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Jacqueline Greven

Das It-Girl und der Waldschrat

© 2016 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamourbooks.com

info@plaisirdamourbooks.com

© Covergestaltung: Mia Horn

© Coverfoto: Slava_Vladzimirska - Fotolia

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-233-3

ISBN eBook: 978-3-86495-234-0

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Autorin

 

Kapitel 1

 

Mila stellte sich neben die Bar und nahm, nur um etwas in der Hand zu haben, eines der dort bereitstehenden langstieligen Sektgläser. An der Innenseite des schlanken Glases perlte die Kohlensäure hoch. Ehe Mila an dem Getränk nippte, betrachtete sie die winzigen Luftbläschen, die an die Oberfläche stiegen und dort zerplatzten. Die Flüssigkeit war herb und kalt. Süß und fruchtig wäre ihr lieber gewesen. Das Zeug schmeckte einfach nicht, Champagner hin oder her. Ihr Blick schweifte über die Menge der Gäste, die sich offenbar alle köstlich amüsierten. Die meisten Frauen waren in ihrem Alter, Anfang zwanzig. Dort drüben stand Marilyn mit ihren blondierten Haaren und dem zu engen goldfarbenen Kleid, das ihre üppigen Formen betonte, und warf sich aufreizend kichernd Filmproduzent Harald Miller an den Hals. Millers Hand lag auf ihrer Hüfte, während er gleichzeitig mit einer schwarzhaarigen Schönheit schäkerte, von der Mila den Namen nicht wusste. Angewidert wandte sie den Blick ab. Marilyn war eine schreckliche Person, laut, schrill und furchtbar eingebildet. Eigentlich hieß sie auch gar nicht Marilyn, sondern Maria, aber sie bemühte sich ständig, ihr Idol Marilyn Monroe zu kopieren, was ihr, zumindest optisch, auch ganz gut gelang. Mila suchte mit den Augen die Menge ab. Wo war eigentlich Jonathan? Bunte Discolichter flackerten von der Decke durch den ansonsten verhältnismäßig dürftig beleuchteten Raum und erschwerten die Erkundung. Wenigstens war die Musik erträglich, zumindest von der Lautstärke her. Nur wenige Armlängen von ihr entfernt saß Fiona, deren rote Locken fast bis auf den Barhocker hingen. Sie hatte die langen Beine übereinandergeschlagen und wippte aufreizend mit einem Fuß, der in einer silberfarbenen High-Heel-Sandalette steckte. Ihre Zehennägel waren im gleichen silbernen Farbton lackiert. Mila schätzte den Absatz des Schuhs auf knapp fünfzehn Zentimeter. Immerhin konnte Fiona, im Gegensatz zu Marilyn, in diesen mörderisch hohen Dingern halbwegs elegant laufen. Ein Fotograf mit einer stattlichen Kamera, die er an einem Gurt um den Hals trug, schob sich durch die Menge. Mila sah möglichst unbeteiligt in die entgegengesetzte Richtung. Das fehlte gerade noch, dass er sie hier allein an der Bar knipste und morgen eine Schlagzeile brachte: Milena Martinez – wieder Single?

Eine dicke warme Hand mit feuchten Fingern legte sich auf ihre nackte Schulter. Sie wandte den Kopf. Hinter ihr stand Luan Brewster. Der Mann war etwa einen Kopf kleiner als sie und mindestens fünfzig Jahre alt. Oder älter. Auf seiner Stirn glänzten kleine Schweißtropfen, der Hemdkragen drückte eine Fettrolle Richtung Kinn, und sein Rasierwasser stieg Mila aufdringlich in die Nase. Dennoch setzte sie sofort ein strahlendes Lächeln auf.

„Luan, wie schön. Wie geht es Ihnen?“, zwitscherte sie.

Er war ein schrecklicher Kerl, aber ihm gehörte die halbe kalifornische Musikbranche, und Jonathan wollte unbedingt Karriere als Musikproduzent machen, wobei Luans Wohlwollen unerlässlich war.

„Jetzt, wo ich Sie endlich sehe, meine Liebe, schon gleich viel besser.“ Seine schwitzige Hand lag noch immer auf ihrer Schulter, und Mila unterdrückte den Drang, sich ihm zu entziehen.

Stattdessen warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. „Sie sind ein Charmeur, Luan.“

„Nicht doch.“ Endlich nahm er die Finger weg und zerrte stattdessen an seinem Kragen. „Warm hier, nicht wahr?“ Er nahm eines der Sektgläser und trank es in einem Zug aus. „Die Plörre schmeckt nicht. Ich bestelle uns etwas Ordentliches, was meinen Sie? Und dazu setzen wir uns gemütlich in ein Eckchen.“ Er wischte sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel. „Wo ist denn Jonathan, der Gute?“

Mila zuckte mit den Schultern und gab sich gleichgültig. „Ich habe ihn schon eine Zeitlang nicht mehr gesehen.“

Luan Brewster schüttelte missbilligend den Kopf. Offenbar hatte Brewster sich die Haare schon eine Weile nicht mehr nachfärben lassen, denn trotz der gedämpften Beleuchtung konnte Mila den grauen Ansatz seiner immer lichter werdenden Haare auf seinem Schädel sehen.

„Das ist aber nicht nett von Ihrem Verlobten, meine Liebe. Nun denn, wenn er nicht auf Sie aufpasst, muss ich es eben tun. Kommen Sie.“

Er fasste nach ihrer Hand. Sie spürte seine kurzen dicken Finger und musste erneut ihren Widerwillen überwinden und sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Brewster gab dem Kellner hinter der Bar noch ein paar Anweisungen und zog Mila dann quer durch die Nobel-Bar Night Dream hinter sich her. Hier und da rempelten sie die anderen Gäste an. Brewster grüßte leutselig in alle Richtungen, und Mila quetschte sich zwischen den Gästen durch und achtete darauf, in dem Gedränge nicht zu stolpern. Plötzlich durchfuhr sie ein Stich von der Kehle bis in den Magen. Auf einer der gepolsterten Sitzgruppen, die um die Tanzfläche herum standen, saß Jonathan. Nein, er saß nicht, er lag beinahe. Über sein linkes Knie hatte Hailey Thomson ihr nacktes Bein gelegt. Unter ihrem kurzen engen Rock aus schwarzen Pailletten sah Mila ihr Höschen blitzen. Immerhin trug sie eins; Hailey wurde nachgesagt, überflüssige Kleidung gern wegzulassen. An Jonathans anderer Seite lehnte eine Blondine in einem weißen Hosenanzug. Der Anblick schnürte Mila den Hals zu. Ihr Freund lachte, küsste Haileys Hand und im gleichen Moment flammte das Blitzlicht einer Kamera auf. In ihr tobte es. Am liebsten hätte sie Brewster ihre Hand entrissen, um zu Jonathan und den beiden aufgetakelten Weibern zu rennen und ihrem Zorn Luft zu machen. Was fiel ihm ein? Und was fiel den beiden Zicken ein? Jonathan war ihr Freund, und das wusste auch nahezu jeder auf dieser Party.

„Schätzchen.“ Brewster, der die Szene offenbar ebenfalls gesehen hatte, blieb stehen und musterte sie. „Machen Sie nicht so ein Gesicht. Ich bin sicher, Jon kennt seine Grenzen. Er ist eben kein Kind von Traurigkeit. Nun machen wir zwei es uns ein bisschen gemütlich.“

„Nein.“ Ruckartig entzog sie sich seinem Griff und Brewster hob seine buschigen Augenbrauen.

„Was soll das heißen?“, erkundigte er sich, und trotz des schlechten Lichtes glaubte sie, die rötliche Verfärbung seiner runden Wangen zu sehen.

„Das soll heißen, dass ich gehe. Entschuldigen Sie mich, Luan. Schönen Abend noch.“ Ihr Puls raste und ihren Herzschlag spürte sie bis in die Kehle. Hastig bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Morgen wären die Bilder von ihm und den beiden Schönheiten in der Klatschpresse. Sie musste zur Garderobe, ihren Mantel holen. Vor allem aber musste sie hier raus. Damit, die Feier so rasch zu verlassen, hatte sie nicht gerechnet.

Zwei Minuten später stand sie auf der Straße vor der Bar. Sie brauchte ein Taxi. Wenn sie Partys besuchte, fuhr sie nie selber. Es floss ja immer reichlich Alkohol. Mila zerrte ihr Handy aus der schwarzen, mit goldfarbenen Rändern abgesetzten Clutch und hörte ihren Namen rufen.

„Mila! Was soll das? Wo willst du hin?“

Jonathan. Sie wandte sich um und spürte unerwartet Tränen in ihren Augen aufsteigen. Mistkerl.

„Nach Hause, wohin sonst. Du bist ja beschäftigt“, fauchte sie.

Mit großen Schritten kam er auf sie zu, und als er bei ihr war, sah sie, dass die obersten drei Knöpfe an seinem weißen Hemd offen standen. Er hatte zu viel Rasierwasser aufgetragen und seine glatten schwarzen Haare trug er im Nacken zum Zopf gebunden.

„Süße.“ Er legte ihr seine Hand auf den Arm. „Eigentlich sollte ich stinksauer sein. Wie konntest du Brewster einfach so stehen lassen? Du weißt doch, was für mich von ihm abhängt. Sei doch nicht so verdammt eifersüchtig. Haileys Vater kann mit seinen Kontakten einiges für mich tun. Millie ist ihre beste Freundin, die kann ich ja schlecht wegschicken, nur weil du eifersüchtig bist. Wie soll ich denn beruflich vorwärtskommen? Das ist nun mal so in meiner Branche.“

Mila schniefte. Millie war dann wohl die Blondine mit dem Hosenanzug.

„Pass auf. Wir machen es uns die Tage mal wieder richtig gemütlich. Wir könnten an die Küste fahren, mit dem Segelboot rausfahren und picknicken. Nur wir zwei. Und jetzt gehen wir gemeinsam wieder rein. Du entschuldigst dich bei Luan und dann bist du besonders nett zu ihm. Er ist ja nicht nachtragend.“

Mila stampfte mit dem Fuß auf. „Du spinnst wohl! Du machst vor allen Leuten mit anderen Weibern rum und ich soll nett zu Brewster sein. Und das alles nur für deine dämliche Karriere! Wer bin ich denn? Ich sag dir was …“

Jonathans Gesicht verzerrte sich zu einer zornigen Grimasse. Er umklammerte ihren Arm und trat dicht an sie ran. „Halt bloß die Klappe. So nicht, meine Liebe! Nicht mit mir! Sieh zu, dass du nach Hause kommst. Wir reden morgen.“

„Arschloch!“, fuhr sie ihn an.

Er zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und stolzierte zurück in das Lokal. Ihre Finger zitterten, während sie versuchte, die Nummer des Taxiunternehmens in ihr Handy zu tippen.

„Ärger?“, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Sie sah hoch. Lucy Collister hatte ebenfalls die Bar verlassen. Sie trug ein bodenlanges glänzendes Kleid und um die Schultern hatte sie eine Fellstola gelegt. Lucy zündete sich eine Zigarette an.

„Jon ist ein Idiot“, entfuhr es Mila. Ihre Wangen brannten, und sie war froh, dass Lucy es im Dunklen kaum sehen konnte.

„Das sind sie doch alle. Willst du etwa schon gehen?“, erkundigte sie sich und machte eine Kopfbewegung zu Milas Handy.

„Ja. Was soll ich hier? Ich sag dir was, mir geht das alles dermaßen auf die Nerven. Lächeln, Small Talk, Presse, Schlagzeilen. Sich blicken lassen, gute Laune versprühen, auch wenn man gar keine hat. Das ist doch … so was von hohl.“ Ihr wurde heiß, denn so ehrlich hätte sie zu ihr nicht sein dürfen. Sie war gerade dabei, sich selbst ins Abseits zu schießen. Ach was, auch egal. Sie atmete tief durch.

Über Lucys etwas zu stark geschminktes Gesicht ging ein Grinsen. „Ich gebe dir recht. Auch wenn es allerhand ist, dass du das so laut und deutlich sagst.“

Mila zuckte mit den Schultern. Jonathan saß bestimmt schon wieder zwischen den beiden Partymäuschen, oder er band Brewster irgendeine Story auf, weswegen sie, Mila, heute so kratzbürstig war.

Lucy ließ ihre nur halb gerauchte Zigarette zu Boden fallen und trat sie mit der Spitze ihres Lackpumps aus. „Weißt du was? Vergiss das Taxi oder wen immer du anrufen wolltest. Brian ist gleich hier, um mich abzuholen. Er kann dich auch mitnehmen und zu Hause absetzen.“

„Echt?“ Zögerlich ließ Mila die Hand mit dem Mobiltelefon sinken. Brian war Lucys Chauffeur und sicher ab und an auch mehr als das.

„Klar.“ Lucy hakte sich bei ihr ein und zog sie Richtung Straße.

„Und warum willst du schon gehen?“, fragte sie Lucy, die daraufhin kurz lachte.

„Ich habe morgen früh einen Termin mit einem Existenzgründungsberater. Da möchte ich ausgeschlafen sein.“

„Was?“ Mila riss die Augen auf und war für einen Augenblick von ihren Sorgen abgelenkt. Lucy Collister bereicherte mit ihrer Anwesenheit seit Jahren die Partyszene. Ihrem Vater gehörten mehrere große Autohäuser, Geld schien nie ein Thema zu sein.

„Ich mach mich selbstständig, Schätzchen. Meine Zeit als It-Girl läuft ab, nächstes Jahr werde ich dreißig. Ich will eine Boutique eröffnen. Und da ich von den geschäftlichen Hintergründen keine Ahnung habe, lasse ich mich beraten. Ich will jedenfalls nicht warten, bis ich mich als alte Schachtel auf den Partys lächerlich mache.“

„Du siehst toll aus, Lucy. Ich dachte, du bist etwa so alt wie ich.“ Lucy lächelte.

„Danke, meine Liebe. Aber ganz ehrlich: Es geht mir so wie dir. Immer nur schön sein, strahlen, gute Laune verbreiten und sich amüsieren ist doch auf Dauer kein Lebensinhalt. Du machst ja nebenher noch deine Modeentwürfe. Ich mache sonst gar nichts.“

Mila lag schon auf der Zunge, Lucy zu erzählen, dass sich ihre Entwürfe mehr schlecht als recht verkauften. Offenbar hatte die teure Ausbildung, die sie an der Beauty Design School in Los Angeles gemacht hatte, bei ihr nicht viel bewirkt. Es war frustrierend, stundenlang über den Zeichnungen zu sitzen und letzten Endes mehr Absagen als Verträge zu bekommen. Da in diesem Augenblick Brian mit einem großen, bronzefarbenen Mercedes vorfuhr und am Straßenrand anhielt, verzichtete sie jedoch darauf, Lucy ihr Leid zu klagen.

Eine halbe Stunde später betrat sie die stille, dunkle Villa am Stadtrand von Santa Barbara, die sie mit ihrem Vater bewohnte. Mila schloss bedächtig die Haustür hinter sich und drückte auf den Lichtschalter. Mehrere Lampen flammten gleichzeitig auf. Ein messingfarbener Standfluter rechts in der Ecke, eine fackelartige Wandlampe am Treppenaufgang der Haustür gegenüber sowie die Einbauleuchten der großzügigen Garderobenwand links vom Eingang. Die Garderobenwand war aus dunkelbraunem Walnussholz nach den Wünschen ihres Vaters, Mason Martinez, angefertigt worden. Nur der Kronleuchter an der Decke der Eingangshalle war nicht an die zentrale Lichtschaltung angeschlossen.

Sie streifte die Schuhe ab und ging über den dicken, rot gemusterten Orientteppich zur Garderobe, um ihren Mantel und ihre Handtasche aufzuhängen. Die Tasche hatte ihr Vater ihr vergangenes Wochenende von einer Geschäftsreise mitgebracht. Ein schlichtes schwarzes Modell des Designers Michael Kors mit goldfarbenem Handgriff und einer Gliederkette, um sie auch über der Schulter tragen zu können. Mila schluckte und wandte sich ab. Sie hatte sich über das Geschenk wirklich gefreut, dennoch wäre es ihr lieber gewesen, Mason Martinez hätte wenigstens gelegentlich ein wenig mehr Zeit für sie. Mila durchquerte die Wohnhalle und betrat die geräumige Küche, in deren Mitte sich eine Kochinsel befand. Sie holte eine angebrochene Flasche Rotwein aus dem Küchenschrank und goss sich ein Glas ein. In kleinen Schlucken trank sie davon, den Po an die Arbeitsfläche neben der Spüle gelehnt, und überlegte, ob sie ihrem Vater von Jonathans schändlichem Verhalten und seinem noch schändlicheren Anliegen, „besonders nett“ zu Brewster zu sein, erzählt hätte, wäre er denn hier gewesen. Sie kam zu keinem Ergebnis. Bei dem Gedanken an Jonathan durchfuhr sie erneut ein eifersüchtiger Stich von der Kehle bis in den Magen. Möglicherweise hatte er ja inzwischen in Begleitung von Hailey auch die Party verlassen. Schließlich konnte deren Vater ja so viel für ihn tun. Es lohnte sich bestimmt, möglichst nett zu ihr zu sein. Vielleicht hatte auch Millie mitgedurft. Vor Milas innerem Auge stiegen quälende Bilder auf. Hailey hatte den Ruf, für bestimmte Dinge recht zugänglich zu sein. Und Jonathan war kein Mann, der sich lange bitten ließ. Sie bekam einen bitteren Geschmack in ihren Mund und stürzte hastig den Rest ihres Weines hinunter. Er landet zügig in ihrem Magen. Mila stellte das Glas neben die Spüle, knipste das Licht aus und verließ die Küche.

Im Wohnzimmer, das rechts von der Eingangshalle lag, setzte sie sich auf einen Sessel und zog die Beine an. Vielleicht wäre es das Beste, sich eine Auszeit zu nehmen. Sie könnte ein paar Tage verreisen und über alles nachdenken. Ihre Träume, in nächster Zeit Jonathans Frau zu werden und mit ihm eine Familie zu gründen, waren in weite Ferne gerückt, denn ihr Freund wich ihr seit Monaten aus, sowie sie ihn darauf ansprach. Stattdessen vergnügte er sich anderweitig und berief sich auf notwendige Kontakte. Vielleicht brachte es ihn zumindest zum Nachdenken, wenn sie vorübergehend nicht erreichbar war. Oder es fiel ihm gar nicht auf. Nein, für Letzteres wollte sie schon sorgen.

Mila spürte langsam die Wirkung des hastig getrunkenen Alkohols. Er machte sie träge und nahm der Enttäuschung über Jonathans Verhalten ein wenig die Schärfe. Sie legte den Kopf in den Nacken. Sie konnte ein paar Sachen packen und ein Stück die Küste entlangfahren, eventuell Richtung San Francisco. Irgendwo würde sie bestimmt ein kleines Hotel finden, wo niemand sie kannte. Sie konnte lange schlafen, Spaziergänge machen und überlegen, wie es in ihrem Leben weitergehen sollte. Jedenfalls nicht mehr mit It-Partys und Modeentwürfen, die kaum jemand wollte. Wäre sie nicht so müde gewesen, sie hätte ihren Entschluss sofort in die Tat umgesetzt. Doch Mila beschloss, erst einmal zu schlafen. Vielleicht käme ja mittlerweile ihr Vater nach Hause. Ansonsten blieb ihr nur, ihm eine Nachricht zu schreiben. Auch Jonathan würde sie schreiben, per SMS. Und zwar, dass sie sein Verhalten satthatte. Dann brach Mila von einem Augenblick zum anderen in Tränen aus.

Kapitel 2

 

Mila stellte ihre Reisetasche in den Kofferraum des Aston Martin, der eigentlich ihrem Vater gehörte. Ihr eigenes Auto, einen kleinen leuchtend roten Sportwagen, wagte sie für ihren Ausflug nicht zu nehmen, denn seit einigen Tagen hatte sie Schwierigkeiten, den Rückwärtsgang einzulegen. Ein Fall für die Werkstatt, sie hatte es nur bisher vor sich hergeschoben. Zudem wusste sie, dass ihr Vater bezüglich des Aston großzügig war, da er lieber seinen zweisitzigen Mercedes fuhr. Sie lenkte den Wagen auf die breite Ausfallstraße, die sich nach gut fünf Meilen gabelte und rechts Richtung Santa Barbara und links an der Küste entlang führte. Die Sonne schien, der Himmel war nahezu wolkenlos blau und seitlich der Straße reckten sich schlanke Palmen in die Höhe. Der Tag war friedlich, aber auch sehr warm.

„Wärme kann man ja im Sommer auch erwarten“, dachte Mila und ließ die Seitenscheiben herunter. Eigentlich hatte sie schon am Morgen losfahren wollen, doch sie war viel zu spät aufgewacht. Nach einer ausgiebigen Dusche hatte sie sich zu einem kleinen Frühstück gezwungen und danach ihre Tasche gepackt.

Sie hatte ihrem Vater eine Notiz auf den Garderobenschrank gelegt, dass sie ein paar Tage rauswollte und sich bald melden würde. Die Nachricht an Jonathan, per SMS geschrieben, war recht frostig ausgefallen.

„Ich brauche Abstand. So kann es mit uns nicht weitergehen.“

Zufrieden war sie damit nicht. Etliche Male hatte sie den kurzen Text gelöscht und neu verfasst, doch gleich, was sie auch schrieb, es kam ihr schwach vor, wie eine nutzlose Trotzreaktion. Sie kannte Jonathan gut genug. Er würde schulterzuckend darüber weggehen und sich allenfalls nach einer Woche einmal bei ihr melden, um beiläufig zu fragen, wann sie wieder zu Hause sei.

Im Grund wäre es am besten, sie würde die haltlose Beziehung beenden. Nur wurde ihr bei dem Gedanken keineswegs leichter ums Herz. Mila drückte den Fuß fester aufs Gaspedal, als könnte sie so alles Belastende hinter sich lassen. Doch weder der herrliche Sommertag, noch die Geschwindigkeit, konnten sie ihre Probleme vergessen lassen.

Ihr Handy lag auf dem Beifahrersitz. Zwanghaft schielte sie immer wieder hin, um zu sehen, ob das winzige blaue Licht am oberen Rand blinkte, das den Eingang einer Nachricht verkündete. Doch nichts geschah. Sie schaltete das Radio ein, suchte vergeblich nach einem Sender, der ihr gefiel, und machte das Gerät wieder aus. Ihr war im Moment einfach nichts recht zu machen. Geschlafen hatte sie auch schlecht, trotz des Rotweins. Außerdem brannte die Hitze aufs Auto, weshalb sie sich verschwitzt und klebrig anfühlte. Vielleicht sollte sie irgendwo anhalten und etwas trinken, zum Beispiel eine eisgekühlte Zitronenlimonade oder eine Pink Lemonade mit Grenadinesirup. Die Vorstellung hatte etwas ungeheuer Verlockendes. Eine Weile würde sie sich allerdings noch gedulden müssen.

Links, etliche Fuß unterhalb der Klippen, erstreckte sich der Pazifik, rechts der Fahrbahn erhoben sich rotsandige, dürftig bewachsene Anhöhen. Nach einer lang gezogenen Kurve tauchte zwischen den Hügeln ein großes Waldstück auf einer Ebene auf. Die Straße wurde enger und Mila musste langsamer fahren. Ein kleines weißes Schild wies in einen Waldweg.

Little Blue Lake“, las Mila und drosselte die Geschwindigkeit weiter. Vielleicht konnte sie am See eine kurze Pause machen und möglicherweise fand sie dort sogar eine Raststätte. Letzteres war jedoch eher unwahrscheinlich, weil es sonst sicher auch dazu ein Hinweisschild gegeben hätte. Sie setzte trotzdem den Blinker und bog ab.

Der Waldweg war schmal und holprig, die Tannen und Laubbäume waren hoch und standen dicht beieinander. Hier und da blinkte die Sonne durch das Grün und wärmte Moos und altes Laub zwischen den Wurzeln der Bäume. Zwischen den Stämmen sah Mila bereits nach kurzer Zeit den See glitzern. Sie konnte fast unmittelbar bis zum Ufer fahren. Von einem Lokal war jedoch nichts zu sehen. Der Little Blue Lake lag in völliger Einsamkeit. Nur eine marode hölzerne Bank stand am Ufer. Mila bremste und stellte den Motor ab. In den Zweigen der Bäume zwitscherten die Vögel, hinter dem See erhoben sich sanfte Hügel. Sie öffnete die Tür, stieg aus und reckte sich. Die Luft strich herrlich warm über ihre Haut und es duftete nach sämtlichen Gehölzen. Der Waldboden unter ihren Füßen war weich. Mila kramte aus ihrer Handtasche ihre Wasserflasche hervor und trank in großen Schlucken. Leider war das Getränk lauwarm, aber gegen den Durst half es allemal. Für den Augenblick verabschiedete sie sich von dem Gedanken an eine eisgekühlte Limonade. Stattdessen überlegte sie, kurz in den See zu springen. Einen Bikini hatte sie in ihrer Reisetasche. Mila sah sich um. Sie befand sich anscheinend in einer völligen Einöde und für einen winzigen Moment schauderte es sie. Dann schüttelte sie die unbestimmte Furcht ab. Sie würde schwimmen gehen und anschließend wunderbar erfrischt ihre Fahrt fortsetzen. Bestimmt hätte sie bis zum Nachmittag ein schönes Hotel gefunden, wo sie sich entspannen und verwöhnen lassen konnte.

Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Noch immer keine Antwort von Jonathan. Mila legte den Apparat wieder auf den Beifahrersitz, umrundete das Auto und öffnete den Kofferraum. Natürlich lag der Bikini in der Reisetasche ziemlich weit unten, wie hätte es anders sein sollen. Nach einem weiteren Kontrollblick, ob auch tatsächlich keiner in der Nähe war, der ihr beim Umziehen zusehen konnte, streifte sie ihre Kleidung ab und warf sie in den Kofferraum. Keine Minute später ging sie mit behutsamen Schritten zum See. Die alten Tannennadeln pikten sie in die Fußsohlen, hier und da stach sie sich auch an einem Ästchen, und am Ufer lagen reichlich Kieselsteine. Vorsichtig trat sie dicht ans Wasser und eine erste sachte Welle schwappte über ihre Füße. Erschrocken hielt sie die Luft an. Der  See war kälter, als sie geglaubt hatte. Schritt für Schritt wagte sie sich vorwärts. Das Nass umspielte ihre Knöchel, erreichte die Waden und ihre Knie, stieg bis zu den Oberschenkeln, und als sie bis zum Bauch im See stand, überwand sie sich endgültig und schwamm in großen Zügen los. Bereits nach wenigen Sekunden hatte sie sich an die Kühle des Gewässers gewöhnt, und je weiter sie vorwärtskam, umso milder empfand sie die Temperatur. Es mochte auch daran liegen, dass das Ufer durch die Bäume im Schatten gelegen hatte. Mittlerweile schwamm sie in der Sonne. Sie würde es kaum schaffen, den See ganz zu durchqueren, aber bis zur Mitte zu schwimmen, traute sie sich durchaus zu. Nach einer Weile legte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Die Augen hielt sie geschlossen und sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Nur das leise Plätschern kleiner Wellen war zu hören und ab und zu zwitscherten ein paar Vögel.

Plötzlich riss sie das unverkennbare Geräusch eines startenden Motors ruckartig aus ihrer Ruhe. Mila richtete sich auf, schwamm auf der Stelle und lauschte. Der angelassene Wagen schien mit durchdrehenden Reifen loszufahren. Im selben Moment fuhr ihr der Schreck bis in den Magen. Sie war sicher, dass das Brummen des Fahrzeuges aus der Richtung kam, in der sie den Aston Martin geparkt hatte. Was hieß geparkt! Abgestellt, mit dem Schlüsselbund auf dem Fahrersitz, das Handtuch für nach dem Bad nur nachlässig darübergelegt. Himmel! Von der Küstenstraße, die sie hierher gefahren war, war kein Ton zu hören, denn sie war zu weit entfernt vom See. Konnte es tatsächlich sein, dass jemand ihr Auto geklaut hatte? Mit all ihren Sachen darin?

Wilder Zorn und ungläubige Angst packten sie. Gleichzeitig war sie wie gelähmt. Längst war kein Motorengeräusch mehr zu hören. Liebe Zeit, sie musste zurückschwimmen und nachsehen! Sie konnte doch nicht hier auf der Stelle paddeln und bestürzt die Luft anhalten. Endlich war sie wieder in der Lage zu reagieren. So rasch sie konnte, schwamm sie zu dem kleinen Ufer zurück. Es schien jedoch endlos zu dauern, bis sie diesem näher kam. In ihrer Lunge stach es, ihr Herz pumpte, sie konnte nur mühsam atmen und ihre Glieder zitterten ob der Anstrengung, so schnell wie möglich ans Ufer zurückzukommen. Schließlich war es geschafft. Mila stapfte aus dem Wasser. Aus ihren dicken blonden Haaren, die ihr bis weit über die Schultern fielen, troff die Nässe. Mit brennenden Augen starrte sie auf die Stelle, an der der Wagen gestanden hatte …

Nur noch ihre Schuhe, die flachen roten Sandalen, lagen auf dem Waldboden. Die Spur durchdrehender Reifen war stellenweise auf den alten braunen Tannennadeln und den Moosplatten zu erkennen. Richtig, die Schuhe hatte sie abgestreift und liegen gelassen. Ihre restlichen Sachen waren alle im Auto. Mila verharrte wie an den Erdboden genagelt, die Hände zu Fäusten geballt. Das Auto war weg und mit ihm alles andere auch. Sie stand hier, nahezu nackt, in der Einsamkeit und hatte nichts zum Anziehen, kein Handy, kein Geld, keine Papiere, nur den nassen Bikini und die roten Sandalen. Ein kühler Luftzug erfasste sie und sie zog fröstelnd die Schultern zusammen. Verdammt! Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Was jetzt?

In der Ferne hörte sie leises Donnergrollen, und plötzlich fiel ihr auf, dass sich der helle sonnige Tag verdüstert hatte. Und das nicht nur wegen des gestohlenen Autos. Mila drehte sich um und sah zum Himmel. Eine graue Wolkenwand schob sich über die Hügel hinter dem See. Es würde ein Gewitter geben. Sie schlang beide Arme um sich, presste die Finger in die Oberarme und versuchte nachzudenken. Am liebsten hätte sie geheult und mit den Füßen getrampelt, doch das würde zu nichts führen. Wie lange war sie gefahren, bevor sie das Schild zum Little Blue Lake gesehen hatte? Wann hatte sie das letzte bewohnte oder bewirtschaftete Gebäude auf der Strecke gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern, doch es mochten etliche Meilen gewesen sein.

Mila ließ die Arme sinken und schüttelte fassungslos den Kopf. Ihr war, als säße sie in einer völlig aussichtslosen Situation fest. Erneut grollte der Donner und diesmal klang er schon lauter. Sie zwang sich, ihre Sandalen anzuziehen, und machte sich auf den Weg zum Waldrand. Immer wieder rutschten Tannennadeln zwischen ihre Füße und die Schuhsohlen und stachen sie. Sie versuchte, sie herauszuschütteln, gab es aber letztendlich auf. Wenn sie in ihrer Aufmachung die Küstenstraße entlanglief, würde jeder, der sie sah, denken, sie wäre nicht ganz normal. Und wer schräg drauf war, dachte vielleicht noch, er könnte sich irgendwelche Dreistigkeiten erlauben. So weit wollte sie gar nicht denken.

Sie brauchte Hilfe. Mila wurde allmählich richtig kalt. Die Luft hatte merklich abgekühlt, und auch wenn ihr Körper inzwischen nahezu trocken war, der Bikini war noch weit davon entfernt, und ihre feuchten Haare klebten unangenehm kühl an ihren Schultern. Gleich hatte sie den Waldrand erreicht. Es war schneller gegangen, als sie gedacht hatte, und dennoch wehrte sich alles in ihr, aus den schützenden Bäumen herauszutreten.

Himmel! Sie zog das Drama so doch nur in die Länge. Vielleicht konnte sie ein Fahrzeug anhalten. Sie musste ja nicht mitfahren, sie konnte den Fahrer bitten, jemand für sie anzurufen. Nur wen? Ihr Vater war sicher in einer seiner Besprechungen und damit unerreichbar. Jonathan kam nicht infrage, und wenn sie zu Fuß zurück nach Santa Barbara laufen musste. Lucy vielleicht? Egal, sie würde es bei ihrem Vater versuchen.

Mila hörte den Wagen bereits, noch ehe sie die Straße erreicht hatte, und fing an zu rennen. Außer Atem stoppte sie ihre schnellen Schritte, kaum dass sie aus dem Wald heraus war, und sah gerade noch einen Geländewagen an sich vorbeibrausen. Sie stampfte mit dem Fuß auf. Was für ein furchtbarer Tag! Doch plötzlich hielt das Fahrzeug mit quietschenden Reifen kurz vor einer lang gezogenen Linkskurve, fast schon eine halbe Meile entfernt. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein und das Auto bewegte sich zügig und mit heulendem Motor wieder auf sie zu. Mila wagte es nicht, erleichtert zu sein, dennoch hob sie winkend die Hand.

Der Wagen war ein Range Rover älteren Baujahres und hielt exakt neben ihr an. Hinter dem Steuer saß ein bärtiger Mann mit kinnlangen braunen Locken. Finster musterte er sie. Milas Mund wurde trocken und ihr wurde trotz des Wetterumschwunges heiß vor Scham. Sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen zusammenzogen, und legte eilig die Arme überkreuzt vor ihre Brust. Der Mann kurbelte die Seitenscheibe herunter.

„Alles klar?“, fragte er und betrachtete sie mit düsterem Blick.

„Nein. Können Sie mir helfen? Mir wurde mein Auto gestohlen, mit allen meinen Sachen darin. Haben Sie ein Handy, damit ich jemanden anrufen kann?“ Sie sprach hastig und biss sich beim Reden auf die Zunge. Ihre Zähne drohten aufeinanderzuklappern. Bestimmt waren es die Kälte und das Entsetzen über ihre missliche Lage.

„Ich hab kein Handy. Ich kann Sie nur ein Stück mitnehmen“, erwiderte er und taxierte sie von oben bis unten.

Kein Handy? Für Sekunden wollte sie es nicht glauben. Am Ende wollte der Kerl nur, dass sie in seinen Wagen stieg und dann…

„Was ist jetzt?“, fuhr er sie an und zeigte zum Himmel. „Es gibt gleich ein Unwetter. Ich will nicht hineingeraten. Wollen Sie nun mit oder laufen Sie lieber?“

„Ich … ich komm mit.“ Inzwischen schlotterte sie förmlich.

„Dann los.“ Er machte eine Kopfbewegung zur Beifahrerseite.

Mila zerrte an dem altmodischen Türgriff und musste das Bein reichlich hochheben, um in den Wagen zu klettern. Bestimmt sah sie bei ihrem Einstieg lächerlich und ungeschickt aus. Sie ließ sich auf den abgeschabten Ledersitz fallen. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, gab der Fahrer ruckartig Gas und sie wurde nach vorn geschubst.

„Anschnallen“, kommandierte der Mann.

Milas Herz pochte bis in ihre Kehle. Kühl und glatt legte sich der Gurt über ihren nackten Bauch und ihre Schultern. Unvermittelt ging ihr durch den Kopf, dass der grüne Bikini mit den goldenen Sprenkeln überhaupt nicht zu ihren roten Sandalen passte.

„Wohin wollen Sie?“, fragte der Mann und sah stur auf die Straße.

Der Wagen fuhr so rasch, dass sie glaubte, sie könne sagen, was sie wolle, er würde ohnehin nur seinem eigenen Ziel folgen.

„Ich hab keine Ahnung“, platzte sie heraus. „Irgendwohin, wo ich telefonieren kann. Mir wurde …“

„Das Auto gestohlen, ja. Sagten Sie schon. Während Sie baden waren, nehme ich an.“

„Richtig. Im Wagen waren alle meine Sachen. Auch mein Handy, Papiere, Geld. Ich hab gar nichts mehr.“

„Dramatisch.“

Plötzlich wurde sie wütend. „Machen Sie sich etwa über mich lustig?“, fauchte sie.

„Keineswegs. Wir fahren zu mir nach Hause. Dort können Sie telefonieren. Wenn ich jetzt irgendwo abbiege, um Sie in irgendeinem Kaff abzusetzen, komm ich garantiert in das Unwetter. Das ist hier in der Gegend kein Spaß.“

Mila sah durch die Frontscheibe zum Himmel, an dem sich rabenschwarze Wolken türmten. Schon platschten die ersten dicken Regentropfen auf die Scheibe, ein grellgelber Blitz zuckte auf und kurz darauf krachte der Donner. Sie wollte nicht mit dem bärtigen Kerl nach Hause, wagte aber dennoch keine Widerworte. Am Ende ließ er sie am Straßenrand wieder aussteigen, wenn sie protestierte. Sie hätte ihn auch gern gefragt, wo er wohnte, doch so unfreundlich wie er war, ließ sie es bleiben.

„Einverstanden?“, knurrte er und konzentrierte sich weiterhin auf die Straße.

„Wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben“, dachte Mila. Laut sagte sie:

„Sicher. Vielen Dank.“

Er gab keine Antwort. Nach wenigen Minuten bog er links ab, in eine schmale Straße, die ihr auf der Herfahrt nicht aufgefallen war. Sie führte in ein Waldstück, in dem die Bäume jedoch nicht sehr dicht standen. Nach etwa einer Meile lichtete sich das Gehölz und vor ihnen tauchte ein großes Holzhaus mit überdachter Veranda auf. Ein paar Stufen gingen zur Haustür, die Fenster waren mit Sprossen durchzogen und um das Grundstück befand sich ein großzügiger Garten mit ein paar Nebengebäuden. An einem dickstämmigen Baum schwang eine Schaukel im aufkommenden Wind. Auch eine Sandkiste fiel Mila auf. Hatte der Kerl Familie? Aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, war sie überzeugt gewesen, er wäre ein Einzelgänger. Sie sah rasch auf seine Hände. Diese waren kräftig, gepflegt, mit schön geformten Nägeln und geraden Fingern. Einen Ring trug er nicht, doch das musste nichts heißen.

Der Mann parkte den Wagen seitlich des Hauses auf einem geschotterten Platz. Inzwischen rauschte der Regen vom Himmel und der Wind wurde stärker und zerrte an den Bäumen.

„Aussteigen“, kommandierte der Unbekannte.

Erneut flammte Empörung in Mila auf. In welchem Befehlston er mit ihr sprach! Eine Unverschämtheit. Dennoch fühlte sie sich einem Protest ob ihrer Situation nicht gewachsen. Schon gleich nicht im Bikini. Und so kam sie artig der barschen Aufforderung nach. Sie musste aus dem Fahrzeug springen, der Ausstieg war für einen normalen Schritt zu hoch für sie. Nur mit Mühe konnte sie die Autotür schließen, weil die Böen dagegendrückten.

Kaum hatte sie es geschafft, ging die Haustür auf. Im Rahmen stand eine kräftige junge Frau mit kinnlangen blonden Haaren.

Kapitel 3

 

„Owen! Endlich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“ Die blonde Frau sprach mit ihm und taxierte Mila dabei über seine Schulter hinweg mit einem Blick voller Misstrauen und Abwehr.

Aha, er hieß also Owen.

Der Bärtige eilte voraus, ohne ihr weiter Beachtung zu schenken. Bis sie das schützende Dach der Veranda erreicht hatte, war Mila erneut pitschnass. Das Wasser schwappte in ihren Sandalen, und sie wusste, dass ihre Knospen sich schon wieder gegen das Bikinioberteil drängten, was sie mühsam zu ignorieren versuchte.

„Alison. Danke, dass du gewartet hast. Aber nun fahr rasch nach Hause, ehe es richtig lostobt.“

Die Blonde trat einen Schritt nach hinten, um ihn hereinzulassen, und Owen schob sich an ihr vorbei.

„Zieh dich erst mal um. Ich mach dir einen Tee und etwas zu essen. Du hast Besuch mitgebracht?“ Ihr Blick ging von Milas Gesicht bis zu ihren Zehen und wieder zurück.

„Ja. Du musst nicht bleiben. Ich will nicht, dass du ins Unwetter kommst.“

„Aber Owen, ich kann auch bleiben, bis es sich beruhigt hat. Das macht mir nichts, wirklich“, widersprach sie.

„Alison, bitte. Ich ruf dich wieder an und ich danke dir für deine Hilfe, sehr sogar.“ Er klang ehrlich, jedoch auch sehr bestimmt.

Ein Hauch Röte stieg in die Wangen der Frau, die Mila auf etwa fünfunddreißig Jahre schätzte. Owen deutete Mila, ins Haus zu kommen. Ihre Füße hinterließen auf den Dielenbrettern nasse Flecken.

„Ich putz das rasch weg“, verkündete Alison und sah verärgert auf die dunklen Stellen auf dem Boden.

„Nein. Wenn das so weitergeht, kriegen wir den reinsten Orkan. Bis bald, Alison.“ An der Garderobe neben der Tür lehnte ein schwarzer Schirm. Er nahm ihn und hielt ihn Alison hin. „Hier. Du kannst ihn mir bei Gelegenheit wieder mitbringen. Oder nein, nimm lieber das hier.“ Er nahm eine dünne graue Regenjacke vom Garderobenhaken.

Sie riss sie ihm beinahe grob aus der Hand. „Gut. Dann …“

„Sonst ist alles in Ordnung?“, unterbrach er sie und machte eine Kopfbewegung zur Treppe.

„Natürlich. Sie schläft. Bis demnächst, Owen.“ Mit einer hektischen Bewegung nahm sie eine Strickjacke von der Garderobe, schob sich zwischen Mila und Owen durch und verließ das Haus. Die Tür fiel ruckartig ins Schloss, im gleichen Augenblick zuckte ein Blitz vom Himmel, tauchte den Eingangsbereich in fahlgelbes Licht und der Donner krachte hinterher. Mila glaubte, das Geräusch unter ihren Füßen zu spüren. Ihr war, als vibrierte für einen Moment der Boden. Owen sah durch das Flurfenster und wandte sich ihr gleich darauf wieder zu. Er deutete die Treppe hinauf.

„Oben rechts die zweite Tür ist das Bad. Wenn Sie wollen, können Sie heiß duschen. Ich lege Ihnen was zum Anziehen vor die Tür. Wird sich schon irgendwas finden.“

„Kann ich erst telefonieren?“ Sie wollte nichts wie weg hier. Trotzdem musste sie wohl dankbar sein, dass sie wenigstens ein Dach über dem Kopf hatte.

Owen zuckte mit den Schultern.

„Bei Gewitter soll man eigentlich nicht telefonieren. Aber wie Madame wünschen. Der Apparat steht im Wohnzimmer.“ Er zeigte zu einer Tür rechts der Eingangshalle.

‚Duschen soll man bei Gewitter eigentlich auch nicht‘, dachte sie. Sie fror erbärmlich und würde die Lücke zwischen Blitz und Donner nutzen und nur ganz kurz unters heiße Wasser springen. Mila sah auf ihre Füße und die Wasserpfützen unter ihnen.

„Ziehen Sie einfach die Schuhe aus. Den Rest übersteht der Boden schon.“ Owen wandte sich ab und verschwand hinter einer zweiten Tür, die vom Eingangsbereich abging. Sie erhaschte einen Blick auf einen großen Herd und eine Spüle, ehe er die Tür hinter sich zuzog. Aha, die Küche.

Stumm kam sie seiner Anweisung nach und streifte die Sandalen ab. Allmählich hatte sie genug von seiner barschen Haltung. Letzten Endes hätte er sie ja nicht mitnehmen müssen. Wäre sie nicht so hilflos gewesen, hätte sie ihm ordentlich die Meinung gesagt.

Mila rieb die Fußsohlen über den Abstreifer bei der Haustür, um sie halbwegs trocken zu kriegen, und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es war nicht allzu groß und wurde von einem offenen Kamin beherrscht. Links und rechts davon standen zwei ausladende dunkelblaue Sessel, dazwischen lag ein schwarzer Teppich mit dickem Flor. Neben einem der Sessel befand sich ein kleines Tischchen, auf dem ein Telefon mit einer Wählscheibe stand. Liebe Güte. Wie lebte der Mann eigentlich? Ihr Blick glitt durch den Raum. Fast rechnete sie damit, Laternen und Kerzen für die Beleuchtung vorzufinden. Doch von der Zimmerdecke hing ein kleiner Kronleuchter und auf der Wandseite gegenüber dem Kamin rahmten zwei schlichte Standfluter ein zu den Sesseln passendes Sofa ein. Mila ging zum Telefon, blieb neben dem Tischchen stehen und hob den Hörer ab. Die Leitung war tot. Mehrfach drückte sie auf die Gabel, und schließlich versuchte sie sogar, der toten Leitung zum Trotz, die Nummer ihres Vaters zu wählen. Doch nichts geschah. Frustriert legte sie auf und verließ den Raum.