RONALD M. HAHN

 

 

T.N.T. Smith, Band 7:

Der Herrscher von Manila

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

DER HERRSCHER VON MANILA 

Das Abenteuer geht weiter! 

 

Das Buch

 

1941: Auf der Suche nach den Unsterblichen fällt T.N.T. Smith in Frankreich in die Hände der SS-Organisation Ragnarök, die ihn nach Berlin verfrachten will... doch sein Freund, der Chaospilot Gasponi, setzt ein tollkühnes Unternehmen in Gang...

Auf den Philippinen recherchiert Smith das Verschwinden des Unsterblichen René Demarest... doch auch hier ist er vor den Ragnarök-Agenten nicht sicher, die das Geheimnis der Unsterblichkeit ebenfalls ergründen wollen. Bald heften sich allerlei Schlagetots und Attentäter an seine Fersen...

 

T.N.T. SMITH. Die beinharte Science Fiction-Serie spielt vor der atemberaubenden Kulisse des Zweiten Weltkriegs und führt den Leser in rasanten Abenteuern um die ganze Welt.

Der Autor

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

Ronald M. Hahn

DER HERRSCHER VON MANILA

 

 

1. Kapitel 

 

Berlin, Deutsches Reich, März 1941

 

Aus dem Volksempfänger der nebenan tätigen SS-Anglisten dudelt ‘Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern’. Im Vorzimmer klappert Fräulein Ingeborg auf einer Schreibmaschine Marke ‘Olympia’ und übersetzt die Sauklaue der deutschen Akademikerzunft in lesbare Schrift.

Während sich die Schreibtische unter der Last von Zeitschriften mit exotischen Titeln wie Amazing Stories, Astounding, Planet Stories, Startling Stories und Thrilling Wonder Stories biegen, diskutieren Untersturmführer d’Avoine und Untersturmführer Richter die Frage, ob ein gewisser Campbell sein neues Blättchen Unknown nur aus der Taufe gehoben hat, um ihnen den Spaß an der Arbeit zu vergällen, enthält es doch nur unwissenschaftlichen, an Magie erinnernden Schmonzes. 

D’Avoine und Richter, zwei aufrechte SS-Männer vor dem Führer und dem Herrn, suchen in den dicken, auf holzhaltigem Papier gedruckten Schriften nach waffentechnischen Ideen, die sich vom militärisch-industriellen Komplex des Deutschen Reiches verwirklichen lassen. Wunderwaffen nennt sie der Führer. 

dass die bisher von ihnen vorgeschlagenen „Todesstrahlen“, „Energieschirme“ und „Fliegenden Untertassen“, an denen Gerüchten zufolge der bekannte Raketenprofessor Hermann Oberth bereits arbeitet, noch nichts geworden ist, ist aber nicht ihre Schuld. dass das der Organisation Ragnarök zur Verfügung stehende Devisenbudget seit geraumer Zeit vorwiegend in Fernreisen in den nordafrikanischen und asiatischen Raum investiert werden muss, hat dazu geführt, dass die aktuellen amerikanischen Zeitschriften knapper werden. Das wahre Ziel, das Sturmbannführer Van Thal im Auftrag des Führers verfolgt, wird leider immer kostenintensiver.

Am ärgerlichsten ist jedoch der Brief, den er heute von seiner Schwester Stephanie erhalten hat. Sie teilt ihm mit, dass sie auf ihrer Weltreise inzwischen auf der Karibikinsel Kuba angekommen ist. Dort hält sie sich allabendlich im Casino des Hotels Tropical Beach auf und trifft viele Leute, die sie aus Baden-Baden, Monte Carlo, Cannes und St. Moritz kennt. Ihr neuester Begleiter, ein wohlhabender, im Import- und Exportgeschäft tätiger amerikanischer Geschäftsmann, hört auf den Namen „Lucky“. Das Nachtleben in Havanna, berichtet sie, sei zwar „ausschweifend und obszön“, aber auch „über alle Maßen berauschend“.

Ihre letzte Bemerkung veranlasst ihn zu einem heftigen Zähneknirschen, denn er kennt seine mit einem Landedelmann verheiratete Schwester nur zu gut und versteht, was sie mit diesen Worten meint: In Sachen „Rausch“ sagt Stephanie nämlich nie nein, sobald ihr einer angeboten wird. Van Thal missbilligt ihre zügellose Lebensgier und ihr anarchisches Freidenkertum, das einer deutschen Frau ganz und gar unwürdig ist.

Seiner Meinung nach bewegt sie sich zu oft auf internationalem Parkett, hat zu viele ausländische Bekannte und geht Freizeitvergnügungen nach, die eigentlich nur dem Manne vorbehalten sind. Manchmal glaubt er, dass Stephanie sich im Grunde einen feuchten Kehricht für die schöne neue Welt interessiert, die der Führer für das Herrenvolk erbaut; dass sie die Privilegien ihres Standes bloß dazu nutzt, sich auszuleben und ihren anrüchigen Interessen nachzugehen. Er zweifelt auch nicht daran, dass die vielen England-Reisen in früherer Zeit dazu beigetragen haben, ihren Charakter zu verderben: Ihre Bekanntschaft mit Adele Wellington, geb. Von Ratzenberg, die mit dem gebürtigen Engländer und jetzigen SS-Hauptsturmführer Frederick Wellington verehelicht ist, war bestimmt nicht gut für sie.

So sehr ich diesen englischen Friedrich auch mag, da er ja hundertprozentig hinter unserer Sache steht, denkt er wütend, eines Tages werde ich seine Frau, diese abartige Schnepfe, die nicht müde wird, meine süße Schwester in Perversionen zu verstricken, bestimmt erwürgen. 

Dann wendet sich Van Thal der heutigen Ausgabe des Stürmer zu, und seine Laune wird besser. 

Er freut sich über den Beschluss des Führers, den italienischen Duce durch die Entsendung des Afrikakorps in Libyen zu unterstützen und zweifelt nicht daran, dass Generalleutnant Rommels Truppen den feigen Makkaronis in wenigen Tagen zeigen, wie deutsche Soldaten Krieg zu führen verstehen: Er ist bereit, seine Dienstmütze auf der Stelle mit einer Portion Tubensenf zu verzehren, wenn es dem Korps nicht gelingt, den Tommy in vier Wochen bis an die ägyptische Grenze zurückzujagen...

Das Diensttelefon klingelt. Van Thal hebt ab und meldet sich mit Dienstgrad und Name.

Diethelm?“ Es ist Wellington. Er hält sich momentan in Paris auf, wo er ein Heer von SD-Agenten befehligt. „Friedrich, mein Lieber!“, ruft Van Thal erfreut. „Wie geht es dir? Was machst du so?“ 

Wellington räuspert sich. „Es geht mir gut, Diethelm, danke der Nachfrage“, erwidert er in akzentfreiem Deutsch, denn er hat schließlich in Tübingen studiert. „Ich habe eine Nachricht für dich, die dich bestimmt interessiert.“

Heraus damit“, sagt Van Thal. „Ich brenne darauf, sie zu hören.“ 

Wellington räuspert sich erneut. Dann teilt er seinem Freund und Vorgesetzten mit, „Herr Schmidt“ sei „im Lande“; seine Spitzel hätten ihn in Marseille, in Vichy-Frankreich, gesichtet; er triebe sich dortselbst im Auftrag einer portugiesischen Zeitschrift in Gesellschaft jenes Italieners herum, dem man betriebsintern den Decknamen „Casanova“ verliehen hat.

Der Sturmbannführer pfeift leise durch die Zähne. Eine heikle Sache, fürwahr: „Casanova“, dies hat er seit dem letzten Zusammenstoß mit diesem Mann auf der Salomoneninsel Laola und dem Bekanntwerden der Registriernummer des von ihm gesteuerten „Calcutta“-Flugbootes erfahren, gehört zur entfernteren Verwandtschaft Mussolinis. 

Eine heikle Sache“, sagt Wellington, bevor Van Thal die Worte selbst aussprechen kann. 

In der Tat“, sagt Van Thal bestätigend. „Aber nach der großen Südseeschlappe“ – er schaudert bei der Erinnerung an das Gemetzel, das dreißig japanische Marineinfanteristen, sieben tapfere U-Boot-Fahrer und Hauptsturmführer Hartmut Brock das Leben gekostet hat – „können wir keine Rücksicht mehr nehmen. Die Lumpen dürfen uns nicht noch mal entwischen.“ Schade nur, dass er und die seinen im unbesetzten Süden Frankreichs nicht offen agieren können. Doch ihm wird schon etwas einfallen ... 

Meine Spitzel haben sie im Visier“, sagt Wellington. „Aber da es sich bei ihnen um Einheimische handelt, denen ich nicht traue, weil sie nur für Geld arbeiten, bitte ich dich, schnell herzukommen und selbst zu handeln.“ 

Van Thal bedankt sich, legt auf, faltet den Stürmer zusammen, legt die schwarz bestiefelten Füße auf den Tisch, steckt sich eine Trommler an und pafft kleine graue Ringe in die Luft. Er denkt nach. Leider können er und seine Leute im unbesetzten Vichy-Frankreich nicht schalten und walten, wie sie wollen. Doch von Stephanie, die den verhassten Engländer in Katmandu kennengelernt hat, weiß er einige Dinge, die nicht in den Akten stehen: Smith ist dem Alkohol verfallen und kann attraktiven Frauen nicht widerstehen ... Ob dies ein Fall ist, den man mit weiblicher List und Tücke lösen kann? Ob eine seiner Mitarbeiterinnen den Tommy eventuell umgarnen und in eine Falle locken könnte? 

Er denkt sofort an seine blonde Sekretärin Fräulein Ingeborg, der nachgesagt wird, sie sei die schlimmste Nymphomanin im Reichssicherheitshauptamt. Als ihm einfällt, in welch entwürdigender Situation er sie im September 1937 im King Edward Hotel in Katmandu mit seiner Schwester im Bett vorgefunden hat, zweifelt er nicht daran, dass sie bereit ist, alles zu tun, um sich an Herrn Schmidt zu rächen ...

Ja, denkt er, sie ist genau die richtige. Dann fällt ihm ein, dass Smith sie kennt. Doch halt – er hat sie nur kurz gesehen, vor vier Jahren, als er unter Drogen stand und fiebrös war – mithin nicht bei Sinnen! Wenn man ihr die Haare schwarz färbt und ihr jemanden zur Seite stellt ... Ja! Das ist es! Van Thal schnippt mit den Fingern. Er wählt eine Telefonnummer und befiehlt die zweite Frau zu sich, die neben Fräulein Ingeborg für ihn tätig ist. 

Fräulein Katharina Messier, die eine Minute später sein Büro betritt, ist die Enkelin eines französischen Marineoffiziers und einer Reederstochter aus Hamburg. Sie hat in Heidelberg und an der Sorbonne Sprachen und auf der SS-Ordensburg „Walküre“ im Westerwald Spionage, Diversion und Erpressung studiert. Als ein dem Führer bedingungslos ergebenes Geschöpf wartet sie seit der Machtergreifung auf den Tag, an dem sie sich fürs Vaterland bewähren kann. Sie ist weltgewandter, kultivierter und gescheiter als Fräulein Ingeborg, die zwar so blond ist, wie man sich eine arische Frau nur wünschen kann, aber vom Tuten weniger Ahnung hat als vom Blasen.

Der Tag ist endlich gekommen, an dem der Führer Sie braucht, Fräulein Messier“, sagt Sturmbannführer Van Thal, der die Beine inzwischen natürlich vom Tisch genommen und seinen schwarzen Uniformrock geglättet hat. „Ich brauche Sie wohl nicht an den Eid zu erinnern, den Sie ihm geleistet haben, meine Liebe.“ 

Sieg Heil“, sagt Fräulein Messier mit fester Stimme. Ihre dunklen Augen blitzen. „Unsere Ehre heißt Treue! Für Führer, Volk und Vaterland!“ 

Sieg Heil“, erwidert Van Thal und gibt ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich setzen soll. 

Fräulein Messier nimmt ihm gegenüber Platz, und sein Blick gleitet langsam über die bestrumpften Schenkel, die unter ihrem hellgrauen Faltenrock hervorragen. Fräulein Messier hat trotz ihrer französischen Ahnen bewundernswert arische Beine. Sie sind fast so schön wie die seiner Schwester, die er, wenn er ehrlich ist, gern mal ...

Ich bin bereit.“ 

Was?“ Van Thal zuckt zusammen. 

Fräulein Messier schaut ihn an. „Zu allem, was der Führer will.“ Sie hat schmale, rot angemalte Lippen, die ihn leicht aus dem Konzept bringen.

Danke.“ Van Thal räuspert sich. Wie soll er ihr klarmachen, was er von ihr erwartet? Die Mitarbeiter seines Stabes – mit Ausnahme der Hauptsturmführer Von Hagen und Wellington – haben keine Ahnung, um was es bei der Jagd auf Smith wirklich geht. Niemand ahnt, dass sie im persönlichen Auftrag des Führers Menschen verfolgen, die das größte Geheimnis aller Zeiten kennen: das des legendären Jungbrunnens, der Menschen unsterblich machen kann. 

Und niemand darf davon wissen, auch nicht Fräulein Messier, denn „das ewige Leben“, dies hat der Führer selbst gesagt, „ist nichts für den Pöbel, sondern nur etwas für Menschen wie Sie und mich, Van Thal – und einige auserwählte Vertreter der nationalsozialistischen Idee.“ 

Es geht um einen gerissenen englischen Agenten“, sagt Van Thal verbissen, ohne den Blick von Fräulein Katharinas faszinierenden Lippen zu lösen, „der uns seit Jahren an der Nase herumführt! Der Mann heißt Smith.“ 

Er räuspert sich. „Er tarnt sich als Journalist. Wir wissen, dass er der Organisator des Reichstagsbrandes und im Verein mit gewissenlosen jüdisch-marxistischen Lumpen für die Planung eines Attentats auf unseren geliebten Führer verantwortlich war.“

Er atmet tief ein und holt zum ultimativen Schlag aus, um Fräulein Katharinas Hass auf die britische Bestie anzustacheln. „Außerdem ist er unseren Informationen zufolge...“ – er zögert verlegen und fragt sich, ob er die Worte in Gegenwart einer Dame überhaupt aussprechen kann – „... sexuell abartig veranlagt.“

Oh!“, sagt Fräulein Messier. 

Zu Van Thals großem Erstaunen errötet sie bei diesen Worten jedoch nicht, was seine Ansicht nur bestärkt, dass sie bereit ist, sich im Auftrag des Führers auch den tiefsten Abgründen der menschlichen Seele zu stellen.

Er ist erfreut. So kaltblütig reagiert eben nur eine wahre Vertreterin der nationalsozialistischen Idee.

Unsere Agenten haben ihn im unbesetzten Teil Frankreichs aufgespürt. In Marseille.“ Sein Blick wandert über Fräulein Messiers Busen. Ihre prallen Hügelchen erinnern ihn an die Hügelchen seiner Schwester, und er fragt sich, ob ihre Brustwarzen möglicherweise ... 

Verstehe, Sturmbannführer“, unterbricht Fräulein Messier seine Gedanken mit kühler Gelassenheit. „Sie wollen diese Ratte also ergreifen.“ Ihr Blick bohrt sich in den seinen, dann verziehen sich ihre Lippen zu einem abgründigen Lächeln. „Soll ich den Lockvogel spielen? Mit ihm Kontakt aufnehmen, so tun, als stünde ich seinen abartigen Neigungen positiv gegenüber, und ihn dann in eine Falle locken?“ 

Der Sturmbannführer starrt seine Mitarbeiterin an. Er ist völlig sprachlos. Fräulein Messier ist nicht nur sehr helle, sie kennt auch keine Skrupel. Sie zuckt mit keiner Wimper! Sie ist ein echter Herrenmensch! Er braucht seinen schlüpfrigen Vorschlag nicht mal auszusprechen! 

Ähm ... ja ...“ 

Na schön“, sagt Fräulein Messier. Sie reckt ihren gertenschlanken Leib, ihre Brüste dehnen ihre weiße Bluse, und Van Thal sieht, dass sich ihre Nippel in den Stoff drücken. Ihre Augen glitzern plötzlich auf eine Weise, die man nur als lüstern bezeichnen kann, und Van Thal ist rechtschaffen verschreckt. 

Verdammt, denkt er. Ich habe mich in ihr geirrt! Sie mag zwar linientreu sein, aber sie ist durch und durch verdorben! Schau dir nur das Glitzern in ihren Augen an! Sie kann’s kaum erwarten, dem Tommy zu begegnen – damit er endlich all das mit ihr macht, was sie sich wünscht – und zwar unter dem Deckmantel dienstlicher Tätigkeit! Und er denkt an seine sündhaft schöne, nicht weniger verdorbene Schwester Stephanie, nach der sich sein Herz seit seiner Pubertät verzehrt; die er irgendwann besitzen muss, wenn er dem Wahnsinn nicht verfallen will. Er muss dem Führer dringend schreiben, dass die dereinst unsterblichen Erdenherrscher von den schnöden Gesetzen des sterblichen Pöbels befreit werden müssen. Der Führer muss Sondergesetze erlassen. Sondergesetze, die es ihm und anderen Herrschern gestatten, nach Gutdünken über die Sterblichen Urteile zu fällen und jeden an die Wand zu stellen, der sein freches Maul öffnet und „Blutschande!“ schreit, wenn sie, wie einst die alten Pharaonen, ihre Schwestern freien. 

Aber Schlampen wie du, denkt er, und damit meint er Fräulein Messier, die sich in unsere Bewegung eingeschlichen haben, werden irgendwann, wenn sie sich für uns nützlich gemacht haben, einen Kopf kürzer gemacht! Sieg Heil! „Sieg Heil“, murmelt er. 

Sieg Heil!“, ruft Fräulein Messier, steht auf und streicht mit einer schlangenhaften Bewegung, die an Schwüle und Laszivität ihresgleichen sucht, ihren Rock glatt. 

Aus dem Volksempfänger der im Nebenraum tätigen SS-Anglisten dudelt es nun „Wir fahren gegen Engeland“.

Van Thals Blick wandert noch einmal über Fräulein Messiers entzückende Knie. Und er denkt: Zuerst geht’s mal nach Franzmannland. 

2. Kapitel

 

Marseille, Vichy-Frankreich, April 1941

 

Nachdem es Katharina Messier gelungen war, ihr aus Bargeld bestehendes väterliches Erbteil innerhalb von zwei Jahren in Paris und Monte Carlo zu verjubeln, hatte ihr Bruder ihr Hausarrest verordnet.