817806_Jenkins_The_Chosen_S003.pdf

Teil_2.pdf

Teil 2

GEBOREN AUS EINEM MISSERFOLG

Von Dallas Jenkins

Das Ziel von The Chosen ist, ein authentisches Bild von Jesus zu zeigen, und zwar durch die Augen der Menschen, die mit ihm unterwegs waren. In vielen Filmen, in denen Jesus die Hauptfigur ist, ist er keine Identifikationsfigur, weil er entrückt und ein wenig weltfremd erscheint – eben der vollkommene Sohn Gottes. Doch wenn wir Jesus durch die Augen anderer sehen – durch die Augen von Menschen wie Simon Petrus, Maria Magdalena, Nikodemus und Matthäus –, dann begegnen wir einem Menschen, mit dem wir uns tatsächlich identifizieren können.

Ein wichtiges Thema von The Chosen ist, dass Jesus uns verändert, uns zu Menschen macht, die wir vorher nicht waren. Wenn wir Jesus aus der Sicht von Menschen sehen, die ihm persönlich begegnet sind, dann können wir uns genauso verändern lassen, wie sie verändert wurden. Ich glaube das, weil es mir von vielen gesagt wurde, die den Film gesehen haben. „Die Bibel ist für mich lebendig geworden“, sagen sie, „und mein Leben wurde verändert, weil diese Menschen verändert wurden.“

The Chosen scheut sich nicht, uns mit schwierigen Lebensumständen zu konfrontieren. Das erste Jahrhundert war eine Zeit der Unterdrückung, und wir zeigen den Schmerz, den die Menschen damals zu erleiden hatten. Wenn sie dann Jesus begegnen und er ihr Leben berührt und verändert, dann ermöglicht das auch uns eine tiefere emotionale Erfahrung.

Es ging uns darum, Momente von Schmerz und Unterdrückung und Traurigkeit herauszustellen, die sich in unbeschreibliche Freude verwandeln. Und wir als Zuschauer erleben die Veränderung dieser Menschen mit, die dem Sohn Gottes begegnet sind und von ihm berufen wurden.

The Chosen ist zu einer Bewegung geworden, wie wir sie uns nicht in unseren kühnsten Träumen vorgestellt hätten. Der Entschluss, diese Serie durch Crowdfunding zu finanzieren, fiel uns nicht leicht. Dass wir am Ende alle Crowdfunding-Rekorde brachen – und das ausgerechnet für eine Serie über Jesus –, hat uns tief beeindruckt, aber wir spürten auch, dass es jetzt nicht mehr nur unser Projekt war. Wir spürten die große Verantwortung, denn mehr als 16.000 Menschen aus der ganzen Welt haben gut zehn Millionen Dollar allein für die erste Episode investiert.

Paradoxerweise entstand The Chosen aus einem Misserfolg.

Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn hatte ich eine sehr negative Einstellung zu christlichen Filmproduktionen. Ich war stolz zu sagen, ich sei kein christlicher Filmemacher, sondern ein Filmemacher, der zufälligerweise Christ ist. Nur ganz wenige christliche Filme genügten meinen hohen Ansprüchen, und darum fühlte ich mich zu gut für dieses Genre. Doch Gott holte mich von meinem hohen Ross herunter und korrigierte meine Überheblichkeit.

Zu Beginn meiner Karriere in Hollywood sagte Gott eines Tages zu mir: „Auch meine Leute haben ein Recht auf gute Filme.“ Ich empfand das als Zurechtweisung wegen meiner ablehnenden Haltung zu christlichen Medien und zugleich als Aufforderung, das Filmemachen – und zwar christliche Filme – als meine Berufung zu sehen. Meinen Wunsch, qualitativ hochwertige Filme zu produzieren, hatte ich natürlich nicht aufgegeben, aber ich hatte mir vorgenommen, zu meinem Glauben zu stehen und nicht mehr zu leugnen, wer ich tatsächlich war oder was für mich Wahrheit ist: Gottes Wahrheit. Und die Menschen brauchen sie – innerhalb und außerhalb der Kirche. Wenn sie qualitativ hochwertig vermittelt wird, kann sie die Grenzen der innerkirchlichen Räume überwinden und auch die nicht kirchliche Welt erreichen.

Man könnte meinen, das Leben würde einfacher, wenn man einem Ruf Gottes folgt. Aber ich habe erfahren, dass ein solcher Ruf häufig begleitet ist von Schmerz und leidvollen Erfahrungen – eigentlich gehören sie notwendig dazu.

Nach mehreren Jahren in Hollywood, in denen ich meiner neuen Berufung folgte, Filme zu machen, die ganz unerschrocken auf dem christlichen Glauben basieren, wurde ich von Mitarbeitern einer großen Kirche in einem Vorort von Chicago gefragt, ob ich mich nicht ihrem Film-Team anschließen wollte. Die Vision dieser Kirche für christliche Filme schuf die perfekte Verbindung zwischen meiner Liebe zur Kirche (von der ich anfangs glaubte, ich müsste sie aufgeben, wenn ich Filme drehen wollte) und meiner Liebe zu Filmen. Die Gemeinde verfügte über die finanziellen Mittel, dieses Ziel zu verwirklichen, und ich bekam die Chance, mit meiner jungen Familie wieder in die Stadt zu ziehen, in der ich aufgewachsen war. Was gab es Besseres?

Doch in den ersten Jahren dort hatte ich die unterschiedlichsten Aufgaben, nur Filme machte ich nicht. Ich drehte Zeugnisvideos, half mit, Wochenendgottesdienste zu produzieren, und konnte mich über mein Arbeitspensum nicht beklagen – aber ich war auch sehr frustriert. An meiner Überzeugung, dass ich den Auftrag hatte, Filme zu machen, hatte sich nichts geändert. Und so teilte ich der Gemeindeleitung mit, dass ich ein Filmprojekt brauchte, um meine Kreativität einbringen zu können, auch wenn es nur ein kurzer Film für einen Gottesdienst am Heiligabend wäre.

Die Gemeindeleitung war einverstanden, und ich drehte einen kurzen Film mit dem Titel The Ride – eine moderne Fassung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Ich spürte sofort, dass sich durch meine Filme über Menschen, deren Leben durch Gott verändert wurde, meine Fähigkeiten, Geschichten zu erzählen und Filme zu drehen, verbessert hatten, obwohl ich mich damals in einer Medienwüste wähnte. Auf seltsame Weise hat mich diese Arbeit auch zu einem besseren Menschen gemacht. Immer wieder Zeugnisse davon zu hören, wie Menschen verändert wurden, ließ mich demütig werden.

Langer Rede, kurzer Sinn: Dieser kleine Film für meine Gemeinde gelangte in die Hände eines der besten Produzenten in Hollywood, paradoxerweise eines Mannes, der mit großem Erfolg Horrorfilme produzierte. Ihm fehlte natürlich jegliches geistliche Interesse an Filmen, in denen es um den christlichen Glauben geht, aber nachdem er The Ride gesehen hatte, erkannte er das finanzielle Potenzial für diesen Markt.

Natürlich war ich zunächst einmal misstrauisch, als er mir vorschlug, mit mir zusammen solche Filme zu produzieren, vor allem, als er ausgerechnet World Wrestling als Finanzpartner ins Spiel brachte. Ich konnte ahnen, was diese beiden Größen für den Inhalt meiner Filme bedeuten würden. In Hollywood lautet die goldene Regel: Wer das Geld gibt, bestimmt auch die Regeln.

Aber er versicherte mir: „Der Inhalt bleibt ganz allein dir überlassen. In dieser Hinsicht hast du das Sagen.“

Ich stellte ihnen das nächste Projekt vor, an dem ich gerade arbeitete, ein Film mit dem Titel Die Auferstehung des Gavin Stone. Das Drehbuch fand ihre Zustimmung. So kam es, dass eine Produktionsfirma für Horrorfilme, eine Pro-Wrestling-Firma und eine Vorortgemeinde von Chicago gemeinsam einen Film drehten, der das Evangelium zum Inhalt hatte, dessen Schauplatz eine Kirche war und der auch in einer Kirche gedreht wurde.

Die Dreharbeiten waren ein unglaubliches Erlebnis, und Gott war ganz offensichtlich mit uns. Die Testläufe waren besser als bei jedem anderen Film, den diese beiden Firmen jemals finanziert hatten, und sie deuteten an, dass wir in den kommenden zehn Jahren noch einige Filme miteinander machen würden.

Die Voraussetzungen schienen ideal zu sein. Wir träumten davon, was wir mit weiteren Drehbüchern, die wir entwickeln wollten, erreichen könnten. Walden Media stieg mit ein. Auch die Universal Studios. Mittlerweile war ich seit fast zwanzig Jahren im Filmgeschäft tätig und nun endlich in Hollywood angekommen. Ich freute mich darauf, meiner Berufung zu folgen und meine Gaben einzusetzen und zu tun, was mir am Herzen lag und wovon ich glaubte, es sei mein Auftrag.

Bis Die Auferstehung des Gavin Stone in die Kinos kam.

Am Morgen nach einer Filmpremiere fiebert man den Zuschauerzahlen entgegen und weiß sofort, wie ein Film laufen wird. Gavin Stone war auf der ganzen Linie ein Fehlschlag, ein absoluter Misserfolg.

In nur zwei Stunden wurde ich, der Regisseur mit einer strahlenden Zukunft, zu einem Regisseur ohne Zukunft. Den Verantwortlichen der Horrorfilm-Firma und der WWE wurde klar, dass es ein Fehler gewesen war, sich in christliches Fahrwasser zu begeben, und sie kehrten zurück zu dem, was sie am besten konnten. Nichts für ungut, aber das war’s.

An diesem absoluten Tiefpunkt saß ich mit meiner Frau Amanda zu Hause und betete. Ich war am Boden zerstört. Wir hatten in diesem Projekt so klar die Führung Gottes erkannt. Ich verstand es einfach nicht.

Keiner von uns beiden vernahm hörbar die Stimme Gottes, aber ich sah einen Hoffnungsstrahl, als Amanda sagte, Gott hätte ihr zwei Dinge aufs Herz gelegt. Sie schlug ihre Bibel auf und las die Geschichte, wie Jesus den fünftausend Menschen zu essen gibt. Und sie hatte das Gefühl, dass er zu ihr sagte: „Ich beherrsche unmögliche Mathematik.“

Was um alles in der Welt sollte das heißen? Wir hatten keine Ahnung.

Aber wir lasen die Geschichte von der Speisung der Fünftausend, die wir seit unserer Kindheit unzählige Male gehört hatten, noch einmal, und wir entdeckten Dinge darin, die wir vorher übersehen hatten. Uns fiel auf, dass Jesus genau wusste, welche Voraussetzungen für das Wunder nötig waren. Es lag sogar an ihm, dass ein Wunder überhaupt nötig wurde.

Die Jünger teilten ihm mit, die Leute hätten Hunger, und er solle sie nach Hause schicken. Er erwiderte: Nein, wenn wir das tun, dann werden sie unterwegs vor Hunger ohnmächtig. Paradoxerweise war er ja schuld daran. Er hatte so lange gepredigt, dass die Leute so hungrig waren. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ein Wunder zu tun und ihnen Nahrung zu geben.

Natürlich hätte er als der Schöpfer/Gott nur mit dem Finger zu schnippen brauchen, und jeder hätte Fisch und Brot gehabt. Aber er schickte die Jünger los, um Nahrung zu beschaffen – sie kamen mit fünf Broten und zwei Fischen zurück. Er vermehrte die Brote und Fische und ließ die Jünger sie verteilen. Kurz, er ließ sie all das tun, wofür sie ihn nicht brauchten.

Ihm blieb nur noch das zu tun, was er tun konnte.

Diese Erkenntnis traf Amanda und mich wie ein Blitzschlag, doch wir wussten noch immer nicht so genau, was wir damit anfangen sollten. Der Satz: „Ich beherrsche unmögliche Mathematik“ gab uns neue Hoffnung. Vielleicht wollte Gott uns sagen, dass die Zuschauerzahlen an diesem Wochenende plötzlich auf wundersame Weise in die Höhe schießen und unsere Partner aus Hollywood ihre Meinung ändern würden. Weil Gott unmögliche Mathematik beherrscht.

Das passierte nicht.

Die Zahlen gingen noch mehr in den Keller.

Nach einem langen Tag, an dem wir uns ganz unserer Enttäuschung hingegeben hatten, ging Amanda zu Bett. Um vier Uhr morgens setzte ich mich an meinen Computer und tippte eine zehnseitige Analyse meiner Fehler, der Fehler meiner Partner und aller Faktoren, die diesen größten Misserfolg meiner Karriere verursacht hatten.

Eine Facebook-Nachricht von jemandem, mit dem ich seit etwa einem Jahr Nachrichten austauschte, dem ich aber noch nie persönlich begegnet war, ploppte auf meinem Bildschirm auf. Ohne Gruß oder Anrede stand da einfach: „Vergiss nicht, es ist nicht deine Aufgabe, die Fünftausend zu speisen. Deine Aufgabe ist es, das Brot und die Fische bereitzustellen.“

Das war so ungewöhnlich, dass ich mich sogar fragte, ob mein Computer vielleicht mein Gespräch mit Amanda irgendwie belauscht hatte. Ich antwortete sofort: „Warum hast du mir diese Botschaft geschickt?“

„Keine Ahnung. Gott hat mir das aufgetragen.“

Das war ein entscheidender Einschnitt in meinem Leben, eine wichtige Zäsur, und seither gibt es ein Davor und ein Danach. Ich weiß jetzt mit absoluter Sicherheit, dass Gott real ist, und ich war mir sicher, dass er bei dieser Sache seine Hände im Spiel hatte – so schmerzlich das auch war. Zum ersten Mal in meiner Berufslaufbahn war ich bereit, die Filmproduktion aufzugeben, wenn Gott das von mir erwartete.

Im Laufe der kommenden Wochen erlebte ich eine tiefe Freude, die nur der verstehen kann, der sie selbst kennengelernt hat. Ich freute mich nicht darüber, dass meine Zukunft so unsicher war. Aber in mir war diese Freude, die entsteht, wenn man bereit ist zu tun, was Gott von einem möchte – selbst wenn das für mich bedeuten sollte, dass ich meine Leidenschaft für das Filmemachen aufgeben müsste. Denn meine Aufgabe war nur, das Brot und die Fische bereitzustellen. Seine Aufgabe ist es, die Wunder zu tun und die Ergebnisse hervorzubringen.

Diese Erkenntnis machte mich offen für das, was dann geschah. Ich bekam den Auftrag, einen weiteren Kurzfilm für meine Gemeinde zu drehen. Da ich nun Zeit hatte und keine Partner mehr, die Millionen Dollar in meine Produktion investierten, war jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Geschichte über die Geburt Jesu gekommen – aus der Perspektive der Hirten, denen diese Geburt angekündigt wurde und die ihn im Stall aufsuchten.

Die Idee war einfach – die Geschichte der Geburt Jesu, erzählt von normalen Menschen, die ihm begegneten. Und als jemand, der in einer Gemeinde aufgewachsen ist, wollte ich diese alte Geschichte so erzählen, dass die Zuschauer den Eindruck hätten, sie würden sie zum ersten Mal hören.

Das Projekt machte mir große Freude, denn es fühlte sich richtig an, und ich glaubte, dass dieser Film auch in unserer Gemeinde Erfolg haben würde. Während der Dreharbeiten hatte ich die Idee für eine TV-Serie über Jesus aus der Perspektive von einfachen Menschen, die ihm begegnet sind. Der kurze Film The Shepherd gelangte in die Hände eines Filmverleihs, und die Entscheider dort zeigten sich beeindruckt. Mehr noch, sie waren fasziniert von meiner Idee einer Fernsehserie und wollten auch die in ihr Programm nehmen.

Ich war begeistert, bis es hieß, die Serie sollte durch Crowdfunding finanziert werden. Das funktioniert doch nie im Leben, dachte ich. Meine Prognose war, dass wir nicht mehr als 800 Dollar zusammenbringen würden, aber für dieses Projekt waren Millionen nötig. Doch wie man so schön sagt: Der Rest ist Geschichte. 16.000 Menschen, die mehr als zehn Millionen Dollar investierten, das ist wirklich unmögliche Mathematik. Die erste Staffel wurde inzwischen bereits von mehr als 145 Millionen Menschen gesehen.

Und jetzt halten Sie den ersten Band einer Romanreihe in den Händen, die diese Fernsehserie zur Grundlage hat – die Pilotsendung und die ersten acht Episoden. Ich hoffe und bete, dass Sie berührt werden durch die Begegnung mit Jesus, dargestellt aus der Perspektive von ganz gewöhnlichen Menschen, von Menschen wie Sie und ich: Jesus – The Chosen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die amerikanische Originalausgabe ist ein Produkt von
Focus on the Family und erschien im Verlag
BroadStreet Publishing Group LLC, 8646 Eagle Creek Circle,
Suite 210, Savage, MN 55378, unter dem Titel
The Chosen – I Have Called You by Name.
© 2021 by Jenkins Entertainment, LLC. Alle Rechte vorbehalten.

Bibelzitate folgen keiner vorliegenden deutschen Übersetzung, sondern wurden meist frei nachempfunden oder aus verschiedenen Übersetzungen kombiniert. Textgrundlage ist häufig der Text der
Neues Leben Bibel.
© 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH.

© 2021 Gerth Medien
in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Dillerberg 1, 35614 Aßlar

1. Auflage 2021
ISBN 9783961224890

Umschlagfoto: Bryan Butterfield
Umschlaggestaltung: Joana Kielhorn
Satz: Apel Verlagsservice, Celle

www.gerth.de

Wenn du durch Wasser gehst,
werde ich bei dir sein.
Ströme sollen dich nicht überfluten!
Wenn du durch Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen;
die Flammen werden dich nicht verzehren!
Denn ich bin der Herr, dein Gott,
der Heilige Israels, dein Heiland …
Ich – ich allein – bin es,
der deine Übertretungen um meiner selbst willen tilgt
und nicht mehr an deine Sünden denkt.

JESAJA 43,2–3.25

Kapitel 4

BESESSEN

Zwei Jahre später

Beduinenlager

Nicht weit entfernt von der kleinen, von Fackeln erhellten Stadt Magdala, die sich in die Hügellandschaft schmiegt, sitzt Anouk, ein stämmiger, dunkelhäutiger Mann, vor dem Zelt seiner Familie. Es ist weit nach Mitternacht. Leise summend hält er ein kleines Feuer in Gang.

Sein Summen geht jedoch in ein Husten über, und je mehr er versucht, den Husten zu unterdrücken, um seine schlafende Familie nicht aufzuwecken, desto schlimmer wird er. Auf einmal steht seine fünfjährige Tochter Maria im Zelteingang, barfuß und mit einer einfachen Puppe im Arm, die er für sie geschnitzt hat. „Papa?“

Anouk erhebt sich. Es tut ihm leid, dass sein Husten sie geweckt hat. „Du sollst doch schlafen, meine Kleine.“

„Ich kann aber nicht schlafen“, erwidert sie. Ihr Tonfall tut ihm weh.

Er streckt die Arme nach ihr aus. „Setz dich, Kleine. Komm, setz dich zu mir.“ Anouk zieht sie auf seinen Schoß. „Hast du wieder Kopfschmerzen?“

„Nein.“

„Ich weiß. Du denkst über den großen neuen Stern nach, richtig? Siehst du, da ist er ja! Siehst du ihn?“ Er deutet zum Himmel.

„Nein.“

„Wieso kannst du denn nicht schlafen?“

„Ich habe Angst.“

„Wovor denn?“

„Ich weiß es nicht.“

•••

Das stimmt. Die Kleine weiß es nicht. Sie liebt den kühlen Abend, wenn die Temperatur sinkt und ihr die Kleider nicht mehr schweißdurchnässt am Leib kleben. Aber Maria ist ein ängstliches Kind; sie fürchtet sich vor Löwen, Wölfen, Schakalen, Geparden und sogar vor den gestreiften Hyänen. Noch nie hat sie eines dieser Tiere aus der Nähe gesehen, aber sie hat ihre Laute gehört, sie aus der Ferne beobachtet, und sie weiß: Dort draußen lauern sie.

Noch etwas anderes bedroht Maria, etwas, das sie nicht kennt und versteht. Etwas, das in ihr ist, verursacht ihr Kopfschmerzen, hindert sie am Schlafen. Aber an diesem Abend ist das nicht der Grund. Es war das Husten ihres Vaters, was sie beunruhigt hat.

•••

Anouk drückt Maria an sich. Ein so kleines Kind sollte sich nicht so fürchten. Vielleicht sollten er und die anderen Männer im Lager nicht so offen über die Gefahren reden, die von wilden Tieren in der Umgebung ausgehen. „Hey. Was tun wir, wenn wir Angst haben?“

„Wir sagen seine Worte.“

Anouk nickt. „Adonais Worte. Vom Propheten …“

„Jesaja“, ergänzt sie.

„Dem Propheten Jesaja. Richtig.“ Er nickt. „,Doch nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und der dich geformt hat, o Israel: Fürchte dich nicht.‘“ Anouk streichelt Marias Hand. „Na los, Maria, du bist dran. Lass mich deine hübsche Stimme hören. Komm …“

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.“

„,Du bist mein.‘ Das stimmt.“ Zärtlich küsst Anouk ihre Wange.

•••

Die Stadt Kapernaum, achtundzwanzig Jahre später

Eine junge Frau, vielleicht Anfang dreißig, fährt in ihrem Bett hoch und blickt sich um, während grelles Morgenlicht in ihre Kammer dringt. Sie keucht, als würde sie aus tiefem Wasser auftauchen. Mit den Augen sucht sie ihre Umgebung ab. Dann erhebt sie sich, um in den Spiegelteller an der Wand zu schauen. Dicke Schweißtropfen liegen auf ihrem verschmierten geschminkten Gesicht.

Hat sie von ihrem Vater, der sie vor so vielen Jahren getröstet hat, nur geträumt? Sie berührt ihre Wange, wo er sie geküsst hat, und erst jetzt entdeckt sie das Blut an ihrer Hand. Ihre Fingernägel sind an beiden Händen abgebrochen.

Was ist passiert? Sie untersucht ihr zerrissenes Gewand, das ebenfalls nass von Blut ist, und von draußen hört sie einen Mann rufen: „Hilfe! Jemand muss mir helfen!“ Sie späht durch den Vorhang auf den Basar hinaus, wo sich ein Stand an den anderen reiht und Menschen aus den verschiedensten Volksgruppen in fremden Sprachen miteinander Handel treiben.

Der Mann wankt durch die Menschenmenge und deutet auf ihre Unterkunft. „Helft mir, sie wollte mich umbringen! So helft mir doch – irgendjemand …!“

Der Trubel auf dem Marktplatz kommt zum Stillstand, alle starren ihn an. Wo immer er sich hinwendet, weichen die Menschen vor dem schreienden Mann zurück. Eine Mutter zieht ihr Kind zur Seite. Kunden und Kaufleute beschimpfen ihn.

Ein stattlicher Römer packt ihn an der Schulter und lässt ihn sofort wieder los, als er das Blut an seiner Hand sieht. „Du dreckiger Hund!“

Der Mann umklammert die Arme des Soldaten und starrt ihn an. „Dämonen! Sie ist besessen von ihnen.“

Verwirrt und tief beschämt kehrt die Frau in ihre schmuddelige Kammer in Rivkas Herberge zurück. Sie erinnert sich nicht an das, was geschehen ist. Schon einmal hat man solche Anschuldigungen gegen sie erhoben, aber eine Frau der Nacht ist sie nie gewesen. Sie weiß, warum sie für so eine gehalten wird, denn diese Frauen leben häufig im Vergnügungsviertel. Und die Leute reden über ihre Anfälle. Seit sie nicht mehr die kleine Maria aus dem Wüstenlager in der Nähe von Magdala ist, versteckt sie sich hinter dem Namen Lilith, und das schon viele Jahre lang.

Was sie schon immer gut konnte, war, anderen Frauen die Haare zu frisieren. Aber sie fühlt sich beschmutzt, beschädigt, unfähig, jemandem ihre Dienste anzubieten. Ihren mageren Lebensunterhalt bestreitet sie durch Betteln und Schnorren. Rivka lässt sie in dieser armseligen Kammer wohnen. Dafür macht sie ihr die Haare. Was immer sie dem Mann getan hat – oder die Dämonen ihm durch sie antun wollten –, sie zweifelt keine Sekunde daran, dass es so war.

Kapitel 5

LEHRER ALLER
LEHRER

Im trüben Licht der Morgendämmerung führen Sklaven eine prachtvoll ausgestattete Kutsche über den holprigen Weg von Judäa nach Kapernaum. Im Innern sitzt Nikodemus und betet. Ihm gegenüber sitzt Zohara, seine schöne Frau. Die achtzehn kostbaren Gewänder, in die er gehüllt ist, und sein getrimmter, mit Goldstaub gesprenkelter Bart lassen in ihm einen führenden Pharisäer des Jerusalemer Hohen Rates erkennen. In letzter Zeit ist er der äußeren Zeichen seiner Stellung ein wenig überdrüssig geworden. Eigentlich ist das der Inhalt seines Gebets. Im Stillen sucht er Vergebung für die Zeit, als er sich noch in der Bewunderung jüngerer Schüler und der Unterwürfigkeit der Öffentlichkeit gesonnt hatte.

Er muss gestehen, dass diese besondere jährliche Reise, um in der Synagoge und der Toraschule in Kapernaum zu lehren, in der Vergangenheit seine Demut auf eine harte Probe gestellt hat. Und er will nicht, dass es dieses Mal auch wieder so ist. Er weiß, dass seine Gastgeber sich große Mühe geben und ihm und Zohara eine noble Unterkunft zur Verfügung stellen werden. Nikodemus will nicht abweisend erscheinen oder den Anschein erwecken, er nähme das als selbstverständlich hin, denn eine solche Behandlung steht ihm in seinem Amt zu. Aber er sehnt sich wieder nach der innigen Frömmigkeit, die er als junger Mann empfunden hat, bevor er von der großen Versammlung in den Hohen Rat gewählt wurde. Bei den meisten seiner Mitratsmitglieder ließ sich beobachten, dass ihre geistliche Disziplin nachließ, sobald sie den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht hatten und ihre Position und ihr Ruf wichtiger wurden als ihre Beziehung zum Göttlichen. Herr, bewahre mich vor diesem Hochmut, betet er leise.

„Haaalt!“, ruft ein Sklave, bevor er an Nikodemus’ Fenster auftaucht. „Vergib mir, Rabbi …“

Zohara fährt den Sklaven an, weil er nicht erkannt hat, dass Nikodemus gerade betet. Der Sklave wendet sich ihr zu und senkt dann hastig den Blick, als hätte er sie beim Baden überrascht. Sofort zieht sie ihr Tuch über den Kopf.

„Aber seht doch – da vorn!“

Fünf römische Legionäre zu Pferd nähern sich ihrem Gefährt in vollem Galopp. Auf dem Pferd, das die Gruppe anführt, sitzt ein jüngerer Mann in einer makellosen Tunika mit kaiserlichem Helm, der sich auch durch seine Kleidung von den anderen abhebt. Der Sklave neigt den Kopf, als der Soldat vom Pferd steigt. Die anderen vier Legionäre blicken sich aufmerksam um.

„Wieso hält man uns an?“, fragt Nikodemus den jungen Offizier.

„Vielleicht, um sich zu begrüßen?“

„Ich reise in offiziellen Angelegenheiten“, erklärt der Pharisäer.

„Nur römische Angelegenheiten sind offizielle Angelegenheiten“, erwidert der Mann, der zweifellos sehr von sich überzeugt ist. „Ich bin Quintus, der Prätor von Kapernaum.“

„Und ich bin …“

„Du bist der große Nikodemus. Neuigkeiten verbreiten sich schnell.“

„Willst du mich verhaften?“

Quintus lacht. „Nein, mein Freund. Ich bin Beamter und kein Soldat. Ich diene dem Willen des Volkes. Und Pilatus.“

„Und ich diene nur Gott.“

„Ja, ja. So wie deine Feinde, die Sadduzäer. Die Essener. Die Zeloten. Alle abtrünnigen Prediger in der Wüste, die von der Ankunft eines Messias faseln. Sie alle wetteifern um die Gunst des Volkes.“

Nikodemus hat genug gehört. „Also, was willst du, Quintus?“

„Mir scheint, es wurden Steuern nicht bezahlt. Aber wenn du mir hilfst, helfe ich den Pharisäern bei ihren … Anliegen.“

„Wie könnte ich? Die Menschen ertrinken doch bereits in Steuern.“

„Sag mir, Nikodemus, was kann unter Wasser sein und doch nie ertrinken?“

Was für eine Frage ist das denn? Nikodemus runzelt die Stirn. „Fische?“

Kapitel 6

DER
STEUEREINTREIBER

Kapernaum, nördlicher Bezirk

Das elegante Haus ist durchflutet vom frühen Morgenlicht. Das geräumige Wohnzimmer ist teuer und hochmodern ausgestattet. Bodentiefe Fenster bieten einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt. Die Böden glänzen, und eine Matte aus Hirschfell liegt vor einer Feuerstelle aus Marmor. Der Raum ist makellos sauber, doch auf seltsame Weise unpersönlich.

Ein schmächtiger Mann Ende zwanzig mit flinken Augen, glatter Haut und vollen Lippen steht ausdruckslos vor einem großen Schrank, der gefüllt ist mit ordentlich geplätteten Leinengewändern. Mehrmals schaut er die Auswahl durch, bevor er ein Gewand auswählt. Er weiß vorher genau, für welches Gewand er sich entscheiden wird, aber er spürt in sich den Drang, diese scheinbar endlose Zeremonie jeden Tag zu wiederholen.

Niemand sonst weiß, dass er darunter leidet. Als Kind wurde er unbarmherzig verspottet, weil er anders war. Doch irgendwie hat er seine Liebe zu Ordnung und Präzision in passende Bahnen gelenkt. Seine Genauigkeit kommt ihm jetzt zugute. Auch wenn seine jüdischen Mitbürger wegen seines Postens verächtlich auf ihn herabblicken; er verdient damit weit mehr als sie alle. Sogar seine Familie hat sich von ihm abgewendet. Doch dieses Haus in der Nachbarschaft anderer Publikani – Menschen, die wie er Verwaltungsaufgaben für die Römer durchführen – ist seine Belohnung. Hier fühlt er sich sicher, hier kann er er selbst sein, und niemand beobachtet ihn oder beurteilt jede seiner Launen.

Seine Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren und durch verschiedene Rituale seine Verschrobenheiten in Schach zu halten, ist sehr nützlich. Er steckt die letzte Weintraube von einem Porzellanteller in den Mund, reibt ein wenig Weihrauch auf die Handgelenke und wählt, wie bei den Gewändern, aus mehreren Paaren kostbarer Sandalen die richtigen für diesen Tag aus. Schließlich nimmt er eine Stoffserviette von einem Stapel und verlässt das Haus.

Auf dem Weg zu seiner prachtvoll verzierten Haustür reicht ihm ein Sklave eine Schultertasche aus Leder mit seinem Kassenbuch, seiner Tafel und anderen nützlichen Dingen. Jetzt ist er gut vorbereitet. Und obwohl der Sklave ihm mehrmals versichert, dass er während seiner Abwesenheit gut auf das palastartige Haus aufpassen wird, verschließt er selbst die schwere Tür mit einem Messingschlüssel, nachdem er das Haus verlassen hat. Dreimal, um ganz sicher zu sein.

Mit eiligen Schritten läuft er durch die verwinkelten, schmalen Gassen an den luxuriösen Häusern anderer von seinem Stand vorbei, die genauso wohlhabend sind wie er. Die meistgenutzten Wege, wo er erkannt, verhöhnt, bespuckt und vielleicht angegriffen werden könnte, meidet er und bevorzugt die Gassen, in denen die Menschen Müll und Abwasser entsorgen und wo die Fliegen sich tummeln. Sorgfältig bedeckt er Mund und Nase mit der Serviette, während er Ausschau hält nach seiner Mitfahrgelegenheit zum Marktplatz, wo sein Steuerstand steht. Ein Bürger der Stadt erhält eine Steuerstundung dafür, dass er sich in seinem Wagen unter der Plane verstecken darf. Das ist zwar nicht ideal, doch auf diese Weise entgeht Matthäus dem Spott und der Häme, mit denen er überschüttet würde, wenn er den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen müsste.

Ein Bürger kommt ihm entgegen. Er weicht ihm aus. Bei den Ratten, die durch die Gasse laufen, hat er nicht so viel Glück. Er kann ihnen nicht aus dem Weg gehen und tritt in einen Dunghaufen. Das kann er nicht ertragen. Er beugt sich vornüber und würgt. Während er noch seine beschmutzte Sandale aus dem Dunghaufen zieht, hört er vom Ende der Gasse jemanden rufen: „Matthäus! Pst, pst!“ Seine Mitfahrgelegenheit zur Arbeit.

„Nicht so laut!“

„Verzeihung, werter Public Anus“, erwidert der schmuddelige Lieferant. „Ich bin es, der nicht mit dir gesehen werden will, schon vergessen?“

„Es heißt Publi-canus.“

„Mir gefällt es anders besser, Steuereintreiber.“

Matthäus zieht seine beschmutzten Sandalen aus und holt ein neues Paar aus seiner Tasche. Die anderen wirft er achtlos auf die Straße.

„Hey, hey, hey!“, ruft der Fahrer. „Die kosten ein Monatsgehalt von all meinen Söhnen zusammen! Und du wirfst sie einfach weg?“

„Die Sandalen sind mein Eigentum. Ich tue damit, was ich will. Ich bezahle dich fürs Fahren. Also durchwühle den Müll in deiner Freizeit.“

„Dich zu fahren, hat ein bisschen von beidem, oder?“, erwidert der Mann und lacht. Er schlägt die Plane zurück. Seine Ladefläche ist dreckig. Als Matthäus hineinklettert, fügt der Fahrer hinzu: „Aber falls jemand nach meiner Ladung fragt, muss ich die Wahrheit sagen – der größte Haufen Mist in ganz Kapernaum!“

Matthäus’ Blick verfinstert sich, bevor er die Plane über sich zieht.

Kapitel 7

DAS
VERGNÜGUNGSVIERTEL

Die Schüler der Toraschule, alle in weiße Gewänder gehüllt, scharen sich um Nikodemus, den verehrten Gast ihrer Schule vom Hohen Rat in Jerusalem. Er wird heute zu ihnen sprechen. Hinter ihnen stehen ihre Lehrer, in Schwarz gekleidet. Shmuel, ein früherer Schützling von Nikodemus und heute der oberste Rabbi der Schule, ist auch dabei. Mit der Leichtigkeit und dem Selbstvertrauen, die seine Stellung mit sich bringen, beginnt Nikodemus seinen Vortrag. „Nun, ehrlich gesagt, ich freue mich jedes Mal auf meinen jährlichen Besuch in Kapernaum. Und auf euren wundervollen See Genezareth. Er ist wirklich der Stolz des Landes.“

Schüler und Lehrer klatschen begeistert Beifall. Sie hängen förmlich an seinen Lippen.

„Sogar meine Kinder waren von ihm angetan. Den ganzen Tag waren sie schwimmen, spielten im Sand und beobachteten Menschen. Dann eines Tages fragte ich: ,Wenn es euch hier so gut gefällt, wieso geht ihr denn nie an den Strand, wenn wir eure Großeltern am Meer besuchen? Mein Sohn zuckte die Achseln und erwiderte: ‚Aber Vater, da ist doch nie jemand, denn es ist tot!‘“

Seine Zuhörer lachen, und Nikodemus beugt sich vor und spricht mit verändertem Tonfall weiter. „Und euer See bietet auch noch den exquisitesten Fisch weit und breit! Wie bedauerlich, dass die, die die Fische fangen, so gottlos sind, dem Glücksspiel in finsteren Spelunken zu verfallen. Und sie fischen sogar am Schabbat!“ Er hält inne. „Kann man von einem Fang essen, ohne von den Sünden des Fängers befleckt zu werden?

Macht euch nichts vor – es ist Sünde, einen solchen Fisch zu sich zu nehmen. Was in den Körper eines Menschen gelangt, verunreinigt ihn. Warum fahren unsere jüdischen Brüder am Schabbat mit ihren Booten hinaus auf den See?“

Seinen jungen Zuhörern hat es die Sprache verschlagen.

„Ich versichere euch, der Messias kommt nicht, bevor dieses üble Laster aus unserer Mitte getilgt wurde.“ Nikodemus mustert ihre Gesichter, aber die meisten wenden den Blick ab. „Eure Taten werden gesehen und beurteilt. Gott hat euch damit betraut, in jeder Hinsicht ein Vorbild zu sein. Sollte das für euch eine zu große Bürde sein, verdient ihr nicht, dass ihr den Namen Israel tragt.“

Es hat Nikodemus schon immer erstaunt und fasziniert, dass er einen Vortrag halten kann, während er gleichzeitig über andere Dinge nachdenkt. Seine Gedanken wandern ab zum Kommen des Messias. Nikodemus kann nicht verstehen, dass seine Kollegen aus dem Hohen Rat immer seltener über diese heiligste – und für seinen Geschmack faszinierendste – aller Prophezeiungen reden. Sollten sie nicht wachsam sein und auf den Messias warten? Vielleicht haben die Jahre, in denen der Himmel schwieg, die Erwartung seiner Mitbrüder gedämpft. Aber seine Sehnsucht ist dadurch nur umso größer geworden.

•••

Nikodemus hat seinen Vortrag beendet, und Shmuel und sein Schüler Yussif eilen voraus in eine kostbar ausgestattete Kammer, die nächste Station des Ehrengastes. Zwei Sklaven sind damit beschäftigt, das Gold und Leder zu polieren, auch das Messing eines prachtvollen Tisches, hinter dem ein Stuhl steht, der eher wie ein prächtiger Thron aussieht.

„Ich will mich darin spiegeln können“, ermahnt Shmuel den Sklaven. „Der Gelehrte kommt aus dem fernen Judäa und ist Mitglied des großen Sanhedrin in Jerusalem. Er soll nicht an einem staubigen Tisch sitzen.“

Sein Schüler gießt Wein in einen Becher. „Yussif, richte deinen Tallit“, fordert Shmuel ihn auf.

Eilig rückt der junge Mann seinen Gebetsschal gerade und späht hinaus in den Flur. „Er ist gleich da!“

„Bewegt euch!“, fordert Shmuel die Sklaven auf. „Geht! Holt die anderen!“ Während sie davoneilen, streicht er sein Gewand glatt und tritt vor die Tür, um Nikodemus, der von mehreren Schülern und Lehrern begleitet wird, willkommen zu heißen. Shmuel verneigt sich mit strahlendem Gesicht. „Meister! Du hast uns alle tief berührt!“

Nikodemus begrüßt ihn schlicht. „Shmuel.“

Shmuel schmilzt dahin und deutet mit einer weiteren Verbeugung auf die Torakammer. „Erweist du uns die Ehre, Rabbi?“

„Hm, lagert ihr dort vielleicht weiße Sardinen …?“

Betreten wendet sich Shmuel an Yussif. „Äh, also, ich – wir … könnten natürlich welche …“

„Das war ein Scherz, Shmuel“, erklärt Nikodemus, und Shmuel strahlt wie ein verurteilter Gefangener, der begnadigt wurde.

Nikodemus’ Diener tritt durch den Vorhang und hält ihn für ihn auf. Statt der Sklaven haben sich nun weitere Schüler in einer Reihe aufgestellt, als erwarteten sie eine Inspektion. „Ein schöner Toraraum ist das schlagende Herz einer würdigen Synagoge, Shmuel“, bemerkt Nikodemus.

„Danke, Lehrer Israels. Du erweist uns große Ehre.“

Der Diener zieht den Stuhl am Ehrenplatz zurück, und Nikodemus nimmt Platz. „Die Ehre ist ganz meinerseits. Nicht nur wegen eurer klugen Schüler, sondern auch wegen der Seele dieser Stadt. Habt ihr meine Rede gehört?“

„Natürlich“, erwidert Shmuel. „Deine Worte werden noch in Generationen nachklingen.“

„Du hast uns erleuchtet“, schwärmt Yussif.

„Während meiner Rede fragte ich aus rhetorischen Gründen: ‚Warum lassen Juden am Schabbat Boote zu Wasser?‘ Diese Frage zielte in deine Richtung, Rabbi Shmuel. Die Berichte häufen sich. Man kann sie nicht mehr ignorieren.“

Shmuel wird blass und nickt. „Natürlich, Rabbi. Wir … ich werde mich darum kümmern. Die Römer patrouillieren am Schabbat nicht, weil sie glauben, dass wir nicht arbeiten. Die Fischer sind gierig geworden, fürchte ich …“

„Oder sie versuchen nur, ihre Familien zu ernähren“, unterbricht Yussif ihn.

Shmuel wirft ihm einen scharfen Blick zu, als hätte er eine Gotteslästerung ausgesprochen, aber sie werden unterbrochen, als ein weiterer Pharisäer in der Tür erscheint. „Ich bitte um Verzeihung, Rabbi. Ein Zenturio ist hier. Er verlangt, mit dir zu sprechen.“

„Bitte sag ihm, wir haben einen wichtigen Gast“, erwidert Shmuel, „und möchten nicht gestört werden!“

Ein römischer Soldat drängt sich an dem Pharisäer vorbei. „Ich kann nicht warten“, erklärt er.

Shmuel verdreht die Augen zum Himmel. „Messias, bitte hilf.“

Der Soldat nimmt seinen Helm ab, schaut sich um und pfeift. „Beeindruckend. Sieht aus, als würden nicht nur wir das Volk besteuern.“

„Was willst du, Präfekt?“, fragt Nikodemus.

„Ich bin kein Präfekt. Aber du kennst wenigstens deinen Platz.“

„Das ist Nikodemus“, erklärt Shmuel. „Ein Lehrer der Gelehrten! Erweise ihm etwas mehr Respekt!“

„Ah! Genau der Mann, den ich suche. Ich bin hier wegen einer jüdischen Frau aus dem Vergnügungsviertel. Sie hat, sagen wir mal, etwas Aufsehen erregt.“

„Du hast eine ganze römische Legion zu deiner Verfügung“, sagt Shmuel.

„Danke, dass du mich daran erinnerst, Jude. Aber sie braucht einen heiligen Mann.“

„Wir sind Männer Gottes“, streicht Nikodemus heraus. „Und eben deshalb meiden wir dieses … Vergnügungsviertel.“

„Vielleicht war ich nicht deutlich genug, Lehrer der Gelehrten. Entweder du begleitest mich in dieses Viertel oder wir brennen es nieder mit einem … Feuer aller Feuer.“

Kapitel 8

DER STEUERSTAND

Matthäus’ Fahrer hält an. „Pst. Wir sind da.“

Matthäus hebt die Plane an und macht ein langes Gesicht. „Aber … das ist die falsche Seite des Marktes!“

„Steig aus.“

„Nein.“

„Nein?“

„Die Absprache war: Du fährst so, dass ich nicht über den Markt laufen muss.“

„Es ist viel zu voll hier. Raus!“

„Ich bezahle das Doppelte.“

„Auch Geld vertreibt den Gestank an mir und meiner Familie nicht, wenn man mich mit dir sieht. Raus jetzt!“

Matthäus erhebt sich und klopft seine Gewänder ab.

„Das ist sehr unprofessionell.“

„Dann feuer mich doch“, erwidert der Mann und fährt davon.

Mit gesenktem Kopf schiebt sich Matthäus durch das Gedränge auf dem Markt. Er zählt seine Schritte.

„Steuereintreiber!“, ruft jemand.

„Oh, da ist er ja!“

„Hau ab!“

Jemand spuckt aus. „Verräter!“

„Du solltest dich schämen.“

Matthäus hat das Gefühl, von allen angestarrt zu werden, trotzdem geht er unbeirrt weiter. Jemand zerrt an seinem Gewand, und beinahe stürzt er zu Boden. Es ist ein blinder Bettler, der ihn nicht wieder loslässt.

„Bitte, ich …“

„Bist du der Messias? Bist du der Messias?“

„Nein, bin ich nicht.“

„Bitte sag mir, wann er kommt! Bitte!“

Matthäus reißt sich los und verschwindet schnell um eine Ecke. Erleichtert seufzt er auf. Vor seinem Stand hat sich eine Schlange von vielleicht zwölf Leuten gebildet. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen starrt ihn aus dunkel umschatteten Augen an. Einige halten barfüßige Kinder an der Hand. In ihren zerlumpten Kleidern strahlen sie Armut und Unterdrückung aus.

Matthäus bleibt stehen. Für seinen Geschmack ist er viel zu gut zu sehen, während er auf seine römische Eskorte wartet. „Du kommst spät, Gaius“, sagt Matthäus, als sie schließlich eintrifft.

Gaius, kahlköpfig und mit scharfen Gesichtszügen, grinst, und Matthäus kann sehen, dass es ihm ganz gut gefällt, dass Matthäus allein und ausgeliefert hier draußen steht.

„Ich weiß. Hast du es gespürt?“

„Was gespürt?“

„Der Markt. Alle sind irgendwie seltsam nervös. Nur eine einzige Person müsste durchdrehen, und es würde …“

„Mach einfach deine Arbeit.“

„Das solltest du hoffen“, erwidert Gaius mit einem Lachen. Er holt einen Schlüssel hervor, schließt den Stand auf und lässt Matthäus eintreten, bevor er ihn hinter ihm wieder abschließt, zur Sicherheit des Steuereintreibers.

•••

Im Vergnügungsviertel

In der Zwischenzeit führt ein anderer römischer Soldat Nikodemus, Shmuel und Yussif durch eine enge Gasse hinter einer zweistöckigen Herberge, die schon bessere Tage gesehen hat. Angesichts von Nikodemus’ offensichtlichem Widerwillen kann der Soldat ein Grinsen nicht unterdrücken. Bisher kennt der Führer der Pharisäer dieses Viertel nur vom Hörensagen, und er muss sich eingestehen, dass er sich kaum vorstellen konnte, wie übel diese Umgebung ist.

Hausierer verhökern ihre Waren auf den zugemüllten Straßen. Ein übler Gestank dringt ihm in die Nase, sodass er kaum zu atmen wagt. Aus schattigen Winkeln locken ausgezehrte Prostituierte, Frauen und junge Männer, die Passanten mit ihren Angeboten. Ein Soldat bearbeitet mit einer Bürste eine Wand, auf der steht: „Der Messias wird die Römer vernichten.

Wäre das nicht schön?, denkt Nikodemus. Wenn er nur schon da wäre, um mir das hier zu ersparen.

Der Römer bleibt vor der Schenke stehen. „Die Treppe hoch.“ Er zeigt zum Eingang. „Dort findest du Rivka.“

Bei der Vorstellung, eine solche Lasterhöhle betreten zu müssen, verzieht der Pharisäer das Gesicht.

„Keine Sorge, Rabbi“, sagt der Soldat. „Wir haben das sonstige Pack entfernt, um deine zarten Gefühle nicht zu verletzen.“

Aus einem Fenster im oberen Stockwerk ertönt ein unmenschlicher Schrei, und Nikodemus zuckt zusammen. „Nein! Nein!“

„Was ist das?“, fragt Shmuel entsetzt.

Nikodemus’ Gedanken überschlagen sich. Wenn das nicht klingt wie eine dämonische Besessenheit, dann weiß er auch nicht, was es ist. Jahre zuvor hat er einmal einer Dämonenaustreibung beigewohnt, und auch wenn man ihm den Zustand der Frau beschrieben hatte, so hatte er doch gehofft, dass er ein solches Spektakel nicht noch einmal würde miterleben müssen.

Wie kann ich denn ein solches Übel bekämpfen?

Aber alle scheinen ihre Hoffnung allein auf ihn zu setzen.

„Ich brauche ein paar Dinge, Shmuel. Schwefel, Brennnessel, äh … Ysop, Wermut. Geh!“

„Ja, Meister“, sagt Shmuel, und er und Yussif machen sich auf den Weg.

„Also“, fordert der Soldat ihn auf, „tu deine Pflicht.“

Nikodemus wappnet sich innerlich und schaut den Soldaten an. Nur mit Mühe gelingt es ihm, ruhig zu bleiben und den Mann nicht anzuschreien. „Hör zu. Ich habe der Bitte von Quintus entsprochen – nicht der Forderung, da er von mir rein gar nichts zu fordern hat –, das Fischen am Schabbat zu verhindern, da das ohnehin Gesetz ist. Mein Handeln war also keine Verletzung meiner Aufgaben. Und ich werde auch versuchen, dieser Frau zu helfen, obwohl das eigentlich nicht in meine Zuständigkeit fällt. Aber sieh in mir kein Werkzeug, das römische Probleme löst. Ich werde meinen religiösen Einfluss nicht länger zum Wohle derer nutzen, die überheblich auf mein Volk herabsehen, weder für dich noch für jemanden wie Quintus! Also, ich werde diese Aufgabe annehmen, aber deine Vorgesetzten sollten wissen: Dies ist eine Ausnahme!“

Der Soldat blickt ihn ausdruckslos an. „Können wir dann jetzt gehen?“

„Ja!“, erwidert Nikodemus mit so viel vorgetäuschter Zuversicht, wie er aufbringen kann.

Kapitel 9

DER KÄMPFERISCHE
FISCHER

Stadtrand von Kapernaum

Ein kräftiger junger Mann liegt im Staub und windet sich. Etwa zwei Dutzend andere stehen johlend um ihn herum und feuern ihn an. Geld wechselt die Besitzer. Vor ihm hat sich ein größerer Mann aufgebaut. „Bleib unten, Simon!“, fordert der stehende Mann. „Friss den Dreck, damit du weißt, was gut für dich ist!“

Simon sieht Sterne und versucht, den Kopf wieder klar zu bekommen. Er rollt sich auf die Seite und sucht den Blick seines Bruders Andreas, der mit den anderen zusammen zuschaut. Seit ihrer Kindheit sind die beiden unzertrennlich. Ihr verstorbener Vater Jona hat sie zum Fischen mit auf den See genommen, bevor sie groß genug waren, ihm zu helfen. Den Beruf ihres Vaters haben sie erlernt, indem sie alle seine Handgriffe verfolgten. Seit Kindertagen leben sie am See Genezareth.

Wortlos können sie sich untereinander verständigen, wie das bei Geschwistern häufig der Fall ist. Beim Näherkommen deutet Andreas heimlich auf Simons Gegner. Unter größter Anstrengung gelingt es Simon, auf die Knie zu kommen, um dann sofort einen erneuten Faustschlag einstecken zu müssen. Mit einem dumpfen Aufprall geht er wieder zu Boden. Sein Angreifer grunzt und schwenkt seine offensichtlich schmerzende Hand. Die Hälfte der Zuschauer johlt und noch mehr Geld wechselt den Besitzer.

„Du übertreibst, Jehoshaphat“, stößt Simon mühsam hervor. „Du bist zu stark.“

„Das stimmt!“, brüllt Jehoshaphat. „Und das sage ich dir jedes Mal, wenn ich dich sehe.“ Er wendet sich zu den zuschauenden Männern um. „Und das sage ich auch meiner Schwester!“

Sie brüllen vor Lachen.

Simon wendet sich wieder an seinen Bruder. „Ernsthaft, ich verkrafte höchstens noch zwei …“

Andreas schüttelt den Kopf.

„Einen?“

Sein Bruder nickt.

„Nur noch einen Schlag. Dann bin ich fertig.“

Die Menge wird laut. Jemand ruft: „Er sagt, er hat genug!“

„Nein!“, brüllen andere, und weitere Wetten werden auf Jehoshaphat abgeschlossen, der Simon den Rücken zuwendet, um die Menge anzufeuern.

Ganz unvermittelt springt Simon auf. „Jehosha …?“

Der Mann dreht sich um, und bevor er auch nur seine Hand heben kann, trifft Simons Rechte sein Kinn. Dann seine Linke. „Was wolltest du gerade sagen? Etwas über deine Schwester?“ Zwei Faustschläge in Jehoshaphats Bauch. „Du glaubst also, es reicht, mich zu verprügeln, damit ich nicht mehr mit Eden verheiratet bin?“ Seine linke Hand landet in Jehoshaphats Flanke, und der Mann geht zu Boden. „Deshalb sagt man, ich hätte Wein-Fäuste. Wegen dem, was sie deiner Leber antun.“

Sein Schwager will sich aufrappeln, doch Simon bückt sich und flüstert ihm ins Ohr: „Ich will das alles nicht, Jehoshaphat. Können wir nicht damit aufhören, uns jede Woche zu prügeln? Ich weiß, du traust mir nicht, aber ich liebe deine Schwester mehr als alles andere.“

„Ich werde nicht mehr mit dir kämpfen“, keucht Jehoshaphat auf Händen und Knien liegend.

„Wirklich?“

„Aber mein Bruder schon.“

„Dein Bruder?“ Simon dreht sich um und steckt einen linken Schwinger ein, der den Kampf beendet. Und während Simon auf dem Rücken landet, sieht er, wie Andreas den Wettenden ihr Geld austeilt.

•••

Eine halbe Stunde später stehen Simon und Andreas am Ufer des Sees Genezareth. Ihr Boot liegt ganz in der Nähe. Den Kopf in den Nacken gelegt läuft Simon auf und ab und drückt einen Lappen auf seine blutende Nase. Niedergeschlagen lässt sich Andreas in den Sand sinken.

„Wo steht das geschrieben, Andreas? Na? Sag mir das.“

„Ich bin so ein Idiot“, murmelt Andreas kopfschüttelnd.

„Seit wann gilt ein doppelter Niederschlag als verloren, wenn zwei gegen einen kämpfen? Die Regel hast du gerade erfunden.“

„Erfunden oder in Stein gehauen, wen interessiert das? Wir haben verloren, und ich hätte es wissen müssen.“

„Nein, nein“, widerspricht Simon. Er lässt sich neben Andreas nieder. „Das ist meine Schuld. Ich habe dich dazu überredet.“

Schweigend lauschen sie dem sanften Plätschern der Wellen.

„Wein-Fäuste, ja?“, fragt Andreas schließlich.

Simon zuckt die Achseln. „In meinem Kopf klang es klüger.“ Er wechselt das Thema. „Die Steuern sind bald fällig.“

„Mhm.“

„Noch zwei Sonnenaufgänge …“