817534_Das_kleine_Hotel_an_der_Kueste_Seite_3.pdf

8

Knoten.tif

James rief die Familie schon zu Tisch, während er die Töpfe mit den fertigen Gerichten auf einen kleinen Eichentisch stellte, um sie dort anzurichten. Aber er war nur halb bei der Sache, als er die Fettuccine auf die Teller gab. Genau in dem Moment, in dem er gedacht hatte, Andrea könnte ihn nicht überraschen, hatte sie etwas getan, womit er absolut nicht gerechnet hätte.

Wo hatte sie nur so Klavierspielen gelernt? Das war nicht das Spiel einer Person, die sich nur an ihre Klavierstunden aus der Kindheit erinnerte. Die Variationen von Emmys einfacher Melodie hatten sich völlig improvisiert angehört, und ihr Lächeln hatte eine reine, völlig losgelöste Begeisterung ausgedrückt. Es erinnerte ihn daran, wie er sich fühlte, wenn er nichts zu tun hatte, außer in der Küche herumzuexperimentieren und neue Rezepte und ungewöhnliche Geschmacksrichtungen auszuprobieren.

Muriel hatte alle um den Esstisch herum platziert, als er mit den ersten Tellern kam. Er freute sich, als er sah, dass seine Tante den Platz neben Andrea für ihn freigehalten hatte, auch wenn diese Freude einen Dämpfer bekam, weil Ian ihm direkt gegenübersaß. Zuerst servierte er Muriel und Andrea ihr Essen.

„Frische Fettuccine mit einer traditionellen Tomaten-Basilikum-Sauce“, sagte er, als ob er eine seiner Speisekarten vorlas. „Dazu natürlich Salat Caprese, und Serenas legendäre Knoblauchbrötchen.“

Serena verdrehte die Augen und sagte: „Also von legendär kann ja wohl kaum die Rede sein.“

„Du hättest Bäckerin werden sollen, Schwesterherz“, widersprach er, denn Serena hatte ein Händchen für Brot und Kuchen, um das er sie beneidete. Er bekam Gebäck nie so hin, wie es eigentlich sein sollte, aber das lag sicher auch daran, dass er Zutaten nur wog oder abmaß, wenn er ein Kochbuch schrieb. Für seinen Geschmack war beim Backen viel zu viel Genauigkeit erforderlich.

Als er die restlichen Teller an den Tisch gebracht hatte, schaute Muriel seinen Bruder an und sagte: „Könntest du bitte das Tischgebet sprechen, Ian?“

James warf Andrea aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick zu und fragte sich, was sie jetzt wohl dachte, aber sie senkte nur den Kopf und faltete die Hände. Er konnte nicht sagen, ob sie es aus Respekt vor ihren Traditionen oder aus eigener Überzeugung tat.

Ian betete rasch und schlicht. „Vater im Himmel, danke, dass du uns Gesundheit, Familie und Gemeinschaft schenkst. Amen.“

Alle anderen, auch Andrea, wiederholten das Amen. James wartete auf ihre Reaktion, als sie den ersten Bissen aß.

Ihre Augenbrauchen gingen hoch. „Sind Sie sicher, dass italienisches Essen nicht Ihre Spezialität ist? Das ist ja fantastisch.“

Er sah Muriel über den Tisch hinweg an. „Unsere Tante liebt italienisches Essen, und deshalb koche ich immer italienisch, wenn ich auf Skye bin.“

„Haben Sie sich denn schon immer so nahegestanden?“

„Tante Muriel hat uns großgezogen“, sagte Serena. „Als unsere Eltern sich scheiden ließen, ist unsere Mutter wieder zurück nach London gezogen, und unsere Tante ist hergekommen, um unseren Vater bei unserer Erziehung zu unterstützen. Und dann hat sie einfach vergessen, wieder abzureisen.“

Muriel lachte leise. „Was gab es denn schon, wohin ich hätte zurückkehren können? Und außerdem weiß nur der Himmel, was Jamie sich alles hätte einfallen lassen und angestellt hätte, wenn er nicht unter Aufsicht gewesen wäre.“ Sie lehnte sich mit verschwörerischer Miene zu Andrea hinüber. „Ian war immer der Verantwortungsbewusste und Serena die Stille, aber Jamie – grundgütiger Himmel –, er ist wirklich schuld an jedem einzelnen grauen Haar, das ich auf dem Kopf habe.“

„Das ist jetzt aber unfair“, protestierte James. „Ian und Serena haben ebenso Unfug gemacht wie ich, aber sie haben immer die Schuld auf mich geschoben.“

„Das ist doch gar nicht wahr!“, widersprach Serena lachend und schob reflexartig ein Milchglas aus der Reichweite von Emmys Ellenbogen. „Weißt du noch, wie du das Auto des Pfarrers mit Klebeband umwickelt hast?“

„Nein, das haben Sie nicht gemacht, oder?“, fragte Andrea.

James rieb sich kleinlaut die Stirn. Das hatte er schon völlig vergessen. „Doch, zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es stimmt. Um ehrlich zu sein, war es eine Mutprobe, und Mutproben konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich bin ziemlich sicher, dass Pfarrer Steward zu mir gesagt hat, ich würde für all meine Bosheit direkt zur Hölle fahren. Er hat mir das bis heute nicht vergeben.“

„Doch“, sagte Serena, „das schon. Was er dir nicht vergeben hat, ist, dass du den Abendmahlswein im Kelch mit ein bisschen Tabasco nachgewürzt hast.“

James lächelte verlegen. Daran konnte er sich noch ganz genau erinnern, und er war nicht besonders stolz darauf. Es war wirklich ein Wunder, dass er als Jugendlicher nicht in die Kriminalität abgerutscht war. „Das war auch eine Mutprobe. Sagen wir, ich hatte als Junge ein etwas unentspanntes Verhältnis zum institutionalisierten Glauben. Meine Tante hält mich bis heute für einen Heiden.“

„Unsinn“, widersprach Muriel, als sie Andreas Blick auffing. „Lassen Sie sich bloß nichts von ihm erzählen. Er ist ein guter Christ, egal, was er jetzt sagt. Es gab während seiner Kindheit nur leichte Differenzen zwischen der Gemeinde und ihm.“

„Genau wie auch zwischen ihm und jedem Schuldirektor einer jeden Schule, die er besucht hat“, merkte Serena kichernd an.

Ian warf Andrea einen Blick zu, schaute dann aber rasch wieder nach unten auf seinen Teller.

Was sollte das alles eigentlich?, fragte sich James. Wollte er ihre Reaktion auf seine jugendlichen Fehltritte prüfen? Oder wollte er sein Missfallen darüber zum Ausdruck bringen, dass Muriel ihn immer noch in Schutz nahm?

Andrea führte grazil ihre Gabel zum Teller. „Und wie sieht es bei Ihnen aus, Ian? Serena hat gesagt, Sie sind in London zur Schule gegangen und haben Jura studiert?“

„Ja. Ich habe mehrere Jahre als Anwalt gearbeitet, bevor ich den Job bei Jamie angenommen habe.“

„Waren Sie auf irgendein Gebiet spezialisiert?“

„Ja, Körperschaftsrecht, überwiegend Vertragsrecht.“

Serena verdrehte die Augen. „Ian hat mit Auszeichnung bestanden, was eine ziemliche Leistung ist, wenn man bedenkt, dass er die meiste Zeit seines Studiums mit Rudern verbracht hat, auch wenn er darüber nicht spricht.“

„Sie rudern?“ Andrea ließ ihren Blick hinüber zu Ian schweifen, als ob sie versuchte, diese Information mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was sie da vor sich sah. Vielleicht bewunderte sie ihn aber auch nur. Das wäre nicht das erste Mal, dass er bewundert wurde. Es war wirklich nicht so, dass sein Bruder in Bezug auf Frauen Hilfestellung brauchte, wenn er sich denn entschloss, sie zu beachten.

„Ja“, antwortete Ian mit einem Achselzucken, „früher. Aber ich habe vor zehn Jahren aufgehört.“

„Ian war elf Jahre lang in der britischen Nationalmannschaft der Ruderer“, sagte Serena. „Er hat vier – oder wie viele waren es nochmal – Goldmedaillen bei Weltmeisterschaften gewonnen.“

„Fünf“, korrigierte er sie, ohne aufzublicken.

„Wow“, sagte Andrea. „Das ist wirklich beeindruckend.“

James merkte, dass er eifersüchtig wurde, bemühte sich aber, das zu unterdrückten. Schon erstaunlich, wie er sich wieder wie fünfzehn fühlte, wenn er mit Ian zusammen in einem Raum war und Angst davor hatte, ein Mädchen mit nach Hause zu bringen und seiner Familie vorzustellen, weil es immer sein konnte, dass es dann eher für seinen tüchtigen, sportlichen Bruder schwärmte als für ihn. Das war vorgekommen, aber zugegebenermaßen in den letzten paar Jahren nicht mehr.

Das Schweigen zog sich in die Länge, aber bevor es noch unbehaglicher werden konnte, fragte Muriel: „Und Sie, Andrea, woher kommen Sie?“

„Aus einer Kleinstadt in Ohio.“

„Mit einem Kino, aber ohne Ampeln.“ James warf einen Blick zu ihr hinüber und wurde mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln belohnt, bevor sie seiner Tante antwortete.

„Aber meinen Bachelor habe ich an der NYU gemacht und dann meinen Master in Betriebswirtschaft in Cornell. Seitdem lebe ich immer irgendwo in New York. Zurzeit in Manhattan.“

„Sind Sie verheiratet?“, fragte Muriel ganz direkt. „Verlobt? Mit jemandem zusammen?“

Andrea stieß einen erstickten Laut aus und hielt sich die Serviette vor den Mund. James klopfte ihr auf den Rücken und sie trank rasch einen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Ich bin Single“, sagte sie schließlich.

„Wieso denn das? Sie sind doch eine reizende Frau und – wie alt – 29 Jahre?“

„31.“

„Dann ist es doch längst Zeit, sesshaft zu werden, finden Sie nicht?“

Andrea bekam ganz große Augen und warf James einen flehenden Blick zu, mit der wortlosen Bitte, einzugreifen. Bei diesem Thema suchte sie allerdings an der falschen Stelle Hilfe. „Ja, Andrea, wieso haben Sie sich eigentlich noch nicht irgendwo niedergelassen?“

Sie sah Ian an, der jedoch offenbar auch nicht gewillt war einzugreifen. Ihr Blick, der jetzt etwas gefährlich Funkelndes bekam, traf wieder auf den von James. „Also ich bin beruflich so viel unterwegs, dass die einzigen Männer, die ich kennenlerne, Klienten sind. Und die meisten von ihnen sind selbstverliebte Egomanen. Sie können sich also vorstellen, dass dadurch mein Privatleben etwas verkrampft ist.“

Da platzte ein Lachen aus James heraus, das schnell in ein Husten überging, sodass er ebenfalls zu seinem Wasserglas griff. Das war an diesem Abend schon das zweite Mal, dass sie ihn überrascht hatte. Allerdings hätte ihn das eigentlich nicht weiter überraschen müssen, denn er hatte ja schon im Pub eine Kostprobe von ihrer Schlagfertigkeit bekommen.

Muriel nickte mit zufriedener Miene. „Ich mag Frauen, die sagen, was sie denken. Also, nimm dich bei ihr lieber in Acht, Jamie. Sie ist eine, mit der man nicht leichtfertig umgehen darf.“

„Das merke ich auch langsam“, sagte James und warf ihr von der Seite einen Blick zu. Doch sie lächelte nur lieb. Das hatte also gesessen. Aber wenn sie geglaubt hatte, ihn dadurch vergraulen zu können, dann hatte sie sich sehr getäuscht. Sie konnte zwar versuchen zu leugnen, dass sie Interesse an ihm hatte, aber sie konnte die Tatsache nicht verbergen, dass sie jedes Mal die Luft anhielt, wenn er auch nur in ihre Nähe kam. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihre Worte als offene Herausforderung zu verstehen.

Als sie mit dem Essen fertig waren, ignorierte Andrea einfach Muriels Proteste und stellte die Teller zusammen, um sie in die Küche zu bringen. Ian stand auf, um zu helfen, aber James reagierte darauf mit einem knappen Kopfschütteln und sammelte die leeren Weingläser ein. Diesmal fügte sich sein Bruder sogar und setzte sich wieder.

Als James in die Küche kam, spülte Andrea gerade die Teller vor und stapelte sie ordentlich in der Spüle.

„Muss ich mich schon für meine Familie entschuldigen?“, fragte er.

Sie warf ihm einen Blick zu. „Nein, sie sind alle großartig.“

„Sprechen wir etwa beide von derselben Familie?“ Er lachte über ihren tadelnden Blick. „Doch, das sind sie wirklich. Ich vergesse immer, wie sehr ich sie vermisse, und merke es erst dann, wenn ich wieder nach Hause komme. Die meisten wenigstens.“

Er beugte sich zu ihr vor, um die Weingläser in die Spüle zu stellen, und streifte dabei absichtlich ihren Arm. Sie rückte von ihm ab und bürstete das Geschirr mit noch größerem Eifer.

Nein, sie war ganz offensichtlich nicht immun gegen ihn.

Als der letzte Teller gespült war, drehte sie sich zu ihm um. „Kann ich sonst noch bei irgendetwas helfen?“

James goss heißes Wasser in die Cafetière, die er bereits zuvor mit gemahlenem Kaffee befüllt hatte. „Sie könnten die hier und ein paar Tassen zum Tisch bringen. Ich komme dann gleich mit dem Dessert.“

Er holte die Behälter mit dem Eis aus dem Gefrierschrank und begann auf die bereitgestellten Glasteller Kugeln zu verteilen, während Andrea mit dem Kaffee ins Esszimmer ging. Als sie noch einmal zurückkam, um Tassen zu holen, hatte sich der Tassenturm gefährlich geneigt, sodass er automatisch danach griff, um ihn aufzurichten. Sie erstarrte, als er seine Hände auf ihre legte.

„Haben Sie sie jetzt?“, fragte er und streifte mit den Fingern ihren Handrücken, bevor er ihre Hände losließ. Sie schluckte, befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, und er lächelte.

Sie merkte sofort, wie ihr die Röte vom Hals aufwärtsstieg und wandte sich so abrupt ab, dass das Porzellan klapperte. Sein Grinsen wurde breiter. Sie mochte ja entschlossen sein, ihn in seine Schranken zu weisen, aber er würde auf jeden Fall als Letzter lachen.

Als er ein paar Minuten später das Dessert servierte – perfekte Eiskugeln, garniert mit filigranen Anisplätzchen und Minzblättchen –, unterhielt sich Andrea mit seiner Schwester über Emmys Klavierstunden. Sie nahm seine Anwesenheit kaum zur Kenntnis und wandte sich sogar ein wenig von ihm ab und zu Serena hin, sodass sie ihn nicht anschaute, als er seinen Platz neben ihr wieder einnahm.

Nach dem Dessert winkte Tante Muriel ab, als Andrea wieder beim Abräumen helfen wollte. „Das schaffen Serena und ich schon allein. Es war reizend, Sie kennenzulernen, meine Liebe“, sagte die ältere Dame und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Sie frühstücken doch morgen auch mit uns zusammen, oder?“

Andrea warf James einen fragenden Blick zu, und als er nickte, sagte sie: „Ja, sehr gerne.“

Emmy sprang von ihrem Platz auf und schlang ihre Arme um Andreas Körpermitte. Die wirkte erst total erschrocken, doch dann bekam ihr Ausdruck etwas Schmerzliches.

„Kannst du mir morgen etwas auf dem Klavier beibringen, Andrea?“

„Sie möchte bestimmt nicht so viel Zeit am Klavier verbringen, Emmy“, sagte James, woraufhin Emmys Lippe zu beben begann.

Andrea löste sich behutsam von ihr und antwortete: „Natürlich mache ich das. Aber lass mich erst noch überlegen, was ich dir beibringe, ja?“

Serena lächelte sie über Emmys Kopf hinweg an und schuckelte dabei Max auf ihrer Hüfte. „Danke, Andrea. Es war wirklich schön, Sie kennenzulernen.“

„Gleichfalls, Serena.“

James hatte inzwischen Andreas Mantel geholt und half ihr hinein.

„Ich habe Andrea gefragt, ob sie morgen mit mir zu Mittag isst, um ihre Vorschläge zu besprechen“, sagte Ian. „Seid ihr um 13.00 Uhr fertig mit der Besichtigung des Hotels?“

James merkte, wie er sich verspannte, nickte aber. „Ich fahre sie. Broadford Hotel?“

Ian sah aus, als wollte er widersprechen, aber dann griff er nur in die Hosentasche und überreichte Andrea mit zwei Fingern eine Visitenkarte. „Meine Handynummer steht ganz unten, nur falls Sie mich morgen erreichen möchten.“

„Danke. Bis dann also.“ Sie lächelte erst ihn an und dann auch den Rest der Familie. „Gute Nacht allerseits.“

James führte sie zur Tür hinaus und auf dem Kiesweg zum Wagen. Es war schon merklich kühler geworden und ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Er atmete tief die feuchte Luft ein und freute sich, der angespannten Atmosphäre im Haus zu entkommen. Er hielt ihr die Beifahrertür auf und wartete, bis sie eingestiegen war.

„Das Essen war ganz wunderbar“, sagte sie, als er auf der Fahrerseite Platz genommen hatte. „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut gegessen habe.“

„Danke.“ Er schaute ihr Gesicht an, das abwechselnd im Schatten und im Licht lag und versuchte herauszufinden, ob sie das wirklich ernst meinte oder es aus reiner Höflichkeit sagte. Ihr vages Lächeln verriet nichts, also legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Während der kurzen Rückfahrt zum Hotel redeten sie nicht, aber wenigstens war das Schweigen jetzt nicht mehr so unbehaglich. Sie hatte anscheinend beschlossen, ihm seine Provokationen von vorhin zu verzeihen, und sosehr es ihm gefiel, wenn sie dieses ärgerliche Funkeln im Blick hatte, so froh war er jetzt, dass sie wieder auf Augenhöhe waren.

Er setzte sie an der Tür zu ihrem Cottage ab, schloss ihr auf und schaltete mit einem Griff um den Türrahmen herum das Licht ein. Dann löste er ihren Schlüssel aus seinem Schlüsselbund und drückte ihn ihr in die Hand. „Gute Nacht, Andrea. Wir sehen uns dann morgen früh.“

„Gute Nacht“, antwortete sie, betrat das Haus, schloss aber nicht sofort die Tür. Er spürte, wie sie ihm nachschaute, als er wegging, drehte sich aber nicht noch einmal um, sondern steckte die Hände in die Hosentaschen und lauschte, bis er das leise Geräusch hörte, mit dem die Tür des Cottages ins Schloss fiel.

Erst da atmete er aus, weil er die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, holte seinen Koffer hinten aus dem Kombi und ging dann quer über den Parkplatz zu seinem Cottage. Er schloss auf und schaltete das Licht ein. Das Cottage war genauso spärlich eingerichtet wie Andreas, aber auf dem Tisch stand ein Obstkorb, und ein schneller Blick in den Kühlschrank zeigte, dass er mit Grundnahrungsmitteln gefüllt war: Milch, Brot und Aufschnitt. Gott segne Muriel. Selbst jetzt noch kümmerte sie sich rührend um ihn.

Er schaltete den Fernseher ein und begann seine Reisetasche auszupacken. Weil das Hotel eine einzige Baustelle war und außer ihm momentan niemand im Cottage wohnte, ließ er immer ein paar Sachen im Schrank zurück; Jeans, eine dicke Jacke, legere Hemden und Sportsachen. Das ersparte ihm die Mühe, mehr mitzunehmen als Handgepäck, besonders wenn er kurzentschlossen herkam.

Als er sein Jackett auf einen Bügel hängte, wanderten seine Gedanken wieder zu Andrea. Heute Abend bei seiner Familie hatte ihre Wachsamkeit ein wenig nachgelassen, und er hatte einen Blick auf die warmherzige und geistreiche Frau hinter der perfekten Expertin erhaschen können. Er konnte die gegenseitige Anziehung nicht leugnen, aber es überraschte ihn, dass er sie auch wirklich mochte.

Damit hatte er nicht gerechnet.

Genauso wenig wie mit ihrer Miene, als Emmy sie umarmt hatte. Das war nicht einfach nur Überraschung gewesen, sondern etwas Tieferes, Schmerzerfülltes. Sie hatte sich zwar schnell wieder gefangen, aber er war sich sicher, dass er es sich nicht nur eingebildet hatte. Was mochte in ihrer Vergangenheit vorgefallen sein, das diese Reaktion auf die arglose Vorfreude des kleinen Mädchens hervorrufen konnte?

Diese Frage dämpfte James’ Begeisterung über seine kleinen provozierenden Neckereien. Was auch immer Andrea glaubte, er war nicht auf eine Frau fürs Bett aus. Wäre es so gewesen, hätte er dazu in London mehr als nur ein paar Frauen gefunden.

Nein, so hatte er sich in seiner Jungend verhalten. Unverbindlicher Sex hatte aber nur sein momentanes Bedürfnis befriedigt, und hinterher hatte er immer eine noch größere Leere und noch mehr Rastlosigkeit verspürt als zuvor. Natürlich hatte sein zwanzig Jahre altes Selbst alles getan, das zu leugnen, genauso wie die Schuldgefühle, die er deshalb hatte.

So hatten sein gläubiger Vater und seine Tante ihn nämlich nicht erzogen. Es hatte nicht lange gedauert, bis er erkannt hatte, dass er mit seinem Verhalten nicht nur sich selbst, sondern auch den Frauen schadete.

Was auch immer andere glaubten, er hatte dieses alte, rücksichtslose Verhalten nicht wieder aufgenommen, nachdem Cassie ihn verlassen hatte, aber deshalb ließ er es sich noch lange nicht nehmen, mit einer schönen Frau zu flirten. Er hatte gedacht, dass Andrea – taff, tüchtig und klug – genau der Typ Frau wäre, die daran Spaß hätte. Mit diesem Aufblitzen von Verletzlichkeit, das er aber an diesem Abend bei ihr erlebt hatte, und mit seinem quälenden Verdacht, dass sie nicht so war, wie sie sich selbst darstellte, hatte er absolut nicht gerechnet.

Angesichts all der anderen Konflikte, die es zurzeit in seinem Leben gab, war das eine Komplikation, die er wirklich nicht gebrauchen konnte.

9

Knoten.tif

Obwohl sie so erschöpft war, schlief Andrea nur ein paar Stunden und wurde schon vor Tagesanbruch wieder wach. Ihr Herz pochte wie wild, und obwohl es nur ein paar Sekunden dauerte, bis sie sich erinnerte, dass sie sich ja auf der Isle of Skye befand, war es schon passiert. Sie war dabei, ihre innere To-do-Liste abzuhaken, sodass an Schlaf nicht mehr zu denken war.

Sie schlug die Bettdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und trippelte auf Zehenspitzen über den kalten Fußboden, um ihren Laptop zu holen. Sie knipste das Licht auf dem Schreibtisch an, fuhr den Computer hoch und gähnte, während die Programme geladen wurden.

„Konzentriere dich“, sagte sie laut. „Morgen um diese Zeit bist du schon wieder auf dem Heimweg und kehrst Skye für immer den Rücken.“

Mit ein paar Stunden Abstand seit ihrer letzten Begegnung mit James konnte sie die Situation jetzt etwas objektiver betrachten. Natürlich fühlte sie sich zu diesem Mann hingezogen. Welche Frau hätte ihn denn wohl nicht auf irgendeine Weise attraktiv gefunden? Sie hatte wahrscheinlich einfach zu viel Zeit damit verbracht, mit ernsten, schwerblütigen New Yorker Geschäftsmännern auszugehen, wenn schon ein bisschen Scherzen und Geplänkel ihr Herz höherschlagen ließ. Und weiß Gott, die meisten dieser Männer hatten es nicht bis zu dem erwarteten Kuss beim zweiten Date gebracht. Inzwischen machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, sich für offizielle Anlässe einen Begleiter zu suchen.

Ich mag Männer. Ich vertraue ihnen nur nicht besonders. Dafür war James MacDonald ein Paradebeispiel.

Und damit Schluss mit diesem Thema. Sie holte eine Mappe aus ihrer Tasche und fing an, für ihr Treffen mit Ian Infomaterial zusammenzustellen. James würde durch Werbematerial sicher nicht zu beeindrucken sein, aber von Ian hatte sie den Eindruck, dass er es erwartete. Details über die Firmengeschichte, ihre Ressourcen und ein Blatt mit Empfehlungen von ehemaligen und aktuellen Klienten und eine Visitenkarte wanderten in die schicke Präsentationsmappe.

Andrea überlegte gerade, ob noch etwas fehlte, als es klopfte. Sie tapste durch den Raum und öffnete die Tür einen Spalt breit.

Davor stand James und lächelte verlegen. „Ich habe Sie doch nicht geweckt, oder? Ich habe Licht bei Ihnen gesehen.“

„Nein, ich habe mich gerade für das Meeting nachher vorbereitet.“ Sie öffnete die Tür ein bisschen weiter, und ein Stoß kalter Luft kam herein. Ihr dünnes T-Shirt bot kaum Schutz gegen die Kälte, und sie schlang die Arme um ihre Körpermitte. „Was gibt es denn?“

„Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Können Sie sich etwas anziehen und nach draußen kommen?“

„Okay. Einen Moment bitte, ja?“ Sie schloss die Tür wieder, zog ihren Mantel über den Schlafanzug, knöpfte ihn zu, zog dann das einzige Paar robuster, praktischer Schuhe an, das sie dabeihatte – leichte Laufschuhe –, und hatte bereits die Türklinke wieder in der Hand, als sie lieber doch noch rasch ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen. Sie sah sich im Spiegel an und zog ein Gesicht.

„Schade“, murmelte sie. „Aber wer so früh bei mir anklopft, muss sich mit dem zufriedengeben, was er bekommt.“

Die Luft draußen war feucht, und der Nieselregen der Nacht hatte einen feuchten Film auf allem hinterlassen. Sie atmete die kalte Luft ein und war sofort durch das Brennen in ihrer Lunge und die Kälte auf ihrer Haut energiegeladen. James wartete ein paar Schritte entfernt mit zwei dampfenden Kaffeebechern in der Hand.

Dankbar nahm sie ihm einen davon ab und trank den starken Kaffee in kleinen Schlucken, während sie ihn über den Rand des Bechers anschaute. Im Unterschied zu ihr sah er so aus, als sei er bereit für den Tag. Er trug ein sportliches Oberhemd und eine leicht ausgeblichene Jeans. Gegen die Kälte hatte er eine alte, abgetragene Wachsjacke angezogen, die allerdings nicht geschlossen war – Kälte schien ihm nichts auszumachen. Es war unfair, dass er es schaffte, in einem so lässigen Outfit noch so gut auszusehen.

Aber das waren schon wieder gefährliche Gedanken. „Was wollten Sie mir denn zeigen?“

„Kommen Sie mit“, antwortete er und deutete mit dem Kopf in Richtung der Terrasse hinter ihrem Cottage.

Sie folgte ihm und blieb dann am Rand der Terrasse abrupt stehen. Das Licht der Morgendämmerung fiel auf die Federwolken in Weiß- und Grautönen und spiegelte sie auf der spiegelglatten Oberfläche des Sunds wider. Zarte Nebelschleier hingen vor der Bergkulisse in der Luft, sodass sich die schlanke weiße Säule des Leuchtturms von Ornsy als Kontrast deutlich hervorhob. Einen Moment lang vergaß Andrea alles um sich herum, weil diese Kulisse sie dermaßen berührte.

Schweigend sah James sie an, und sie glaubte, aus dem Augenwinkel ein Lächeln wahrzunehmen. Die Sonne ging jetzt rasch auf, und die Farben wechselten von Silbergrau zu einem Goldton mit rosa Schlieren darin. Hingerissen betrachtete sie die Landschaft, die sich durch den Lichtwechsel rasch veränderte.

„Das ist meine liebste Tageszeit auf Skye“, sagte er.

„So etwas habe ich noch nie gesehen. Man fühlt es ganz tief hier drinnen“, erklärte sie und berührte ihr Herz, was ihr allerdings sofort wieder peinlich war. Normalerweise war sie gar nicht der Typ, der sich wortreich und emotional über schöne Landschaften ausließ, so sehr sie davon auch berührt sein mochte.

James nickte einfach nur. „Weil ich in London lebe, vergesse ich manchmal, dass es auf der Welt auch stille Orte gibt wie den hier. Ich werde den Anblick nie leid und bin immer wieder neu davon überrascht.“

„Wenn man einen solchen Ort immer wieder verlassen muss, hält man so etwas nicht mehr so leicht für selbstverständlich.“ Andrea ließ sich auf einen hölzernen Liegestuhl sinken und umschloss den Kaffeebecher mit beiden Händen, sodass der warme Kaffee ihre Hände wärmte, während sie die Morgenstille einatmete.

„Ja, das stimmt wirklich. Ich gestehe, dass ich manchmal überlege, wieder nach Skye zurückzuziehen, aber dann frage ich mich auch jedes Mal wieder, ob ich das hier dann noch so wertschätzen könnte.“

„Ich weiß nicht, ob ich diesen Anblick jemals leid werden könnte.“

Er schaute sie an, und sie wurde wieder rot. „Ich habe gedacht, dass ich Ihnen das Hotel nach dem Frühstück zeige und Sie dann nach Broadford zu dem Treffen mit Ian fahre. Ist Ihnen das recht?“

„Ja, das klingt gut.“

„Ich wollte mich so gegen sieben auf den Weg zum Haus meiner Tante machen. Kommen Sie dann mit?“

Sie lächelte. „Das lasse ich mir doch auf keinen Fall entgehen.“

„Gut. Dann sehen wir uns gleich.“ Er verschwand um die Ecke des Cottages und ließ sie allein, sodass sie in Ruhe den Sonnenaufgang genießen konnte.