Anna Martach Roman - Jenny und der neue Vater

Anna Martach Roman, Volume 1

Anna Martach

Published by Cassiopeiapress/Alfredbooks, 2018.

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Jenny und der neue Vater | von Anna Martach

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Jenny und der neue Vater

von Anna Martach

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Ein CassiopeiaPress E-Book

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© der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

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WO BEKOMMT MAN EINEN Zauberstab? Das möchte ich auch lernen!“ Die Stimme von Jenny Hillersen klang wehmütig. Das zwölfjährige Mädchen hockte, wie schon oft vorher, auf dem kleinen Hocker am Schmökertisch in der Buchhandlung von Björn König, dem sympathischen Mittdreißiger. Der erfolgreiche Buchhändler hatte eine Vorliebe für Kinder, die hier nach Herzenslust in den Büchern lesen durften – und ganz besonders hatte er Jenny ins Herz geschlossen. Das Mädchen las für sein Leben gern, und sie verstand es auch, die Figuren aus den Büchern in ihren Erzählungen lebendig werden zu lassen.

Björn machte das Spaß, denn er war der Meinung, dass Bücher die besten Freunde sein konnten. Aus diesem Grunde hatte er in seinem Geschäft überhaupt diese Leseecke eingerichtet, jeder hatte so die Möglichkeit, sich Bücher, die er vielleicht kaufen wollte, erst einmal näher anzusehen.

„In den Zauberkästen, die man im Spielwarengeschäft...“

„Ach nee, Herr König, so was meine ich doch nicht“, unterbrach ihn das Mädchen empört. „Ich rede doch nicht von so einem Kinderkram. Das ist doch kein Zaubern. Und außerdem sind das alles nur Tricks, die schummeln doch. Ich will so einen richtigen Zauberstab, mit dem man was tun kann, was...“ Sie brach ab, stocke und drehte dann den Kopf weg.

Die braunen warmen Augen des Mannes richteten sich fragend, aber auch verständnisvoll auf die Kleine. Schon längst hatte er bemerkt, dass Jenny offensichtlich daheim Probleme hatte, sie wirkte oft bedrückt und unglücklich. Und das waren dann die Zeiten, in denen sie hier noch länger saß als sonst und die Bücher fast in Rekordzeit verschlang.

Doch im Grunde ging ihn das nichts an, er bedauerte nur, dass ein so aufgewecktes und meist auch fröhliches Mädchen wie Jenny darunter leiden mussten, dass ihre Eltern Streit hatten miteinander.

„Weißt du“, versuchte Björn sie jetzt zu trösten. „Manchmal hilft es schon, wenn man sich ganz stark etwas wünscht. Dann geht das auch ohne Zauberstab in Erfüllung.“

„Wünschen kann ich mir viel, aber ich weiß sehr wohl, dass ich nicht im Märchen lebe“, erklärte sie altklug. „Aber wenn ich will, kann ich in den Geschichten leben, die ich lese, das kann auch ganz toll sein. Und jetzt muss ich nach Hause, sonst schimpft meine Mutter, wenn ich zu spät komme. Sie glaubt nämlich, ich bin bei einer Freundin.“

Sie packte ihre Tasche und lief nach einem kurzen Gruß davon.

Björn schaute ihr hinterher. So eine Tochter würde er sich auch wünschen, wenn er könnte. Aber bisher hatte es der sympathische Mann noch nicht einmal geschafft, sich die Frau seiner Träume zu suchen, stets war die Arbeit vorgegangen. Er hatte das Geschäft aufbauen müssen, dass sein Vater vor seinem Tod doch sehr vernachlässigt hatte. Und dann hatte ihn die Arbeit auch weiterhin festgehalten. Selbst wenn er ab und zu auf eine Frau traf, die ihn interessierte, so war diese meist gebunden. Und mittlerweile besaß Björn schon drei Geschäfte, die ihn forderten – da musste es schon einen unglaublichen Zufall geben, wenn er praktisch auf den ersten Blick die Richtige treffen sollte.

Aber die Arbeit füllte ihn aus, und er war nicht unglücklich dabei. Nur in solchen Momenten wie diesen, da er bei Jenny fühlte, wie unglücklich sie war, dann erfasste auch ihn die Sehnsucht nach einer Familie, einer Frau, die Wärme und Liebe geben konnte, und ein oder zwei Kindern, deren Lachen durch das Haus klang, in dem er jetzt meist allein war, abgesehen von der Hauswirtschafterin.

Björn seufzte, und im nächsten Moment forderten wieder die Kunden und Angestellten seine Aufmerksamkeit, der Augenblick der Sehnsucht verging so schnell, wie er gekommen war.

*

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JENNY GING MIT LANGSAMEN Schritten durch den Vorgarten. Schon von hier draußen hörte sie die Stimmen ihrer Eltern, die sich wieder miteinander stritten. Das heißt, Streit konnte man das eigentlich kaum nennen; Alexander Hillersen, Jennys Vater, beschuldigte wieder einmal lautstark seine Frau, sich mit anderen Männern abzugeben, und Kirsten, Julias Mutter, schwieg – auch wie fast immer. Es hätte auch wenig Sinn gemacht zu antworten. Wenn Alexander in dieser Stimmung war, hörte er nicht zu, wollte er nicht zuhören. Soviel hatte das Mädchen jetzt schon begriffen. Nur, warum ihr Vater immer wieder mit solchen Anschuldigen ankam, verstand sie nicht. Denn ihre Mutter war vermutlich die letzte, die einen anderen Mann anschaute, mochte er auch noch so attraktiv sein, sie war ihrem Ehemann treu. Nur hatte ihr Vater sich derart in seine Eifersucht gesteigert, dass er vernünftigen Argumenten nicht mehr zugänglich war.

Heute war jedoch alles ein bisschen anders, wie das Mädchen gleich darauf feststellte, als es das Haus betrat.

„Es reicht jetzt, Alex“, sagte Kirsten plötzlich bestimmt, und Jenny stand mucksmäuschenstill da und spitzte die Ohren.

Ihr Vater hielt plötzlich verblüfft inne, denn Widerspruch war er von seiner Frau gar nicht gewohnt.

„Ich bin deine ewigen grundlosen Verdächtigungen leid. Ich kann ja nicht einmal mehr einkaufen gehen, ohne dass du mir nachspionierst und behauptest, ich hätte mit dem Mann an der Kasse geflirtet. Wir waren einmal glücklich, Alex, aber du bist dabei alles zu zerstören. Ich kann nicht mehr, ich bin deine Eifersucht leid, und ich kann und werde nicht zulassen, dass du Jenny immer wieder mit hineinziehst in diesen Argwohn.“

Für einen Augenblick herrschte Stille, dann war der Stimme des Mannes Verblüffung anzuhören. „Aber ich liebe dich doch, Kirsten. Glaube mir, ich will uns das Leben nicht schwer machen, aber ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.“

„Du hast eine sehr seltsame Art, deine Liebe zu zeigen, denn du benimmst dich eher wie ein Gefängniswärter. Und weil ich so nicht weiterleben kann, halte ich es für das Beste, wenn wir uns eine Weile trennen.“

„Was soll das heißen?“, fragte er fassungslos.

„Jenny und ich werden einige Zeit ausziehen“, verkündete Kirsten jetzt, und Jenny gab es einen Stich ins Herz, dann aber nickte das Mädchen. Vielleicht gab es dann keinen Streit mehr, so hoffte sie.

„Das heißt konkret, dass Jenny und ich zu meiner Mutter ziehen, zunächst einmal. Du kannst dann in Ruhe darüber nachdenken, was du hier falsch machst. Alex, wir haben uns einmal geliebt, und wir waren glücklich miteinander. Du hast jetzt eine allerletzte Chance, das alles wieder in Ordnung zu bringen. So will ich nicht mehr mit dir leben.“

„Das kannst du nicht tun!“, brüllte Jennys Vater jetzt. „Du kannst mich nicht einfach verlassen.“

Ein Schrei von Kirsten ertönte, und jetzt hielt es Jenny nicht mehr in ihrem Versteck. Sie sprang hervor und sah mit angstvoll geweiteten Augen, dass ihr Vater ihre Mutter an den Armen gefasst und gegen die Wand gestoßen hatte.

Jenny begann zu weinen. „Papa, was tust du mit Mama? Wenn ihr euch nicht mehr lieb habt, dann hat Mama recht, dann gehen wir lieber zu Oma. Aber tu ihr nicht weh, bitte!“

Abrupt ließ Alexander seine Frau los, schaute verwirrt auf seine Tochter, und blickte dann voller Abscheu seine Hände an. „Ich – es tut mir leid – ich wollte nicht – nein, Jenny, ich will deiner Mama nicht wehtun. Ich habe sie doch lieb. Aber...“ Er wandte sich ab und verließ mit schweren Schritten das Haus.

Kirsten zog ihre Tochter in die Arme und barg den Kopf an der Brust, dabei selbst krampfhaft die Tränen unterdrückend.

Schließlich hob Jenny den Kopf und schaute ihre Mutter groß an. „Wenn wir jetzt zu Oma gehen, kann ich ein paar meiner Bücher mitnehmen?“

Kirsten seufzte. Ihre Tochter hatte scheinbar die Tragweite dieses Entschlusses noch nicht begriffen.

*

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ICH HABE DOCH GEAHNT, dass ich dich hier finde“, stellte Kirsten etwas besorgt, aber doch liebevoll fest.

Jenny blickte erstaunt von ihrem Buch auf, das sie fasziniert gelesen hatte. Sie war so in die Geschichte vertieft, dass sie nicht bemerkt hatte, dass ihre Mutter gekommen war – und sie hatte völlig die Zeit vergessen. Eigentlich hätte sie längst zuhause sein müssen. Schuldbewusst blickte sie ihre Mutter an.

„Hab ich ganz vergessen, ehrlich, tut mir leid, Mama, soll nicht wieder vorkommen.“

Kirsten grinste unwillkürlich. „Ja, und vermutlich hält dein Versprechen bis zum nächsten spannenden Buch. Aber ich bin doch überrascht, wie nett es hier ist. Und wenn du hier lesen kannst, ohne dass du die Bücher gleich kaufen musst, kann ich verstehen, dass du dich hier nur schwer trennen kannst. Allerdings frage ich mich, ob der Buchhändler sich damit sein Geschäft nicht selbst kaputt macht.“

„Herr König ist sehr nett“, kommentierte Jenny, die ihre Mutter nicht ganz verstand.

„Das bezweifle ich auch gar nicht, mein Schatz. Aber er lebt doch davon, dass er Bücher verkauft, nicht sie hier kostenlos zur Verfügung stellt.“

„Aber gerade das fördert das Geschäft“, klang in diesem Augenblick eine warme, sympathische Stimme auf, und Kirsten drehte sich überrascht um.

Hinter ihr stand Björn, der ihre Worte gehört hatte und jetzt lächelnd seinen Kommentar dazu abgab.

„Ich bin Björn König, und Sie sind Jennys Mutter? Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Er streckte die Hand aus und strahlte Kirsten an.

Sie war erstaunt, so hatte sie sich diesen Mann nach den Erzählungen ihrer Tochter nicht vorgestellt. Er war hochgewachsen und schlank, hatte braune, etwas lockige Haare und ein unglaublich sympathisches Lächeln.

Sie ergriff verlegen die Hand und musste ihrerseits ebenfalls eine Musterung über sich ergehen lassen, die allerdings nur Sekundenbruchteile zu dauern schien. Und was Björn sah, gefiel ihm ausnehmend gut. Kirsten war eine schlanke Frau von zweiunddreißig Jahren, vielleicht einen halben Kopf nur kleiner als er. Aschblondes Haar trug sie in einer gut geschnittenen Frisur, und ihr schmales Gesicht besaß grüne Augen und einen leuchtend roten Mund. Sie war eine attraktive Erscheinung, und er bedauerte wieder einmal, dass die besten Frauen augenscheinlich immer schon vergeben waren.

„Verzeihen Sie, ich wollte Sie natürlich nicht kritisieren. Und – ja, ich bin Kirsten Hillersen, Jennys Mutter. Schön, dass ich auch Sie einmal kennenlerne.“

Zwischen beiden Erwachsenen bildete sich eine Verlegenheit, die Jenny sehr wohl spürte, aber nicht recht einzuordnen wusste. Mochten die sich nun, oder war das gegenseitige Abneigung?

Plötzlich aber lächelte Björn die Frau an. „Ich habe Ihre Worte nicht als Kritik empfunden, ganz im Gegenteil. Ich freue mich, wenn ich jemanden so verblüffen kann. Und glauben Sie mir, Frau Hillersen, es rechnet sich. Nicht viele Leute nehmen sich die Zeit ein Buch im Ganzen hier zu lesen. Doch sie haben häufig Appetit darauf bekommen, also wird das Buch gekauft. Oder die Kunden merken, dass es ihrem Geschmack nicht entspricht, das bewahrt sie dann vor einem Fehlkauf. Und ich persönlich schätze es sehr, zufriedene Kunden zu haben.“

„So habe ich das noch gar nicht gesehen“, gestand Julia, die aufmerksam zugehört hatte. „Aber dann gibt es ja auch noch meine Tochter zum Beispiel, die zwar fast ihr gesamtes Taschengeld für Bücher ausgibt, wie ich sehr wohl weiß, aber dennoch viel Zeit hier verbringt, um Ihre Freundlichkeit auszunutzen.“

„Aber nein“, lachte er belustigt auf. „Kommen Sie, setzen wir uns erst einmal und trinken einen Kaffee, den biete ich nämlich auch an. Und ich empfinde mich nicht als ausgenutzt, wenn eine so lesehungrige junge Dame wie Jenny hier viel Zeit verbringt, um all das in ihren kleinen Kopf hineinzustopfen, was ihr vielleicht noch gar nicht verständlich ist. Ich freue mich ganz einfach darüber und unterhalte mich auch mit ihr über das Gelesene.“

„Sie sind ein seltsamer Mann“, stellte Kirsten überrascht fest. „Aber ich glaube, jetzt verstehe ich immer mehr, Jennys Vorliebe für Ihr Geschäft.“

Kirsten nahm eine Tasse mit einem köstlich duftenden Kaffee entgegen und übersah das Grinsen im Gesicht ihrer Tochter, die sich auch gleich darauf wieder hinter ihrem Buch verstecke, das sie eifrig las. Natürlich hielt das Mädchen auch weiterhin die Ohren gespitzt, doch darüber sah ihre Mutter großzügig hinweg.

Kirsten genoss im Augenblick ganz einfach die Tatsache ein Gespräch mit jemandem zu führen, der einfach nur nett war, außerdem klug und intelligent schien – und zusätzlich ungeheuer sympathisch.

Die beiden waren plötzlich so in ihr Gespräch vertieft, dass auch Kirsten nicht mehr auf die Zeit achtete, bis ihr Blick plötzlich auf eine Uhr fiel und sie erschreckt aufseufzte. „Ach herrjeh, jetzt habe ich aber genug von Ihrer kostbaren Zeit gestohlen. Und meine Mutter wird bereits ungeduldig warten mit dem Abendessen. Ich danke Ihnen sehr, Herr König, Sie haben mein schlechtes Gewissen doch etwas beruhigt. Ich hatte mir wirklich Gedanken darüber gemacht, dass Jenny Ihnen auf die Nerven gehen könnte.“

„Ganz im Gegenteil, sie ist herzlich willkommen, jederzeit. Und Sie auch“, setzte er hinzu, und Kirsten lief plötzlich ein Schauder über den Rücken. Wann hatte sie zum letzten mal empfunden, dass jemand ihr das Gefühl gab wichtig und willkommen zu sein? Bei ihrem Mann Alexander war das schon lange nicht mehr so gewesen. Seine ständigen Anfälle von Eifersucht hatten mittlerweile jedes Gefühl von Zuneigung in ihr absterben lassen.

Aber in diesem Augenblick fühlte sie sich wieder als Frau – als begehrenswerte Frau. Und Kirsten fand, es war ein prickelndes, sehr erregendes Gefühl. Und dennoch hatte sie ein schlechtes Gewissen und große Verlegenheit, als sie sich jetzt verabschiedete.

Björn starrte ihr hinterher, Sehnsucht im Blick. Warum mussten die besten aller Frauen immer schon vergeben sein?

*

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JENNY WAR IN LETZTER Zeit auffallend bedrückt, das war für Björn in den letzten Tagen nicht mehr zu übersehen gewesen. Doch es war nicht seine Art, sich in die Probleme anderer Leute einzumischen. Aber das Mädchen erweckte Mitleid in ihm. Und als sie still und blass in eine Ecke gekuschelt dasaß, konnte er einfach nicht mehr darüber hinweggehen. Er setzte sich neben sie, und Jenny schaute kaum auf, obwohl sie unendlich froh darüber war, dass er neben ihr saß. Aber sie wusste nicht sofort die rechten Worte zu finden, um ihrem großen Freund zu erzählen, was sie bedrückte.

„Weißt du, Jenny, als ich so alt war wie du, da starb mein Großvater. Er war mir immer ein guter Freund, und es traf mich tief, dass er von einem Tag auf den anderen nicht mehr da war. Aber ich hatte einen guten Freund, mit dem ich darüber reden konnte. Und das hat mir sehr geholfen.“

„Ja“, sagte sie leise. „Ein guter Freund ist jemand, mit dem man über alles reden kann. Und auch jemand, der manchmal eine Antwort gibt. Ich habe mit allen meinen Freunden aus den Büchern geredet, aber keiner davon konnte mir antworten.“

„Aber sie leben in deiner Phantasie.“

„Natürlich“, erklärte sie bestimmt. „Aber ich weiß auch, dass das kein richtiges Leben ist, und dass man immer noch jemanden braucht, der wirklich ist. Wissen Sie, Herr König, das alles ist gar nicht so einfach, denn ich bin ja noch ein Kind und kann die Erwachsenen gar nicht immer verstehen.“

„Und was verstehst du nicht?“, forschte er sanft. „Wenn ich dir helfen kann, will ich das gerne tun.“