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Über den Autor

James L. Rubart lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen an der Nordwestküste der Vereinigten Staaten. Er betreibt eine Marketingfirma und hat bisher drei Romane geschrieben. Sein großes Lebensthema ist „Freiheit“. Mehr dazu auf seiner Website: http://www.jimrubart.com/

James L. Rubart

Das Haus
an der Küste

Roman

Deutsch von Sylvia Lutz

Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag B&H Publishing Group, Nashville, Tennessee, unter dem Titel „Rooms“.

© 2010 by James L. Rubart

© der deutschen Ausgabe 2012 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

Die Bibelzitate wurden, sofern nicht anders angegeben, den folgenden Bibelübersetzungen entnommen:

– Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GN)

– Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LÜ 84)

– Hoffnung für alle – Die Bibel, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1986, 1996, 2002 by International Bible Society, USA. Übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, Schweiz (Hfa)

1. Auflage Januar 2012

2. Auflage Februar 2012

3. Auflage August 2012

Bestell-Nr. 816 634

ISBN 978-3-96122-179-0

Umschlaggestaltung: Immanuel Grapentin

Umschlagillustration: Jeanette Woitzik

Satz: Marcellini Media GmbH, Wetzlar

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Für Darci

Was kannst du je wirklich über die Seele eines anderen Menschen wissen?

Über ihre Versuchungen, ihre Möglichkeiten, ihre Kämpfe?

Du kennst nur eine einzige Seele in der gesamten Schöpfung.

Und sie ist die einzige, deren Schicksal in deine Hände gelegt ist.

C. S. Lewis

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 1

WARUM SOLLTE EIN MANN, den er nie kennengelernt hatte, ihm ein Haus an einem der spektakulärsten Strände der amerikanischen Westküste bauen?

Micha Taylor schaute aus den Fenstern seines Eckbüros mit Blick über den Puget Sound und klopfte mit der Kante des geheimnisvollen Briefes in seine Handfläche. Cannon Beach, Oregon. Das Haus stand direkt am Pazifik und sein Großonkel Archie hatte es für ihn bauen lassen. Wenigstens behauptete
das dieser Brief. Aber warum ausgerechnet dort? An einem Ort, den er verabscheute. An einem Ort, den er liebte. Beides gleichzeitig. Das Schicksal konnte doch nicht so grausame Scherze machen!

Vergiss es. Es gab dort bestimmt kein Haus, das ihm gehörte. Unmöglich. Nicht ausgerechnet dort. Das war bestimmt ein Witz, mit dem sein Team ihn auf die Schippe nehmen wollte; das sähe seinen Mitarbeitern ähnlich. Der Unternehmenskultur bei RimSoft konnte man beim besten Willen nicht nachsagen, sie sei langweilig. Aber sie hatten keine Ahnung, wie sehr sie diesmal ins Fettnäpfchen getreten waren. Micha seufzte.

Aber falls der Brief doch echt war …

„Wir müssen los, Boss.“

Shannon stand mit ihrer grau melierten Kurzhaarfrisur im Türrahmen und schaute ihn durch ihre Versace-Brille auffordernd
an. Seit drei Jahren war sie nun Michas Assistentin. Sie war sehr klug, ließ sich nicht so leicht einschüchtern und trug entscheidend dazu bei, sein Unternehmen zusammenzuhalten.

„Ich hasse es, wenn man Boss zu mir sagt.“ Das erinnerte ihn zu sehr an seinen Vater.

„Ja, ich weiß.“ Sie zog ihre Brille ein Stück nach unten und bedachte ihn mit ihrem Piratenblick: ein Auge zu- und das andere zusammengekniffen.

Micha versuchte zu lächeln und warf den Brief auf den Schreibtisch. Vergiss es, sagte er sich noch einmal. Es half nicht.

„Alles in Ordnung?“

„Ja. Alles bestens.“ Er nahm seinen Notizblock und hob mahnend den Zeigefinger, während er und Shannon sein Büro verließen. „Du solltest nicht Boss zu jemandem sagen, wenn du beinahe alt genug bist, um seine …“

„… ältere Schwester zu sein?“

„Genau“, sagte Micha, während sie im Gleichschritt durch die Gänge von RimSoft schritten. Normalerweise liebte er Freitage. Die Kreativität seines Teams war unglaublich. Wenn es eine olympische Disziplin gäbe, bei der es darum ging, wer die besten Leute einstellen konnte, hätte Micha schon viele Goldmedaillen gewonnen.

Aber heute war kein normaler Freitag. Heute lag ein bizarrer Brief auf seinem Schreibtisch und drohte Erinnerungen in ihm zu wecken, die er für immer begraben hatte.

Als sie auf dem Weg zum Konferenzraum um die letzte Ecke bogen, kam Kelli Kay, eine der talentiertesten Programmiererinnen der Firma, auf ihn zu. „Wollen Sie mal etwas wirklich Cooles hören?“ Ihre roten Locken hüpften auf ihren Schultern.

„Unbedingt.“ Micha ging weiter, aber jetzt rückwärts, wobei seine Nike-Sportschuhe leicht über den blaugrünen Teppichboden schleiften.

Kelli war bis vor vier Monaten alleinerziehende Mutter gewesen und hatte neben einer Vierzigstundenwoche und der Erziehung ihres zehnjährigen Sohnes ein Informatikstudium absolviert. Sie beklagte sich nie über Fünfzigstundenwochen. Oder über Sechzigstundenwochen.

„Mein Sohn hat den Kunstwettbewerb gewonnen, von dem ich Ihnen letzte Woche erzählt habe; im Sommer fährt er nach L. A. und nimmt dort am landesweiten …“

„Im Ernst? Wow! Hören Sie: Wenn er gewinnt, fliege ich mit ihm und Ihnen und Ihrem Mann nach New York. Wir besuchen mit ihm die Kunstgalerien und legen es so, dass wir uns ein Spiel der Mariners gegen die Yankees anschauen können.“

„Ehrlich?“ Kelli musste fast laufen, um mit ihm Schritt zu halten.

RimSoft hat mit diesem kleinen Antivirenprogramm, das Sie letztes Jahr entwickelt haben, schon zwei Millionen Dollar verdient. Sie sind sensationell.“ Micha drehte sich um und beschleunigte seine Schritte.

Shannon tat es ihm gleich. „Du könntest wirklich stehen bleiben, wenn du mit Leuten sprichst.“

Micha schaute Shannon stirnrunzelnd an. „Wir haben doch ein Meeting. Du weißt schon, die Firma? Viel Arbeit.“

„Du bist heute Morgen irgendwie nicht du selbst.“

„Mir geht vieles durch den Kopf.“ Er öffnete die Tür zum Konferenzraum, hielt sie Shannon auf und erwiderte ihren finsteren Blick mit einem gezwungenen Lächeln.

Der Konferenzraum war klein, aber gemütlich. Keine hohe Zimmerdecke, kein riesiger Tisch, nur zwei hellbraune Ledersofas und sechs dunkelbraune Sessel, die in der Mitte des Raums einen Kreis bildeten. Der Raum war nicht darauf ausgelegt, das eigene Ego zu präsentieren; er diente der Effektivität.

Auf jedem Sofa saßen zwei Leute. Auf dem einen der Leiter von Michas Rechtsabteilung mit seinen schwarzen Haaren und der John-Lennon-Brille. Neben ihm lungerte der Leiter der Abteilung „Fusionen und Übernahme“. Er war erst 30, sah aber mit seinen vorzeitig ergrauten Haaren wie 50 aus. Auf dem anderen Sofa saß seine Marketingchefin, die mit jedem Tag mehr wie eine jüngere Version von Oprah Winfrey aussah. Neben ihr wartete der Leiter seiner Finanzabteilung. Zwei Leute von Michas Software-Entwicklung saßen auf den Sesseln.

Shannon nahm ebenfalls in einem Sessel Platz; Micha ging vor seinem auf und ab.

Gut. Alle waren bereit. Es konnte losgehen.

„Okay“, sagte Micha mit leicht erhöhter Lautstärke. „Fangen wir an. Wie weit sind wir mit der i2-Rock-Fusion?“

„Erledigt“, antwortete der Fusionsleiter.

„Wir lieben ihre Hardware; sie lieben unsere Software, nicht wahr?“

„Genau.“

„Ausgezeichnet. Gute Arbeit.“ Micha schaute Oprahs Zwillingsschwester an. „Ist das Layout für Wired fertig?“

„Ja.“

„Ihre letzte Kampagne hat alle Erwartungen übertroffen. Ich bin also gespannt.“ Er wandte sich nach rechts. „Die Betatests für Version Vier sind abgeschlossen, richtig?“

„Am Mittwoch abgeschlossen.“

„Sehr gut. Unglaublich, dass das Programm schon fast völlig fehlerlos läuft.“ Micha schaute den Leiter seiner Rechtsabteilung an. „Sind die Papiere für den Bay-C-Aufkauf fertig?“

„Noch nicht ganz.“ Der Mann schaute zu Micha auf. „Aber wir haben es bald.“

Micha blieb abrupt stehen. Was war das Problem dieses Typen? Alle anderen wussten, dass sie ihr Bestes geben mussten. Er konnte es sich einfach nicht leisten, dass dieser Mann weiterhin im Schneckentempo arbeitete.

„Sie haben gesagt, Ihre Abteilung wäre bis Dienstag fertig. Jetzt ist Freitag.“

Der Leiter der Rechtsabteilung wand sich und murmelte: „Wir werden heute noch fertig.“

„Wann?“

„Heute.“

„Wann?“

„Um vierzehn Uhr.“

„Was kommt aus einem Toaster?“

Der Mann runzelte die Stirn. „Toastbrot?“

„Jetzt ist es halb zehn. Was sind Sie, wenn Ihre Papiere bis Mittag nicht fertig sind?“

Der Leiter der Rechtsabteilung errötete. „Toastbrot.“

„Ein bisschen lauter bitte, damit es alle hören können.“

„Dann bin ich Toastbrot.“

Jemand aus dem Team hustete. Alle anderen hielten ihre Blicke krampfhaft auf ihre Agenda gerichtet.

Micha drehte sich um, schaute aus den Fenstern des Konferenzraums und betrachtete den Puget Sound. Einatmen. Ausatmen. Wirklich toll, Micha. So machte man sich keine Freunde. Er wandte sich wieder an sein Team. „Okay, machen wir weiter.“

Eine halbe Stunde später schaute Micha jeden Einzelnen aus seinem Team direkt an. „Danke für zwei Dinge: Erstens dafür, dass Sie so gut sind, dass diese Firma ohne Sie zweifellos nicht überleben könnte. Und zweitens, dass Sie doch nicht so gut sind, dass ich nicht doch noch Verbesserungen einbringen könnte.“ Er nahm seinen Notizblock und schritt zur Tür.

War er zum Leiter der Rechtsabteilung, der mit seiner Arbeit immer zurücklag, zu hart gewesen? Wahrscheinlich. Micha seufzte. Eindeutig. Warum hatte er sich so benommen? Er verdrehte die Augen. Micha wusste ganz genau, warum er sich so benommen hatte.

Cannon Beach.

Shannon trat vor ihm aus der Tür und marschierte fast im Laufschritt den Flur hinab.

Mit zwei großen Schritten holte Micha sie ein. „Hey, geh langsamer.“

Sie ging schneller und gab ihm keine Antwort.

„Du hast wieder diesen ‚Micha ist ein Blödmann‘-Blick drauf.“

Sie schaute ihn mit einem dünnen Lächeln an. „Es war erst das erste Mal in diesem Jahr. Du besserst dich.“

Sie gingen einige Schritte schweigend nebeneinander her. „Ich wollte nur etwas klarstellen. So bin ich normalerweise eigentlich nicht.“

„So?“

Wieder vier Schritte.

„Du hast recht; ich hab mich da drinnen wie ein hundertprozentiger Idiot benommen“, flüsterte er. Sein Gesicht wurde warm, als er über die Narbe auf seiner linken Handfläche fuhr. „Es ist nur so … dass ich manches nicht ablegen kann, auch wenn ich es gern würde.“

„Du bist also nicht schon seit deiner Geburt so?“

Nein. Erst, seit er neun war.

Er schaute nach unten und schüttelte leicht den Kopf.

„Du bist eine Null! Du bist nichts! Absolut gar nichts! Und aus dir wird nie etwas werden!“ Der Rest der Szene – das zerrissene T-Shirt, die Demütigung, die vernichtenden Worte – wollte an die Oberfläche kommen, aber Micha knallte die Tür zu seinem Herzen zu, und die Erinnerungen verblassten.

Als er in seinem Büro ankam, hatte sich sein Atem wieder beruhigt und sein Blick wanderte zu dem Brief von seinem Großonkel, der auf dem Teakholzschreibtisch lag. Micha nahm ihn und ließ sich in seinen schwarzen Lederstuhl fallen. Das vergilbte Papier war früher wahrscheinlich weiß gewesen, obwohl die fließende Handschrift so gestochen war, als wäre der Brief erst gestern geschrieben worden.

Der Umschlag, in dem er gekommen war, war mit Wachs versiegelt gewesen, und die Umrisse eines Löwenkopfes waren in dem dunkelblauen Paraffin deutlich zu sehen. Micha lehnte sich zurück und starrte den Namen des Absenders an. Archie Taylor. Wirklich sonderbar.

Archie war sein Großonkel, über den er überhaupt nichts wusste. Er war Mitte der 1990-er Jahre gestorben, und Micha hatte ihn nie persönlich kennengelernt. Archie war ziemlich reich gewesen und hatte nie geheiratet, aber mehr wusste er nicht über ihn. Micha war schon fast erwachsen gewesen, als er erfahren hatte, dass es Archie überhaupt gab. Als Micha nachgefragt hatte, hatte sein Vater nur gesagt, Archie sei ein Sonderling, von dem man sich lieber fernhielt.

Micha öffnete den Brief und fragte sich erneut, ob er echt sein konnte.

27. September 1990

Lieber Micha,

du bist wahrscheinlich ziemlich verwundert, dass du diesen Brief bekommen hast, da wir nie Gelegenheit hatten, uns kennenzulernen. Der Grund für diesen Brief wird dich noch mehr überraschen.

Ich habe einen Freund gebeten, dir diesen Brief zu schicken, wenn du 35 bist oder wenn du so viel Geld verdient hast, dass du nicht mehr arbeiten musst. Wenn du diesen Brief liest und noch nicht 35 bist, hast du also schon eine erhebliche Summe Geld verdient, was in einem jungen Alter manchmal von Vorteil sein kann, aber meistens nicht.

Wenn meine Anweisungen befolgt wurden, wurde in den letzten fünf Monaten für dich ein Haus an der Küste von Oregon gebaut, sechs Kilometer südlich von Cannon Beach. Ich habe es für dich entworfen. Ich nehme an, dass du dich jetzt fragst, warum ich dieses Haus ausgerechnet in Cannon Beach bauen ließ.

Aber du kennst wahrscheinlich den Grund.

Weil es Zeit wird, dich deiner Vergangenheit zu stellen. Es ist Zeit, dich damit auseinanderzusetzen, was passiert ist.

Es ist mein großer Wunsch, dass dir dieses Haus helfen wird, dich zu entscheiden und wieder heil zu werden, und wenn der Architekt meine Anweisungen befolgt hat, wird das auch geschehen, glaube ich. Es wird auf jeden Fall dein Leben durcheinanderbringen. Das Haus ist ganz du.

Dein Großonkel Archie

P.S.: Zusammen mit diesem Brief müsstest du einen Schlüssel und eine Karte mit der Adresse bekommen haben.

Micha las die letzte Zeile noch einmal und runzelte die Stirn. Das Haus ist ganz du? Ein Schreibfehler. Es musste doch wohl heißen: ganz dein. Er lehnte den Kopf zurück. Sein Vater hatte recht. Dieser Mann war verrückt gewesen.

Er sollte sich seiner Vergangenheit stellen? Seine Vergangenheit war tot. Begraben. Vergessen.

Und so würde es auch bleiben.

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Ein Geräusch auf dem Flur ließ Micha aufblicken. Julie. Gut! Zurück im richtigen Leben. Julie war die perfekte Geschäftspartnerin. Und auch eine leidenschaftliche Sportpartnerin. Und seit einiger Zeit auch seine Lebenspartnerin.

Ihre schulterlangen, blonden Haare hüpften, als sie schwungvoll durch seine Bürotür trat. Ihr strenges beiges Kostüm betonte ihre strahlend weißen Zähne.

„Hey!“ Micha kam hinter seinem Schreibtisch hervor und breitete die Arme aus.

Als sie bei ihm ankam, zerzauste sie seine dunkelbraunen Haare und küsste ihn sanft.

Julie. Stark, aber auch zärtlich. Energiegeladen und strahlend. Es war schön, dass sie zurück war.

„Wie war die Dienstreise, Julie?“

„Wir sind jetzt reicher, aber ich bin so froh, dass ich wieder hier bin.“

Als sie RimSoft vor sechs Jahren gemeinsam gegründet hatten, hätte er sich nie vorstellen können, dass sie beim Software-Goldrausch auf eine so reiche Ader stoßen würden. Und er hätte auch nie gedacht, dass aus ihrer langjährigen Freundschaft irgendwann eine Liebesbeziehung entstehen würde.

Micha setzte sich und starrte Archies Brief an. Er musste nach Cannon Beach fahren. Und falls es das Haus wirklich gab, musste er es loswerden. Sofort.

„Hörst du mir eigentlich zu?“ Julie lehnte sich an Michas Schreibtisch.

„Was?“

„Ich habe dich nach der Aufsichtsratssitzung am Montag gefragt, und ich finde, fünf Sekunden auf eine Antwort zu warten reicht.“ Sie lachte.

„Entschuldige. Ich habe nicht zugehört. Ich bin in Gedanken gerade ganz woanders. Ich habe von einem Verwandten, der längst gestorben ist, einen sonderbaren Brief bekommen. Ehrlich gesagt, muss ich dieses Wochenende wahrscheinlich …“

Julie drückte zwei Finger auf seine Lippen. „Wir können nicht zulassen, dass diese Gedanken ausgesprochen werden.“

„Welche Gedanken?“

„Dass du womöglich unseren Ausflug nach Whistler am Wochenende absagen willst. Du und ich und Schnee und Skifahren im Frühling und Kaminfeuer mit einem sehr alten Cabernet. Klingelt da etwas bei dir?“

„Hmm.“ Er grinste, zog die Brauen in die Höhe und hoffte, Julie würde verstehen, dass sie ihre Pläne ändern mussten. „Ich habe anscheinend ein Haus direkt am Meer geerbt, gleich südlich von Cannon Beach.“

„Cannon Beach?“ Sie runzelte die Stirn. „Hast du mir nicht mal erzählt, dass du Cannon Beach hasst?“

„Früher habe ich es geliebt.“

„Was? Also, wie jetzt?“

„Vergiss es.“ Entschuldige, Archie. Die Gefühle, denen er sich dieses dummen Briefs zufolge stellen sollte, würden nie ans Tageslicht kommen.

Julie starrte ihn an, aber er reagierte nicht darauf.

„Lass uns doch mal kurz etwas nachsehen.“ Julie beugte sich über ihn, und ihre roten Fingernägel tanzten über seine Tastatur, bis ein Schaubild mit Häusern am Meer, die in Cannon Beach zum Verkauf angeboten wurden, auf seinem Bildschirm auftauchte. „Schau dir diese Preise an.“ Sie tippte auf seinen Monitor. „Dein kleines Geschenk könnte ein paar Millionen Dollar wert sein. Biete es zum Verkauf an und mach es schnell zu Geld.“

„Genau. Je schneller, desto besser.“

„Deshalb liebe ich dich, Micha. Du machst kurzen Prozess. Woher hast du dieses geheimnisvolle Haus eigentlich?“

Er nahm den Brief und zog ihn wie eine Messerklinge über seine Hand. „Mein Großonkel, den ich nie kennengelernt habe, hat es für mich bauen lassen.“

„Du hast ihn nie kennengelernt, und er schenkt dir ein Haus?“

Julie wartete nicht auf eine Antwort, sondern tippte wieder. Einige Sekunden später erschien Google Earth auf Michas Monitor. „Adresse?“

Micha las sie ihr aus dem Brief vor. Wenige Momente später schauten sie einen Fleck Erde am Meer an.

„Nicht einmal eine kleine Hütte“, stellte Julie fest.

„Vielleicht doch.“ Micha drückte ein paar Tasten. „Schau. Dieses Satellitenbild ist sieben Monate alt. In Archies Brief steht, dass jemand das Haus in den letzten fünf Monaten gebaut hat.“ Micha wandte seinen Blick nicht vom Bildschirm ab. „Es könnte sein …“

„Wie wär’s mit einem Deal? Du willst also unbedingt dorthin fahren.“

„So wichtig ist es nicht …“

„Nein, nein, lass mich ausreden. Ich kenne diesen Blick. Du musst hinfahren. Wenn du unser Wochenende in Whistler gegen eine Woche in den Alpen tauschst, kommen wir ins Geschäft.“

„Dann kommst du dieses Wochenende mit?“

„Nein.“

„Was? Ich bin nicht sicher, ob ich das allein machen will.“

Julie strich über Michas Wange und drehte seinen Kopf zu sich herum. „Etwas sagt mir, dass du das allein machen musst.

Es wäre das erste Mal seit über 20 Jahren, dass er in Cannon Beach wäre. Und auch sein letztes Mal. Zweifellos sein letztes Mal.

Kapitel 2

WAR ES ZU SPÄT, um nach Cannon Beach zu fahren und herauszufinden, ob es dieses Haus wirklich gab? Wahrscheinlich. Micha trat an diesem Abend über die Türschwelle seiner Penthousewohnung, als die Ziffern seiner Digitaluhr gerade von 20:59 auf 21:00 Uhr sprangen.

Er drückte eine Tastenkombination an seinem Telefon, um seine Nachrichten abzuhören, und ließ sich auf sein Sofa fallen. Er hoffte, dass eine Nachricht von seinem Vater auf seinem Anrufbeantworter war. Gleichzeitig graute ihm davor, eine Nachricht von seinem Vater zu hören.

„Hallo, Junge“, erscholl die Stimme seines Vaters aus dem Gerät. „Ich habe deinen Anruf abgehört. Du brauchst mich nicht zurückzurufen. Wenn es etwas mit Archie Taylor zu tun hat, kann ich dir nur einen Rat geben: Lass die Finger davon. Ich muss nicht wissen, was in dem Brief steht. Verbrenn ihn und vergiss ihn. Das würde ich tun. Und dasselbe erwarte ich auch von dir.“

Micha seufzte. Na toll. Er konnte es gar nicht erwarten, seinen Vater zurückzurufen.

Er stand auf, um sich ein Glas Cola light einzuschenken, und blieb auf dem Weg zur Küche vor dem gerahmten Titelblatt der Zeitschrift Inc. im Flur stehen, das ihn und Julie zeigte. Ihre erste Titelstory. Das war vor einer halben Ewigkeit gewesen. Damals hatte er eine Champagnerflasche geköpft. Sie hatten es geschafft.

Es war nur schade, dass der Champagner nicht mehr so perlte wie am Anfang.

Nachdem er sich die Cola light geholt hatte, schaltete er seinen großen Fernsehbildschirm ein und starrte die Wand neben dem Bildschirm an. Leer. Als Julie das letzte Mal hier gewesen war, hatten sie wieder einmal über das gleiche Thema diskutiert, über das sie schon mindestens zehnmal gesprochen hatten: Julie war der Meinung, dass sein Penthouse zu spartanisch eingerichtet war.

„Warum hängst du nicht Bilder an die Wand, Micha? Ein paar Gemälde? Oder Fotos? Irgendetwas.“

„Ich habe keine Bilder.“

„Dann kauf dir welche, oder häng die Bilder auf, die du an der Highschool und am Anfang deines Studiums gemalt hast. Die, die du im Schrank verstaut hast. Sie sind ziemlich gut, wenn du mich fragst.“

„Sie sind furchtbar.“ Sein Studienberater an der Schule hatte ihm geraten, Kunst zu studieren. Doch das ging auf keinen Fall! Damit war kein Geld zu verdienen. Diese Phase seines Lebens war vorbei.

Micha schaltete den Fernseher ein, schaute sich einen Sportsender ohne Ton an und dachte an Cannon Beach. Er hatte den jährlichen Sandburgwettbewerb geliebt. Sein Bruder und er hatten in dem Jahr, in dem sie den Drachen gebaut hatten, den zweiten Platz bei den Sieben- bis Elfjährigen gemacht. Das war ihr letzter Urlaub in Cannon Beach gewesen. Zwei Tage nach dem Wettbewerb … er erlaubte sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Sein Blick wanderte zum Buch Der Herr der Ringe: Die Gefährten auf seinem Ecktisch. Dieses Buch wollte er schon seit zwei Jahren lesen. „Dich nehme ich mit.“

Am Samstagmorgen quälte er sich um 7:00 Uhr aus dem Bett und rief seinen Vater an. Häufiger als zweimal im Jahr mit ihm zu sprechen war zu viel, aber wenn irgendjemand eine Ahnung hatte, warum Archie ihm ein Haus hinterlassen hatte, dann war das sein Vater.

Das Telefon klingelte dreimal. „Guten Tag. Sie sprechen mit Daniel Taylor. Was kann ich für Sie tun?“

Sein Vater meldete sich, solange Micha zurückdenken konnte, mit diesem Spruch am Telefon. Es klang wie ein Text aus dem Knigge von 1950. Wahrscheinlich hatte er den Spruch auch dorther.

Micha rieb sich die Stirn. Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er musste seine Fragen stellen und dann das Gespräch beenden. Und versuchen, diesen Mann am Ende des Gesprächs nicht mehr zu verabscheuen als vorher.

„Hallo, Vater.“ Micha rieb sich über die Narbe an seiner linken Hand. „Ich wollte mit dir über Archies Brief sprechen.“

„Ich dachte, ich hätte in meiner Nachricht gestern Abend meinen Standpunkt klargestellt.“

„Ja, das hast du.“ Micha rieb sich den Nacken. „Aber ich hatte gehofft, du würdest …“

„Meinetwegen. Lies mir den Brief vor.“

Micha las ihn vor und wartete. Drei Sekunden. Fünf Sekunden. Nach sieben Sekunden brach sein Vater das Schweigen.

„Halte dich von Cannon Beach fern. Warum solltest du auch nur eine Sekunde in Erwägung ziehen, dorthin zu fahren?“ Micha hatte gewusst, dass sein Vater auf den Ort, wo das Haus stand, so reagieren würde. Genauso wie er gewusst hatte, dass sein Vater den Unfall nicht direkt ansprechen würde. „Woher willst du wissen, dass der Brief echt ist? Wahrscheinlich stammt er von einem Konkurrenten, der dich irritieren will.“ Sein Vater hüstelte. „Du hast es in der Geschäftswelt sehr weit gebracht.“

„Danke“, stammelte er. Es war das erste Mal, dass sein Vater den Erfolg von RimSoft überhaupt erwähnte. Das allererste Mal. Micha schaute das gerahmte Titelblatt von Julie und sich an der Wand an. Er hatte seinem Vater damals ein Exemplar der Zeitschrift geschickt. Aber der hatte nie ein Wort darüber verloren.

„Außerdem, wie kommst du darauf, dass dort tatsächlich ein Haus steht? Und selbst wenn, dann ist es wahrscheinlich nicht größer als ein Toilettenhäuschen und riecht auch nicht viel besser. Lass die Finger davon, Junge.“

Sein Vater sagte selten etwas anderes als „Junge“ zu ihm. Micha hatte sich als Kind und Jugendlicher so danach gesehnt, hin und wieder seinen Namen zu hören. „Danke für deine Einschätzung. Ich werde darüber nachdenken.“

„Das ist nicht nur meine Einschätzung; es sind Fakten. Was hast du vor?“

„Ich werde darüber nachdenken!“ Micha bereute sofort, dass er seine Stimme erhoben hatte. Aber jedes Gespräch mit seinem Vater war wie eine Unterhaltung mit Mr Spock. Er wünschte sich einfach, dieser Mann würde einmal irgendwelche Gefühle zeigen.

„Ich habe offenbar zu viel gesagt. Ich will dir nicht vorschreiben, wie du dein Leben führen sollst. Aber du hast mich nach meiner Meinung gefragt und …“

„Es tut mir leid. Ich will einfach …“

„Ich weiß, dass ich in so etwas nicht gut bin … ähm … und in der Vergangenheit habe ich … ich kann einfach nicht … Du wirst bestimmt eine gute Entscheidung treffen.“

Micha legte auf und schaute aus dem Fenster im 21. Stock mit Blick über die Elliott Bay vor Seattle. Es war ein strahlender Frühlingstag, die Sonne war schon aufgegangen und warf lange Morgenschatten auf den Rasen des kleinen Parks. Ein Mann lag in der Mitte des smaragdgrünen Teppichs. Er hatte die Arme und Beine ausgebreitet, als hätte er einen Schneeengel gemacht und wäre dann so liegen geblieben.

Diese Szene weckte eine Erinnerung in Micha, wie er als Siebzehnjähriger mit geschlossenen Augen in der Mitte eines Parks in der Nähe seines Zuhauses gelegen hatte.

„Hey, Micha, was machst du da?“, hatte ihn ein Kumpel aus seiner Basketballmannschaft aus seinen Tagträumen gerissen.

„Nicht denken.“ Micha hatte die Augen aufgeschlagen. „Gehen dir manchmal so viele Sachen durch den Kopf, dass du vor deinen eigenen Gedanken fliehen möchtest?“

„Nein.“

„Mir schon. Ich will nie einer von diesen Leuten werden, die so sehr auf Erfolg und Macht aus sind, dass sie nur durchs Leben rasen und nicht dazu kommen, es zu genießen. Ich will das Leben jeden Tag voll ausschöpfen.“

„Du bist verrückt, Micha.“

Das war ein Gespräch aus einem anderen Leben. Micha schlug die Augen auf, als die Erinnerung verblasste. Damals war er ziemlich naiv gewesen. Das Leben, das er sich geschaffen hatte, hatte Vorteile, die er sich nie erträumt hätte. Aber wenn man den Gipfel des Mount Everest bezwungen hatte und feststellte, dass er gar nicht so toll war, welchen Berg wollte man dann noch besteigen?

Der Typ im Park war immer noch da und dachte zweifellos an nichts. Micha schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln.

Widerstand war vergeblich. Das Leben veränderte die Menschen. Es hatte seinen Vater verändert. Es hatte ihn zu … einem anderen Menschen gemacht. Und das Leben hatte Micha anscheinend in Sir Edmund Hillary verwandelt. Das musste er akzeptieren.

Zwanzig Minuten später stand er mit einem schwarzen ledernen Aktenkoffer in einer Hand und einer Nike-Sporttasche in der anderen an seiner Wohnungstür. Brauchte er noch etwas?

Ja. Etwas zum Knabbern für die Fahrt. Er stellte seine Taschen gleich neben seiner Wohnungstür ab und lief durch den Flur in die Küche. Moment mal. Etwas stimmte hier nicht. Etwas war im Flur anders. Micha blieb stehen und drehte sich langsam um. Etwas fehlte.

Wo war es? Er schaute nach unten und erwartete, es auf dem ingwerfarbenen Teppich liegen zu sehen. Nichts.

Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Das war unmöglich. Er hatte es doch vorhin noch betrachtet, während er mit seinem Vater gesprochen hatte.

Das gerahmte Titelblatt der Zeitschrift Inc. war von seiner Wand verschwunden.

Kapitel 3

DER GROSSE AUGENBLICK WAR GEKOMMEN. Es war so weit, herauszufinden, was es mit dem Brief seines Großonkels Archie auf sich hatte.

Kurz nach 15:00 Uhr am Samstagnachmittag nahm Micha die erste Ausfahrt nach Cannon Beach, ließ sein Fenster herab und atmete tief ein. Der salzige Geruch der Meeresluft erfüllte das Auto. Dieser Geruch schmeckte nach schmerzlichen Erinnerungen, aber aus Gründen, die er nicht verstand, auch nach Hoffnung.

Die Wahrscheinlichkeit, dass hier tatsächlich ein Haus auf ihn wartete, war gleich null, aber er musste das leere Grundstück sehen. Das war der schnellste Weg, um Archies Brief aus dem Kopf zu bekommen. Micha hatte das Satellitenfoto noch einmal angeschaut, bevor er in Seattle aufgebrochen war, da er gehofft hatte, er könnte die Frage vor seiner Abfahrt beantworten. Auf dem Foto war immer noch die alte Aufnahme von dem Grundstück zu sehen, auf dem Archies Haus angeblich stand.

Falls es das Haus tatsächlich geben sollte, befand es sich sechs Kilometer südlich von Cannon Beach. Er brauchte also nicht durch die Stadt zu fahren; aber da er seit über 20 Jahren nicht mehr hier gewesen war, wollte er sehen, was sich alles verändert hatte.

Das war aber nicht der eigentliche Grund, warum er vom Highway 101 abbog.

Etwas in ihm wünschte sich verzweifelt, dass er bei der Adresse, die auf der Karte stand, ein Haus vorfinden würde. Er wollte glauben, dass jemand so verrückt war … oder ihn so sehr liebte, dass er ihm ein Haus an der Pazifikküste von Oregon baute. Aber der größere Teil von ihm glaubte das nicht, und durch die Stadt zu fahren würde die unausweichliche Enttäuschung noch ein wenig hinauszögern.

Er bog in die Main Street ein. Einige Sekunden später tauchte Osburns Eisdiele vor ihm auf. Sie war immer noch da!

Südlich der Stadt bog er in die kurvenreiche Straße ein, die 20 Meter oberhalb des Strandes verlief. Micha verlangsamte seine Geschwindigkeit, während er zuschaute, wie die Seemöwen am kobaltfarbenen Himmel über dem wilden Strand ihre Kreise drehten. Einige Minuten später bog er wieder auf die 101 ab und schluckte schwer. Dann noch einmal. Es gab keinen Grund, nervös zu sein. Doch dieser Gedanke half ihm auch nicht.

Sein GPS gab an, dass das Haus gleich südlich des Arcadia Beach State Parks stehen müsste. Als der Park vor ihm auftauchte, fuhr er im Schritttempo weiter, lenkte dann sein Auto an den Straßenrand und betrachtete die Zahlen auf den kleinen Pfosten, bis er die Nummer 34140 fand. Er trat auf die Bremse und schaute vorsichtig in beide Richtungen des Highways.

Michas Herzschlag beschleunigte sich, als er nach rechts abbog und seine Reifen langsam und knirschend über die Schottereinfahrt rollten. Sie machte eine Kurve nach rechts und verwehrte den Blick auf die Stelle, an der sich das Haus befinden müsste. Ein schwacher Salzgeruch drang ins Auto, und als er sein Fenster nach unten ließ, erfüllte die Meeresbrandung seine Ohren. Er brachte sein Auto zum Stehen und atmete tief durch, bevor er eine Antwort auf die Frage bekam, die pausenlos in seinem Kopf hämmerte.

„Bitte, Gott. Mach, dass hier ein Haus steht. Und lass es mehr als ein Toilettenhäuschen sein.“

Die Worte sprudelten aus ihm heraus, bevor er es verhindern konnte. Woher waren sie gekommen? Beten stand nicht auf seiner täglichen To-do-Liste. Jedenfalls seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr.

Er rollte langsam weiter. Eine Ecke des Hauses tauchte auf. Er stieß einen langen, leisen Pfiff aus, als mehr von dem Haus in seinem Sichtfeld erschien. Ein erster Blick verriet, dass das Haus leicht mit den großen Villen und Herrenhäusern mithalten konnte. Er beugte sich über sein Armaturenbrett. Wow! Der First des Schieferdachs musste 8 oder vielleicht sogar 10 Meter hoch sein.

Er stieg aus seinem Auto und ging unter dem Vordach, das zur Haustür führte, zum Haus. Dabei blieb er immer wieder stehen und bestaunte die blühenden Blumenbeete rechts und links. Sie dufteten wie ein Parfumladen. In einem glitzernden Pool links von ihm spiegelte sich ein gemauerter Kamin, der sich an der Ostseite des Hauses befand. Der Pool ergoss sich am anderen Ende in einen Wasserfall, der über bemooste Felsen plätscherte und dann in einem Teich mündete, auf dem Seerosen schwammen. Wahrscheinlich tummelten sich in dem Teich jede Menge Koi-Karpfen. Micha schüttelte schmunzelnd den Kopf.

Zwei eindrucksvolle Steinsäulen ragten auf beiden Seiten einer soliden Eichentür nach oben, die mit einem Messinggriff versehen war, der gleichzeitig antik und neu aussah. Zwei Gaslampen aus dem 19. Jahrhundert umrahmten den Eingangsbereich.

Als Micha den Schlüssel ins Schloss steckte, befiel ihn ein starkes Déjà-vu-Gefühl. Er hatte das alles schon einmal gesehen. In einem Traum? Ein Bild von einem Haus, das genauso ausgesehen hatte wie dieses? Micha schauderte, während er den Schlüssel umdrehte.

Das Gefühl verstärkte sich, als er durch die Haustür trat. War er schon einmal hier gewesen? Nein. Unmöglich. Das Haus war ja erst vor Kurzem fertig gestellt worden. Reiß dich zusammen!

Während er weiterging, kam ein unwillkürliches Lachen über seine Lippen, und er grinste. Erstaunlich! Vier hohe Mahagonifenster umrahmten einen spektakulären Blick auf den Pazifik. Riesige Zedernbalken trugen eine Zimmerdecke, die mindestens sieben Meter hoch war. Ein Kamin aus Flusssteinen beherrschte die Wand auf der linken Seite. An der rechten Wand befanden sich drei Meter hohe eingebaute Mahagoniregale.

Vor den Fenstern stand ein überdimensionaler Polstersessel. Die Lampe, die danebenstand, verbreitete zweifellos ein warmes, goldenes Licht. Der ideale Platz, um den Wellen zuzuschauen.

Archie war zwar vielleicht verrückt gewesen, aber wer auch immer dieses Haus für Micha gebaut hatte, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Micha hatte das Gefühl, als wäre er sein ganzes Leben lang immer wieder hierher gekommen. Woher hatte Archie das gewusst? Er und sein Großonkel mussten den gleichen Geschmack haben.

Micha betrachtete ein großes Gemälde vom Haystack Rock, dem berühmten Felsen, der draußen vor dem Fenster mitten im Wasser stand und wirklich aussah wie ein Heuhaufen, dem er seinen Namen verdankte. Das Bild auf dem Kaminsims war eindeutig von Monet beeinflusst, vielleicht mit einem leichten Hauch von van Gogh. Micha legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Frieden umfing ihn. Ein unerwartetes Gefühl. Aber sehr angenehm.

Sein Handy klingelte und zerstörte den friedlichen Moment. Er zog es aus seiner Tasche. „Was ist?“

„Hups, entschuldige“, sagte Julie. „Ich wollte nur wissen, ob du schon angekommen bist. Und ob es das Haus wirklich gibt.“

„Entschuldige, das Klingeln hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich bin vor zwei Minuten hier angekommen. Du müsstest das Haus sehen, Julie.“ Micha drehte sich auf dem Absatz herum. Eine Wendeltreppe führte zu einem langen Flur im ersten Stock hinauf. Natürlich gab es eine Wendeltreppe. Wendeltreppen hatte er schon immer geliebt. „Es ist gleichzeitig verblüffend und bizarr. Es kommt mir irgendwie … bekannt vor.“

„Wie kann ein Haus, das gerade frisch erbaut wurde, dir bekannt vorkommen?“

„Keine Ahnung.“ Micha drehte sich um und trat zu den großen Fenstern, um die Meeresbrandung zu beobachten. Könnte er hier Kajak fahren?

„Aber es gefällt dir.“

„Es ist beeindruckend. Ich mache ein paar Fotos und zeige sie dir nächste Woche.“

„Du meinst übermorgen.“

„Ja.“ Micha zögerte. „Am Montag.“

Nachdem er aufgelegt hatte, ging er an dem Polstersessel vorbei, der so stand, dass man aus dem Fenster schauen konnte, und trommelte leicht auf die Armlehne. „Ich bin bald wieder bei dir.“

Große Glastüren führten auf eine massive Terrasse über dem Strand. Er schwang die Türen auf, und salzige Meeresluft umwehte ihn. Er schaute zu, wie die Wellen in ihrem faszinierenden Rhythmus ans Ufer rollten und spürte inmitten der Brandung die Stille.

Wenn die Wellen nur heilen statt die Vergangenheit aufwühlen könnten.

In ihm stritten zwei Gefühle: Er genoss es, hier zu sein. Und er hasste es, hier zu sein.

Er schloss die Augen und ließ sich den Wind, der sich anscheinend nicht entscheiden konnte, in welche Richtung er wehen wollte, ins Gesicht pusten und seine Haare zerzausen, bevor er wieder hineinging und sich in den Ledersessel setzte.

Er legte die Füße auf die Ottomane und tat … nichts. Er zwang sich, nichts zu denken. Er schaute nichts anderes an als das, was direkt vor ihm war. Als der Horizont immer dunkler und dann ganz schwarz wurde, saß er immer noch in derselben Haltung da. Er glaubte, dass man das als Entspannung bezeichnete. Früher, vor langer Zeit, bevor RimSoft jede Minute seiner Zeit beansprucht hatte, hatte er das auch getan.

Noch ein paar Minuten, dann würde er aufstehen und das Haus erkunden. Er müsste wenigstens das Schlafzimmer finden. Aber diese Absicht versank mit den letzten Momenten, in denen er noch bewusst etwas dachte.

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Micha erwachte am nächsten Morgen und stellte fest, dass er immer noch in dem Ledersessel saß. Er brauchte ein paar Minuten, um sich daran zu erinnern, wo er war, aber der umwerfende Meeresblick, der seine halb geöffneten Augen begrüßte, weckte sein Erinnerungsvermögen schnell wieder. Er hatte die ganze Nacht in diesem Sessel geschlafen? Wie hatte er einschlafen können, bevor er den Rest des Hauses gesehen hatte? Es war höchste Zeit für eine Hausbesichtigung.

Der Rest des Hauses enttäuschte ihn nicht mit seiner voll eingerichteten Küche, einschließlich Grill, Gefrierschrank und Arbeitsflächen aus Granit.

Es gab ein Spielzimmer mit Kicker, Billard und Dartscheibe.

Ein riesiges Fernsehzimmer mit rostbraunen Kinosesseln und einer Leinwand, die mindestens drei mal zwei Meter groß war.

Ein Arbeitszimmer mit eingebauten Bücherregalen, Internetanschluss und einem Teakholzschreibtisch.

Als er ins Schlafzimmer kam, begannen seine Handflächen zu schwitzen. Das ganze Haus war genau so, wie er es selbst auch gebaut und eingerichtet hätte. Es war so, als hätte jemand in seinen Kopf hineingeschaut und seine Lieblingsfarben und den Stil gefunden, der ihm am besten gefiel, und alles perfekt in diesem Haus umgesetzt.

Sein Traumhaus … direkt aus seinen Träumen.

Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass jemand, dem er nie begegnet war, seinen Geschmack so genau kannte. In seinem Kopf drehte sich alles. Dieses Haus musste mehrere Millionen Dollar gekostet haben, ganz zu schweigen vom Wert des Grundstücks. Nahm man die Einrichtung dazu, dann war es wahrscheinlich eines der wertvollsten Häuser an der Küste von Oregon.

Warum hatte jemand so viel Geld ausgegeben? Und es für einen anderen bauen lassen? Und dann ausgerechnet für ihn? Das ergab keinen Sinn. Micha kehrte ins Erdgeschoss zurück, trat auf die Terrasse und schaute an dem Haus hinauf. Grob geschätzt hatte es 800 Quadratmeter Wohnfläche. Und es gehörte ihm. Unglaublich.

Das war das Problem. Das Haus war unglaublich. Es musste einen Haken geben. Er wusste nur nicht, wo der Haken war.

Es war nur gut, dass er nicht hierbleiben würde, um das herauszufinden.

Micha schaute hinaus über das Meer. Er würde dieses Haus verkaufen. So bald wie möglich.

Sein Magen knurrte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 10:00 Uhr. Er ging wieder hinein und nahm mit der Absicht, in die Stadt zu fahren, seine Schlüssel von der Granitarbeitsplatte. Als er gerade wieder hinausgehen wollte, blieb er abrupt stehen. Eine Tür am Ende des Flurs im Erdgeschoss war angelehnt, und ein heller Lichtstrahl fiel durch den Türspalt auf den Teppich.

Ein unbekanntes Gefühl befiel ihn. Das Gefühl, magnetisch angezogen zu werden.