[1]Alfried Längle, Ingeborg Künz

Leben in der Arbeit?

Existentielle Zugänge zu Burnout-Prävention und Gesundheitsförderung

[2][3]Alfried Längle, Ingeborg Künz

Leben in der Arbeit?

Existentielle Zugänge zu Burnout-Prävention und Gesundheitsförderung

[5]Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die existentielle Perspektive auf das Leben

Der Aufbau des Buches

Burnout – ein Überblick

3.1 Was ist Burnout?

3.2 Woran erkennt man Burnout – was sind die Symptome?

3.3 Verlauf von Burnout

3.4 Ursachen von Burnout

3.4.1 Ursachen in den Bereichen Individuum, Arbeitswelt und Gesellschaft

3.4.2 Die Verzweckung als formale Ursache des Burnouts

3.4.3 Die tiefere Ursache – der Ursprung der Bedürftigkeit durch die Frustration existentieller Grundstrebungen

Die Vielfalt der Burnout-Prävention

4.0 Überblick über die häufigsten Präventionsprogramme

4.1 Die Verbesserung des Verhältnisses zur Arbeit (Burnout-Prävention nach Leiter, Maslach)

4.2 Der Einzelne und die Organisation selbst (Burnout-Prävention nach Burisch)

4.3 Responsible Leadership (Burnout-Prävention nach Leibovici-Mühlberger)

4.4 Balance in Stress- und Belastungssituationen (Burnout-Prävention nach Linneweh, Heufelder, Flasnoecker)

4.5 Förderung der psychosozialen Gesundheit (Burnout-Prävention nach Kaluza)

4.6 Salutogenese und Ressourcenmanagement (Burnout-Prävention nach Meier Kernen und Kernen)

4.7 Sinn in der Arbeit (Burnout-Prävention nach Pattakos)

Burnout-Prävention – der existentielle Schutz

5.0 Die existentiellen Grunddimensionen als die Säulen der Prävention

[6]5.1 Die erste Säule der Prävention: Das Können ist die Grundlage von allem

5.1.1 Das Können

5.1.2 Die Voraussetzungen für das Können: Schutz, Raum und Halt

5.1.3 Schutzreaktionen bei Bedrohung des Könnens

5.1.4 Vorgehen beim Auftreten von Schutzreaktionen bzw. der Bedrohung des Könnens

5.1.5 Die personalen Aktivitäten der ersten Säule: Annehmen und Aushalten

5.1.6 Weitere praktische Hinweise

5.2 Die zweite Säule der Prävention: Ohne Mögen wird es zäh

5.2.1 Das Mögen

5.2.2 Die Voraussetzungen für das Mögen: Beziehung, Zeit, Nähe

5.2.3 Schutzreaktionen bei Bedrohung des Mögens

5.2.4 Vorgehen beim Auftreten von Schutzreaktionen bzw. der Bedrohung des Mögens

5.2.5 Die personalen Aktivitäten der zweiten Säule: sich dem Positiven zuwenden und um das Negative trauern

5.3 Die dritte Säule der Prävention: Das Dürfen gibt erst richtig frei

5.3.1 Das Dürfen

5.3.2 Die Voraussetzungen für das Dürfen: Beachtung, Gerechtigkeit und Anerkennung, Wertschätzung

5.3.3 Der Wert des Selbst – der Selbstwert

5.3.4 Schutzreaktionen bei drohendem Verlust des Eigenen

5.3.5 Vorgehen beim Auftreten von Schutzreaktionen bzw. der Bedrohung des Selbst-Seins

5.3.6 Die personalen Aktivitäten der dritten Säule: ansehen, abgrenzen, verzeihen, bereuen und mitteilen von Kritik und Peinlichem

5.4 Die vierte Säule der Prävention: Im Sollen liegt der Sinn

5.4.1 Das Sollen

5.4.2 Die Voraussetzungen für das Sollen: Kontext, Aufgabe, Wert in der Zukunft

5.4.3 Burnout als ein Defizit an echtem existentiellem Sinn

5.4.4 Motivationstheoretische Analyse

5.4.5 Schutzreaktionen beim Gefühl der Sinnlosigkeit

[7]5.4.6 Vorgehen beim Auftreten von Schutzreaktionen bzw. bei der Bedrohung des Sollens

5.4.7 Die personalen Aktivitäten der vierten Säule: sich in Übereinstimmung bringen und sinnvoll handeln

Wenn Hindernisse den Weg blockieren – nicht aufgeben, sondern anpacken!

6.1 Erster Schritt: Das Können ist die Grundlage von allem

6.1.0 Die Faktenlage: Was liegt vor? (PEA-0)

6.1.1 Gefühl: Wie ist das für mich? (PEA-1)

6.1.2 Stellungnahme: Was halte ich davon? (PEA-2)

6.1.3 Verhalten: Wie kann ich das umsetzen, was ich will? (PEA-3)

6.1.4 Beispiele aus der Praxis

6.2 Zweiter Schritt: Ohne Mögen wird es zäh

6.2.0 Die Faktenlage: Was liegt vor? (PEA-0)

6.2.1 Gefühl: Wie ist das für mich? (PEA-1)

6.2.2 Stellungnahme: Was halte ich davon? (PEA-2)

6.2.3 Verhalten: Wie kann ich das umsetzen, was ich will? (PEA-3)

6.2.4 Beispiele aus der Praxis

6.3 Dritter Schritt: Das Dürfen gibt erst richtig frei

6.3.0 Die Faktenlage: Was liegt vor? (PEA-0)

6.3.1 Gefühl: Wie ist das für mich? (PEA-1)

6.3.2 Stellungnahme: Was halte ich davon? (PEA-2)

6.3.3 Verhalten: Wie kann ich das umsetzen, was ich will? (PEA-3)

6.3.4 Beispiele aus der Praxis

6.4 Vierter Schritt: Im Sollen liegt der Sinn

6.4.0 Die Faktenlage: Was liegt vor? (PEA-0)

6.4.1 Gefühl: Wie ist das für mich? (PEA-1)

6.4.2 Stellungnahme: Was halte ich davon? (PEA-2)

6.4.3 Verhalten: Wie kann ich das umsetzen, was ich will? (PEA-3)

6.4.4 Beispiele aus der Praxis

6.4.5 Personale Methoden rund um den Sinn

Literaturverzeichnis

Anhang

Fragebogen LIDA zur Selbsteinschätzung – Leben in der Arbeit

[8][9]Vorwort

Arbeit und Existenz sind eng miteinander verwoben. Einerseits hängt die Existenz der meisten Menschen von der Arbeit ab, andererseits hat jeder Mensch die Aufgabe, ein erfüllendes Leben – eine „gute Existenz“ – neben der Arbeit, aber auch mit ihr, aufzubauen. So liegt es nahe, das Werkzeug der Existenzanalyse zu nutzen, um die Arbeitswelt zu durchleuchten und Anleitungen zu finden für ein ausgewogenes Leben; für ein Arbeiten, das als Leben empfunden wird und darum Erfüllung gibt; für ein Arbeiten, das nicht in die Leere mündet, sich nicht im Stress verheddert und das nicht die Gesundheit und die Lebensfreude belastet; für ein Arbeiten, das als sinnvoll empfunden wird; für ein Leben, das nicht nur die Arbeit kennt.

Motivation für dieses Buch ist, die wissenschaftlich fundierten Kenntnisse der Existenzanalyse für berufliche Organisationen und die darin arbeitenden Menschen zugänglich zu machen. Daraus ergeben sich Anleitungen zu beruflicher Erfüllung und natürlich auch Wege, um Burnout und Stress zuvorzukommen bzw. sie abbauen zu können. Dabei kann es sich nicht einfach um Rezepte handeln, stammen sie doch aus einem philosophischen und psychologischen Verständnis des Menschen. Diese Hilfen entwickeln sich aus einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema.

Aus dieser Motivation für das Buch ergibt sich auch sein Ziel: Es soll Menschen helfen, in der Arbeit Leben zu finden, vielleicht noch mehr in der Arbeit leben zu können und sich in ihr lebendig zu fühlen. Dann wird Arbeit nicht einfach eine Abfolge von Erledigungen sein, sondern sie wird zur Erfüllung und inneren Freude. Sie soll ein Terrain sein, in dem man aufgeht und eine Bestimmung, eine Be-rufung finden kann. Auf solcher Basis wird dem Stress und der Burnout-Gefahr weitgehend der Boden entzogen und die Gesundheit gefördert – für die Führungskraft ebenso wie für jeden Einzelnen und die Mitarbeiter des Unternehmens.

Das Buch richtet sich an alle, die arbeiten und die Arbeit als Last empfinden, die unter der Mühe und Anstrengung leiden und an jene, denen Gesundheitsförderung ein Anliegen ist – besonders aber an jene, die in verantwortlicher Position Menschen leiten und unterstützen: Personalleiter, Personalentwickler und Führungskräfte. Sie erhalten Einsichten in den Aufbau menschlichen Verhaltens und dessen Beweggründe. Sie werden über die existentiellen Strukturen erfahren und die Fallstricke des Burnouts besser erkennen lernen. Dann können präventive Maßnahmen gesetzt werden und es kann besser Unterstützung gegeben werden. Ebenso bekommen sie ein Wissen darüber, wie sie nachhaltig die eigene Gesundheit und die ihrer Mitarbeiter fördern können. Für Coaches, Psychologen und Berater können[10] die Inhalte des Buches eine ungewöhnliche und ergänzende Perspektive sein, da diese Art des Denkens und dieses Wissen auf dieser professionellen Ebene noch nicht sehr verbreitet ist.

Als existentielles Buch wollen wir auch uns selbst einbeziehen. Wir können bezeugen, dass die vorgestellten Inhalte nicht nur theoretisch begründet sind, sondern dass wir sie selbst erprobt und in eigenen Erfahrungen als hilfreich erlebt haben. Sie können Menschen helfen, die am Beginn eines Burnouts stehen, die zu viel Stress haben oder die mehr Erfüllung in ihrer Arbeit finden wollen.

Die größte Freude wäre für uns, wenn Sie als Leserin, als Leser die Inhalte in Ihr Leben integrieren können und über die Inhalte ins Gespräch kommen – mit sich selbst ins innere Gespräch und mit anderen Menschen im privaten und beruflichen Umfeld. Wir wünschen Ihnen viel Interesse und Erleben beim Lesen!

Wien/Hard, im August 2016

Alfried Längle und Ingeborg Künz

[11]Die existentielle Perspektive auf das Leben

Jeder psychologische Zugang zu seelischer Gesundheit, persönlicher Entwicklung und Verbesserung des Wohlbefindens („Glücklichsein“) geht von einem bestimmten Blickpunkt aus. Hier wird eine existentielle Perspektive in den Mittelpunkt gerückt. Eine ganze Reihe anderer Blickpunkte wird beschrieben, aber der Hauptteil beruht auf einem Menschenbild, das in der Existenzanalyse entwickelt wurde. Existenzanalyse ist eine Psychotherapie, ein Beratungs- und Coaching-Verfahren, das in der übergeordneten Richtung der humanistischen Psychotherapie angesiedelt ist (Frankl 2011; Längle 2013; 2016; Längle, Bürgi 2014; Stumm 2011). Als humanistisches Verfahren hat die Existenzanalyse den Schwerpunkt im „Humanen“, wie der Name schon sagt. Existenzanalytisches Vorgehen hat daher den Fokus auf den Menschen als Person gerichtet.

Es gibt natürlich weitere Sichtweisen des Menschen, die in anderen psychotherapeutischen Richtungen zur Anwendung kommen. Auch sie beschreiben wichtige Seiten und Fähigkeiten des Menschen: die psychodynamischen, meist unbewussten Kräfte im Menschen, die Lern- und Adaptationsfähigkeit des Menschen, die Verwobenheit in größeren Systemen, von denen er Teil ist und die er mitbeeinflusst. Sie werden daher auch in diesem Rahmen berücksichtigt.

Die Existenzanalyse wird als eine „Analyse“ bezeichnet. Damit wird schon mit dem Namen etwas zum Ausdruck gebracht. Sie ist also ein Verfahren, das etwas „auflösen“ soll. Was ist das, was in einer Existenzanalyse aufgelöst werden soll? Man kann ja nicht die Existenz auflösen, denn die ruht in sich. In der Existenzanalyse geht es vielmehr um das Herauslösen der Bedingungen, der Voraussetzungen, der Mittel und Möglichkeiten, um zu einem erfüllenden und gelingenden Leben („Existenz“) – auch einer beruflichen Existenz – zu gelangen (Längle 2016). Die Existenzanalyse beschreibt diese Bedingungen allgemein, also anthropologisch: Was braucht der Mensch, um zu einem erfüllenden Leben zu gelangen? Die Existenzanalyse ist als praktische Anwendung aber vor allem damit befasst, die Voraussetzungen dafür auch konkret zu beschreiben: Was spielt im Leben dieses Menschen eine Rolle? Welche Mittel hat dieser Mensch derzeit zur Verfügung, um so leben zu können, dass er mit sich und den anderen möglichst im Einklang sein kann; dass er Erfüllung erlebt und Sinn findet? Diese konkrete Arbeit geschieht dann im Coaching, in der Beratung oder auch in der Psychotherapie. In allen diesen Fällen werden die konkreten Lebenssituationen des Menschen beleuchtet und mit der Theorie im Hintergrund durchforstet (Längle 2013).

[12]Um aber der Einzigartigkeit und Einmaligkeit des Menschen möglichst gerecht zu werden, wird nicht das allgemeine Muster auf das konkrete Leben übergestülpt, sondern es wird maximal individualisierend und ganz auf der Ebene des subjektiven Erlebens, der persönlichen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten vorgegangen. Theorie, Vorwissen, Erwartungen usw. des Existenzanalytikers werden beiseitegestellt, um die tiefe, echte eigene Motivation und das persönliche Werterleben der Gesprächspartner zu erfassen. Eine solche Vorgangsweise, die zentral ist für die Existenzanalyse, wird als phänomenologisch bezeichnet. Das beschreibt eine Haltung der Offenheit dem anderen und sich selbst gegenüber, dank derer das Wesentliche der Situation oder des Problems sichtbar und spürbar wird (Längle 2013; Längle, Bürgi 2014).

Die Existenzanalyse hat ihre Wurzeln in der Logotherapie Viktor Frankls (Frankl 2005, 2007). Frankl hat mit der Logotherapie eine „Sinnlehre gegen die Sinnleere“ geschaffen. Die Weiterentwicklung der Existenzanalyse bestand nun darin, auch die Voraussetzungen für eine Sinnfindung zu schaffen, Methoden zu entwickeln für eine erleichterte praktische Anwendung und eine systematische Krankheitslehre zu entwickeln mit speziellen, phänomenologischen Therapie-Zugängen. Dabei wird das wertvolle Erbe Frankls bewahrt und in einen größeren Rahmen neu eingebettet. Auch in diesem Buch wird darauf zurückgegriffen.

Am kürzesten kann Existenzanalyse beschrieben werden als ein Verfahren, das dem Menschen helfen soll, mit innerer Zustimmung zu dem, was er tut, leben zu können. Mit anderen Worten heißt das: Was immer man tut, es wird nur dann als „eigenes Leben“ empfunden, wenn man innerlich Ja dazu sagt. Erst wenn man innerlich „dabei“ ist, sich einklinkt, „com-mitted“ ist, „hat“ man was von seinem Leben. Erst durch diesen persönlichen Einsatz wird das Leben, wird die jeweilige Handlung bzw. das jeweilige Erleben erfüllend. Denn dann erst, auf der Basis eines solchen inneren „Ja“, ist es möglich, sich wirklich zu engagieren, sich ganz hineinzugeben und in fühlenden Kontakt mit dem Wert der Sache zu kommen, der einen dann auch umgehend belohnt und berührt.

Innere Zustimmung ist der Schlüsselbegriff der Existenzanalyse. Zustimmung ist ein Akt der Freiheit, eine Bejahung, die auf dem Gefühl der Stimmigkeit beruht – Zu-„Stimmung“. Zustimmung ist nicht allein mit dem Denken zu erreichen, ist vielleicht manchmal gar nicht so „vernünftig“ oder rational, weil sie wesentlich aus dem Herzen kommt. Existenzanalyse enthält daher auch eine Schulung des Herzens, ein Ernstnehmen der Gefühle, des ganz Eigenen und Persönlichen. Erst auf dieser Basis kann das Leben wirklich zu seinem Sinn finden, kann der Sinn der Situation gefunden werden. [13]Weil diese innere Zustimmung so zentral ist, wird sie auch in diesem Buch eine zentrale Stellung einnehmen. Im nächsten Abschnitt wird erläutert, was es für die innere Zustimmung alles braucht, d. h. wie sie zu verstehen ist und sich zusammensetzt.

Zum Abschluss dieser einleitenden Vorstellung der Existenzanalyse soll sie als Psychotherapie beschrieben werden, obwohl in diesem Buch nicht auf diese eingegangen wird. Dennoch spielt sie im Hintergrund eine Rolle für die Entwicklung der Zugänge und Gedanken dieses Buches. Existenzanalyse wird als phänomenologisch-personale Psychotherapie verstanden. Wie oben bereits skizziert, wendet sie sich an die Person des Einzelnen, an das „ganz Persönliche“, an das Wesen des Menschen, an das, das ihm Würde verleiht. Vor diesem Wesen eines jeden Menschen haben wir Respekt. Das hat natürlich einen Niederschlag in der Vorgangsweise im Coaching, aber auch in diesem Buch. In dieser Methode wird auf die Fähigkeit des Menschen, Person zu sein, d. h. sich selbst zu sein, autonom zu sein, eigenverantwortlich zu sein, besonders geachtet. In der Existenzanalyse ist man bestrebt, respektvoll und die Eigenständigkeit schützend vorzugehen. Darum arbeitet man in ihr in erster Linie „phänomenologisch“, also möglichst offen, um Raum zu schaffen im Dialog für das, was diesen Menschen jetzt zu innerst und wirklich bewegt und angeht. Das Ziel existenzanalytischen Vorgehens ist zuerst, den anderen oder sich selbst zu verstehen, die Beweggründe kennenzulernen. Erst dann kommen Theorien, Methoden usw. dazu, wenn es darum geht, Probleme und Behinderungen zu behandeln.

Diese phänomenologische Vorgangsweise und anschließende Behandlung hat in der Existenzanalyse den Fokus auf der Methode der Personalen Existenzanalyse (PEA – Längle 2000c). Darum wird in der Definition der Existenzanalyse als Psychotherapie Bezug auf diese spezifische Vorgangsweise genommen. Die Existenzanalyse als Psychotherapie kann also auch folgendermaßen definiert werden: Die Existenzanalyse hat zum Ziel, dem Menschen zu einem emotional freien Erleben, zu authentischen Stellungnahmen und eigenverantwortlichem Umgang mit sich und der Welt zu verhelfen. Erleben, Stellungnahme, Ausdruck und Handeln sind die Eckpfeiler der Personalen Existenzanalyse. Diese zentrale Methode ist selber sehr phänomenologisch. Die PEA stellt das Prozessmodell der Existenzanalyse dar und wird in Kapitel 6 eine wichtige Rolle für die Bearbeitung von Schwierigkeiten und Hindernissen spielen.

Was ist „Existenz“?

In der Existenzanalyse ist der Begriff „Existenz“ zentral. Dieser Fachterminus bedeutet so viel wie „Leben“. „Personale Existenz“ ist also „das eigene, persönliche [14]Leben“. Man spricht deshalb gerne von „Existenz“, weil der Begriff auf einen Umstand hinweist, der das menschliche Dasein kennzeichnet: Der Mensch ist nicht einfach nur „da“, sondern er ist immer als freier Mensch da. Das geht so weit, dass sich der Mensch dadurch von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Denn er ist das einzige Lebewesen, das nicht leben muss. D. h. er ist so frei, dass er nicht da sein muss, wenn er nicht will. Er ist auch nicht einfach „er oder sie“, sondern er ist immer der, zu dem er sich gemacht hat. Er ist geprägt von seinen Entscheidungen. Er ist der, der sich selbst so sein lässt, weil er ja ein freier Mensch ist. Der Mensch entscheidet also immer, wer er ist. Er ist nicht einfach, er ist nicht „irgendwer“, sondern er ist immer „sich“ (Levinas 1978, S. 38), immer der Entscheidende. Dadurch hebt sich der Mensch aus dem bloß Gegebenen, dem Faktischen heraus. Er ist zwar bedingt, aber nicht zur Gänze von den Bedingungen „bestimmt“ (Frankl 2005). Er „ex-sistiert“, hebt sich ab vom Boden des Gegebenen, so wie er sich von den vier Beinen im Laufe der Evolution erhoben hat und nun auf zwei Beinen steht und Hände hat für den freien Umgang mit den Dingen. Dies alles bildet einen wichtigen Hintergrund für das Coaching, für Leadership, für Burnout-Prävention. Existenz ist daher das Leben, das vom Menschen selbst gestaltet ist, das Leben, das der Mensch selbst „führt“. Es ist das Leben, das er in Freiheit zu leben hat, das er sinnvoll gestalten kann, für das er aber immer und unausweichlich verantwortlich ist. Existieren bedeutet, frei zu sein. Damit ist unweigerlich verbunden, für sein Leben auch verantwortlich zu sein. Wo der Mensch verantwortlich ist, kann er auch schuldig werden für das Führen des eigenen Lebens, aber auch anderen gegenüber. Denn immer ist im Leben mehr oder weniger Freiheit zugegen. Führt der Mensch das Leben gut, erlebt er es oft als freudvoll, manchmal als traurig, schwierig, aber immer kann es erfüllend sein, wenn sich der Mensch an die Grundstrukturen der Existenz hält. Wird das Leben hingegen über einen längeren Zeitraum nicht in der Art „geführt“, so kann dies in verschiedene Störungen wie auch in ein Burnout münden.

Die Struktur der Existenz – die existentiellen Grundmotivationen

Die Existenz – das entschieden und verantwortliche Führen des Lebens – hat sich auf vier fundamentale Tatsachen zu beziehen, ohne deren Berücksichtigung das Dasein nicht gelebt werden kann. Sie sind dem Menschen vorgegeben, sodass er ihnen niemals entkommt, selbst wenn er sich nicht um sie kümmert. Werden sie aber vernachlässigt, dann verwickeln sie den Menschen in arge Schwierigkeiten. Denn sie sind so grundlegend, dass ihre Besorgung zu den Grundaufgaben des Menschen gehört. Daher spiegeln sich diese Grundbedingungen der Existenz im subjektiven Erleben als Grundmotivationen. [15]Sie werden personal-existentielle Grundmotivationen (GM) genannt, weil sie die Bedingungen des Personseins beschreiben, also wie die Person in der Welt zur Existenz gelangen kann. Die Bedingungen, die dem Dasein seine nicht verhandelbare Struktur geben und auf die sich der Mensch daher beziehen muss, sind:

1. die Welt – die Realität, in die der Mensch hineingestellt ist und die er gut wahrnehmen soll, damit er überleben kann

2. das Leben – die im Körper begründete Vitalität, die uns wachsen, reifen und vergehen lässt, und die sich im Fühlen manifestiert

3. das Sich-selbst-Sein – das Faktum, dieses Leben mit immer demselben Ich leben zu müssen, wobei man aber mehr oder weniger authentisch („echt“) oder sich fremd sein kann

4. das Stehen in größeren Kontexten – in ideeller Hinsicht: in Zusammenhängen stehen, für die man lebt; in zeitlicher Hinsicht: eine Zukunft vor sich zu haben. Beide zusammen bilden den Sinnzusammenhang

Existenz hat nun diese vier Bedingungen als Voraussetzung. Auf sie hat sich der Mensch stets zu beziehen. Macht er es gut, erlebt er ein freies, inneres Ja, also seine Zustimmung. Mit innerer Zustimmung leben heißt daher, zu allen vier Dimensionen eine Zustimmung zu haben, zur Welt, zum Leben, zu sich selbst und zu den größeren Kontexten, in denen man steht. Um zur Zustimmung zu jeder dieser vier Bedingungen zu kommen, bringt sich der Mensch selbst ein und prüft, wie jede Dimension für ihn selbst aussieht und angewandt werden kann. Jede Dimension führt daher an ihre spezielle Form des Daseins heran, wie das im Folgenden beschrieben wird. Wenn man die Fragen liest, merkt man gleich, wie gewichtig sie für die Lebensgestaltung sind. Nehmen Sie sich daher etwas Zeit für den folgenden Absatz und gehen Sie mit den Fragen im Inneren mit:

1. Die Welt – KANN ich in dieser meiner Welt sein? Ich bin da, in meiner Welt mit ihren Bedingungen, der Arbeitswelt, der privaten Welt, mit diesem Körper und seiner Gesundheit bzw. Krankheit, mit diesen wirtschaftlichen Bedingungen – sie alle bilden meine aktuelle Welt. Die existentielle Frage ist aber: Ich bin zwar da, aber kann ich hier auch sein, kann ich hier überleben?

2. Das Leben – MAG ich so leben, ist das ein Leben, das ich führen mag, wozu ich Lust habe, das mir wertvoll ist? Ist das ein gutes Leben? Was bräuchte es dazu? Mag ich überhaupt leben, hat Leben für mich einen Wert?

3. Das Sich-selbst-Sein – DARF ich so sein und mich geben, wie ich bin? Oder habe ich mich mehr anzupassen, weil mich sonst keiner schätzt,[16] niemand mag? Darf ich mich so geben, so zeigen, so verhalten? Entspricht mir das, kann ich so vor mir bestehen und auch vor anderen?

4. Der größere Kontext – SOLL ich das tun? Was soll in dieser Situation getan werden, was ist gefordert, was braucht es? Soll ich da weitermachen, führt das zu einem guten und sinnvollen Ende?

Wenn Können, Mögen, Dürfen und Sollen erfüllt sind, dann resultiert daraus ein echtes, solides, starkes WOLLEN. Das Wollen des Menschen beruht also auf vier Voraussetzungen, was verständlich macht, dass man oft nicht das tut, was man „eigentlich“ will. Denn wenn man etwas nicht mag, oder wenn man es derzeit nicht kann, oder wenn es einem nicht wirklich entspricht, oder wenn man keinen wirklichen Bedarf empfindet, warum soll man es dann tun, auch wenn es vielleicht vernünftig erscheint?

Im folgenden Schema sind diese Dimensionen überblicksartig veranschaulicht:

Abb. 1: Die Voraussetzungen für „existentielles Leben“ (aus Längle 2005, S. 21)

Um sein Leben persönlich leben und gestalten zu können, braucht es vom Menschen nicht nur das Aufgreifen der Grundfunktionen (Können, Mögen[17] etc.), sondern auch persönliche Aktivität und Beschäftigung mit den einzelnen Dimensionen. Denn es geht darum,

• die Welt mit ihren Bedingungen annehmen zu können

• sich dem eigenen Leben, den Gefühlen und Beziehungen zuwenden zu mögen

• sich selbst, das eigene Personsein, die eigene Art und Weise des Umgehens mit sich und anderen ansehen zu können

• die Handlung auf die Zukunft und die größeren Zusammenhänge, Anforderungen und Aufgaben abzustimmen

Hier soll nur eine Einführung in die Grundlagen der Existenzanalyse gegeben werden, eine erste Landkarte. Wenn die Dimensionen der Burnout-Prävention in der Existenzanalyse behandelt werden (in Kapitel 5), wird auf diese Grundlagen Bezug genommen werden und es wird noch vertiefend auf die Dimensionen eingegangen werden.

Die Dimensionen der Existenz in der Arbeitswelt

Diese Dimensionen spielen in der Arbeitswelt natürlich auch eine große Rolle. Die Realisierung der existentiellen Verankerung bedeutet: Auch ein erfülltes Arbeitsleben braucht als Grundlage eine innere Zustimmung – konkret, eine innere Zustimmung zu diesen vier Grundbedingungen der Existenz.

Das bedeutet – und das gilt auch, wenn man schon in einem Burnout steht1: Erfüllung im Arbeitsleben findet man nur, wenn man innerlich zustimmen bzw. Ja sagen kann

• zur eigenen Arbeits- (und Innen-)Welt mit ihren Anforderungen und Mechanismen

• zu dem, wie es sich anfühlt, wenn man in der Arbeit steht, also zum „Arbeitsleben“

• zu sich selbst als einzigartiger Person mit ihren Stärken und Schwächen

• zum größeren Zusammenhang, zum „Großen und Ganzen“ der Arbeit und ihres Stellenwerts im eigenen Leben sowie zum eigenen Tun

Praktisch gesprochen bedeutet dies, dass es eine Zustimmung, ein inneres Ja braucht zur Art und zum Umfang dessen, was man tut; eine Einsicht in die Notwendigkeit, Wichtigkeit bzw. den Bedarf; ein Gefühl für die eigene Wertigkeit [18] und für das eigene Können sowie für die Zeitressourcen, um die Arbeit als erfüllend erleben zu können. Natürlich kann ein zu großes Arbeitspensum von Dingen, die man gerne tut, auch ermüden – aber der Stressfaktor ist nicht die Menge der Arbeit an sich, sondern die fehlende innere Zustimmung zu ihr. Erschöpfend ist, wenn man die Dinge „halt macht“, weil sie notwendig sind oder niemand anderer sie macht oder weil man das Geld braucht. Geht das Leben über einen längeren Zeitraum so, dann kann dies in ein Burnout münden. Es sei schon hier auf das Kapitel 3.4.3 verwiesen, in dem der Ursprung der Bedürftigkeit durch die Frustration der personalexistentiellen Grundstrebungen aufgezeigt wird.

1  Die Markierung der Textstellen mit grauem Hintergrund hebt hervor, was für die Menschen, die gerade in einem Burnout sind, in erster Linie wichtig ist zu lesen. Wir weisen im Kapitel 2 („Der Aufbau des Buches“) darauf hin.

[19]Der Aufbau des Buches

Eigentlich handelt das Buch ja von der Erfüllung und vom Leben in der Arbeit. Dieser Inhalt wird im nächsten Abschnitt über seinen Kontrast – nämlich über das Thema „Burnout“ aufgerollt. Darum wird im Folgenden ein Überblick über Burnout gegeben; darüber, was Burnout ist, wie man es erkennt, wie es verläuft und welche Ursachen dafür ausgemacht werden können.

Dem folgt bereits als erster praxisnaher Teil ein Überblick über gängige Burnout-Präventionen durch unterschiedliche psychologische Ansätze. Das leitet über zum ausführlichen existenzanalytischen Verständnis von Burnout-Prävention und wie Erfüllung in der Arbeit erreicht werden kann. Dies dient uns dann als Grundlage für die Ausführungen zur Stressreduktion, zur Burnout-Prävention und zur Gesundheitsförderung. Die Entwicklung dieser Inhalte geschieht entlang der bereits genannten vier Dimensionen der Existenz und enthält zahlreiche praktische Anleitungen.

Im Mittelpunkt des 5. Kapitels steht die existenzanalytische Burnout-Prävention im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und möglicher Erkrankung (Abb. 2). Kapitel 6 zeigt existenzanalytische Wege auf, um zu mehr Erfüllung und somit Leben in der Arbeit zu gelangen.

Abb. 2: Burnout-Prävention im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und möglicher Erkrankung

Unsere Abhandlungen sind jedoch in einen noch größeren Kontext eingebettet, weil das Individuum in einer Organisation (Unternehmen, Arbeitsplatz) steht. Und auch dieser Zusammenhang ist noch weiter umrahmt von dem noch umfassenderen Einfluss der Gesellschaft und Kultur (Abb. 3).

[20]

Abb. 3: Positionierung der Inhalte des Buches im Themenbereich „Burnout“

Dieses Buch ist so aufgebaut, dass die wesentlichen Textstellen für Stressgeplagte oder schon im Burnout Befindliche durch graue Hinterlegung gekennzeichnet sind, damit sie sich schnell zurechtfinden.

Der einfacheren Lesbarkeit halber ist der gesamte Text in der Männlichkeitsform geschrieben. Selbstverständlich sind damit alle Geschlechter gemeint.