Krakengeister (Patricia Vanhelsing)

Alfred Bekker

Published by BEKKERpublishing, 2017.

Inhaltsverzeichnis

Title Page

Krakengeister

Copyright

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

Sign up for Alfred Bekker's Mailing List

Further Reading: Bleiche Lady (Patricia Vanhelsing)

Also By Alfred Bekker

About the Author

About the Publisher

image
image
image

Krakengeister

image

Ein Patricia Vanhelsing-Roman

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 114 Taschenbuchseiten.

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.

In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

image
image
image

Copyright

image

Ein CassiopeiaPress Buch

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

image
image
image

1

image

"Maquatli!", stieß einer der Männer mit angstgeweiteten Augen hervor. Die schlanken Boote der Aimara-Indios glitten fast lautlos über die dunkle Wasseroberfläche.

Immer wieder tauchten die Paddel ins Wasser. Und nicht wenige der Männer auf den Booten blickten hinab in die Tiefe, wo nichts als namenlose Finsternis zu sein schien.

Nebelschwaden krochen hier und da wie böse Geister über den See und bildeten bizarre Formen. Sie schienen aus der unergründlichen Finsternis emporzusteigen, um dann langsam zu den einschüchternden Felsmassiven und Berggipfeln emporzusteigen, die den See wie eine Burgmauer umgaben.

Der Mond stand als großes Oval am Himmel. Er wirkte fast wie das allwissende Auge eines uralten Indiogottes und tauchte alles in fahles Licht.

Ein Licht, das die eigentlich dunkelbraunen Gesichter der Männer totenbleich erscheinen ließ.

Es war kalt. Und so manch einer der Indios in den Booten zitterte leicht - trotz der Ponchos und Filzhüte, die sie trugen. Es war eine Kälte, die alles durchdrang, in jeden Winkel der Seele zu kriechen schien und die Indios bis ins tiefste Innere frösteln ließ.

Eine Kälte, die nicht nur von dieser Welt kam.

Davon waren sie überzeugt.

Der eisige Hauch aus einem Reich, das der Mensch normalerweise nicht betreten konnte... Dem REICH DER TIEFE, wie sie es nannten.

Einer der Männer machte ein Zeichen. Er hob die Hand, woraufhin die Indios zu paddeln aufhörten.

Ein dumpfes, gurgelndes Geräusch weit unter ihnen ließ sie alle aufhorchen.

"Das sind sie", murmelte der Mann, der das Zeichen gegeben hatte. "Die Götter der Tiefe... Los! Fangt an!"

"Werden Sie unser Opfer annehmen, Paco?", flüsterte jemand hinter ihm.

"Wir können nur hoffen..."

"Und wenn nicht?"

"Dann sind wir verloren", antwortete Paco. "Und nicht nur wir... Sie werden aus der Tiefe kommen..."

Fackeln wurden entzündet.

Die grauen Nebelschwaden schienen sich wie die Tentakel eines formlosen Ungeheuers den Booten entgegenzurecken.

Caballitos nannten die Indios diese aus den Blättern der Totora-Pflanze gefalteten Boote - das bedeutete "Pferdchen".

Es war ziemlich riskant, damit soweit hinauszufahren. Aber sie hatten keine andere Wahl.

Paco setzte den Hut ab. Dann hob er die Arme gen Himmel.

"Maquatli queresen Ky'aram'nur", murmelte er. Eine Silbenfolge, die einer uralten, längst vergessenen Sprache entlehnt war. Paco wiederholte sie immer wieder. Sein Gesicht wirkte angestrengt. Er hatte die Augen geschlossen, während das Mondlicht auf sein Gesicht schien.

Die anderen fielen in diesen Singsang mit ein, hoben die Arme und murmelten diese uralten Beschwörungsformeln vor sich hin.

Das dumpfe grollende Geräusch tief unter ihnen in der namenlosen Dunkelheit unter Wasser, ging in den heiseren Stimmen der Männer beinahe unter.

Erst als es lauter wurde, verstummten sie abrupt.

Wie gebannt blickten die Indios auf zwei leuchtende Punkte, die unter der Wasseroberfläche sichtbar wurden. Ein grünliches Schimmern erfüllte diese Punkte, die wie von Fluoreszenz erfüllte Augen aussahen.

Die Indios hielten den Atem an.

Paco rief: "Jetzt!"

Auf dem Boot wurde ein in Lumpen gehülltes Bündel ausgepackt.

Das Mondlicht fiel in das Gesicht eines grauhaarigen Mannes in den mittleren Jahren. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals, das Jackett hatte sichtlich gelitten.

Gesicht und Körper des Mannes waren vollkommen starr.

Nur die Augen...

Sie bewegten sich, waren weit aufgerissen.

Angst leuchtete aus ihnen. Namenloses Entsetzen. Der Mann schien die Lippen aufreißen und schreien zu wollen. Aber aus irgendeinem Grund konnte er das nicht. Nicht einmal ein Muskel zuckte in seinem blassen Gesicht.

Paco sah den Mann kurz an.

Dann gab er dem Indio, der den Gefangenen aus den Lumpen herausgewickelt hatte, ein Zeichen.

Mit schreckgeweiteten Augen, in denen das pure Grauen zu lesen war, wurde er über den Bootsrand gerollt. Er plumpste ins Wasser, ohne sich zu bewegen. Wie ein Toter.

Ein gurgelnder Laut kam aus der dunklen Tiefe.

Dieses Geräusch wurde lauter, klang jetzt wie ein gefräßiges Knurren. Die anwesenden Indios zuckten unwillkürlich zusammen, als sich ein schattenhafter Arm als dunkler Schemen aus dem Wasser heraushob, sich um den reglosen Körper des Mannes legte und ihn dann mit sich in die Schwärze riss. Es gurgelte, schmatzte, knackte... Ein Schwall von Luftblasen stieg empor und zerplatzte an der Oberfläche.

Die wie dämonische Augen aussehenden grellgrünen Lichtpunkte begannen zu pulsieren. Sie wurden kleiner und schienen sich zu entfernen. Die Gurgelgeräusche waren kaum noch zu hören.

Paco war kreidebleich. Er zitterte am ganzen Körper und atmete schwer.

Die Maquatli haben unser Opfer angenommen!, dachte er, aber noch stellte sich keine Erleichterung ein.

Wie mechanisch hob er erneut die Arme und rief: "Dank den uralten Göttern der Tiefe!"

Seine Stimme klang schwach und brüchig.

"Dank den Göttern der Tiefe!", antworteten die anderen Anwesenden, während die ausgreifenden Nebelarme sie fast erreicht hatten.

image
image
image

2

image

Ein eisiger Schauder erfasste mich, als ich die dunkle Wasseroberfläche sah. Ich zitterte und fühlte diese furchtbare Kälte, die alles zu durchdringen schien. Eine Kälte, die mir keines natürlichen Ursprungs zu sein schien.

Und dann sah ich diese beiden...

AUGEN!

Ich hätte es nicht anders beschreiben können. Zwei Lichtpunkten gleich schienen sie mich aus dem Dunkel des Wasser anzublicken. Der kalte, mitleidlose Blick eines unheimlichen Wesens...

"Patricia!"

Die Augen, die mich aus dem Wasser anzusehen schienen, waren auf einmal nicht mehr da.

"Patti!"

Der Klang einer bekannten Stimme riss mich aus der Vision heraus, die mich so unverhofft in ihren Bann gezogen hatte.

Mir war leicht schwindelig. Langsam begriff ich, wo ich mich befand: Im Archiv der LONDON EXPRESS NEWS, jener Zeitung, bei der ich als Reporterin angestellt war. Das Archiv lag im Keller des Verlagsgebäudes und wurde unter der Journalistencrew des täglich erscheinenden Boulevardblattes oft als DIE KATAKOMBEN bezeichnet.

Jemand fasste mich bei der Schulter. Ich drehte mich herum und sah in ein Paar meergrüner Augen.

"Tom!", stieß ich hervor.

Ich atmete tief durch, legte den Kopf an seine Schulter und ließ mich in den Arm nehmen. Tom Hamilton arbeitete wie ich seit einiger Zeit für die LONDON EXPRESS NEWS. Ich hatte mich unsterblich in diesen geheimnisvollen Mann verliebt.

"Was ist los, Patti?"

"Ich sah zwei leuchtende Augen in einem dunklen Gewässer vor mir..." Mir schauderte jetzt noch bei dem Gedanken. "Es war so real..."

Tom Hamilton wusste von meiner leichten übersinnlichen Begabung, die sich zumeist in seherischen Träumen und Visionen zeigte, in denen ich die Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten vermochte.

Doch normalerweise war es noch immer so, dass ich von Träumen und Visionen oft genug mehr oder minder heimgesucht wurde. Bilder aus der Zukunft oder von weit entfernten Orten.

Traumsequenzen, von denen ich wusste, dass sie vielleicht mit meinem Leben zu tun hatten. Manchmal war es grausam, zu ahnen, was geschah und doch nichts dagegen tun zu können.

Ich sah Tom an, verlor mich einigen Augenblick lang in dem ruhigen Blick seiner grünen Augen, die mich immer an das Meer und den Geruch von Seetang erinnerten. Dunkles Haar umrahmte sein Gesicht.

"Ich bin froh, dass du da bist", murmelte ich.

"Ich würde dir gerne helfen", sagte er.

Ich lächelte matt, noch immer etwas unter dem Eindruck der Vision stehend. "Das tust du schon", sagte ich. "Einfach durch deine Anwesenheit... Durch deine Liebe!"

Er lächelte.

"Du machst mich verlegen", meinte er.

"Das glaube ich dir nicht", erwiderte ich.

Wir lachten beide. Und für einen Moment vergaß ich sogar die eigenartige Erscheinung, die ich gehabt hatte und von der ich mich fragte, was sie mit mir und meinem Schicksal zu tun haben würde...

"Ich hatte dich schon gesucht", erklärte Tom Hamilton dann. "Der Chef will uns nämlich möglichst bald in seinem Büro sehen..."

"Swann?"

Ich musste unwillkürlich durchatmen. Wenn der gestrenge Chefredakteur der LONDON EXPRESS NEWS uns in sein Büro zitierte, dann konnte das in diesem Augenblick nur eins bedeuten...

"Ich schätze, es geht um die Sache mit der von-Schlichten-Expedition", vermutete ich.

Tom nickte.

"Da dürftest du recht haben."

Er nahm meine Hand, drückte sie zärtlich. Und im nächsten Moment trafen sich unsere Lippen zu einem Kuss voller Leidenschaft. In Augenblicken wie diese wünschte ich mir, dass die Zeit anhalten würde und ich das Glück, das ich empfand, für immer festhalten konnte...

image
image
image

3

image

Mein journalistisches Spezialgebiet war der Okkultismus und alles, was irgendwie mit übersinnlichen Fähigkeiten oder Parapsychologie zusammenhängt. Angesichts der Tatsache, dass ich selbst eine leichte übersinnliche Begabung hatte, war das nicht verwunderlich.

Tom teilte dieses Interesse für das, was mit den Mittel der heutigen Wissenschaft noch nicht hinlänglich zu erklären war. Und auch das hatte einen sehr persönlichen Grund. Tom Hamilton hatte vor seiner Anstellung bei den LONDON EXPRESS NEWS bei einer großen Nachrichtenagentur als Überseekorrespondent gearbeitet, unter anderem auch in Asien. Während eines Aufenthalts in Indochina war er in das Kloster von Pa Tam Ran gelangt. Die dortigen Mönche hatten ihn in geheimnisvolle Konzentrationstechniken eingeweiht, die dazu führten, dass die Kräfte des menschlichen Geistes in ungeahnter Weise gebündelt werden konnten. Während seiner Zeit in Pa Tam Ran hatte Tom erkannt, dass die seltsamen Träume, unter denen er seit frühester Jugend gelitten hatte, in Wahrheit Erinnerungen an frühere Leben darstellen. Er sprach nicht oft darüber und wenn, dann wurde er nie sehr ausführlich.

Immerhin hatte er mir überhaupt davon erzählt, was gewiss keine Selbstverständlichkeit war. Für jeden, der mit dem Ungewöhnlichen in Berührung gekommen ist, ist es schwer, sich zu offenbaren. Denn zumeist stößt man nur auf Unglauben, Schulterzucken oder Spott. Und so war Tom umgekehrt auch einer der ganz wenigen Personen, die von meiner eigenen Gabe wussten.

Tom und ich durchquerten das Großraumbüro, in dem die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS untergebracht war.

Irgendwo in diesem hektischen Gewühl hatte auch ich meinen Schreibtisch.

Michael T. Swann hatte ein eigenes, abgeteiltes Büro. Die Tür stand halb offen, als wir eintraten. Ich klopfte gegen den Türrahmen.

Swann saß hinter seinem völlig überladenen Schreibtisch, auf dem sich Manuskriptstapel in bedenklicher Weise stapelten. Man erwartete jederzeit, dass einer der schiefen Türme, die es dort gab, jeden Augenblick in sich zusammenstürzen konnte.

Swann, ein breitschultriger, etwas hemdsärmeliger Mann sah mit leicht gerötetem Kopf in unsere Richtung.

"Ah, da sind sie ja", knurrte er. Er umrundete den Schreibtisch und deutete auf die schlichte Sitzgruppe, die er in seinem Büro stehen hatte.

Das bedeutete, dass es etwas länger dauerte.

Für die von-Schlichten-Story konnte das eigentlich nichts Gutes bedeuten. Insgeheim hatte ich auf ein einfaches "Ja!" gehofft, aber das war es wohl nicht, was wir nun zu hören bekommen würden.

Wir setzten uns.

Swann musterte uns nachdenklich und fuhr sich dann mit der flachen Hand über das Gesicht.

"Ich habe nichts dagegen, dass Sie sich von diesem Archäologen - wie hieß er doch noch?"

"Professor Dr. Dietrich von Schlichten", sagte ich schnell.

"Ah, ja, richtig. Ich habe also nichts dagegen, wenn Sie diesen Mister von Schlichten dabei begleiten, wenn er eine mysteriöse Unterwasserstadt im Titicaca-See untersuchen möchte. Aber dieser See liegt unglücklicherweise in den bolivianischen Anden! Das ist nicht gerade ein Ziel, das im normalen Spesenrahmen unserer Zeitung liegt. Zumindest dann nicht, wenn es nicht eine Riesenstory ist."

"Wenn man so denkt, kann man an die Riesenstories doch gar nicht herankommen", gab ich zu bedenken.

"Ich sage nicht, dass ich so denke", erklärte Swann. "Ich bin Journalist mit Leib und Seele, das wissen Sie! Aber die Geschäftsleitung sieht in letzter Zeit auf jeden Penny, der in unseren Spesenabrechnungen steht. Der Konkurrenzkampf ist hart..."

"Mr. Swann!", mischte sich jetzt Tom ein. "Das ist nicht irgendeine Ruine, die da in den Tiefen des Titicaca-Sees gefunden wurde..."

"...und Professor von Schlichten ist nicht irgendein Archäologe, sondern die vielleicht größte Kapazität auf diesem Gebiet seit vielen Jahren", vollendete Swann. "Ich weiß. Und dennoch muss ich darauf achten, das Geld des Verlages nicht zum Fenster rauszuwerfen, sonst fliege ich nämlich irgendwann mit hinaus. Und in den oberen Etagen denkt man nun mal, dass es den Aufwand nicht lohnt und man besser die Pressemeldung irgendeiner Agentur abschreiben kann, wenn bei der von-Schlichten-Expedition wirklich etwas herauskommt!"

Ich konnte es nicht fassen.

Dietrich von Schlichten, dieser geniale Archäologe und Tiefseetaucher hatte im Titicaca-See nichts anderes entdeckt als Gebäude, die wahrscheinlich 10 bis 15 Millionen Jahre alt waren. Selbst nach optimistischsten Schätzungen hatte damals noch kein Mensch existiert - nicht einmal in Form von affenartigen Vorläufern.

Aber von Menschenhand schienen diese Gebäude auch gar nicht errichtet worden zu sein. Spuren einer zweifellos intelligenten Spezies, die die Erde lange vor dem Menschen bevölkert hatte, ohne dass man bislang ihre Spuren gefunden hatte. Gleichgültig, ob die Erde selbst die unbekannten Wesen hervorgebracht hatte oder sie von den Sternen gekommen waren, wie einige voreilige UFO-Jünger schon jetzt meinten behaupten zu können - dieser Fund im Titicaca-See war in meinen Augen die größte Sensation seit Jahren.

Eine Nachricht, die unser aller Bewusstsein von der Bedeutung des Menschen auf diesem Planeten verändern konnte.

Wir waren nicht die einzigen intelligenzbegabten Geschöpfe gewesen, die einen Fuß auf diese Welt gesetzt hatten.

Woher die Unbekannten auch immer gekommen sein mochten...

Ich sah Mr. Swann sehr ernst an.

"Das Problem ist, dass Tom und ich Professor von Schlichten bereits zugesagt haben, an seiner Expedition teilzunehmen!"

"Was?" Swann runzelte die Stirn.

"Nur den guten Kontakten meiner Großtante ist es zu verdanken, dass wir überhaupt mit ihm in Kontakt gekommen sind. Von Schlichten ist ein sehr öffentlichkeitsscheuer Mensch. Und wenn unsere Verlagsoberen glauben, sie bekämen eine preisgünstige Pressemeldung über eine Agentur, dann haben sie sich aber geschnitten! Von Schlichen ist nicht der Mann, der von sich aus an die Agenturen gehen würde, damit sie seine Forschungsergebnisse verbreiten..."

"Wir würden notfalls auf eigene Kosten fahren", erklärte Tom Hamilton.

Swann war perplex.

Damit hatte er nicht gerechnet.

"So wichtig ist Ihnen die Sache?", staunte er. Er sah mich an und wirkte sehr nachdenklich dabei. "Dann fliegen Sie. Ich nehme das auf meine Kappe... Eine Reise nach Südamerika lässt sich zwar kaum in einem anderen Spesenposten einfach tarnen, aber ich finde schon einen Weg... Wenn es allerdings Ärger gibt, müssen Sie damit rechnen, dass Sie tatsächlich auf Ihren Kosten sitzenbleiben!"

"Notfalls verkaufe ich meinen 190er Mercedes", meinte ich leichthin, obwohl ich im Traum nicht daran gedacht hätte, dieses Geschenk meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing zu veräußern.

Swann ließ zum ersten Mal ein Lächeln aufblitzen. "Ich hoffe nicht, dass es zum äußersten kommt", erklärte er. "Sie können gehen..."

Die Art und Weise, auf die er uns verabschiedete hatte fast etwas Militärisches an sich. Michael T. Swann wirkte auf den ersten Blick etwas unwirsch und mitunter konnte er auch mal aus der Haut fahren. Im Grunde steckte in diesem bärbeißigen Mann allerdings der gute Kern eines Menschen, der von seiner Arbeit geradezu besessen war. Sein oberstes Ziel war es, die LONDON EXPRESS NEWS dort zu halten, wo er seiner Meinung nach hingehöre - nämlich ganz oben. Und diesem Ziel ordnete er alles unter. Ein Privatleben besaß er nicht. Er war der erste morgens in der Redaktion. Und abends ging er als letzter.

Die angenehme Seite an ihm war, dass er Leistung immer ehrlich respektierte. Darum hatte ich auch keinerlei Probleme mit ihm.

Er mit mir inzwischen auch schon lange nicht mehr.

Tom und ich erhoben uns aus den schlichten Sesseln in Mr. Swanns Büro und wandten uns in Richtung Tür.

Dort angekommen blieb ich kurz stehen.

"Mr. Swann?"

Er blickte auf, runzelte etwas die Stirn.

"Ja, was ist noch Patti?"

"Warum tun Sie das?"

"Was?"

"Die Sache auf Ihre Kappe nehmen!"

Er zuckte die breiten Schultern. "Ich bin immer gut damit gefahren, mich auf Ihren journalistischen Instinkt zu verlassen, Patti! Sie haben die berühmte Nase, die man für diesen Job halt braucht." Sein Finger zeigte plötzlich in meine Richtung. "Kommen Sie mir also nicht ohne die versprochene Riesenstory zurück, Patti!"

"Ich werde mir Mühe geben!"

"Das weiß ich."

image
image
image

4

image

Als ich am Abend mit meinem kirschroten 190er Mercedes nach Hause fuhr, hatte es zu nieseln begonnen. Ich kam ziemlich spät aus der Redaktion. Eine Flugzeugkatastrophe hatte das gesamte Layout in letzter Minute über den Haufen geworfen.

Alle Artikel mussten in Windeseile um ein paar Zeilen gekürzt werden, um Platz für diese aktuelle Nachricht zu schaffen.

Aber für uns Reporter war das das tägliche Brot.

Ich war ziemlich müde.

Der Regen wurde heftiger.

Quälend langsam ging es durch den abendlichen Londoner Verkehr. Ich überlegte, ob es in Städten dieser Größenordnung überhaupt irgendeine Zeit gab, in der man die Straßen frei hatte. DIE STADT, DIE NIEMALS SCHLÄFT, hatte Frank Sinatra über New York gesungen. Und über London hätte man ähnliches behaupten können.

Ich war in Gedanken, als ich die Ampel erreichte.

Mittlerweile konnten die Wischblätter meiner Scheibenwischer das Regenwasser kaum bewältigen, das auf die Frontscheibe des 190ers platschte.

Draußen war es dunkel.

Von den Lichtern der Stadt war nicht viel zu sehen.

Ich atmete tief durch.

Ich dachte an Tom und daran, wie unser gemeinsames Leben weiter verlaufen würde... Tante Lizzy - so nannte ich meine Großtante Elizabeth Vanhelsing - hatte mich schon gefragt, wann wir zusammenziehen würden. Ganz soweit war es noch nicht, aber auf der anderen Seite konnte ich mir ein Leben ohne diesen Mann kaum noch vorstellen.

Und doch...

Manchmal blieb er wie ein Rätsel für mich. Er schien immer etwas zurückzuhalten. Hinter seinen meergrünen Augen lagen Geheimnisse verborgen, von deren Existenz ich nur ahnen konnte. Dutzende von Leben hatte Tom gelebt, war gestorben und wiedergeboren worden. Vielleicht war das bei uns allen der Fall - aber Tom konnte sich an seine früheren Existenzen erinnern. Und auf gewisse Weise machte ihn das einsam. Seine Erinnerungen aus früheren Leben konnte er mit niemandem wirklich teilen, selbst wenn er davon berichtete.

Eine plötzliche Bewegung ließ mich zur Seite blicken.

Ein grünliches Leuchten war da.

Zwei Augen...

Neben mir, auf dem Beifahrersitz schien auf einmal eine dunkle Wasseroberfläche zu sein. Aus der Tiefe drang ein gurgelndes Geräusch...

Das Leuchten in diesen unheimlichen Augen begann zu pulsieren...

"Nein!"

Ich schrie auf, drückte mich gegen die Fahrertür.

Ich hörte eine eigenartige Folge von Silben. Worte, die ich nicht verstand. Sie klangen, als ob sie einer uralten, längst vergessenen Sprache entlehnt waren.

So unvorstellbar alt...

MAQUATLI QUERESEN KY'ARAM'NUR...

Ich schluckte.

Eine heisere Stimme wiederholte immer wieder diese Worte, bis sie in meinem Kopf dröhnend widerhallten. Ich presste mir die Hände gegen die Schläfen, und schrie...

MAQUATLI QUERESEN KY'ARAM'NUR...

Ich schrie, bis meine Stimme diese unheimlichen, angsteinflößenden Worte übertönte...

Das Wasser neben mir bewegte sich. Blasen stiegen empor.

Das gurgelnde Geräusch wurde lauter. IRGEND ETWAS stieg aus dieser finsteren, unergründlichen Tiefe empor. Etwas Dunkles, Schattenhaftes...

Eine Art Tentakel erhob sich aus dem Wasser, griff nach meinem Handgelenk. Ich konnte das glitschige, kalte ETWAS wirklich SPÜREN. Ein eisiger Schauer jagte meinen Arm hinauf. Eine Kälte, die alles durchdrang, die jede Faser meines Körpers und meiner Seele erzittern ließ. Der Geruch von Moder und Verwesung stieg mir in die Nase.

Die Aura unvorstellbaren Alters, ging es mir durch den Kopf.

Das gurgelnde, schmatzende Etwas aus der Tiefe begann zu ziehen. Ein Sog entstand... Ich hatte das Gefühl, zu taumeln, zu fallen....

"Nein!"

Ich schrie wie wahnsinnig.

Vor meinen Augen drehte sich alles, während ich in den namenlosen Schlund stürzte, der vor mir gähnte.

Beobachtet von zwei grünlich schimmernden Augen, die mich kalt musterten.

ICH ERFRIERE!

Diese Empfindung ließ mich einfach nicht los.

DIES IST NUR EINE ILLUSION, PATTI! EINE SPIEGELUNG DEINES GEISTES...

Mit ohnmächtiger Verzweiflung versuchte ich mir das immer wieder klarzumachen.

UND WENN NICHT?

Vielleicht war ich bereits in eine andere Welt hinübergerissen worden - auf welch geheimnisvolle Weise auch immer. Ich fühlte, wie mein Kopf in das dunkle Wasser eintauchte.

Ich konnte nicht mehr schreien.

Immer tiefer sank ich in das dunkle Nichts hinein.

Dem Tod entgegen, so war ich überzeugt. Ich fühlte, wie meine Lebenskräfte mehr und mehr versiegten. Lethargie erfasste mich. Gleichgültigkeit breitete sich in mir aus.

Was ist geschehen?, dachte ich. Ich verstand es nicht, aber nun spielte das alles keine Rolle mehr. Nun, kurz vor dem Ende...

image
image
image

5

image

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als ich die Augen öffnete. Ich blickte in das Gesicht eines grauhaarigen Mannes mit weißem Kittel, der mich bei den Schultern gepackt hatte.

Es dauerte ein paar Sekunden, ehe ich begriff, dass ich mich noch immer hinter dem Steuer meines kirschroten 190ers befand. Panische Angst stieg innerhalb eines Sekundenbruchteils in mir auf. Ich blickte zur Seite. Aber da war nichts, was dort nicht hingehört hätte. Ich sah den Beifahrersitz, auf den ich meine Handtasche gelegt hatte. Ich griff nach ihr, so als müsste ich mich erst davon überzeugen, dass das, was ich sah, der Realität entsprach. Ich fühlte das Leder in der Hand. Ein gutes Gefühl, dachte ich. Ein sehr gutes... Innerlich atmete ich auf.

"Wie geht es Ihnen?", fragte der Mann im weißen Kittel.

Die Fahrertür stand offen. Regen und Kälte drangen herein.

Irgendwo aus der dunklen Nacht heraus waren die Motorengeräusche von Dutzenden von Wagen zu hören. Jemand hupte.

Die Ampel stand auf grün.

Ich sah den Mann im weißen Kittel an.

"Was ist passiert?", fragte er.

"Nichts", sagte ich. Meine eigene Stimme klang entsetzlich schwach. Ich fühlte mich schwindelig. Und jetzt stiegen die Erinnerungen in mir auf. Erinnerungen an etwas, das vielleicht eine Art Vision gewesen war, die mit meiner Gabe in Zusammenhang stand.

Eigentlich kannte ich diese Tagtraumvisionen, Alpträume oder Ahnung inzwischen gut genug, um sie zweifelsfrei als Ausdruck meiner übersinnlichen Begabung zu erkennen.

Seit meinem zwölften Lebensjahr kannte ich derartige Erscheinungen. Ich hatte damals den Tod meiner Eltern vorhergesehen, der sich schließlich auch genau so zugetragen hatte, wie ich es bereits im Voraus GEWUSST hatte.

So hatte ich inzwischen wirklich mehr als genug Übung darin, die Erscheinungsformen zu erkennen, in denen sich meine Gabe zeigte.

Aber diesmal war ich mir nicht sicher.

Die Intensität dieser Vision war bei weitem über alles hinausgegangen, was ich bisher erlebt hatte. Ich bemerkte, dass ich zitterte.

"Warten Sie, ich gebe Ihnen etwas zur Beruhigung", meinte der Mann im weißen Kittel.

"Nein, nein, danke", sagte ich. "Es geht schon."

"Wirklich?"

"Ja, ja... Wer hat Sie eigentlich gerufen?"

"Ein freundlicher Mensch, der das Pech hatte, dass Sie mit Ihrem Mercedes die Fahrspur blockiert haben, auf der er abbiegen musste."

"Tut mir leid..."

Er fühlte meinen Puls.

"Es ist wirklich alles in Ordnung", meinte ich.

Er lächelte matt. "Sie sind Medizinerin?"

"Das nicht gerade."

"Na, also!"