ein ernstzunehmender Verleger auf die Idee kommen, Flechendorfs Anekdotenkonglomerat im derzeitigen Zustand mit einer überdurchschnittlich hohen Vorschusszahlung vorab vom Markt zu nehmen.

»Ich hol mir einen Tee«, sagt sie.

Das ist der Moment, in dem Betzenbergs Gehirn aussetzt. Jetzt, da sie steht, befindet sich seine Nase exakt in Leonores Schritthöhe. Er sieht den messingglänzenden Reißverschluss, den doppelt um ihre Taille gewundenen Gürtel, den Rüschensaum ihres Strings, der sich einzig deshalb hinter dem Rand ihrer Jeans versteckt, um dort entdeckt zu werden. Ist nicht zu sehen, ob es wirklich ein Tanga ist. Doch was sollte es sonst sein?

Ein Zucken geht durch den Verleger.

»Hm?«

»Wenn ich sonst nichts mehr für dich tun kann …«, sagt Gabriel.

Leonore ist verschwunden. Betzenberg hält geistesabwesend den aufgeschlagenen Katalog in Händen.

»Aber wir sind noch gar nicht fertig!« Er lächelt. Wann immer er die gebleachten Zähne fletscht, kommt eine feiste Lüge zum Vorschein.

Ich mit dir schon, denkt Gabriel.

Und während Leonore in der Cafeteria ausharrt und im Geiste den vor ihr liegenden Tag zu strukturieren versucht, verfolgen die Kollegen an den benachbarten Tischen ungläubig, wie der Agent mit dem goldenen Näschen seine eigenen Autoren einen nach der anderen schlechtmacht und ihre Manuskripte kleinredet.

Acht Autoren, die Hälfte des Katalogs: So lange dauert es, bis Betzenberg der Tatsache ins Auge zu sehen in der Lage ist, dass er mit leeren Händen von diesem Tisch aufstehen wird. Und selbst dann, im Angesicht der eigenen Demütigung, kann nicht sein, was nicht sein darf.

Er blättert zurück zur ersten Seite. »Also das Manuskript von der Rosenkranz«, er stößt der Autorin seinen erigierten Zeigefinger in die linke Wange, »das will ich Montag zur Prüfung auf dem Tisch haben.«

Gabriel nimmt sich Zeit, dreht das Heft so, dass Angeliques schwarze Augen ihn ansehen. Währenddessen spitzt er im Geiste den Sargnagel an, damit er geschmeidig und mit einem Schlag versenkt werden kann.

»Ganz ehrlich«, sagt er, »die ist nichts für euch.«

Betzenberg gelingt es, seine Schmach zu potenzieren, indem er am Ausgang vorbeistampft, was wahrlich nicht einfach ist, da eine rote Straße im ansonsten grauen Teppichboden exakt den Weg weist. Er muss also kehrtmachen, wobei er sich beobachtet weiß, eilt mit pendelartigen Armbewegungen dem Ausgang zu und bringt bei der Gelegenheit um ein Haar Leonore zu Fall, die nicht länger in der Cafeteria die Zeit totschlagen kann.

»Geht’s dir besser?«

Sie hat wieder ihren Platz neben Gabriel eingenommen. Gleich wird der frisch gekürte Literaturpreisträger erscheinen. Fünf Minuten zu früh, mindestens. Und der Rest des Tages wird einer einzigen, groß angelegten Treibjagd gleichen.

»Für den Moment ja«, erwidert er. »Wird aber nicht lange vorhalten.«

Könnte Leonore natürlich egal sein, wie Gabriel mit potenziellen Käufern umspringt. Ist es aber nicht. Nicht einmal, wenn es sich um einen wie Ulrich Betzenberg handelt. Ist einfach nicht professionell.

»Du hast auch eine Verpflichtung deinen Autoren gegenüber«, erinnert sie ihn.

»Verpflichtung …« Er schließt den Katalog, den der Verleger hat liegen lassen, und packt ihn zurück auf den Stapel. »Ich will nicht mehr, Leonore.«

»Wenn du deine eigenen Autoren nicht verkaufen willst, wozu mache ich mir dann eigentlich die Mühe, wochenlang den Rechtekatalog vorzubereiten?«

»Tut mir leid.«

Eine Entschuldigung, immerhin. Leonore ist die Einzige, bei der er sich noch entschuldigt. Die Letzte.

4.

Leonore hat noch nicht richtig durchgeatmet, da marschiert Sven Broschinsky um die Ecke. Nicht nur fünf, sondern ganze fünfzehn Minuten zu früh. Den hält nichts mehr auf dem Sitz.

Er hat sich Bescheidenheit verordnet: schlichter, ins Anthrazit changierender Anzug, V-Kragen-Pullover, hellblaues Hemd, leger geknöpft. Man erwartet, ihn seinen Pullover mittig in zwei Teile reißen zu sehen, und da steht es dann: das rote S auf gelbem Grund. Superschriftsteller. Die Götter haben ihn an ihre Tafel gerufen, jetzt will er den Olymp in Besitz nehmen. Vorgestern um diese Zeit saß er noch mit zerfurchter Stirn auf dem Hotelbett und tippte eine SMS an Gabriel in sein Telefon: Werde ich Erfolg haben? Seine Antwort: Um Himmels willen, tu so, als wärst Du ein Mann!

Leonore telefoniert, trägt mit der Hand Termine in ihren Kalender ein und tippt gleichzeitig auf der Tastatur ihres Laptops. Dennoch ringt sie sich ein Lächeln ab und lässt sich von Broschinsky mit Wangenkuss begrüßen. Sie freut sich für ihn. Ganz ehrlich. Jemand, dessen gesamte Existenz davon abhängt, wenigstens ein Mal ganz oben gestanden zu haben, sollte diese Erfahrung auch machen dürfen. Sonst verbittert er, wird missgünstig, altert vor der Zeit und vergiftet seine Umwelt. Außerdem mag Leonore ihn. Er rührt sie. Sie hat eine Schwäche für das vergebliche Streben, für das Ringen, an dessen Ende unweigerlich das Vergessen wartet.

Der Erfolgsschriftsteller umarmt seinen Agenten wie einen lebenslangen Freund, klopft ihm auf die Schulter, trippelt auf der Stelle.

»Das ist es jetzt, oder?«, flüstert er.

Als sei sein Roman über Nacht ein anderer geworden, als sei seit dem Morgen jedes Wort zwischen den Pappdeckeln goldüberzogen.

»Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht?«, erwidert Gabriel.

Broschinsky ist tatsächlich den Tränen nah, so bewegt ist er von der eigenen Bedeutung.

»Glaub nicht, dass ich je vergessen würde, was du für mich getan hast«, flüstert er.

Als wäre er bereits weitergezogen und hätte Gabriel hinter sich gelassen. Dabei hätte Sauerkirschregen ohne Leonores selbstlose Hingabe niemals auch nur das Licht der Welt erblickt. Selbstlose Hingabe, Broschinsky! Was das bedeutet, wirst du in diesem Leben nicht mehr begreifen.

»Würde dir auch verdammt schwerfallen, das zu vergessen«, erwidert Gabriel. »Schließlich ziehe ich dir von jedem Atemzug, den du ab heute tust, fünfzehn Prozent plus Mehrwertsteuer ab.«

Broschinsky lacht, klopft seinem Agenten erneut auf die Schulter. Guter Witz. Glaubt er. Noch eine Umarmung, denkt Gabriel, und ich knall dir eine.

»Setz dich«, sagt er.

Kann Broschinsky jetzt eigentlich nicht: sitzen. Doch Gabriels Stimme hat etwas, das einen gar nicht erst auf die Idee kommen lässt, nicht zu tun, was er sagt.

Es ist dieselbe Bewegung wie zuvor bei Betzenberg, dieses Auseinanderflappen der Jackettflügel, die Gabriel die ganze Kläglichkeit dieser monströsen Veranstaltung vor Augen führt: der vergebliche Versuch zu fliegen. Das Agent’s Center ist inzwischen bevölkert von Frauen mittleren Alters in zu langen Wollröcken von unbestimmter Farbe, die sich mit ihren Trüffelnasen von Tisch zu Tisch stöbern, von Agent zu Agent.

Bringt uns präsentable deutsche Debütantinnen! So lautet der Befehl, mit dem die Verleger in diesem Jahr ihre Lektoren heiß machen, bevor sie sie von der Leine lassen. Davor war es Sex!, davor: Fantasy! Doch dieses Jahr heißt es: junge deutsche Debüts! Jeder Verlag will sie, doch der Markt gibt wenig Brauchbares her, und das Beste von dem wenigen gibt’s bei Gabriel. Wenn er es darauf anlegte, könnte er bis zum Abend seinen kompletten Rechtekatalog verhökern. Dann noch zwei Whiskey drauf und Abreise.

Broschinsky sieht ihn mit leuchtenden Augen an. Unwillkürlich wippt sein linkes Bein. Mehr, mehr, mehr! Er ist auf Entzug. Wie der kleine Hävelmann: Kann den Hals nicht voll genug kriegen. Und am Ende muss ihn einer aus dem Wasser ziehen. Leonore vermutlich. Gabriel wird es auf jeden Fall nicht sein. Er wirft einen Blick auf die Uhr: acht Stunden, fünfzehn Minuten.

»Genieß es, Sven«, sagt er unvermittelt. »So ein Tag kommt im Leben nur einmal.«

Wenn überhaupt, dann hört der Preisgekrönte seinen Agenten nur von Ferne. Sein Blick driftet ab, verliert sich in einer Zukunft, die ganz aus Verheißung besteht. Er reckt die Nase in den Fahrtwind, nimmt Witterung auf.

»Ich glaube«, er macht eine umfassende Geste, »das alles ist erst der Anfang …«

»Der Anfang vom Ende.«

Broschinskys Blick verschleiert sich.

»Du wirst nie wieder so gut sein wie in Sauerkirschregen

Broschinsky ist konsterniert. Sein Bein hört auf zu wippen. Endlich.

»Es ist der Preis.« Gabriel faltet die Hände auf dem Tisch, tippt die Daumenkuppen aneinander. »Noch spürst du das Gewicht nicht, Sven, doch der Preis ist eine Fessel, und von morgen an wird sie jeden Tag ein bisschen schwerer werden. Sie wird dich lähmen, Sven, eine schleichende Lähmung, qualvoll. Natürlich wirst du weiterschreiben, und es wird sich auch immer jemand finden, der deine Bücher verlegt. Doch alles, was du in Zukunft veröffentlichst, wird hieran gemessen werden« – Gabriel deutet auf das Exemplar von Broschinskys Roman, das neben ihm liegt und so weit über die Tischkante ragt, dass es bei der nächsten Erschütterung herunterfallen wird – »und allein aus diesem Grund nicht mehr an den Vorgänger heranreichen. Sie wollen dich stürzen sehen, schon jetzt.« Gabriel kneift die Augen zusammen. Dieses Neonlicht kriecht in jede noch so kleine Falte und saugt einem das Leben aus der Haut. Er spürt den Überdruss wie eine Bleiweste. »Alles, was du in Zukunft jemals sein wirst, Sven, ist bereits gewesen. Egal, was du in diesem Leben noch auf die Beine stellst: Du wirst nie wieder etwas anderes sein als der Ex-Preisträger des Deutschen Buchpreises. Vielleicht wird es dir eines Tages gelingen, die existenziellen Krisen, die dir bevorstehen, noch einmal zu destillieren und ein wirklich gutes Buch zu schreiben. Eine Handvoll Autoren hatte dieses Glück. Ich persönlich glaube allerdings nicht dran. Spielt aber auch keine Rolle, was ich glaube. Bis es so weit ist, werde ich ohnehin längst von Würmern zerfressen sein.«

In das anschließende Schweigen hinein stößt Leonore ein missbilligendes Schnaufen aus, das sich ausschließlich an Gabriel richtet und daher auch nur von ihm verstanden wird. Broschinskys Mund ist leicht geöffnet. Schockstarre. Was willst du, denkt Gabriel, an Leonore gerichtet, ich trage die Verantwortung für meine Autoren. Behauptet jedenfalls meine Assistentin. Nächsten Monat wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Bis dahin werden sie Sven so viel Blut aus den Adern saugen, wie er zu geben bereit ist. Ist ein tiefer Fall, der ihn erwartet. Besser, er ist vorbereitet.

Leonore tippt noch etwas in das Laptop, schickt es los. Gabriel hört bereits an ihrem Anschlag, wie genervt sie ist. Anschließend erhebt sie sich und schultert ihre Handtasche.

»Wir müssen.«

Das gilt Broschinsky. Sie wird ihn sicher durch diesen Tag geleiten, hat sie ihm versprochen. Sich dezent im Hintergrund halten, ihm jedoch nicht von der Seite weichen und jedes drohende Unheil mit einem Lächeln von ihm abwenden.

Der Autor blickt irritiert. Gabriels Worte haben ihn vom Kurs abgebracht.

»Süddeutsche Zeitung«, hilft Leonore. »In zehn Minuten am Verlagsstand. Deine Lektorin und Frau von Vangerow warten bereits.«

Süddeutsche Zeitung. Augenblicklich hält Broschinsky die Zügel wieder in der Hand. Beinahe springt er vom Stuhl auf.

»Alles klar.«

Gabriel blickt den beiden nach. Noch bevor sie die Standvase mit dem Plastikgrünzeug passiert haben – eine Art Wendemarke auf dem Weg zum Ausgang –, vibriert sein Handy und signalisiert ihm eine eingegangene Nachricht. Leonore, abgeschickt vor einer Minute:

Bravo, Gabriel! Du hast es wirklich drauf, jungen Autoren Mut zu machen. In zehn Minuten kommt übrigens die Cheflektorin von den Frankfurtern. Tu mir bitte den Gefallen und sag ihr, dass nicht ALLES Scheiße ist, was wir im Katalog haben. Schönen Tag.

Gabriel verschränkt die Hände im Nacken, wendet sein Gesicht den Neonröhren an der Hallendecke zu und schließt die Augen. Jetzt soll er ihnen auch noch Mut machen.