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Österreichische Musikzeitschrift – Ein europäisches Forum – Herausgegeben von der Europäischen Musikforschungsvereinigung Wien Jahrgang 70/2015 Heft 5 – Bernhard, Jandl, Jelinek

Österreichische Musikzeitschrift (ÖMZ) | Jahrgang 70/05 | 2015

Erscheinungsweise: zweimonatlich

Medieninhaberin: Europäische Musikforschungsvereinigung Wien (EMV)

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Liebe Leserinnen und Leser,

die Redaktion dankt allen, die an der Leserumfrage (Beilage zu ÖMZ 4/2015) teilgenommen haben, z. T. gewürzt mit Komplimenten, Kritik und Verbesserungsvorschlägen. Hier eine erste kurze Übersicht: Die meisten Einsendungen kamen von 50- bis 65-Jährigen, 62, 7 % aus Österreich (37, 3 % international), ein Drittel von Leserinnen. Offensichtlich sind sie mehrheitlich von Erfahrungen in Schulen, Musikschulen, Orchestern etc. geprägt. Fast alle interessieren sich für Das andere Lexikon und die Thementeile – mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Als »besonders interessant« hervorgehoben werden die Hefte zur Musik im Donauraum, zu Mahler und Cage, zur Musik 25 Jahre nach der »Wende«, zum Regisseurstheater sowie Clavierland Österreich und Wie (a-)sozial ist die Musik; am meisten geschätzt: Abenteurer (6/2014) und Aufhören! (4/2015). Am wenigsten Akzeptanz fanden Übergänge (1/2011), Oper in Osteuropa sowie Ungarische Musik heute. Dass wir uns mit exklusiven Beiträgen zum Musikleben in den östlichen Nachbarländern auf ein Terrain mit wenig kulinarischen Aspekten begeben, war abzusehen. – Niemand wünscht sich »mehr Wissenschaftlichkeit« in der ÖMZ (aber: Fußnoten sind akzeptiert, »wenn es die Redlichkeit gebietet«). Die Erwägung, »mehr Stars« bzw. »buntes Allerlei« zu präsentieren, stößt auf einhellige Ablehnung (»Nein, bitte kein Larifari!«). Erhebliches Interesse wird für Neue Musik im Diskurs bekundet. Berichte und Rezensionen sind für alle wichtig – ein älterer Opernsänger plädiert für »etwas mehr Biss«. Durchweg gefordert werden größere, bessere und möglichst auch farbige Bilder. Da sagen wir von Herzen: Gerne! Allerdings fehlen die Sponsoren, die die Aufstockung unseres mehr als bescheidenen Etats um die Mehrkosten ermöglichen. Aus Salzburg kommt am Rande notiertes Lob: »Die neue ÖMZ mit ihrem Team hat dazugewonnen«, aus Berlin eine »Gratulation zum hohen Niveau«. Aus dem 14. Bezirk werden Themenschwerpunkte zu »Symphonien weniger bekannter Komponisten« angeregt und aus Linz »mehr Musikschulthemen«. Ein langjähriger Leser fordert »Konzentration auf österreichische Themen«. Hingegen fehlt einer Abonnentin aus dem Rheinland »der internationale Weit-Blick« und ein Abonnent aus Niederösterreich meint: »Mehr Europa könnte nicht schaden«.

Was tun? Ist doch ganz klar: Die ÖMZ als eierlegendes Wollmilchschwein fortführen! Mit einem europäischen Rüssel und vier Wiener Musikmägen, mit hinreichend Borsten und einem ironischen Bürzel. Kommen da Bernhard, Jandl, Jelinek und ihre Verhältnisse zur Musik nicht wie gerufen? Da die Musen der Literatur und der Musik sich in diesem Heft thematisch die Hände reichen, haben wir Musenbilder von Hans Wallner als schöne Begleiterinnen ausgewählt.

Wenige Tage nach Absenden seines Manuskripts starb Hans Winking am 18. 8. völlig überraschend im Alter von 67 Jahren. Sein Extra-Essay zu Heimito von Doderer – durch höhere Fügung zu einem Schlusswort geworden – bildet jetzt den Auftakt der Texte zu Literatur und Musik. › Das Team der ÖMZ

Inhalt

Bernhard, Jandl, Jelinek

Hans Winking: »Lauschen – nicht Lärmen!« Musik und Musiker bei Heimito von Doderer

Liesbeth Bloemsaat-Voerknecht: »Die Musik war meine Bestimmung!« Thomas Bernhard und die Musik

Frieder Reininghaus: Die Kunst-Welt – ein hohles Ei Die Uraufführung von Thomas Bernhards und Gerhard Lampersbergs rosen der einöde in der Bundeskunsthalle Bonn 1995

Theda Weber-Lucks: Sprachkomposition bei Bernhard und Jandl

Julia Hinterberger: »a musical present« Ernst Jandl und die Musik

Pia Janke: Musik als »reinste und gläsernste Abstraktion« Kompositionen, Texte für Kompositionen und Libretti von Elfriede Jelinek

Irene Suchy: Die Klavierlehrerin Literarisch-musikalische Überlegungen zu einer verachteten Figur

Fokus Wissenschaft

Friederike Wißmann: Deutsche Musik?

Neue Musik im Diskurs

Mit der Wahrnehmung die Wahrnehmung widerlegen Der Komponist und Klangkünstler Peter Ablinger im Gespräch mit Rainer Nonnenmann

Berichte Großes Theater

Salzburger Festspiele (Peter Hagmann)

Bregenzer Festspiele (Anna Mika)

Festival d’Aix en Provence

Ruhrtriennale

Hans Heiling im Theater an der Wien (Frieder Reininghaus)

Aus Österreichs Hain und Flur

Musiksommertheater (Johannes Prominczel)

Innsbrucker Festwochen (Ursula Strohal)

Tiroler Festspiele Erl (Ursula Strohal)

Styriarte (Ulrike Aringer-Grau)

Carinthischer Sommer (Willi Rainer)

Kleines Format

Kammermusikfest Lockenhaus (Marcus Stäbler)

Musiktheatertage Wien (Magdalena Pichler)

Rezensionen

Bücher

CDs und DVDs

Statt eines Lexikoneintrags

Bleistiftmusik (Gerhard Rühm)

News

Platz an der Sommersonne

Zu guter Letzt

Die Kunst, Uhren anzuhalten (Frieder Reininghaus)

Autoren dieser Ausgabe, Vorschau

THEMA

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Hans Wallner: Klio, die Muse der Geschichtsschreibung.

»Lauschen – nicht Lärmen!«

Musik und Musiker bei Heimito von Doderer

Hans Winking

Er bleibt mir der Held und Mann überhaupt und ich lieb’ ihn aus meinem Dreck heraus auf meine Art und so gut ich’s kann. (Heimito von Doderer, 1923)1

»Der Kerl«

Auf die Frage, was denn nun Heimito von Doderer an der Gestalt Ludwig van Beethovens so fasziniert habe, antwortete Dietrich Weber, der erste Dissertant über Doderer (1963): »der Kerl«! Das Unangepasste, Selbständige, ja: Unbehauste an Beethoven sei für Doderer immer das leuchtende Beispiel eines Künstlers gewesen, der unbeirrt von den Zeitläufen des Alltags durch sein Leben schreitet. Gemessen an diesem Anspruch muss man sagen, dass Doderer gescheitert ist. Seine ideologischen Konturen mit ihrem vorgegebenen Autoritätsglauben passten sich nur allzubestens in eine Zeit ein, da es galt, wieder etwas zu sein und für eigene Probleme andere namhaft machen zu können: zum Beispiel »die Juden«.2

Und es trifft Doderer gerade zu einer Zeit, da er auf der Suche war. Aus der Kriegsgefangenschaft kam er 1920 zwar mit dem Entschluss, Schriftsteller zu werden, zurück; doch war dies zunächst, insbesondere in den Augen des gestrengen Vaters, eine reine Absichtserklärung. Aber schließlich überwog bei Doderer trotz aller Versuche, beim Entstehen einer neuen Zeit mit von der Partie zu sein und von der Zerschlagung einer jüdischen Überherrschaft im Presse- und Literaturwesen nach dem Ersten Weltkrieg zu profitieren, doch der Eigensinn. Und auch wenn er bereits 1933 in die NSDAP eintrat, so hat er sich nie auf Parteiebene betätigt und galt dem Regime eher als ein Mitläufer, der sich spätestens nach dem »Anschluss« 1938 still, aber grundlegend abgewendet hatte.

Wie so viele andere – man denke nur an die Musikprominenten des »Dritten Reichs« Richard Strauss und Wilhelm Furtwängler – nahm Doderer für sich in Anspruch, ein »Unpolitischer« zu sein. In der Tat sind in seinem publizierten Werk kaum Spuren seiner anfänglichen Sympathie für den Nationalsozialismus abzulesen.

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Der Gefangene (Heimito von Doderer) zeigt den Autor in russischer Kriegsgefangenschaft, Holzschnitt von Erwin Lang, 1920. Bild: galeriehochdruck.com

Musik in Doderers Biographie

Meine Beziehung zur Musik war in den Jahren der Jugend bis zur Verblödung ausgeartet: aber eben dieser Exceß führte mich auf den richtigen Weg. (Heimito von Doderer, 1952)3

Wie in großbürgerlichen Wiener Haushalten um die Jahrhundertwende üblich spielte Musik auch im Hause Doderer eine wichtige Rolle, auch wenn die Eltern in diesem Fall nicht selbst musizierten. Heimitos ältere Schwester Helga war als Pianistin wie als Sängerin auf dem Weg zu einer professionellen Karriere, die jedoch durch Selbstmord 1927 ein jähes Ende fand. Heimito erhielt während seiner Gymnasialzeit von einem Mitglied der Wiener Philharmoniker Violoncello-Unterricht. Wie weit seine technischen Fähigkeiten reichten, lässt sich nur erahnen; immerhin schienen die Orchester in den Kriegsgefangenenlagern Sibiriens auf einem Niveau gewesen zu sein, bei dem er nicht mithalten konnte – ein Umstand, den er dann prompt in der ihm eigenen Weise als angehender Schriftsteller zu dem Diktum umbog, der Musik eigne etwas so Dämonisches an, dass sie ihn als Schriftsteller blockieren würde.4

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David Ramirer, hingestrudlt. Tinte auf Papier, 2013.

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»Kaskadierend« – Die Strudlhofstiege im 9. Wiener Gemeindebezirk, die zur Namensgeberin für Doderers berühmten Roman wurde.

Aber Musik blieb für Doderer ein bedeutender Bestandteil seines Lebens. So zeigen seine Tagebücher, dass er in den 1920er-Jahren ein eifriger Konzert- und Opernbesucher war, der sich vor allem immer wieder für das Werk Ludwig van Beethovens begeisterte und eine erstaunlich detaillierte Kenntnis an den Tag legte – von Fidelio über die Symphonien bis zu den späten Klaviersonaten und Streichquartetten. Im diesbezüglich noch nicht vollständig gesichteten Nachlass Doderers existieren zahlreiche Beethoven-Partituren.

Weniger bekannt ist, dass Doderers Œuvre auch Anlass zu Vertonungen gab. So existieren Kompositionen nach Doderer-Texten u. a. von Walter Abendroth und Hans Erich Apostel. Carl Senn, der den jungen Schriftsteller durch seinen Sohn Walter kennengelernt hatte, war es, der dann bei Doderer Texte in Auftrag gab, um sie zu vertonen (Symphonische Phantasie. Der Abenteurer), und zwar angeregt durch die frühe Erzählung Die Bresche (s. u.). Laut Doderers Tagebüchern gab es auch einen Plan für einen Zyklus von sechs Gesängen für Sopran und Streichquartett. Offenbar ist aus all diesen Plänen nichts geworden. Allerdings befinden sich im Nachlass Doderers drei nicht wesentlich voneinander abweichende Fassungen dieser Symphonische Phantasie – Doderers einzigem Text, der konkret zur Vertonung geschrieben wurde.5 »Die Musik zog überall in goldenen Bändern ihre Ornamente um den Tisch und die Lachenden und Sprechenden.«

Musik als Gegenstand der Handlung

Musik und Musiker spielen eine zentrale Rolle im literarischen Werk Doderers – wie so oft realen Personen und Situationen seines Lebens abgelauscht. An vier Punkten soll dies exemplarisch aufgezeigt werden.

Folie: Musik, auf der sich wie auf einer Folie eine »Handlung« abspielt, ist die Sonate für Klavier in fis-Moll op. 11 von Robert Schumann in dem Roman Die Strudlhofstiege. Zwei Mal jeweils am gleichen Ort in der Nähe des Bauwerkes, das dem bekanntesten Roman Doderers seinen Namen gab, bildet ihr minutiös beschriebener Vortrag (einmal der Beginn des ersten, dann der des zweiten Satzes) ein retardierendes Moment im Handlungsverlauf, da man auf den in einem Nebenzimmer Spielenden warten muss, der als postillon d’amour zwei Aufgaben in ganz verschiedenen »Affairen« übernehmen soll. Doderer dürfte sicherlich bekannt gewesen sein, dass diese, Clara Wieck gewidmete Musik ebenfalls von Liebesangelegenheiten spricht. Benachbart zu diesen beiden Passagen steht Doderers berühmte Beschreibung der Strudlhofstiege mit dem bezeichnenden Wort »kaskadierend« – ein Begriff, der auch zentraler Bestandteil seiner Beschreibung von Schumanns Musik ist.6 Schumanns Sonate kann man deshalb in diesem Roman als einen musikalischen Widerschein des Bauwerkes bezeichnen.

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Der Riegelhof, Doderers Sommerhaus in Prein an der Rax. Bild: wikimedia.org

Fundamentum in re: Doderers Figuren haben meist Vorbilder in der Wirklichkeit seines Lebens. In der Strudlhofstiege ist er das in der Person des René von Stangeler selbst. Und als dieser erlebt er einen Einbruch von Erkenntnis mit und durch Musik, weil diese ihm aufzeigt, dass Umwege nicht nutzlos sind, sondern erfüllte Zeit darstellen. Doderer lässt dies seinen »Helden« durch eine Szene erfahren, die wohl auf reales Erleben zurückgeht: die Ankunft des jungen Stangeler (nach Doderers Lebensdaten damals 29 Jahre alt) auf dem Riegelhof, dem Sommerhaus der Doderers in Prein an der Rax.

Beim Aufstieg von der Fahrstraße zum Haus erklingt aus dem offen stehenden Fenster »ein weit geöffneter klarer Akkord vom Klaviere«, die Coda des zweiten Satzes der Symphonie Nr. 3 op. 90 von Johannes Brahms. Diese von Doderer mit Taktangaben genauestens beschriebene Passage, die »einen vollends neuen Gedanken daherbringt«, 7 stellt einen 27-taktigen Umweg zum Schlussakkord C-Dur dar. Und mit dieser, dem Schlussakkord ausweichenden Musik ahnt René/Heimito etwas von dem Sinn der als heillos erfahrenen verworrenen Umwegigkeit seines Lebens, insbesondere der problembeladenen Beziehung zu seiner Geliebten – übrigens im Roman wie im Leben jüdischer Herkunft.

Köpfe: Eine erstaunliche Figur, die in mehreren Texten Doderers auftritt, ist die des Komponisten Alexandr [Sascha] Alexandrowitsch Slobedeff. Er ist schon allein deshalb interessant, da seine androgyne Gestalt zwar mit bestimmten Personen aus Doderers Umfeld, auch mit ihm selbst teilweise in Deckung gebracht werden kann, für ihn aber nicht wie in fast allen anderen Fällen eine reale Person als Vorbild auszumachen ist. Umso mehr richtet sich das Interesse auf das, was er tut, wobei es hier insbesondere um den Musiker gehen soll. Zuerst begegnet man ihm in Doderers gleichnamiger Erzählung, die noch in russischer Kriegsgefangenschaft entstand (1916/17), einem seiner ersten Schreibversuche. Es geht um einen hochsensiblen Komponisten, der im Spannungsfeld von Produktivität und umgebender Gesellschaft so etwas wie einen depressiven Schub erleidet. Musik spielt hier konkret keine Rolle; lediglich Komposition und Abschluss eines Streichquartettes wird erwähnt.

Einen ganz anderen, stabilisierenden Part spielt jener Slobedeff in Doderers Erzählung Die Bresche (1921/24). Jan Herzka, hinter dem man unschwer den Doderer jener Jahre erkennen kann, ist auf der Flucht – vor seinem Vergehen (er hatte seine Geliebte sadistisch gedemütigt und vergewaltigt) und vor sich selbst. Zufällig trifft er auf Slobedeff, der ihm Halt und Perspektive gibt; hier ist der russische Komponist eindeutig als eine Person zwischen Mann und Frau angelegt. Die Musik spielt hier eine zweifache Rolle. Einerseits peitscht die Quadrille aus Bizets Carmen, gespielt während eines dem sadistischen Akt unmittelbar vorausgehenden Zirkusbesuches, Jan Herzkas Gefühlswelt entscheidend auf; andererseits mündet die Erzählung in die vom Komponisten dirigierte Aufführung von Slobedeffs Abenteuerlicher Symphonie für Solisten, Chor und Orchester.

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Die Musik aus Bizets Oper Carmen, hier Célestine Galli-Marié in der Titelrolle, wird zum entscheidenden Stimulus für Jan Herzka, den Protagonisten der Erzählung Die Bresche. Bild: Ölgemälde von Prosper Mérimée, 1886, Bibliothèque-Musée de l’Opéra de Paris/wikimedia.org

Die gesungenen Texte bilden den finalen Teil der Erzählung; sie nahm Doderer später in den Abenteurer-Text für Carl Senn (s. o.) auf. Und die Musik wird zum Abbild von Herzkas Bewältigung seines Lebens, »inmitten der durcheinanderrufenden und schreienden Trompetenstimmen […], inmitten dieses rasenden Wirbelns erfühlte Jan den Kern seines eigenen Wesens: und hielt ihn wie Eisen in das weiße Feuer des Russen und härtete ihn.«8

Das Fragment Jutta Bamberger (1923/24) stellt der lesbischen Titelfigur (»straff wie ein Knabe«) den androgynen Komponisten Slobedeff (»mädchenhaft«) entgegen. Dass dann eine weitere Komposition Slobedeffs Erwähnung findet, die mit Ein Frauenleben betitelt ist, verweist sicherlich im Zusammenhang mit der symphonischen Dichtung Ein Heldenleben von Richard Strauss (op. 40, 1898), die der eifrige Konzertgänger Doderer gekannt haben wird, auf die spezifische Situation von Jutta Bamberger und Alexander Slobedeff zwischen Mann und Frau.9

Wie die Musik Slobedeffs geklungen haben mag? Ihre wenigen Beschreibungen weisen auf Klänge wie bei Mahler (7. Symphonie) oder dem frühen Schönberg (Gurre-Lieder). Allerdings bleibt in Doderers Texten die Musik seiner Zeit unberücksichtigt. In seinen Tagebüchern werden lediglich die Namen von Alma Mahler, Franz Schreker und Joseph Matthias Hauer erwähnt. Dabei muss Doderer auch mit der »modernen« Musik jener Jahre in Kontakt gekommen sein. Jedenfalls kannte er sich bestens im Musikleben seiner Zeit aus.

Der Wiener Musikbetrieb: In seinem Opus summum Die Dämonen. (1929–36/1951–56) gibt Heimito von Doderer vor allem mit den beiden Figuren der Charlotte Schlaggenberg, die er als Geigerin scheitern lässt, und Fritz Tlopatsch, Hofrat und Musikmanager, einen profunden Einblick in das Wiener Musikleben des Jahres 1927, wobei man versucht ist, mit Georg Kreisler zu sinnieren: »Es hat sich nichts geändert!« Hinter den beiden Figuren stehen wieder reale Personen. Die Violinstudentin bezieht sich auf eine Bekannte Doderers, die Geigerin Lotte Gräfin Paumgarten, der es ebenfalls nicht gelingt, sich eine Existenz als Musikerin aufzubauen. Während ihr Leben wegen manisch-depressiver Schübe in Irrenanstalten endet, flüchtet sich die Romanfigur in eine große Liebe mit anschließender Eheschließung. Wie detailliert Heimito von Doderer den Wiener Musikbetrieb kannte, zeigt eine zentrale Szene in den Dämonen, in der es zu einer Begegnung zwischen der aufstrebenden Geigerin und dem Hofrat Fritz Tlopatsch, »Sekretär einer sehr bedeutenden Konzertvereinigung« kommt. Dessen Beschreibung als Machtmensch, als »Musik-Papst«, ohne den auszukommen, man als Musiker erst gar nicht versuchen solle, und diesen nicht zu kennen »unter Umständen geradezu eine Gefahr bedeuten« könne, erinnert an die Allgewalt des Generalsekretärs (Intendanten) der Gesellschaft der Musikfreunde Wien (Wiener Musikverein). In der Tat: Romanvorbild dieser »Instanz« war Friedrich Dlabač (1867–1947), 1921–1928 Generalsekretär des Musikvereins, wie sein alter ego im Roman böhmischer Herkunft und leidenschaftlicher Hobbymusiker (Violine und Klavier).

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Der Wiener Musikverein um 1900, dem der in Doderers Roman Die Dämonen porträtierte Friedrich Dlabač als Generalsekretär vorstand. Bild: wikimedia.org

Musik als literarisches Konstruktionsprinzip

Dass eine Übersiedlung dreiteilig aufgebaut ist, steht wohl außer Zweifel, und dies hat sie zum Beispiel mit dem Sonatensatze durchaus gemeinsam. Im besonderen sind zu unterscheiden: erstens der Auszug; zweitens der Umzug; drittens der Einzug. (Heimito von Doderer, 1950)10

Am weitesten versucht Heimito von Doderer sich musikalischen Konstruktionsweisen anzunähern in den Werken, die bereits im Titel auf Musik verweisen.

Die Divertimenti: Sie standen am Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn. Unter Divertimento verstand er ein »Unterhaltungsstück« in vier Sätzen, analog zur Symphonie, das zum mündlichen Vortrag bestimmt war und nicht mehr als etwa 40 Minuten dauern sollte. Heimito von Doderer ist damit übrigens als Rhapsode mehrfach und erfolgreich auswendig vortragend aufgetreten. Sechs solcher Divertimenti hat er 1924 bis 1926 »komponiert«. Und wie sehr Doderer gegenüber seinem später postulierten kompositionstheoretischen Anspruch eben nicht von allem Anfang an, oder, wie er sagen würde, »ab ovo« die gesamte Form bereits vor sich hatte, in die die Inhalte nur noch »einzuschießen« hätten, zeigt der Umstand, dass fünf begonnene oder als solche projektierte Divertimenti sich beim Schreiben zu Romanen oder größeren Erzählungen weiteten, die alles andere waren als die selbst konstituierte Form eines Divertimento. Es macht demnach keinen Sinn, dreisätzige Sonaten- oder viersätzige Symphonie-Schemata über Doderers Divertimenti zu stülpen – einmal ganz abgesehen von der Tatsache, dass in der musikalischen Formenlehre ein Divertimento etwas anderes ist als Sonate oder Symphonie, und dass Analogien zwischen Roman und Symphonie, die sich in der Feststellung von Motiv- und Themen-Wiederholungen, Tempo- und Satzwechseln erschöpfen, so beliebig sind, dass sie zum einen nicht nur auf den bei Doderer ständig herbeiimaginierten Beethoven verweisen, sondern beispielsweise auch einen Schumann meinen könnten, und im übrigen auch literaturgeschichtlich keine Unikate sind.

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Doderers Wohnhaus in der Wiener Währingerstraße, in dem der Autor von 1956 bis 1966 lebte.

Was darüber hinaus als Analogie zwischen Wort und Musik überhaupt nicht funktioniert, ist der Zeit-Faktor: 40 Minuten gespielte Musik könnte sehr wohl eine vollgültige Symphonie ergeben; vierzig Minuten gesprochenes Wort aber konstituiert allenfalls eine mittelgroße Erzählung, eben ein Divertimento, nie aber einen Roman.

Roman No 7: Beethovens VII. Symphonie: Im Sinne der letzten Überlegung zieht Doderer in seinem unvollendeten Roman-Projekt die Konsequenz: vier Romane, die sich als vier Einzelsätze wie die von Beethovens Siebenter zu einer Symphonie bündeln, und die sich damit im Faktor Zeit mit Musik gar nicht treffen können. Um dem geliebten Werk – berichtet wird von lautstarken nächtlichen Schallplatten-Auditionen – schon im Titel nahe zu sein, bog Doderer sehr gewaltsam die Zählung seiner Romane um, damit hier eine »VII« darüber stehen konnte. Die zyklische Einheit sollte ein vierfach ganz unterschiedlich ausgearbeitetes Thema bilden: der Vater-Sohn-Konflikt, eine Konstante auch in Doderers Biographie.

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Von Doderer hochverehrt: Ludwig van Beethoven, Skizze von Friedrich August von Kloeber 1818. Bild: Beethoven-Haus Bonn/wikimedia.org

Der erste Roman dieser Tetralogie Die Wasserfälle von Slunj stellt demnach den ersten Satz dar – mit einer veritablen »langsamen Einleitung«, die nur geringes Erzähltempo hat; doch ist »Tempo« in Musik und Literatur zweierlei. Der unvollendete Grenzwald wäre also der »langsame Satz« – einmal abgesehen davon, dass Beethovens siebente Symphonie keinen langsamen Satz hat (die Tempoangabe lautet Allegretto).

Aber wie hat man sich nun die Modelle der Übertragung von musikalischer Form auf Literatur vorzustellen? Da bleibt Doderer ganz im Vagen. Und es macht meines Erachtens – was einer ausführlicheren Begründung bedürfte, als sie an dieser Stelle zu leisten ist – auch hier keinen Sinn, nach ersten, zweiten und sonstigen Themen zu suchen, Durchführungen, Reprisen, Engführungen und Gegenbewegungen quasi Partitur und Roman übereinanderlegend nachzuspüren, denn Doderer geht es nicht ums »kunsthandwerkliche Detail« sondern um Grundsätzliches: die als formales Defizit empfundene Geschichte des Romans durch die Macht der symphonischen Form zu aktualisieren; »die Technik des Romans […] ist erst jetzt im Begriffe, ihre epische Schwester in der Musik, nämlich die Große Symphonie einigermaßen einzuholen. […] Durch das Auftreten Beethovens […] ist die Symphonie […] um 150 Jahre voraus geworfen worden und bis in unsere Zeit. […] Ein solcher […] Vorgang fehlt gänzlich auf dem Felde des Romans, und es kann nicht geleugnet werden, daß dieser, mit der Symphonie verglichen, technische Zurückgebliebenheit zeigt.«11