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Rainer Imm ist auf der Ostalb geboren.

Seit seinem Studium (Germanistik, Sportwissenschaft und Internationales Marketing) und einem Auslandsaufenthalt in Oregon (USA) ist er in der Unternehmenskommunikation und als Autor tätig. Er lebt und schreibt in Tübingen.

www.imm-puls.de

RAINER IMM

Das rote
Tagebuch

Ein Baden-Württemberg-Krimi

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Für Günter, Katharina, Ramona und Ecke

Alle Ereignisse und fast alle Personen sind frei erfunden. Die realen Personen sind mit ihrem Einverständnis dargestellt. Dafür bedanke ich mich von Herzen.

1. Auflage 2018

© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Pindiyath100 –

Dreamstime.com

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-8425-2085-1

eISBN 978-3-8425-1792-9

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:

www.silberburg.de

Betrug ist überall und Heuchelschein,
Und Mord und Gift und Meineid und Verrat,
Der einzig reine Ort ist unsre Liebe,
Der unentweihte in der Menschlichkeit
.
Friedrich Schiller

There is a crack in everything,
that’s how the light gets in
.
Leonard Cohen

Open mind for a different view
Forever trusting who we are
And nothing else matters

Metallica

Inhalt

1 Montag, 20. März

2 Montag, 20. März

3 Dienstag, 21. März

4 Dienstag, 21. März

5 Dienstag, 21. März

6

7 Dienstag, 21. März

8 Dienstag, 21. März

9 Dienstag, 21. März

10 Dienstag, 21. März

11 Mittwoch, 22. März

12 Mittwoch, 22. März

13 Mittwoch, 22. März

14 Mittwoch, 22. März

15 Mittwoch, 22. März

16 Mittwoch, 22. März

17 Mittwoch, 22. März

18 Donnerstag, 23. März

19

20 Donnerstag, 23. März

21 Donnerstag, 23. März

22 Donnerstag, 23. März

23 Donnerstag, 23. März

24 Donnerstag, 23. März

25 Donnerstag, 23. März

26 Freitag, 24. März

27 Freitag, 24. März

28 Freitag, 24. März

29 Samstag, 25. März

30 Montag, 27. März

31 Montag, 27. März

32 Dienstag, 28. März

33 Dienstag, 28. März

34 Dienstag, 28. März

35 Mittwoch, 29. März

36 Samstag, 1. April

Steckbriefe

Pit Mueller (»Mueller mit ue«):

Hauptkommissar und offizieller Ermittler.

Status quo:

Routine hat sich in Arbeit und Familienleben so festgesetzt wie die Warze unter der Hornhaut seiner Ferse. »Lassen Sie sie doch einfach, sie stört ja nicht wirklich«, sagt sein Hautarzt.

Vorlieben:

Seine Werkstatt, seine alten Motorräder, die Ausfahrten mit den Kumpels. Rockmusik. Fußball. Der etwas andere Freund Wilhelm.

Image:

»Bluthund Mueller« ist an der Kette! Aber wehe, wenn er sich losreißt!

Motto:

Ein leerer Sack steht selten aufrecht.

Wilhelm Barenbach (»Ich heiße Wilhelm, nicht Willi.«): Zeitungsausträger und inoffizieller Ermittler.

Status quo:

Seit Studienzeiten trägt er Tageszeitungen aus. Er ist enterbt und glücklich dabei.

Vorlieben:

Als Wissens-Junkie frönt er einer Leidenschaft: Er bildet sich ständig weiter. Er fordert Wissenschaftler heraus. Und er hackt Netzwerke – aus Neugier und weil er es kann!

Image:

Er hat autistische Züge mit Inselbegabungen. Wenig kompatibel. Ausnahmen sind seine Lebensgefährtin Ilse und Pit Mueller.

Motto:

Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir nichts passieren.

1

Montag, 20. März

Er stand hinter ihr, griff ihr ins Haar und zog ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten. Sie schrie auf. Versuchte zu schreien. Ein kläglicher, fast lächerlicher Laut durch den Knebel. Sich zu wehren war sinnlos. Trotzdem zerrte sie an den Handfesseln auf ihrem Rücken.

»Ich werde dich bestrafen müssen.« Er flüsterte es in ihr Ohr, grinste debil und bleckte die Zähne. Jack Nicholson in »Shining«.

Wütend wand sie sich. Sein Griff wurde noch fester, ihre Kopfhaut schmerzte. Sie würde ganze Haarbüschel verlieren.

»Was mach’ ich nur mit dir?« Fast buchstabierte er es. Perverse Vorfreude.

Das Messer an ihrer Wange. Sie erstarrte. Spürte, dass es scharf war, sehr scharf. Am Hals. Schlüsselbein. Über die Bluse. Brustwarze. Sie atmete verzweifelt durch den Knebel. Erwartete den Schnitt. Sie war nur noch der Punkt an der Messerspitze.

Plötzlich riss er an der Bluse. Die Knöpfe sprangen weg. Er führte das Messer unter ihren BH, fuhr mit der stumpfen Seite auf die Haut zwischen ihre Brüste. Hielt inne.

»Mir kommt da so eine Idee.« Jack Nicholsons Stimme zitterte. Seltsamerweise. Er zerschnitt die schwarze Seide mit einer schnellen Bewegung weg vom Körper. Dann nahm er überraschend geübt die Fesseln ab, zerrte ihre Bluse über die Arme herunter, auch der BH fiel. Er fixierte wieder ihre beiden Hände – jetzt an einer Klimmzugstange im Türrahmen.

Ein weiterer vergeblicher Versuch, sich zu wehren. Erfolgloser Aktionismus. Er war zu stark und ließ es sie schmerzhaft spüren. Immer noch stand er hinter ihr. Näher. Er roch nach einem herben Männerdeo und Schweiß. Nicht wirklich unangenehm. Ihr wichtigster Sinn meldete Genuss. Jetzt? In dieser Situation?

Sie spürte wieder die Messerspitze auf ihrem nackten Oberkörper, erstarrte sofort. Die kühle Klinge entlang ihrer Schulter, entlang der Wirbelsäule. Sie fror, bekam Gänsehaut, schrie gegen den Knebel, versuchte, dem Messer auszuweichen.

Lendenbereich, Hüfte. Kurven, Linien. Er ritzte ihre Haut auf. Als sie zusammenzuckte, sog er Luft durch die Zähne ein. Einige Tropfen Blut rannen herunter. Ihr Puls an den Schläfen, als er das Messer ohne Hast am unteren Rücken von einer Hüfte zur anderen führte – am Bund ihres Rocks entlang. Er drückte fester auf. Sie fühlte seinen erhöhten Puls über die Klinge auf ihrer Haut. Dann plötzlich der Schnitt. Der zerteilte Rock rutschte die Beine herunter – fast geräuschlos, nur die Knöpfe klackten auf dem Holzboden.

Er atmete schwer, keuchte fast. Das ließ sie sich für einen kurzen Augenblick auf seltsame Weise überlegen fühlen. Wenn Hormone steuern, dann leidet die Kontrolle. Das wusste sie nur zu gut. Die Spur eines Lächelns. Gequält. Sie blieb jetzt bewegungslos, hatte keine andere Wahl. Im Moment.

Er ließ das Messer über ihren Slip wandern, formte ihren Po nach. Langsam. Quälend. Aber gleichzeitig auch … erregend. Sie musste es zugeben. Ihr Herz auf Hochtouren. Sie ahnte, was kommen würde. Und doch erschrak sie heftig, als er unvermittelt das Messer fallen ließ, mit beiden Händen den Slip am Bund packte und ihn mit einem Brüllen – einer Mischung aus Brunft- und Urschrei – und einer einzigen Bewegung zerriss. Ein viel zu großer Aufwand für dieses Spitzenhöschen aus Nichts.

Dann Ruhe. Empörte Ruhe. Irgendwo gluckerte Wasser in Rohrleitungen.

»Mensch Pit, das ist jetzt echt übertrieben!« Sie spuckte den Knebel aus, zog die Hände aus den Seidentüchern, mit denen sie eher symbolisch an der Klimmzugstange gefesselt war, und stemmte die Fäuste in die Hüften. Sie war sauer, richtig sauer.

»Das hatten wir doch schon öfters jetzt.« Sie atmete tief durch. Genervt. »Weißt du überhaupt, was die Klamotten kosten, die du mir ständig vom Leib reißt?«

Pit Mueller war paralysiert. Wie nach einem Kettenfaustschlag bei seinem American Streetfight war er außer Gefecht gesetzt. Schmerzhaft außer Gefecht gesetzt. Aufgeladen wie ein Duracell-Hase und mit dem Herzschlag eines Usain Bolt stand er mit dem zerrissenen Höschen in den Händen ziemlich belämmert vor Maren Hoffmann. Genauer gesagt: vor der nackten Dr. Maren Hoffmann, die sich zu ihm umgedreht hatte. Was die Situation nicht wirklich leichter machte.

Und wie schon damals, als sie seine gebrochene Nase in der HNO-Klinik behandelt hatte, dachte er an Salma Hayek. Er hatte nach Ewigkeiten mal wieder an einem American Streetfight-Seminar teilgenommen und es nicht geschafft, seine viel zu vielen Pfunde vor der Sprossenwand zu bremsen. Mit ihrem dunklen Teint, ihren schwarzen Haaren, den schwarzen Augen und den weiblichen Formen hatte Maren ihn an die Schauspielerin erinnert. Natürlich hatte er Salma Hayek noch nicht nackt gesehen – fast nackt allerdings schon: bei ihrem berühmten Tabledance in »From Dusk Till Dawn« von 1996 –, aber viel attraktiver als seine junge Geliebte konnte auch der Hollywood-Star nicht sein. Zumal Maren Hoffmanns Figur sportlicher war. Kein Wunder, sie liebte Bergwandern, Bergsteigen und Bouldern, das Klettern in Absprunghöhe.

In einer Art Übersprunghandlung bückte er sich und hob das sibirische Springmesser auf. Er schob die dünne, lange Klinge zurück in den schlanken Schaft. Mueller hatte »die beste Stichwaffe der Welt«, wie die Mehrzahl seiner sogenannten Kunden sie bezeichneten, aus der Asservatenkammer ausgeliehen. Tatsächlich war die Rückgabe schon längst überfällig, und damit waren Schwierigkeiten vorprogrammiert.

»Wie jetzt? Das Ganze hier ist doch mehr oder weniger deine Idee.«

»Ja schon, aber doch nicht immer das volle Programm mit Bluse, Rock, BH – und auch noch den Slip.«

Mueller zog irritiert die Schultern hoch. Es kam selten vor, dass er auf die Schnelle keine passende Antwort fand.

»Du weißt schon, was eine HNO-Assistenzärztin verdient, oder?« Sie entwand seiner Hand sanft das Messer und ließ die Klinge wieder aus dem Schaft springen. Ihr Gesicht so nah an seinem, dass er noch die Fruchtigkeit und die Vollmundigkeit des Champagners Moët & Chandon Imperial Brut für nicht weniger als 30 Euro in ihrem Atem roch.

»So geht das nicht weiter, Herr Hauptkommissar«, hauchte sie gleichzeitig drohend und verführerisch und packte seinen Gürtel mit der einen Hand. »Wer nicht hören will …« Mit der anderen schob sie das Messer unter den Ledergürtel, sammelte kurz Energie und zog mit einer schnellen, kraftvollen Bewegung die Klinge problemlos durch das Leder. »… muss fühlen.«

Überrascht von der tatsächlichen Schärfe der Waffe hob er kapitulierend die Arme hoch über seinen Kopf. Eine Verletzung wollte er nicht riskieren. Er ließ sie dort oben, als sie ihm die Effektivität der Klinge auch an seinen anderen Kleidungsstücken vor Augen führte. Sogar noch, als sie ihn, nackt bis auf den Slip, mit der Lieblingswaffe der sibirischen Urkas im Anschlag ins Schlafzimmer lenkte. Da das Holzhaus ohne direkte Nachbarn exponiert am Waldrand auf dem Tübinger Spitzberg stand, konnte auch niemand anders das kurze, trockene Geräusch eines Schnitts durch die Mikrofaser seiner neu erstandenen Bruno Banani Hipshort ohne Gesäßnaht und Zwickel für 34,95 Euro hören. Auch nicht die darauffolgende intime Geräuschkulisse.

»Gib mir bitte noch ein rotes.«

»Dunkel- oder hellrot?« Ohne aufzuschauen schrieb sie weiter.

»Egal.«

»Gibt’s beides nicht mehr.«

Mueller stieß Luft durch die Nase und schüttelte übertrieben genervt den Kopf. »Warum fragst du dann überhaupt?«

Maren Hoffmann war vertieft ins Schreiben. Sie hatte sich eines seiner Norton-T-Shirts übergezogen – er trug das Triumph-Shirt –, sich im Bett neben ihm aufgesetzt und antwortete … nicht!

»Haaalloohoo, Frau Hoffmann. Jemand zuhause?«

»Was denn?«

»Ich würde dann bitte ein gelbes nehmen.«

»Sind auch weg.«

»Was gibt es denn überhaupt noch?«

»Alle anderen eben: weiß, orange, grün.«

»Woher willst du das wissen. Du schreibst doch die ganze Zeit in dieses rote Buch.«

»Ich weiß es eben.« Und dann schob sie beiläufig nach: »Tagebuch! Es ist ein Tagebuch.«

»Ja, von mir aus: Tagebuch …! Warum gibt es eigentlich keine blauen?«

»Firmenphilosophie und Tradition.«

Mueller drehte den Kopf zu ihr, zog das Kinn ein und schob seine Augenbrauen zusammen – alles in einer Bewegung.

»Was guckst du so? Auch das weiß man.« Sie sagte es, als gäbe sie Shakespeare, dann griff sie neben sich und reichte ihm eine Handvoll.

Mueller hielt die offene Hand vor seine Augen und stocherte mit dem Zeigefinger darin herum: »Weiß, orange … grün …gelb … kein dunkelrot, kein hellrot.«

»Sag ich doch« – schreibend und ohne aufzuschauen.

Ohne Zweifel, seine Geliebte war wirklich multitaskingfähig. Mueller dachte an seine Frau Gudrun, die ihn bei jedem Einparken auf den Arm nahm, weil er einmal, ein einziges Mal, kurz beim Rückwärtsfahren das Autoradio ausgeschaltet hatte. Er hatte es aufgegeben, sich zu rechtfertigen, schließlich lief bei ihm ständig Musik im Auto. In der Stadt, über Land, beim Rasen, im Stau und eben auch beim Einparken. Nur eben die richtige Musik und kein PUR, kein Udo Lindenberg, kein Phil Collins und schon gar kein Müller-Westernhagen. Er verzog angewidert den Mund. Ihn hatte damals dieses unterirdische Gedudel gestört, und er hatte es deshalb ausgeschaltet. Egal, ob im Auto, im Wohnzimmer, im Partykeller oder sonstwo oder -wann, keine Sau will Müller-Westernhagen hören. Jedenfalls keine, die nur einen Funken Ahnung hat von Musik.

Er hatte diese unselige Mucke ausgeschaltet, aber nicht, weil er nicht in der Lage gewesen wäre, gleichzeitig mehrere Dinge zu tun. Bei Metallica, Deep Purple, Jimi Hendrix oder den Rolling Stones wäre das nicht passiert. Auch nicht bei America, das im Moment lief. Zugegeben, die Gruppe spielte nicht wirklich die rockige Musik, die er vor allem liebte, andererseits hörte er durchaus auch mal Leonard Cohen. Aber nur heimlich. Ebenfalls heimlich, und mehr als er zugeben wollte, hatte er bei seinem Tod getrauert. Und warum sollte man seiner jungen Bettgenossin nicht auch mal einen Gefallen tun und sanfte Musik hören?

»Sind die schlecht?«

»Was?« Mueller begriff nicht. Doch zu viel Multitasking?

»Die Gummibärchen? Schmecken sie dir nicht?«

»Doch, doch! Alles gut! Obwohl! Nicht ganz. Keine roten halt.« Er grinste sie an. Sie reagierte nicht, schrieb weiter.

Mueller atmete tief durch. Gott, was machte er hier nur? Spielte den verliebten, pubertären Jungspund, der statt der Zigarette danach die Gummibärchen danach konsumierte. Nur, weil beim allerersten Mal Annes angebrochene Packung noch rumlag und Maren Hoffmann ihren Heißhunger nach Essbarem, der sie anscheinend immer eben danach heimsuchte, irgendwie stillen musste. Seine Tochter hatte das Zeug liegen lassen, als er ihr das Holzhaus zeigte. Sie war nicht sonderlich begeistert gewesen, noch nicht mal wirklich interessiert, und fast schon erleichtert, als sie einen Anruf und eine kurzfristige Einladung ihrer Freundin zum Schlawanzen – wie sie sagte – bekam und flüchten konnte. Inzwischen war dieses Gummibärchenritual schon Tradition geworden, und Mueller achtete immer darauf, dass genügend Packungen in der Schublade lagen.

Wie lächerlich dieses pubertäre Getue doch war. Ab und zu kam er zur Besinnung und ihm wurde bewusst, wie er sich gebärdete: eher wie seine Tochter oder sein Sohn Paul und nicht wie ein 53-jähriger Familienvater mit zig Ehejahren auf dem Buckel. Er wusste doch ganz genau, welchen Scheiß er hier vollführte und dass das Ganze mit Schmerzen und Leid enden würde. Er war durchaus in der Lage, seine Fähigkeit zu kombinieren, die ihm im Job beträchtliche Erfolge und damit seinen knackigen Spitznamen Bluthund Mueller eingebracht hatte, auch auf den privaten Bereich anzuwenden. Dachte er jedenfalls. Und trotzdem ging er fremd und genoss es auch noch.

Aber er war auch verdammt nochmal ein anderer Mensch geworden, seit er sich regelmäßig mit dieser Frau traf, Sex mit ihr hatte. Von der er nicht wirklich wusste, was sie an ihm so toll fand. An diesem manchmal finster aus der Wäsche schauenden, 1,85 Meter großen, eher dunklen, nicht immer gut rasierten Typen, dem man zwar ansah, dass er mit seinen breiten Schultern irgendwann im Holozän oder gar Pleistozän tatsächlich mal Sport getrieben hatte – ja sogar ein recht guter Kampfsportler gewesen war, jetzt aber einen Permanent-Swimming-Ring, um es mit den Worten seines anglophilen Assistenten Spranz zu sagen, und damit überflüssige Pfunde mitschleppte. Auf sein volles, lamettadurchzogenes Haupthaar allerdings war Mueller nicht wenig stolz. Auch Maren Hoffmann liebte es, manchmal in die Vollen zu greifen und ihn durchzuwuscheln.

Er war egoistisch, verlogen, falsch, hatte ein schlechtes Gewissen, balancierte am Abgrund … alles zusammen. Eine Gefühlssuppe, so wie die Metzelsuppe der Schlachtfeste seiner Kindheit, mit geplatzten Leber- und Blutwürsten, Innereien und dem in der Brühe blass gekochten Schweinefleisch mit Speckschwarte. Schon damals trat sein Mageninhalt den Weg in die falsche Richtung an. Und auch heute wurde ihm blümerant und der Magen drehte sich um, sobald er sich traute, einen Blick durch den Dampf dieser Gefühlsmetzelsuppe zu werfen, auf den Boden der Wirklichkeit. Und damit auch auf Gudrun! Gudrun, die alles tat, um ihre gemeinsame Ehe aufzupeppen, die sich Spitzenwäsche kaufte, Candlelight-Dinner organisierte, ihn in Konzerte, ins Theater, ins Kino zerrte. Und vor allem versuchte, ihn zum Reden zu bringen. Dazu, seine Kauleiste zu mehr als nur zur Essensaufnahme zu bewegen.

Es nur ein schlechtes Gewissen zu nennen, traf es nicht. Eher eine Potenz davon. Und doch konnte er es nicht, er konnte einfach nicht einlenken, auf sie zugehen, den ersten Schritt tun, sein Maul aufmachen, raus aus seinem Schneckenhaus, aus seiner Komfortzone – oder besser Kampfzone. Bei allen hormonellen Verwirrungen tat es ihm leid, von Herzen leid. Und doch bekam er seinen Arsch nicht hoch – jedenfalls nicht bei Gudrun. Sofort entschuldigte er sich innerlich bei seiner Frau für diese erbärmliche Zweideutigkeit.

»Wirklich alles gut?« Maren Hoffmann sah ihn mit tiefen Stirnfalten an. Sie erwischte ihn, wie er mit Zeigefinger und Daumen seine Oberlippe rieb, seine typische Denkerpose.

»Jaja, alles gut … bis auf diesen Bauch. Mit diesen verfluchten Gummibärchen gehe ich auseinander wie ein Pfannkuchen.«

Was für ein schlechtes Ablenkungsmanöver, dachte er und strich vorsichtshalber mit beiden Händen über seinen Bauch, der tatsächlich gewachsen war die letzten Monate.

»Was schreibst du eigentlich die ganze Zeit?« Nur um abzulenken.

»Echt jetzt, Pit … oder soll ich dich Alois wie Alzheimer nennen?« Sie seufzte übertrieben. »Tagebuch natürlich!«

»Ja, schon! Aber was genau?«

»Was und wie ich das Leben so erfahre.«

Mueller schob die Unterlippe vor und nickte anerkennend. Schneller, kürzer und druckreifer konnte man Tagebuchschreiben wohl nicht definieren. Und jetzt fand er doch noch ein dunkelrotes Gummibärchen. Er schob es in den Mund, ging zum Plattenspieler, nahm vorsichtig America vom Teller und legte nun tatsächlich – er war vorher in der Hitze des Gefechts nicht mehr dazu gekommen – Jethro Tull auf: »Heavy Horses« von 1978. Treffsicher führte er die Nadel auf das zweite Lied der ersten Seite.

I’ll make love to you in all good places,

under black mountains in open spaces

Erwartungsvoll, noch vor dem Plattenspieler in der Hocke sitzend, schaute er sich um. Hatte sie denn noch nicht gemerkt, dass seine Musikauswahl keine zufällige war? Einfach nur ein Stück aufzulegen, nur um der Musik willen, wäre ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen. Seine Auswahl hatte immer unmittelbar mit seinen Lebensumständen und Gefühlswelten zu tun. Auch jetzt! Und es waren ganze Zäune, nicht nur Pfähle, mit denen er jetzt winkte. Doch seine Geliebte hatte ihr Gesicht und ihre Schreibhand tief in das Tagebuch vergraben. Kein Multitasking mehr! Noch nicht einmal die Anwesenheit von George Clooney hätte sie zurück an die Oberfläche gebracht.

»Das wollen wir doch mal sehen«, murmelte Mueller entschlossen vor sich hin, zog seinen Bauch ein und warf sich in die Brust. Er griff nach seiner Hose, löste die Handschellen aus der Halterung an seinem Gürtel, schloss den einen Bügel um ihr linkes Handgelenk, den anderen ließ er am Bettpfosten einrasten. Clooney war zwar der Traummann, aber er war weit, sehr weit weg.

2

Montag, 20. März

»Tango isse eine Gehen aus dem Herze heraus.« Typisch Gustavo, er wurde nicht müde, immer wieder diesen einen Satz zu wiederholen. Bereits in der ersten Schnupperstunde »Argentinischer Tango« überlegte Wilhelm Barenbach, ob er ihn korrigieren sollte. Er verwarf den Gedanken sehr schnell, und jetzt, zwei Anfänger- und zwei Fortgeschrittenenkurse später, war er froh darüber, nichts gesagt zu haben. Inzwischen freute sich Wilhelm bei jeder Milonga und Práctica auf Gustavos verschiedene Standardsätze, die er mit hartem spanisch-argentinischem Akzent und mit einem rollenden R aussprach. Wie bei einem Lehrerbingo hakte Wilhelm Satz für Satz auf seiner virtuellen Karte ab und wartete schon auf den nächsten. Gustavo und Melina ergänzten sich auch in der Kommunikation ganz wunderbar. Verlässlich übersetzte er auf seine eigene unkonventionelle Art, was seine Partnerin auf Spanisch zum Besten gab.

»Tango no es un baile. Es un sentimiento«, sagte Melina üblicherweise während einer ihrer anmutigen Drehungen. Besser: sie hauchte es mit Inbrunst ihren Schülern entgegen.

»Tango isse keine Tanz. Isse ein Gefühl«, übersetzte Gustavo stante pede und dehnte das ›ü‹ bis zum Zerreißen.

Wilhelm genoss es, und zwar in einem Maß, das er sich nicht vorgestellt hatte. Er hatte sich über Jahre hinweg mit aller Kraft dagegengestemmt, bis er über sämtliche Hürden gesprungen war und sich doch zu einem Kurs angemeldet hatte. Eine Aktion, die keiner seiner wenigen Bekannten und Freunde für möglich gehalten hätte. Tatsächlich war niemand eingeweiht, außer seinem besten Freund Pit Mueller, auch nicht Ilse … vor allem nicht Ilse.

Eigentlich waren Wilhelm Menschenansammlungen über drei oder vier Personen suspekt. Und wenn möglich, dann mied er sie. Nicht immer einfach, wenn Ilse gerne mal wieder ins Theater oder Kino gehen wollte.

Diese soziale Phobie war unter anderen auch der Grund für seine Lebensweise gewesen. Er hatte bewusst auf das vorgezeichnete, erfolgreiche Leben als Jurist verzichtet. Rechtzeitig und sehr zum Ärger seines Vaters, einem bekannten und erfolgreichen Anwalt mit eigener Kanzlei, hatte er das ungeliebte Studium vor Jahrzehnten abgebrochen – genauso wie Pit Mueller. Er hatte auf alles verzichtet, sogar auf das Erbe, und sich alleine durchgeschlagen. Zum Unverständnis seiner Familie hatte er nur noch das studiert, was ihn wirklich interessierte: Philosophie, Empirische Kulturwissenschaft, Informatik, Literatur und Indologie. Und bereits seit seiner Studentenzeit trug er regionale und überregionale Zeitungen aus. Ideal für ihn, denn neben dem Bestreben, sich beständig, vor allem durch Anhäufung von Wissen aus allen Disziplinen und Gebieten, weiterzuentwickeln, stand Unabhängigkeit bei ihm über allem. Lieber selbstbestimmt und ohne viel Geld leben als wohlhabend und herzinfarktgefährdet. Hohe Ansprüche hatte er nie gehabt. Mit ein paar zusätzlichen Programmierjobs kam er bestens über die Runden.

Und jetzt war er regelmäßig hier im Studio, mischte sich unter Menschen und tanzte. Unglaublich. Er hatte sich inzwischen sogar an den engen Körperkontakt gewöhnt, auch wenn das der schwierigste Teil überhaupt war. Die allzu enge Tanzhaltung allerdings, bei der die Partnerin ihre Stirn an seine Schläfe legte, würde er trotzdem nie einnehmen.

Einen großen Anteil an seiner Metamorphose hatte natürlich seine Ilse. Sie hatte ihn mehr oder weniger sanft gezwungen, regelmäßig Zwiegespräche mit ihr zu führen. Und in Sachen Tango verdankte er viel seiner Tanzpartnerin Miriam. Sie war der Grund dafür gewesen, dass er nicht schon zu Beginn des ersten Schnupperabends die Flucht ergriffen hatte. Das sympathische Lächeln, ihre warmherzige Ausstrahlung, ihre Offenheit und ihre unaufdringliche Energie fielen ihm sofort äußerst positiv auf. Für Wilhelm war schnell klar, dass er mit ihr und keiner anderen tanzen würde. Dass sie über zehn Jahre älter war, wie er später erfuhr, störte ihn ganz und gar nicht. Mit ihrem schlanken, fast dünnen Körper, mit ihrem Lachgesicht und den welligen, schwarzen, mit grauen Strähnen durchzogenen Haaren, die sie im Gegensatz zu Altersgenossinnen eben nicht kurz, sondern schulterlang trug, sah sie viel jünger aus.

Sie verstanden sich nicht nur auf der Tanzfläche bestens, sie konnten auch auf einem hohen intellektuellen Niveau diskutieren – wichtig für Wilhelm. Manchmal setzten sie mehrere Tanzrunden aus, nur um ihr Gespräch nicht unterbrechen zu müssen. Mit der Zeit hatten sie nur noch wenige Geheimnisse voreinander – so hatte Wilhelm schon früh von ihrer Homosexualität erfahren.

»Warum willst du dann ausgerechnet diesen patriarchalischen Tanz lernen?«, hatte Wilhelm provokant gefragt, obwohl er schon wusste, dass sie neue Erfahrungen machen, ja sogar ihr Leben ändern wollte. »Gerade beim Tango geht es doch um Führen und Folgen.«

»Ach, mein Lieber!« Wilhelm mochte es sehr, so von ihr angesprochen zu werden. »Tango hat doch nichts mit unserer Vorstellung vom lateinamerikanischen Machismo zu tun. Er ist ein subtiler Dialog zwischen Mann und Frau, der von beiden fordert, ganz bei sich zu bleiben. Mehr noch: sich in den anderen hineinzuspüren.«

Sie lächelte, vor allem mit den Augen. Wilhelm kannte keine gütigeren.

»Tango ist kein Kampf, sondern ein feines Spiel mit der Grenze. Ein Spiel, das Kooperation verlangt. Merk dir das: Nur wer sich hingibt, kann führen.«

Wenn Wilhelm diskutierte, dann war ihm ein ausgeglichenes Hin und Her wichtig, Monologe waren ihm zuwider, und er ließ sie auch nicht zu. Bei Miriam war das anders. Ihr hörte er gerne zu. Eine Ausnahme.

»Mann und Frau sorgen dafür, die eigene Bewegung so zu gestalten, dass sie die Bewegungsfreiheit des Gegenübers nicht beeinträchtigt. Zwei selbständige Menschen verbinden sich zu einem Paar.«

»Du sprichst, als ob du schon dein Leben lang tanzen würdest. Ich dachte, du bist Anfängerin. Genauso wie ich.«

Sie grinste ihn frech an. »In der Theorie bin ich spitze.« Dann stieß sie ihm in die Seite. »Nein, mein Lieber, ich bin wie du inzwischen Fortgeschrittene, die gerne mal klugschwätzt.«

»Und die ihren Vortrag in einem Satz hätte sagen können: Tango sind zwei ernste Gesichter und zwei Hinterteile, die sich amüsieren«, konterte Wilhelm erfolgreich, denn sie prustete los und boxte ihn noch fester.

Wenn er behauptete, dass Ilse im Allgemeinen und seine Miriam im Besonderen an seiner Metamorphose beteiligt waren, dann entsprach das nicht ganz der Wirklichkeit. Es war Pit Mueller, der vor vielen Jahren die Wandlung eingeleitet hatte. Insofern hatte natürlich Pit den größten Anteil überhaupt. Von ihm hatte Wilhelm auch Humor und Schlagfertigkeit gelernt. Ohne Pits Schule hätte er nie so einen Satz so spontan herausgehauen. Und »herausgehauen« hätte er früher schon gar nicht in den Mund genommen.

So war es auch gar keine Frage, dass sie sich gegenseitig Alibis gaben. Für Gudrun war Pit mit Wilhelm unterwegs. Und für Ilse war Wilhelm mit Pit unterwegs. Auch an diesem Montag. Allerdings wurde es zunehmend schwieriger für Wilhelm, die Tangoabende und Wochenendkurse geheim zu halten.

3

Dienstag, 21. März

»Pit, KDB hier, bitte entschuldige, dass ich dich so früh anrufe.«

Pit flüsterte in sein Smartphone: »KDB? Du? Einen Moment.«

Natürlich war Gudrun schon vom Klingelton aufgewacht. Kein Wunder bei »All Along the Watchtower« von Jimi Hendrix. Er hatte sich den Song von seinem Sohn Paul einstellen lassen.

Pit schälte sich vorsichtig, fast lautlos aus dem Bett und tapste barfuß die Treppen hinunter. Klaus-Dieter Baier kickte schon ewig in seinem Freizeitteam. Als er vor vielen Jahren dazustieß, hatte er sich selbst als KDB vorgestellt. Mueller kannte keinen Menschen, der ausgeglichener und zugänglicher wäre als der Gefängnisdirektor aus Rottenburg am Neckar. Er war einer dieser Hobbykicker, die vor dem Tor eher abspielten und dem Teamkollegen damit einen schönen und sicheren Torschuss gönnten, als selbst mit aller Wucht abzuziehen und damit einen Schuss ins Nirwana zu riskieren. Mueller war von Beginn ihrer losen Freundschaft an fasziniert von diesen Gegensätzen: Gefängnis und Empathie, geschlossener Vollzug und unbedingte Offenheit, schwere Jungs und ehrliche Freundlichkeit. Musste man solche Vorzüge haben, um Chef eines Gefängnisses zu werden? Oder ließ einen die Arbeit dort so werden? Er sollte ihn unbedingt einmal fragen. Warum traf er sich eigentlich nicht öfter mit ihm? Das nächste Bier im »Goldene Zeiten« stand bald an. Sehr bald.

»So, jetzt! Was gibt’s denn?«

»Pit, nochmals sorry, aber ich wollte dich unbedingt über einige Gerüchte hier im Gefängnis informieren. Auch weil heute der Artikel über die …« – KDB machte eine kurze Pause – »… Mildtätigkeit des Herrn Tibor Bodey erschienen ist.«

Mueller wusste, dass er viele Meditationsseminare oder Wellnessurlaube brauchen würde, um die Ausgeglichenheit eines Klaus-Dieter Baier zu erlangen. Sehr viele. Sie würden aber nie ausreichen, um bei dem Namen Bodey cool zu bleiben. Und er benutzte sehr bewusst »cool«, genau wie sein Assistent, der ihn mit seiner Begeisterung für Anglizismen mehr als nervte. Hier allerdings passte kein anderes Wort besser. Tibor Bodey und cool bleiben – nein, das ging einfach nicht zusammen. Auch nach Jahren brachte ihn dieser Namen auf die Herzfrequenz eines Wutbürgers im Straßenverkehr. Mueller war damals so verdammt knapp davor gewesen, ihn zu überführen. Er musste nur noch den Sack zumachen, als plötzlich Zeugen umfielen und Mueller dastand wie ein Stümper. Mehr noch, der Geschäftsführer des örtlichen Batterieunternehmens und erfolgreichen Automobilzulieferers »TENSYS – Tübinger Energiespeichersysteme« schaffte es sogar, sich von allen Vorwürfen reinzuwaschen. Er wurde wieder in die überschaubare örtlichen Szene der Reichen und Schönen, der Wichtigen und Noch-Wichtigeren aufgenommen. Dieses Schwein – und genauso nannte ihn Mueller ohne Hemmungen, wenn die Rede auf ihn kam – war der Anlass für plötzliches Unwohlsein, sein Magen wollte sich nach außen stülpen. Er war auch der Grund, warum Mueller nicht mehr zu den Heimspielen der »Hobbits« ging, einfach weil er den Anblick des Managers der TENSYS auf der VIP-Etage des Handball-Bundesligisten auch von weitem nicht ertragen konnte. Obwohl sein Unternehmen nur einer unter vielen Klein-Sponsoren war, stolzierte Bodey mit einem Prosecco in der Kralle wie ein aufgeblasener Gockel auf der exponierten Terrasse der Sporthalle umher.

»Spenden, ausgerechnet für Kinder«, ergänzte KDB.

»Das ist doch … ich … ich weiß gar nicht …« Mueller war konsterniert. »Ein Pädophiler spendet für Kinder …« Er war sprachlos und rutschte an der Wand des Flurs runter in die Hocke. »Hat dieses Schwein einen Schnellkursus in Marketing gemacht oder was? ›Sponsoring effektiv eingesetzt‹.« Kein guter Scherz, eher bitter.

»Pass auf, Pit, anscheinend hatte Joachim Wolf sein Mundwerk nicht unter Kontrolle. Du kennst ihn doch auch.«

»Klaro, Joe Wolf, der Mini-Pate oder auf Schwäbisch gesagt: das Mafiosole – der kleine Mafioso.«

»Ja. genau der, aber unterschätz ihn nicht. Der hat mehr Macht, als man denkt. Unter anderem soll er eben unseren Tibor Bodey in der Hand haben. Das jedenfalls hat er ausgeplaudert.«

Mueller rutschte mit dem Rücken an der Wand hoch, so als würde Luft und damit wieder Spannung in ihn reingepumpt werden.

»Das sind doch mal schöne Nachrichten. Hat er in seiner Einfältigkeit auch gesagt, wie er ihn erpresst?«

»Er hat wohl Beweise für Bodeys pädophile Machenschaften und hat einen Deal mit ihm. Joe hält die Fotos und Filme zurück gegen regelmäßige Zahlungen von Bodey.«

»Sag mal, KDB, wie blöd muss man denn sein, das an die große Glocke zu hängen?«

»Das ist eben der Unterschied zwischen einem Mafioso und einem Mafiosole. Ich denke, Joe hat es nötig, sich aufzublasen. Wir haben hier im Gefängnis ein paar Machtkämpfe laufen, und er sieht wahrscheinlich seine Felle davonschwimmen.«

Als hätte KDB ihm einen Traumpass direkt vors Tor gespielt, triumphierte Mueller: »Weißt du was, mein Lieber, mir kommt da ein sehr guter Gedanke.«

Der Gefängnisdirektor wieherte unvermittelt sein lautes und ehrliches Lachen ins Telefon. Mueller setzte sein Haifischgrinsen auf und spürte ein wohliges Ziehen in der Magengegend.

»Pit, ganz ehrlich, auf diese Gelegenheit habe auch ich schon lange gewartet. Du weißt das.«

Tatsächlich war KDB der Erste gewesen, der ihn nach der Freilassung von Bodey angerufen hatte. Er war es gewesen, der ihm zu Geduld riet und ihn überzeugte, dass der richtige Augenblick noch kommen würde. Vielleicht war es jetzt so weit.

KDB wurde ernst: »Wir werden Joe hier im Knast ein wenig schikanieren, ihn mit einem der großen, bösen Jungs zusammenlegen und ihm das Leben schwermachen.«

Mueller ergänzte sarkastisch: »Vielleicht muss er sogar um sein Leben bangen, und wir könnten ihm dann aus der Bredouille helfen.«

KDB spielte den Doppelpass: »Eine angemessene Gegenleistung vorausgesetzt, könnten wir ihm vielleicht durch eine anonyme Verlegung in ein anderes Gefängnis das Leben retten.«

Mueller launig: »Mein lieber Freund und Kupferstecher, bis jetzt habe ich dich als ehrlichen und gesetzestreuen Menschen kennengelernt.«

»Das bin ich nach wie vor, Pit, und das wird sich auch nicht ändern. Das weißt du. Kinderficker und ähnliches Gesocks allerdings …« KDB war lauter geworden, zügelte sich schnell wieder, schluckte hörbar und schaltete einen Gang runter. »Wir machen ja nichts Illegales, und außerdem heiligt der Zweck die Mittel.«

Nach dem Gespräch blieb Mueller auf und bereitete pfeifend das Frühstück vor. Nach kurzem Überlegen war er überzeugt davon, dass »Lucky Man« von Emerson, Lake and Palmer die passende Mucke wäre.

He went to fight wars

for his country and his king

Of his honor and his glory

the people would sing

Ooooh, what a lucky man he was

Erst als Anne und Paul erkannten, dass kein Gespenst um sie herumwuselte, sondern dass ihr eigener Vater im Schlafanzug das Frühstück vorbereitete, konnten sie ihr Müsli genießen.

»Ist denn heute schon Sonntag?«, hatte Anne verschlafen und völlig verwirrt gefragt. Sein überdrehtes Gequassel allerdings war ihnen dann doch zu viel des Guten, und sie stiegen nicht darauf ein. Ihr Schweigen ließ Mueller heute kalt. Seine Hochstimmung spülte sogar die üblichen Gewissensbisse weg, als er ohne Skrupel Gudrun anlog und vom gestrigen Treffen mit Wilhelm erzählte. Auch ihre besorgte Nachfrage nach seinen aufgeschürften Handgelenken wischte er, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der abstrusen Begründung »beim Polizeisport« grinsend vom Tisch.

»Man könnte meinen, du hast deine eigenen Handschellen zu eng angelegt«, sagte sie lachend. Verdammt ja, Maren Hoffmann hatte sich »gerächt«, nachdem er sie »verhaftet« hatte.

Gudrun ließ sich – von seiner guten Laune angesteckt – gerne von ihm bedienen und gab ihm sogar einen Kuss direkt auf den Mund. Auch das war ungewöhnlich, normalerweise waren solche und ähnliche Dinge für den Sonntagmorgen vorbehalten.

4

Dienstag, 21. März

Gott, wie sehr genoss er diesen Augenblick. Diese Vorfreude, wenn Ananas, Äpfel und Bananen, in fast gleich große Teile geschnippelt, zusammen mit Walnüssen in seiner Schale lagen und er sie mit Kokosnuss-, Hafervollkornflocken und dann schließlich mit Soja-Milch auffüllte. Der Doppio, der doppelte Espresso, stand daneben und verströmte einen Duft zum Reinlegen. Nicht, dass das Wilhelm Barenbachs Ausdrucksweise gewesen wäre – er verweigerte im Allgemeinen eine unpräzise, schnoddrige und vor allem halbseidene Ausdrucksweise –, doch die langjährige Freundschaft mit Pit Mueller färbte unwillkürlich ab. Wilhelm grinste vor sich hin. Er hatte inzwischen auch gelernt, über sich selbst zu lachen, und war längst nicht mehr so streng wie früher, obwohl ihm nach wie vor eine klare und präzise Kommunikation wichtig war. Für ihn war das schlichtweg die Grundlage eines normalen Umgangs miteinander. Leider hatte er immer mehr den Eindruck, einer aussterbenden Spezies anzugehören.

Wie immer hatte er fünf Minuten nach sechs die letzte der Tageszeitungen auf seiner Route eingeworfen und war sofort mit seinem Mofa, einer Hercules M5, nach Hause gefahren, um seine alltägliche Morgenroutine anzugehen. Gleich würde er wie ein Adler über seinen Zeitungen kreisen – er hatte wie üblich auch zwei überregionale bereits beim Verlag eingepackt –, die Artikel anlesen, die interessanten auswählen, sie dann ausführlich studieren und sie danach archivieren.

Erst vor kurzem hatte er sein Archiv neu geordnet und digital umorganisiert. Jetzt legte er alle Artikel auf seiner externen Festplatte ab. Die Zugänge zu den Archiven der Zeitungen hatte er sich schon längst verschafft, nicht ganz legal, doch bis jetzt war er noch nicht aufgeflogen. Und er war sich sicher, dass sich daran auch nichts ändern würde. Er wusste einfach seine Spuren zu verwischen, sie erst gar nicht sichtbar werden zu lassen. »Nicht in hundert kalten Wintern«, so jedenfalls würde es Pit ausdrücken. Allerdings war Wilhelm altmodisch genug, vorher die Zeitungen nicht am Monitor, sondern als Papierausgabe zu lesen. Trotz seines Talents als Hacker schätzte er das Haptische über alles. Ein Buch auf dem Tablet zu lesen, war für ihn undenkbar.

Dieses Archiv war sein persönlicher Katechismus und die Grundlage für seine Dispute mit Hobby- und offiziellen Wissenschaftlern, die nach seinem Empfinden nicht penibel genug arbeiteten, schludrig recherchierten und schlampig argumentierten. Durch sein eigenes, aufwändig erstelltes Stichwortverzeichnis wurde er in jedem Fall fündig, egal in welcher Richtung er recherchierte.

»Morgen, Wilhelm!«

Er zuckte zusammen und goss vor Schreck Sojamilch auf den Frühstückstisch, der noch aus WG-Zeiten dort stand und in dem sich frühere Mitbewohner verewigt hatten. Die Milch floss ausgerechnet in den eingeschnitzten Namenszug von Kathie. Sie war die Vorgängerin von Ilse gewesen. Und wenn er ehrlich war, war er auch schon in sie ein wenig verliebt gewesen. Muss wohl am Zimmer liegen, dachte er nach all den Jahren. Eine späte Erkenntnis.

»Oh sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Ilse, was tust du denn schon hier?«

Sie war eine Eule, Wilhelm eine Lerche. Und in ihren über zwanzig gemeinsamen Jahren hatte er sie selten vor acht Uhr morgens auch nur ein einziges Wort sagen hören. Er wusste: Während die Lerchen früh aktiv sind, kommen die Eulen morgens nur schwer aus den Betten und noch schwerer in die Puschen – wieder so eine Redensart von Pit. Wenn Ilse dann aber ihre Morgenmuffelphase durchlebt hatte und auf Betriebstemperatur kam, war sie kaum zu halten. Für viele überraschend, denn mit ihrer geringen Körpergröße und mit ihrem schlanken, jugendlichen Aussehen wirkte sie auf den ersten Blick eher zerbrechlich. So ganz anders als Wilhelm, der mit seinen 1,80 Metern nicht ganz die Größe seines Freundes Pit hatte, und auch die Rundungen der Körpermitte ließen nicht auf eine sportliche Vergangenheit schließen. Er war zwar beleibt, das stimmte schon und genauso würde er es selbst definieren, aber er war keineswegs dick oder sogar schwabbelig. Während Ilse die Energie eines Flummis zu haben schien, verströmte Wilhelm die eines mit Sand gefüllten Jongliersäckchens. An Ausdauer allerdings machte ihm niemand etwas vor, vor allem, wenn es zum Beispiel darum ging, sich unbemerkt in fremde Netzwerke einzuschleichen.

Eulen wie Ilse werden mit dem Wecker regelrecht aus dem Tiefschlaf gerissen, und so ist schlechte Laune beim Aufstehen vorprogrammiert. Die schlechte Laune würde er gut ignorieren können, er hatte schlichtweg Sorge um seine alltägliche Routine, die er auch sonntags praktizierte, allerdings erst ab 8 Uhr morgens, sobald er an der Tankstelle um die Ecke seine F.A.S. gekauft hatte.

Nur – heute hatte er ihren Wecker gar nicht gehört.

»Konntest du nicht schlafen? Ist es dein Vortrag?«

»Ach, ich kann ihn dir problemlos runterbeten.«

»Na also, kein Grund zur Sorge.«

»Auf Deutsch, aber nicht auf Englisch.«

Ilse hatte Chemie studiert und nach Studium und Promotion wechselte sie, als das noch möglich gewesen war, gleich unbefristet in den akademischen Mittelbau. Schon lange war sie unkündbar und eigentlich sehr glücklich in ihrem Job. Eigentlich, denn obwohl Englisch auch in der Chemie durchaus üblich ist, war die Sprache noch nie wirklich ihr Freund. Und bei aller Furchtlosigkeit ging ihr bei Symposien und den dabei zu haltenden Vorträgen auf Englisch regelmäßig die Düse, wie sie selbst sagte.

Sie kniete sich auf den Stuhl neben Wilhelm, zog das »Schwäbische Tagblatt« zu sich, las und war der Welt entrückt. Völlig versunken nippte sie an Wilhelms Tasse und löffelte, ohne den Blick von der Zeitung zu nehmen, auch sein Müsli.

»Ilse, du weißt ganz genau, dass ich das nicht …«

Ilse unterbrach ihn: »Das darf doch nicht wahr … das ist doch … dem brennt doch der Kittel.«

Wilhelm musste unwillkürlich grinsen, denn obwohl sie nicht aus Schwaben war – sie kam ursprünglich aus Hannover –, hatte sie schon sehr früh die eine oder andere schwäbische Redensart angenommen. Solche, die sie besonders witzig oder treffend fand. Auf Wilhelm konnte sie da nicht zählen, denn obwohl er auf der schwäbischen Ostalb groß geworden war, wurde in seinem Elternhaus wahrscheinlich höheres Hochdeutsch gesprochen als in Ilses.

»Hast du das gelesen?« Ilse war entrüstet.

»Nein, ich war gerade im Begriff …«

»Da geriert sich dieser Tibor Bodey von der TENSYS als der große Wohltäter der Menschheit und spendet im Namen seiner Lions Geld für die Kinderkrebsklinik.«

Wilhelm war gleichzeitig verwirrt und besorgt, denn seine Ilse lief rot an und rang nach Worten.

»Dieser Schleimbeutel, dieser …« Sie schnappte nach Luft. »Das schlägt doch dem Fass den Boden … ja kann man denn zynischer sein.«

»Ilse, jetzt beruhige dich doch.«

»Mensch, Wilhelm, das ist doch dieser Geschäftsführer der TENSYS – Tübinger Energiespeichersysteme … Erinnerst du dich denn gar nicht mehr dran?«

»Ja, natürlich, schließlich ist das der einzige Fall, denn Pit nicht abschließen konnte. Ich war doch selbst …«

»Dieses verdammte Schwein, jeder weiß doch, dass der Dreck am Stecken hat, dass der einer dieser perversen …«

Wilhelm stand auf, nahm sie liebevoll, aber sehr bestimmt mit beiden Händen an den Schultern und dreht sie so, dass sie sich auf den Stuhl setzen musste. Er drückte sie auf die Sitzfläche und streichelte ihr beruhigend über den Kopf – eher grob- als feinmotorisch.

»Ilse, bitte … du weißt genau, dass ihm nichts nachgewiesen werden konnte.«

Sie ignorierte seinen Einwurf: »… einer dieser perversen Pädophilen.«

5

Dienstag, 21. März

»Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte …« Mueller hob wie Lehrer Lämpel den Finger. »Wenn Zitat, dann schon richtig.« Endlich entsprach Spranz einmal dem Wunsch seines Chefs, »dieses unselige Denglisch sein zu lassen« und nicht immer »Morning« zu sagen, und schon griff er ins Klo mit einem nicht ganz korrekt wiedergegebenen Zitat.

»Max Liebermann. Wussten Sie das, Spranz?« Mueller triumphierte.

»Ja, Chief! Oder … Nein … Ich wusste es nicht.« Spranz war sichtlich genervt von den Rückfällen seines Chefs in längst vergessene, dunkle Kotzbrocken-Zeiten. »Was ich sagen wollte, war …«

»Liebermann, einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Impressionismus. Er hat es gesagt, als er …«

»Chief, ich wollte doch nur … der Artikel.«

»Nein, nein, mein Bester, so viel Zeit muss sein!« Mueller war in seinem Element. »Hat man das euch in Baden nicht beigebracht?«

»Chef, ist ja gut jetzt.« Es kam ihm ungefiltert über die Lippen, spontan. Spranz erschrak offenbar selbst, aber dieser aufgesetzte Bruderzwist zwischen Baden und Württemberg war sowas von ausgelutscht. Nach fast zwei Jahren hier in der Abteilung musste jetzt auch mal gut sein, trotz seines badisch gefärbten Hochdeutschs.

Mueller wunderte sich über den Mut seines Assistenten. Und auch darüber, dass ihm der sogar gefiel. Er lächelte ihn an und schob es auf die Menge der Glückshormone, die ihn überschwemmten, ihn viel zu oft treudoof lächeln, aber auch über alle Ziele hinausschießen ließen. Vom richtigen Maß ganz zu schweigen. Er musste das unbedingt eindämmen – diese Überreaktionen, natürlich nicht die Schäferstündchen, waren sie doch der Grund für seinen dritten Frühling.

»Sie haben ja recht, Spranz.« Mueller räusperte sich. »Auch ich könnte kotzen.« Erst jetzt wurde ihm klar, dass der Fall Bodey lange vor Spranz’ Zeit aktuell gewesen war. Trotzdem wusste er offensichtlich Bescheid.

Mueller erzählte ihm von seinem Telefongespräch und weihte ihn in ihre Intrige ein. Spranz schien sich ehrlich zu freuen: »Wow, Chief, das nenn ich mal einen Plan.«

Trotz allem tauchte am Ende doch noch der alte Kotzbrocken Mueller auf und konnte nicht umhin, Spranz an seinem fundierten Halbwissen teilhaben zu lassen: »Es war am 30. Januar 1933, am Tag der Machtübernahme, als die Nazis an seinem Berliner Haus vorbeimarschierten. Wahrscheinlich fiel Liebermann der Satz, ohne zu überlegen, aus dem Gesicht. Einfach so, ganz unverblümt und von ganz unten.« Er überlegte kurz und wurde plötzlich nachdenklich und ernst. »Auch mir kommt er immer wieder unverhofft in den Sinn. Immer öfter.«

Plötzlich polterte Staatsanwalt Dr. Frieder Heilmann in sein Büro. Ganz normal, ohne Türen zu werfen und ohne Dramatik, ging bei ihm nichts, trotz oder gerade wegen seines Alters. Seine Pensionierung war in Sichtweite. Mueller war überrascht, dass sein Chef zwar wie so oft mit einer Zeitung wedelte, aber nicht wie üblich hektisch und puterrot vor Wut. Bei neun von zehn seiner Invasionen leuchtete sein rundes Gesicht – inklusive seiner Halbglatze über dem verbliebenen Haarkranz – tatsächlich wie eine gute, alte Osram-Glühbirne in einem an sich angenehmen warmen Farbton. Heilmann selbst war dann allerdings alles andere als angenehm oder sogar Wärme ausstrahlend.

Heute schien er ausgeglichen, und seine Kopfhaut war besorgniserregend farblos. Mueller konnte das gut erkennen, denn Heilmann war einen Kopf kleiner als er. Wie immer trug er akkurat Anzug und Krawatte, die ihm seine Frau täglich zurechtlegte – wie seine ganze Garderobe eben. Gerne würde Mueller Frau Dr. Heilmann einmal treffen, bisher hatte sein Chef sie die ganzen Jahre erfolgreich versteckt. Einmal die Frau des Schneemanns kennenlernen, Mueller war schon neugierig! Tatsächlich wurde Heilmann von den Altgedienten des Dezernats so genannt, nicht wegen der Kälte, die er ausstrahlte, dazu hatte er zu viele emotionsgeladene Ausbrüche, nein, wegen seiner Figur: eine kleine Kugel als Kopf, eine große als Rumpf und zwei viel zu kurze Beine, die der Besitzer wegen seines Bauchumfanges wahrscheinlich – außer im Spiegel – nie zu Gesicht bekam.

»Na, Mueller, schon gelesen?« Heilmann warf satt das »Schwäbische Tagblatt« auf Muellers Schreibtisch. Der Staatsanwalt schien zu lächeln, das war aber schlecht auszumachen auf diesem Gesicht, dem ein Lächeln nur mit Anstrengung gelang – viel zu sehr gaben die Mundwinkel der Schwerkraft nach.