Steine aus dem Weg räumen
Doch diese Harmonie, die aus der roten Energie stammt, ist nicht selbstverständlich. Sie kann uns verloren gehen, wenn wir uns nicht frei fühlen, das zu leben, was in uns steckt.
Von dieser Stärke, nach unserer inneren Wahrheit zu leben, fühlen wir uns häufig abgeschnitten. Wir fühlen uns dann gefangen in Rollen, die nicht unserem wirklichen Wesen entsprechen.
Das Bestreben, es allen recht zu machen, ist beispielsweise eine Rolle, in der wir Frauen uns oft wiederfinden. Wir neigen immer wieder dazu, uns aus Rücksicht auf andere in den Hintergrund zu stellen. Es kann in einem guten Maße durchaus ein Grad der Reife sein, sich zugunsten eines Schwächeren zurücknehmen zu können. Aber wenn wir nicht mehr frei sind zu wählen, wann wir die Wünsche anderer erfüllen wollen und wann wir unsere eigenen leben wollen, dann sind wir in Gefahr, uns für andere aufzugeben.
Viele Frauen haben mir erzählt, dass sie in ihrem Leben öfter Sätze gehört haben wie »Sei nicht so egoistisch!«, »Nimm dich nicht so wichtig!« oder »Die anderen sind wichtiger!«. Wenn sie diese Haltungen verinnerlicht haben, erscheint es ihnen dann wie ein Fehler, auf sich zu schauen und den eigenen Wünschen nachzugehen. Zumindest haben sie dabei immer ein schlechtes Gewissen.
Frauen sind in einer solchen Haltung von den Erfahrungen aus der Vergangenheit bestimmt. Diese Vergangenheit ist zwar vorbei, doch unser Gebundensein daran ist vielfach geblieben. Dieses Unfreisein raubt uns auf Dauer Energie und Lebensfreude. Wir fühlen uns zunehmend frustrierter, weil wir eigene Bedürfnisse von früher her negativ bewerten. Es ist zugleich enorm anstrengend, die eigenen Wünsche immer wieder zu unterdrücken und uns damit einen Teil der eigenen Lebenslust zu versagen.
In meinen Kursen habe ich Frauen erlebt, die erkannt haben, dass sie diese Rolle der Aufopferung wählen, weil sie sich davon insgeheim auch etwas erwarten. Oft geben sie anderen so viel, weil sie sich in ihrem Tiefsten nach Anerkennung sehnen und von anderen für ihr Geben geliebt werden wollen. Aber sie bekommen diese Anerkennung selten in der Art und Weise, wie sie es sich erhoffen.
Dieser tiefe Wunsch nach Angenommen- und Geliebtwerden stammt oft aus der eigenen Lebensgeschichte und hat seine Ursache in der Kindheit, in der dieser Wunsch auch immer wieder enttäuscht wurde. Damit gilt der heutige Wunsch nach Geliebtwerden mehr dem Mädchen von damals als der Frau von heute. So ist die Suche vieler Frauen immer rückwärts gerichtet – und das kostet sie viel Energie. Frauen werden die liebende Anerkennung nie in dem Maße bekommen, wie sie es wünschen, denn unbewusst suchen sie immer wieder dort nach Liebe, wo sie nicht zu finden ist. Sie erleben erneut ihre kindliche Enttäuschung, ohne sie letztlich aufzuarbeiten. So wird immer wieder ihr alter Schmerz genährt und am Leben erhalten.
In diese Situation kommen Frauen nicht wegen ihrer persönlichen Schwäche, vielmehr ist diese ganz einfach die Antwort auf einen Mangel, der früher erlebt wurde: Es ist ihr Versuch, das vom Leben zu bekommen, was sie braucht. Dieses Verhalten muss und darf nicht bewertet werden, es ist weder gut noch schlecht. Es ist zunächst einmal, wie es ist.
Wenn eine Frau aber erkennt, dass sie mit ihrer bisherigen Art und Weise zu leben nicht zum Ziel kommt, dann ist es Zeit für einen neuen Weg. Ein neuer Weg braucht dann die klare Entscheidung, das bisherige Muster zu lassen und sich ein neues Ziel zu setzen. Dieses Ziel kann nur heißen: diejenigen Kräfte einzusetzen, die die eigene Lebendigkeit stärken. Dazu gehört auch, dass ich mich als Frau davon unabhängig mache, was andere zu meiner Lebendigkeit sagen.
Viele Frauen haben als Tochter die Anerkennung ihrer Eltern gesucht, aber nie genug Stärkung erfahren. Das bringt sie oft dazu, auch heute noch alles zu tun, um den Eltern zu gefallen. Diese Haltung überträgt sich auch auf andere Menschen und Situationen: Frauen sind dann in Gefahr, in verschiedenen Bereichen ihres Lebens über ihr Maß hinaus zu geben – sei es in der Familie, in ihrer Berufstätigkeit oder in ihrem Engagement für ein Ehrenamt.
Andere nehmen dieses Engagement und diesen Einsatz gerne von ihnen an. Frauen bereichern damit jede Gemeinschaft. Aber sie selbst werden sich irgendwann leer fühlen und bei der geringsten Enttäuschung verletzt sein.
Doch gerade diese Enttäuschungen können uns dazu bringen, eigenständig zu werden und unsere Erwartungen an andere loszulassen. Eine Enttäuschung macht uns fähig, uns auf unsere eigenen Kräfte zu besinnen und in unserer Entwicklung weiterzugehen. So können wir auch erkennen, dass wir nicht mehr das Mädchen von damals sind, das auf die Anerkennung anderer angewiesen war, sondern dass wir heute die Frau sind, die alles in sich hat, was sie braucht. Dann werden wir nicht weiter bereit sein, den Verlust unserer Vitalität und Lebensfreude in Kauf zu nehmen. Wir werden vielmehr Lust haben, jetzt stärker aus der eigenen Kraft zu leben.
Als erwachsene Frau sind wir fähig, uns selbst anzuerkennen und selbstbewusst zu sehen, wer wir sind und was wir leisten. Dann sind wir nicht mehr auf unsere Vergangenheit fixiert, sondern wir können wahrnehmen, in welchen Bereichen wir heute Zustimmung und Gesehenwerden erfahren. Wir können uns daran freuen und es genießen, aber wir sind nicht mehr davon abhängig. Das Lösen aus der Vergangenheit bringt uns neue Energie und erzeugt Lust, unser Leben bewusster in die Hand zu nehmen.
Eine Frau berichtete mir, dass sie als Kind geglaubt habe, weniger geliebt zu sein, wenn sie Gefühle wie Wut oder überschäumende Lebensfreude zeige. Oft sei ihr schon als Mädchen vermittelt worden, dass diese Gefühle nicht richtig seien oder dass sie selbst nicht richtig sei. Dies führte letztlich dazu, dass sie diese Gefühle verleugnet und ihre Wut und ihre intensive Freude in sich vergraben hat. Als Frau ging sie dann sehr streng mit ihrer Lebendigkeit um. Sie bewertete ihre Gefühle nach dem Maßstab von richtig und falsch oder nach stark und schwach. Oft kämpfte sie gegen sich selbst und fühlte sich zwischen der Sehnsucht ihrer Wünsche und der Strenge des Sich-selbst-Verbietens blockiert.
Dieses Blockiertsein, wenn es um den Ausdruck ihrer natürlichen Gefühle geht, spüren viele Frauen. Sie sind unsicher, ob sie sich so zeigen dürfen, wie sie in ihrem Innersten sind, weil sie befürchten, dann weniger gemocht zu werden. Wenn sie aber anderen Menschen begegnen, die spontan und offen ihre Gefühle ausdrücken, wird ihnen oft schmerzhaft bewusst, dass sie durch ihre Zurückhaltung viel an Vitalität verloren haben. Doch in solchen Situationen kann auch ihre Sehnsucht wieder geweckt werden, ursprünglich und aus sich selbst heraus lebendig zu sein. Und wenn sie sich dann klarmachen, dass sie nicht mehr den Regeln der Eltern – oder anderer – verpflichtet sind, sondern sich selbst, kann diese Sehnsucht der Impuls sein zu sagen: »Ab morgen trage ich Rot!«
Der Weg, der uns in unserem Leben voranbringt, gelingt nicht dadurch, dass wir andere verurteilen oder ihnen Schuld zuweisen. Er wird vielmehr möglich, wenn wir aufmerksam werden und spüren, in welcher Situation und wodurch die eigene Kraft gebremst und nicht gelebt wird.
Wir können uns selbst fragen: Fühlt sich das jetzt rot und kraftvoll für mich an oder grau und energielos? Was muss ich verändern, wenn ich hier mehr Farbe und Energie bekommen will? Auf das, was wir fühlen, müssen wir mit einer Handlung antworten. Nur so bekommen wir Energie.