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Vorwort

Weil ich Jesidin bin und die demokratischen Werte verteidige, erhalte ich Todesdrohungen. Eine große Kinokette will meinen Film über die Verbrechen des »Islamischen Staates« (IS) nicht zeigen – aus Angst vor Anschlägen. Ein Bürger, der die Produktion meines Films unterstützt hat, möchte im Abspann nicht namentlich genannt werden – aus Angst vor Repressalien. Die Angst zieht sich heute wie ein roter Faden durch mein Leben. Dabei bin ich eigentlich kein ängstlicher Mensch. Aber ich spüre die Angst überall. Ich spüre, wer sie verbreitet, wer Angst hat, wer etwas zu verlieren hat. Angst schafft Unruhe und verbreitet Unsicherheit. Angst lähmt uns, und sie nimmt uns die Freiheit. Was ich um mich herum erlebe, bringt mich zu dem Schluss: Das Fundament unseres Zusammenlebens ist bedroht. Deutschland ist bedroht. Das klingt hart, und viele denken insgeheim: »Mich und meine Familie wird es schon nicht treffen. Das geht mich nichts an.«

Die Bedrohung betrifft nicht nur diejenigen, die sich laut äußern. Die Bedrohung fängt im Persönlichen an, doch sie erstreckt sich auf unsere demokratische Gesellschaft als Ganzes. Sie beginnt, wenn ich lese, was hasserfüllte muslimische Hardliner in den sozialen Netzwerken über mich schreiben. Wenn Journalisten auf mich zukommen und sagen: »Sie werden massiv bedroht.« Wenn ein Salafistenprediger wie Pierre Vogel öffentlich behauptet, ich mache den Islam als Religion schlecht, dann tut er das, weil er darauf spekuliert, dass manche Leute mich zu hassen beginnen. Was er sagt, ist eine Lüge, die gefährlich für mich ist. Aber es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte. An einem Ort wie Dinslaken, wo gewaltbereite Salafisten ihr Unwesen treiben, werden kritische Journalisten wie ich schon lange mit bösen Blicken und giftigen Bemerkungen verfolgt. Was habe ich verbrochen?

Anfangs galt das, was ich tue, als mutig. Inzwischen heißt es, ich begebe mich in Gefahr. Ich gehe ein persönliches Risiko ein, wenn ich die Wahrheit sage. Die Frage ist: Wenn ich der Angst gehorche und mich still verhalte – geht es mir dann besser? Die Antwort lautet: Nein. Viele in diesem Land trauen sich nicht mehr, ihre Meinung zu äußern. Andere müssen unter Einsatz ihres Lebens zu ihr stehen. Aber wenn wir als Bürger dieses Landes meinen, wir würden sicherer leben, wenn wir uns aus den Konflikten heraushalten, dann unterliegen wir einem fatalen Irrtum. Wir müssen vielmehr wieder sprechen lernen.

Seit ich gesehen habe, was Ungerechtigkeit und die Verweigerung von Religionsfreiheit mit Menschen machen, verteidige ich dieses Land. Der Völkermord, den der IS an den Jesiden im Nordirak verübt hat und den ich mit eigenen Augen gesehen habe, hat mich mutig gemacht. Wir sollten dankbar sein, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem die Menschenrechte nicht mit Füßen getreten werden, in einem Staat, in dem wir alle Möglichkeiten haben, zu partizipieren und zu gestalten. In anderen Ländern wird man umgebracht, wenn man sich für diese Rechte einsetzt.

Wenn Deutschland bedroht ist, stehe ich auf. Das tue ich auch mit diesem Buch: Es ist ein Aufruf, sich zu wehren. Wir müssen uns als neue und als alte Deutsche gemeinsam neu definieren. Wir müssen Entschlossenheit zeigen gegenüber den bösen Zwillingen, den rechtsextremen wie den islamistischen Feinden der Demokratie. Wir müssen aufhören, unpolitisch zu sein. Wir müssen uns unsere Rechte nehmen und sagen: Es geht mich etwas an, was da draußen passiert. Ich mache das zu meiner Sache.

Junge Menschen, die in diesem Land geboren sind, erliegen der Propaganda gewaltbereiter Salafisten und des IS. Wenn junge Männer nach Syrien reisen, um im Dschihad zu sterben, wenn die Mädchen ihnen folgen, um einen islamistischen Kämpfer zu heiraten, dann ist das ein Problem, das uns alle betrifft. Mit diesen fanatisierten Jugendlichen exportieren wir den Terror in die Länder des Mittleren Ostens, deren Schicksal uns zu lange gleichgültig war. Diese jungen Menschen sind Opfer einer Ideologie, die Religion in den Dienst der Politik stellt und sich dabei auf konservative Auslegungen des Islam stützen kann.

Umgekehrt importieren wir den Terror nach Deutschland, indem wir islamistischen Fundamentalisten Einlass in unser Land gewähren. Es ist nicht die große Zahl der hierher geflüchteten, bedrohten und verfolgten Menschen, die mir Sorgen bereitet. Die meisten von ihnen sind dankbar, dass sie in Deutschland Schutz gefunden haben. Mir geht es um die Hardliner, die – unregistriert und mit falscher Identität ausgestattet – in unser Land kommen. Sie nutzen die Wege der Flüchtlinge, um in Deutschland unterzutauchen.

Zugleich radikalisiert sich eine Allianz aus NPD und Pegida. Beinahe jeden Tag müssen wir erleben, dass Flüchtlingsheime angezündet und Anschläge auf Asylsuchende verübt werden. Menschen, die vor dem Terror des IS und den Fassbomben Assads zu uns geflohen sind, werden in Deutschland erneut angegriffen und bedroht. Auch diejenigen, die sich für Flüchtlinge engagieren, sind vor verbalen und physischen Attacken nicht mehr sicher.

All das führt uns vor Augen, dass wir ein Integrationsproblem haben, das nicht nur Migranten betrifft: Es gibt zu viele Menschen in diesem Land, die unsere demokratischen Werte nicht teilen. Und was tun wir? Nur zu gern überlassen wir die Politik den Profis und den Extremisten. Wir meckern, wenn es nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen. Für mich grenzt ein solches Verhalten an unterlassene Hilfeleistung. Selbstverantwortung und politisches Bewusstsein sind für mich Bürgerpflicht. Ich weiß, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben trage, und nehme mir das Recht auf eine politische Meinung und auf politische Teilhabe. Das nenne ich demokratische Machtausübung. Wer sich dieses Recht nimmt, kann die Entwicklung beeinflussen, kann Prozesse in seinem Sinn gestalten.

Wir alle müssen uns heute fragen, in welcher Welt wir leben und in welche Welt wir unsere Kinder entlassen wollen. Wir müssen endlich aus unserem Traum erwachen und von der rosaroten Wolke herunterkommen, auf der wir es uns schon zu lange bequem gemacht haben. Wir müssen die Augen aufmachen und erkennen, was um uns herum los ist. Was wir dann sehen werden, ist nicht schön. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Der Friede in Deutschland ist bedroht.

Wir als Bürger können entscheiden, wie wir mit dieser Bedrohung umgehen. Wenn Migranten, ihre Kinder und Enkel auch dazugehören sollen und dürfen, dann ist Deutschland bedroht, und zwar in dem Moment, in dem die neuen Deutschen bedroht sind, weil sie die hiesigen Werte verteidigen. Wer das verstanden hat, erkennt, dass auch die Gewalt nichts mit Herkunft zu tun hat, sondern mit Werten im Kopf.

 

Düzen Tekkal

Berlin, im Januar 2016

I

Die Reise, die mein Leben verändert hat

Gegen Ende unseres Flugs nach Erbil im Norden Iraks wurde es dunkel an Bord. Alle Lichter waren ausgeschaltet. Ich fragte einen Flugbegleiter nach dem Grund. Er antwortete: »Wir schalten die Lichter aus, damit wir nicht beschossen werden.« Das war der Moment, in dem ich mich fragte, was ich in einem Flugzeug mache, das demnächst beschossen werden könnte. Es war erst vier Tage her, dass mich die Hilferufe aus dem Irak erreicht hatten.

Ich war mit einem Filmteam in Oldenburg unterwegs gewesen, um für einen deutschen Fernsehsender über die Zustände in einem Altenheim zu recherchieren. Als mein Telefon an diesem Tag zum ersten Mal klingelte, wollte ich das Gespräch erst nicht annehmen. Dann aber sah ich die Nummer, die Vorwahl war exotisch, und das machte mich neugierig. Ein Mann, mit dem ich noch nie gesprochen und dessen Namen ich nie zuvor gehört hatte, sagte: »Hilf uns, wir werden alle getötet!« Er sprach eindringlich und versuchte mir deutlich zu machen, wie ernst es ihm mit seiner Bitte war. Aber ich hatte längst verstanden, und diese Erkenntnis war schrecklich. Wenn Menschen in Todesangst sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als eine unbekannte Fernsehjournalistin in einem fernen Land anzurufen, dann heißt das, dass sie vollkommen allein und schutzlos sind.

Mein Telefon hörte an diesem Tag nicht mehr auf zu klingeln. Manche Anrufer flehten, manche weinten und waren vollkommen aufgelöst, manche waren sehr ruhig und klar. Aber ihre Botschaft war immer dieselbe: »Hilf uns, wir werden alle getötet!« Milizen des »Islamischen Staates« (IS) waren in die jesidischen Siedlungsgebiete eingefallen und hatten Männer, Frauen und Kinder ermordet. Wer überlebte, war geflohen. Zehntausende waren eingekesselt in einer karstigen Berglandschaft, in der kein Baum wächst. Tagsüber wird es im Sommer bis zu 50 Grad heiß, nachts ist es kalt. Viele Menschen starben schon auf dem Weg ins Gebirge. Die Menschen, die mich anriefen, fürchteten um ihr Leben, und sie hatten Angst vor dem Ende des Jesidentums im Irak. Ich bin als Tochter jesidischer Eltern in Hannover geboren worden. Wir Jesiden sind eine kleine Gemeinschaft, und es hatte sich auf den kargen Hängen des Sindschar-Gebirges herumgesprochen, dass es in Deutschland eine jesidische Journalistin gibt.

Seit diesem Tag, es war der 5. August 2014, ist für mich und viele andere nichts wie zuvor. So ist das manchmal im Leben: Plötzlich ergibt sich eine Situation, in der man sich fragen muss, ob man hinsieht oder wegschaut. Ob man sich zum Handeln entschließt oder passiv bleibt. Ob man das Richtige tut oder das Falsche. Ich habe mich noch an diesem Tag entschieden, dem Hilferuf der Jesiden zu folgen. Deswegen heißt der Film, den ich wenig später im Norden des Irak zu drehen begann, »Háwar«, auf Kurdisch ›Hilfe‹. Die dramatische Situation der Jesiden im Sindschar machte mir einmal mehr bewusst, dass der Weltgemeinschaft ein jesidisches Leben nichts wert war. Was wäre wohl passiert, wenn 5000 amerikanische oder deutsche Frauen in die Hände des IS geraten wären? Es waren aber »nur« Jesidinnen. Ich wollte, dass dieses »nur« aus den Köpfen verschwindet.

In dieser Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen. Ich dachte daran, wie gefährlich es sein würde, in das Kriegsgebiet zu reisen. Ich hatte Angst. Aber dann sagte ich mir, dass ich schon oft in meinem Leben Angst gehabt hatte. Nie hat mich das davon abgehalten, mich den Herausforderungen zu stellen. Dies war die größte Herausforderung meines bisherigen Lebens. Ich wusste: Es ist so weit. Ich habe keine andere Wahl.

Ich hatte meinen Entschluss gefasst. An meinen Vater hatte ich dabei nicht gedacht. Als ich ihm tags darauf aber von meinem Vorhaben erzählte, bemerkte ich an seiner Reaktion recht schnell, dass es für ihn nicht infrage kam, seine Tochter allein in den Irak reisen zu lassen. Mein Argument, dass ich Journalistin sei und er Rentner, ließ er nicht gelten: »Im Irak herrschen andere Regeln. Du bist eine Frau, und du bist meine Tochter. Ich bin dein Vater, und ich werde dich begleiten.« So beschlossen wir, diese Mission gemeinsam zu unternehmen. Dass der Rest der Familie dagegen war und uns von dieser Reise abzuhalten versuchte, konnte an unserer Entscheidung nichts ändern. Wir beide waren uns einig: jetzt oder nie.

Schon lange hatten mein Vater und ich über eine solche Reise zu unseren jesidischen Wurzeln gesprochen. Mir erschien sie beinahe als vorbestimmt. Von Kindesbeinen an bin ich darauf vorbereitet worden. Als ich noch für die Mediengruppe RTL arbeitete, drängte mein Vater immer wieder: »Du bist Journalistin. Du bist zwar fest angestellt bei einem Sender, aber deine Aufgabe ist eine andere. Du musst nach deinen Wurzeln fragen.« Geduldig erklärte ich ihm jedes Mal aufs Neue, dass Journalisten das öffentliche Interesse im Blick haben und problemorientiert arbeiten. Und wenn ich das Thema Jesiden in der Redaktionskonferenz vorschlug, bekam ich stets dieselbe Antwort: »Mit Verlaub, aber wer ihr seid und wo ihr herkommt – das interessiert den Leser doch nicht.«

Als der IS in Sindschar einfiel, gelangten die Jesiden nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu trauriger Berühmtheit. Unser Leben und unsere Religion wurden nun plötzlich erzählbar. Die Geschichte, die mein Vater und ich schon lange in die Öffentlichkeit tragen wollten, war jetzt gefragt. Das Telefon stand nicht mehr still, jeder wollte etwas über uns und unsere Glaubensgemeinschaft wissen. Die Reise, die unser Leben für immer verändern sollte, begann.  

Als Kriegsberichterstatterin im Irak

Viele Jahre lang habe ich mich gefragt, ob ich das richtige Leben lebe. Oder lebte ich womöglich daran vorbei? Tat ich das Richtige? Stiftete das, was ich tat, Sinn? Gab es nicht eine Aufgabe, die ich erfüllen musste? Ich dachte oft darüber nach, was ich machen würde, wenn mein Vater eines Tages nicht mehr leben sollte: Was wäre, wenn ich dann seinen Wunsch nicht erfüllt hätte, wenn ich der Frage nach meinen jesidischen Wurzeln ausgewichen wäre?

Ende 2013 kündigte ich bei RTL. Ich hatte keine Rücklagen, ich besaß auch keinen Plan. Aber ich hatte eine Idee davon, wer ich war und wo ich hin wollte. Diese Kraft hatte ich. Ein halbes Jahr später fielen die IS-Milizen im Nordirak ein. Ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, konnte ich mich spontan auf den Weg machen, als es nötig war.

Die größte Schwierigkeit bestand darin, einen Kameramann für unsere Reise zu finden. Die Kameramänner, mit denen ich sonst zusammenarbeitete, waren allesamt Familienväter. Sie fanden es richtig, dass ich in den Irak flog, um über den Genozid an den Jesiden zu berichten. Sie selbst wollten das Risiko aber nicht eingehen. Ich habe das gut verstanden. Ich hatte mich dafür entschieden, diese gefährliche Reise zu unternehmen, weil ich als Jesidin persönlich betroffen war. Ich fühlte mich für die von Tod, Verschleppung und Vergewaltigung bedrohten Menschen im Norden Iraks verantwortlich. Ich war nie besonders gläubig gewesen, aber wenn das Volk deines Vaters ums Überleben kämpft und mit Waffengewalt verteidigt werden muss, dann wirst du gläubig. Als Jesidin weißt du sehr genau, wer du bist. Die Jesiden sind als Kurden eine Minderheit in der Minderheit. Da lernst du früh, wo du stehst, vor allem wenn es um Leben oder Tod geht.

Mein Vater übernahm die Aufgabe des Stringers, der für die Organisation der Kontakte zuständig ist. Das ist eigentlich eine Arbeit, die man gelernt haben muss, doch der Krieg fragt nicht nach der richtigen Ausbildung. Es war klar, dass mein Vater zudem der beste Producer sein würde, den man sich für eine solche Reise vorstellen konnte. Er kannte viele einflussreiche Persönlichkeiten in der Region, und er wusste, worum es ging. Das habe ich auch den Kollegen von Stern TV erklärt, die es seltsam fanden, dass ich mit meinem pensionierten Vater in ein Kriegsgebiet fliegen wollte. Ich brauchte den Produktionsauftrag von Stern TV aus finanziellen Gründen, mein Geld reichte nicht, um die Aufnahmen selbst zu finanzieren. Stern TV reagierte schnell, und über die Produktionsfirma konnte ich einen Kameramann organisieren, der es gewohnt war, in Krisengebieten zu arbeiten. Er flog von Deutschland aus mit. Abgesehen von seiner sensationellen Drehleistung zeichnete er sich durch seine Gelassenheit aus. Er konnte mit der Situation umgehen und war völlig angstfrei.

Vier Tage, nachdem ich in Oldenburg die Anrufe der verzweifelten Menschen aus dem Irak erhalten hatte, flogen wir los. Das war nicht einfach, weil es kaum Flüge gab. Lufthansa hatte den Flugverkehr in den Norden des Irak eingestellt, weil die Lage zu gefährlich war. Austrian Airlines sagte am Tag vor unserer Abreise ab. Schließlich flogen wir mit Turkish Airlines.

Vorher sammelte ich im Netz noch einmal Informationen über den Ort, an den die Reise gehen würde. Ich stand noch auf sicherem deutschem Boden, als mir klar wurde, dass ich am nächsten Tag nicht nur in ein Kriegsgebiet fliegen würde. Der Norden des Irak galt als der gefährlichste Ort der Welt. Nicht lange zuvor war der amerikanische Journalist James Foley dort vor laufender Kamera geköpft worden. Der IS hatte das Video der Ermordung im Internet veröffentlicht. Die Welt war schockiert. Es fiel mir schwer, den Gedanken zu ertragen, dass ich wegen dieser Reise nicht nur mein Leben, sondern auch das meines Vaters in Gefahr bringen würde. Aber ich wusste, mit meinem Vater darüber zu streiten hatte keinen Sinn. Er würde mich nicht allein fliegen lassen.

Mitten in der Nacht landeten wir in Erbil. Dort wurden wir abgeholt und fuhren weiter nach Dohuk. Der übliche Weg in die jesidischen Siedlungsgebiete führt über die Hauptverbindungsstraße, die auch die Großstadt Mosul durchquert. Wir umfuhren die Stadt auf Nebenstraßen. Aus dem Fenster sah ich Schilder mit der Aufschrift Mosul. Allein den Namen dieser Stadt zu lesen, zu erkennen, dass wir nicht weit von ihr entfernt waren, flößte mir Angst und Schrecken ein. Mosul war im Juni 2014 vom IS eingenommen worden. Die Jesiden, die nicht bereit gewesen waren, zum Islam zu konvertieren, wurden umgebracht, ebenso erging es den Christen. Jesiden wie Christen waren in Scharen aus Mosul geflohen, nur wenige waren geblieben. Während wir durch die Nacht fuhren, entlud sich ein Unwetter. Es regnete, blitzte und donnerte, und ich hatte das Gefühl, die Welt geht unter. Überlebst du diese Nacht überhaupt noch? Unser Fahrer war uns empfohlen worden. Wir konnten ihm vertrauen, und das ist das Wichtigste an einem Ort wie diesem. Denn verraten werden kann man nur von den eigenen Leuten.

Am Ende dieser schreckenerregenden Fahrt erreichten wir unser Hotel in Dohuk. Üblicherweise ist die Ankunft im Hotel der Augenblick, in dem man es geschafft hat. Ein gutes Hotel ist wie ein zweites Zuhause, man fühlt sich sicher und aufgehoben. Aber nicht in Dohuk. Weil dort internationale Gäste absteigen, waren auf unser Hotel bereits mehrfach Anschläge verübt worden. Wir befanden uns 20 Kilometer von der Front entfernt. Ich legte mich ins Bett, aber ich vermochte nicht zu schlafen. Man kann im Krieg nicht schlafen. Ich lag allein in meinem Hotelzimmer und machte einen großen Fehler, den ich später nie wieder begangen habe. Ich las im Netz mehr über den gefährlichsten Ort der Welt. Irgendwann hielt ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus. Ich ging nach draußen und begann zu zittern.

Den Horror des Kriegs spürt man in dem Moment, da man irakischen Boden betritt. Er fängt an mit der Stimmung, die dort herrscht, mit den Geschichten, die die Menschen erzählen. Der Taxifahrer erzählt die erste Horrorgeschichte, und so geht es weiter. Ich war vorher noch nie im Krieg. Nun sah ich die Angst in den Gesichtern, spürte die Unsicherheit. Ich konnte den Krieg riechen, eine Mischung aus süßem Tee und Angstschweiß. Bis heute haben die Terroristen des IS mehrere Tausend Jesiden getötet. Ungefähr 7000 Jesiden befinden sich derzeit in IS-Gefangenschaft. Darunter sind 5000 Frauen und Kinder. Von knapp einer Million Jesiden weltweit sind derzeit 480 000 auf der Flucht – also jeder zweite. Viele davon traf ich in Flüchtlingslagern im Norden des Irak und in der Türkei. Kinder erzählten mir davon, wie ihre Väter vor ihren Augen enthauptet wurden. Schöne Kinder mit grünen, blauen, braunen Augen, die niemandem etwas getan hatten, außer dass sie Jesiden waren. Sie klammerten sich an mich und flehten, dass ich sie mitnehmen solle. Ihre Eltern seien tot und sie ganz allein. Väter zeigten mir die Pässe ihrer Töchter, die der IS verschleppt und als Sklavinnen verkauft hatte. Mütter hatten ohnmächtig zugesehen, wie ihre Töchter vom IS abgeholt wurden. Misshandelt und vergewaltigt brachte man sie ihnen zurück.

Erst jetzt, viele Monate später, da die überlebenden Frauen zu sprechen beginnen, zeigt sich das ganze Ausmaß der Gewalt: Ich sprach mit einem Geschwisterpaar, das in die Fänge des IS geraten war. Die ältere Schwester war gerade 18 und bot sich selbst den Terroristen an, damit ihre jüngere, neun Jahre alte Schwester verschont würde. Viele jesidische Frauen nahmen das Leid lieber selbst auf sich als zu erleben, dass es ihren Glaubensschwestern widerfährt.

Eine jesidische Frau, die inzwischen Asyl in Deutschland bekommen hat und psychologisch betreut wird, verlor durch den IS ihre gesamte Familie. Ihr Mann wurde ermordet, ihre beiden Söhne wurden vom IS zu Kindersoldaten gemacht. Man drillt die Kinder darauf, gegen ihre eigenen Familien zu kämpfen. Ihre beiden Töchter wurden versklavt. Mit dem Säugling konnten die Männer des IS nichts anfangen; sie brachen ihm vor den Augen der Mutter das Genick. Seither wird die Frau von diesem Bild verfolgt, sie wird es nicht mehr los.

Viele jesidische Frauen wurden wahnsinnig. Eine von ihnen rannte ins Feuer und zog sich schwere Verletzungen zu, weil sie dachte, die IS-Männer seien wieder hinter ihr her. Viele Jesiden haben den Terror überlebt, aber sie haben kein Leben mehr. Es wird schwer werden, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Die Überlebenden haben das Gefühl, die Toten hätten es leichter als sie. Das gilt für die Frauen wie für die Männer.

Bislang hatte ich jesidische Männer immer als stark erlebt. So bin ich aufgewachsen. Ich weiß, wie wichtig ihre Ehre für sie ist; oft ist sie das Einzige, was ihnen geblieben ist. Diese stolzen Männer gebrochen und zusammengekauert am Boden hocken zu sehen, Familienväter zu erleben, die um ihre verschleppten oder getöteten Kinder weinen – das hat mir das Herz zerrissen. Mein Weltbild geriet ins Wanken.

Stellen Sie sich vor, Sie liegen nachts friedlich in Ihrem Bett, die Kinder schlafen ahnungslos. Mitten in der Nacht hören Sie Schritte, die Schritte werden lauter, kommen näher. Mit Gewalt dringen die IS-Milizen in Ihr Haus ein, sie tragen lange Bärte und Schwerter. Nun ist die ganze Familie wach, alle sind panisch vor Angst, keiner weiß, was er tun soll. Die Soldaten der kurdischen Peschmerga, die für ihren Schutz verantwortlich sind, sind geflüchtet. Ich bin mir sicher, dass in dieser Nacht im August 2014 Menschen vor Angst gestorben sind. Diese Nacht darf niemals vergessen werden. Sie muss uns daran erinnern, dass die Jesiden nicht noch einmal schutzlos ihren Verfolgern ausgeliefert sein dürfen.

Als die Peschmerga-Einheiten ihre Stellungen räumten, war das ein Erfolg für die Strategie des IS, überall im Land und im Rest der Welt Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Aufgabe der Peschmerga wäre es gewesen, die Jesiden zu schützen. Doch die kurdischen Kämpfer flohen vor den fanatischen Bärtigen, die nicht davor zurückschrecken, Menschen mit der Machete die Köpfe abzuhacken. Die Jesiden konnten nicht weglaufen. Sie mussten kämpfen, um ihr Leben, ihre Religion, ihre heiligen Stätten zu verteidigen. In der Pilgerstätte Scherfedin nahe der Stadt Sindschar, auf Kurdisch Schingal, hielten sie mit ein paar Dutzend Kämpfern den IS-Milizen stand. Die Jesiden haben dem IS getrotzt und ihn in der Region Sindschar mithilfe kurdischer Einheiten später auch besiegt. Die Kurden und die Jesiden verteidigen im Norden Iraks und in Syrien das Leben all jener, die der IS versklaven oder gleich ermorden will. Sie verteidigen damit auch die Werte des Westens.

Mit unserem Team besuchten wir jesidische Kämpfer, bevor sie an die Front gingen. Es hat mich schockiert zu erfahren, welches Leid diese Menschen schon erlebt haben. Der Tod war eine Möglichkeit, mit der man jederzeit zu rechnen hatte. Ich erinnere mich an eine stolze 90-jährige Jesidin. Die alte Frau buk das jesidische Brot und gab es ihrem grauhaarigen Sohn mit auf die Reise an die Front. Ihr war bewusst, dass er vielleicht nicht zurückkehren würde. Das Brot wurde neben die Waffen und die Schutzwesten gelegt. Als der Sohn wegfuhr, empfand ich eine tiefe Trauer. Plötzlich sah ich diese Männer mit anderen Augen: Für mich waren sie Helden. Es beeindruckte mich, wie selbstverständlich sie das in ihren Augen Notwendige taten. Sie fuhren in das IS-Gebiet, um gegen die Männer zu kämpfen, die ihre Frauen und Töchter verschleppt und vergewaltigt hatten. Der Mut, den diese jesidischen Männer zeigten, war Ausdruck des Bewussteins, dass nur ihr enger Zusammenhalt den Jesiden helfen würde zu überleben. Das war in der Vergangenheit so gewesen und würde diesmal nicht anders sein.

Im Irak schien mir Deutschland sehr weit weg zu sein. In Deutschland war es ruhig und sicher. Im Irak herrschten Krieg, Tod und Angst. Zugleich begriff ich während dieser Reise, wie nah uns Deutschen dieser Krieg im Mittleren Osten schon gekommen ist. Auf beiden Seiten der Front wird Deutsch gesprochen. In den vergangenen Jahren haben sich beinahe 1000 Deutsche in Irak und Syrien den IS-Milizen angeschlossen. Der vielleicht bekannteste ist der deutsche Rapper Deso Dogg. Als Denis Mamadou Gerhard Cuspert 1975 in Berlin-Kreuzberg geboren, kam er laut Angaben des US-Verteidigungsministeriums am 16. Oktober 2015 in der Nähe von Rakka bei einem Luftangriff ums Leben. Deutsche Behörden vermuten inzwischen aber, dass Cuspert den Angriff überlebt haben könnte. Nach einer erfolglosen Rap-Karriere hatte sich der spätere IS-Kämpfer der radikalen Salafistengruppe Millatu Ibrahim angeschlossen und Deutschland zum »Kriegsgebiet« erklärt. Nachdem er sich nach Ägypten abgesetzt hatte, fanden Ermittler in einer Wohnung deutscher Islamisten eine Sprengstoffweste, die Cuspert angeblich hergestellt hatte. Später posierte er in einem IS-Propagandavideo, das im Internet verbreitet wurde, mit einem abgeschnittenen Kopf. Dennoch – oder vielleicht deshalb? – gilt er manchen jungen Muslimen in Deutschland als Volksheld und Vorbild. Laut Medienberichten hat er im August 2014 die Brigade der in Deutschland verbotenen Millatu Ibrahim in Mosul angeführt.

Etwa zur selben Zeit begleitete ich einen jesidischen Kämpfer aus Deutschland an die Front. Kurz bevor er losfuhr, holte er eine Deutschlandfahne aus seiner Tasche. Er sagte: »Wenn ich sterbe, könnt ihr diese Fahne auf mein Grab legen.« So patriotisch denken und handeln die meisten deutschen Jesiden. Sie haben Deutschland als ein Land erfahren, in dem sie erstmals frei und ohne Unterdrückung leben können. Der Mann, der die Deutschlandfahne in den Irak mitgebracht hatte, war Familienvater, ein Bäcker, der noch nie in seinem Leben gekämpft hatte. Er zitterte, als er das erste Mal eine Waffe in die Hand nahm. Aber er konnte dem Genozid an seinem Volk nicht tatenlos zusehen. Er ließ sein sicheres Leben in Deutschland hinter sich und reiste in den Irak. Beinahe hätte er seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt. An dem Tag, als uns der jesidische Kämpfer mit an die Front nahm, habe ich meinen Vater angelogen. Ich habe ihm gesagt: »Papa, du kannst im Hotel bleiben, wir müssen heute nur Themenbilder drehen.« Es war der gefährlichste Drehtag der Reise. Irgendwann sagten die Brigadekämpfer zu mir: »Hier reicht es. Du wirst dich jetzt umdrehen und gehen. Hier beginnt das IS-Gebiet.«

Der Bäcker war nicht der einzige Deutsche, den ich getroffen habe. Der Unternehmer Ghazi Hassen ist unermüdlich im Norden des Irak unterwegs, ständig klingelt sein Telefon. Er setzt sein Privatvermögen ein, um jesidische Mädchen und Frauen aus der IS-Gefangenschaft freizukaufen.

Mit Kasim Shesho konnte ich nur telefonieren. Er führte die Brigade an, die Scherfedin, die jesidische Pilgerstätte in der Nähe von Schingal, verteidigte. Beim Einfall der IS-Milizen befand er sich zufällig im Sindschar-Gebirge, um Verwandte zu besuchen. Sein Sohn Fahim begleitete ihn auf dieser Urlaubsreise. Die Sheshos entstammen einer jesidischen Kriegerfamilie. Im zivilen Leben ist Kasim Shesho Gärtner und lebt in Bad Oeynhausen. Er kennt meinen Vater und schätzt dessen Engagement für die Sache der Jesiden. Während wir morgens um vier miteinander sprachen, hatte Kasim Shesho die Kamera vor sich aufgestellt, die wir ihm an die Front geschickt hatten; damit filmte er sich und seine Brigade. Im Hintergrund waren Schüsse zu hören. Nach meiner Rückkehr aus dem Irak traf ich seinen Sohn Fahim wieder, der in Deutschland eine Berufsschule besucht. Dem jungen Mann fiel es schwer, im sicheren Deutschland sein gewohntes Leben weiterzuführen, während die Jesiden im Irak um ihr Leben kämpfen müssen.