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Verlagsinformation

«Rate mal, wo ich bin», flötet Edouardo ins Telefon, und Sebastian muss nicht lange überlegen. «Du bist auf Gran Canaria, du Ferkel!» Und weil auch noch ein Plätzchen im Doppelbett frei ist, bucht er spontan einen Flug. Was Edouardo nicht gesagt hat: Dass er auf der Insel heiraten will und der Verlobte bald eintreffen wird.

So geht es hoch her, denn auch Sebastians Ex Hasso macht sich auf den Weg und bringt noch seinen schwulen Neffen Malte mit. In Las Palmas ist gerade «Winterpride» und wieder mal ist alles vor Ort, was Zeit und Lust und Träume hat.

Schon mit «Unter Männern» (2009) ist Sebastian Castro als Chronist des schwulen Treibens auf Gran Canaria in die Fußstapfen von Elvira Klöppelschuh getreten. Als scharfer Beobachter nimmt er das Inselleben pointiert aufs Korn und lotet die Abgründe aus, die sich zwischen Urlaubsfreude und Ausnahmezustand auftun.

«Ein witziger, unterhaltsamer wie kritischer Bericht zum aktuellen Stand der Dinge auf der schwulen Trauminsel.» (Peter Jobst im Magazin Pride über «Unter Männern»)

Über den Autor

Sebastian Castro, geboren in Aix, arbeitete als Chauffeur, Reiseleiter, Makler, Journalist sowie Strandfotograf und veröffentlichte unter anderem das erste deutschsprachige «Schwule Lexikon» (1955) sowie eine Sammlung von Promi-Statements über Schwule («Und das ist auch gut so», 2006). Er lebt in Berlin und Ingenio, Gran Canaria. Bei Männerschwarm erschien bereits «Unter Männern. Urlaub auf Gran Canaria» (2009).

Als scharfer Beobachter nimmt er das Inselleben pointiert aufs Korn und lotet die Abgründe aus, die sich zwischen Urlaubsfreude und Ausnahmezustand auftun.

Sebastian Castro

Winterpride

Rückkehr nach Gran Canaria

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Für Pedro

Vorspiel

Ich schließe meine Augen und höre das Rauschen des Meeres. Es rauscht in mir und um mich herum, alles andere wirkt gedämpft, als gäbe es nur noch mich und das Meer. Ich höre die Brandung, spüre die Strömung, die allen Dreck vom Strand hinaussaugt, und sehe das heranflutende Wasser, das letzte Spuren im Sand beseitigt, sodass sich der Strand wie unberührt bis zum Horizont ausbreitet. Doch als ich die Augen öffne, sitze ich vor einem ukrainischen Lokal bei Borschtsch und Tscheburek, Schaschlik und Kosaken-Bratwurst in Berlin-Friedenau, und das Rauschen ist nichts weiter als die A 100. Es ist November, dem Klimawandel entsprechend warm, und mir gegenüber sitzt Hasso, mein Ex-Freund, der grade wieder mal dabei ist, mit mir Schluss zu machen.

Zugegeben, unser Verhältnis ist ein wenig kompliziert, denn obwohl er mein Ex-Freund ist, wohnen wir zusammen, teilen Tisch und Bett, und da bleibt es nicht aus, dass wir hin und wieder auch Sex haben. Wir teilen also mehr als die meisten Leute, die von sich denken, sie wären noch ein Paar.

Ich habe nichts zu tun zurzeit, außer meinen Ruf als Tagedieb zu festigen, und Hasso, der als Everybody’s Darling im Deutschen Currywurst-Museum arbeitet, obwohl er für den Job allmählich zu alt ist, hat sich zehn Tage Urlaub genommen, um unsere Wohnung zu renovieren, beziehungsweise die handverlesenen Handwerker zu beaufsichtigen, die die Renovierung ausführen werden. Natürlich arbeitet Hasso nicht im Wurst-Museum, aber seit er mal in einem Wurstfilm mitgespielt hat, pflege ich das zu kolportieren. Hasso ist nämlich der Typ Traumschwiegersohn, solange er sich in seinen Wall-Street-Look hüllt, und eine ziemlich verspielte Sau, sobald er den Dreiteiler in den Schrank gehängt hat.

Ganz langsam tritt das Grundrauschen der Autobahn wieder in den Hintergrund, und aus dem akustischen Dunst taucht Hassos Stimme auf. Aber es dauert noch, bis ich begreife, wovon gerade die Rede ist.

«… dachte ich, wir sollten über getrennte», sagt er gerade und macht eine Pause, die offenbar eine rhetorische sein soll, bevor er sich zurücklehnt und hinzufügt «… Schlafzimmer nachdenken.» Getrennte Schlafzimmer, sagt er, seien für viele Beziehungen die Rettung gewesen, das nötige Quäntchen Freiheit, das die Freude aufeinander nur steigern könne. Sein Freund P. schwärme geradezu von getrennten Schlafzimmern. Wenn man sich dann zufällig begegne, sich irgendwie ins Bett des anderen verirre, sei das wie ein Abenteuer, wie …

«Getrennte Schlafzimmer», so ich, «sind doch zunächst mal ein Zeichen dafür, dass man nicht zusammen schlafen will. Und mit dir zu schlafen, das ist mit Abstand das Beste an unserer Beziehung, so man bei unserem Zusammenleben von einer Beziehung sprechen kann.»

«Ei der Daus! Du hast völlig recht, da fehlt es mal wieder an Begriffen im Deutschen. Beziehung, was soll das sein? Eine Beziehung habe ich auch zu meinem Zahnarzt, eine schmerzhafte zwar, aber eine, die auf Notwendigkeiten beruht und auf Vernunft.»

«Schmerzhaft, notwendig, vernünftig. Ehrlich gesagt, diese Definition trifft auch auf die meisten Ehen zu.»

Hasso kommt wieder etwas näher, beugt sich sogar ein wenig über den Tisch.

«Aber worin unterscheidet sich unsere Beziehung von der anderer Leute, die von sich behaupten, noch ein Paar zu sein?»

«Das musst du die anderen fragen. Frag sie, warum sie glauben, dass sie noch ein Paar sind.»

Hasso betrachtet versonnen seine manikürten Fingernägel, streicht sich, wie immer, wenn er ratlos ist, eine Locke aus der Stirn, während ich meine Zigarette ausdrücke.

«Das ist deine fünfte gewesen, seit wir hier sitzen.»

«Sag bloß.»

Hasso hat leider die Angewohnheit, nicht nur meinen Zigarettenkonsum zu überwachen, sondern auch alles andere, was in meinem Dasein Freude bereitet. Aber er vertieft die Sache dankenswerterweise nicht, sondern wechselt das Thema.

«Wusstest du eigentlich, dass ich einen schwulen Neffen habe?»

«Tatsächlich?»

«Meine Schwester hatte schon lange den Verdacht, aber jetzt ist es raus.»

«Da haben deine schwulen Gene einen Haken geschlagen in die nächste Generation, gratuliere.»

«Hübsche Vorstellung, Donnerwetter!» Endlich lächelt er wieder. «Aber du glaubst doch wohl nicht an schwule Gene, oder?»

«Warum denn nicht? Es soll ja immerhin einige flamboyante Pirouetten auf dem X-Chromosom geben, die die Leidenschaft fürs gleiche Geschlecht begünstigen.»

«Du glaubst auch jeden Scheiß», spuckt Hasso verächtlich über den Tisch, aber ich lasse nicht locker, denn Lockerlassen gehört nicht zu meinen Stärken.

«Stell dir vor, wie fancy das wäre. Man könnte als Eltern durch Genmanipulation entscheiden, ob der Sohn schwul werden soll oder nicht. Das wäre nicht nur ein prima Mittel zur Geburtenkontrolle, sondern vermutlich überhaupt das Ende der Menschheit.»

«Warum das denn?» Hasso fummelt erneut in seinen Locken herum.

«Na, weil alle, die das Kindeswohl im Auge haben, natürlich wollen, dass ihr Sohn schwul wird!»

«Warum das denn?» Hassos Rhetorik lässt zu wünschen übrig.

«Also wirklich. Das versteht sich doch von selbst. Schwule sind besser gebildet als der Bevölkerungsdurchschnitt, sie konsumieren mehr und kurbeln damit die Konjunktur an, sie sind beruflich flexibler und durch ihre größere Kommunikationsbereitschaft in einer Dienstleistungsgesellschaft besser vermittelbar. Schwule garantieren Wohlstand, Aufschwung, rückläufige Arbeitslosigkeit.»

«Ich fürchte», wirft Hasso ein, um mich in meinem Elan auszubremsen, «dass der Wunsch nach Enkeln bei vielen Eltern größer ist als …»

«Papperlapapp. Konventionelle Fortpflanzung ist ohnehin völlig antiquiert. Wer Kinder will, kann sie heute doch optimiert und ohne Risiko im Labor bestellen. Die sind dann auch garantiert hübsch, gesund und intelligent mit Zertifikat.»

«Dein Wort in Gottes Ohr.»

«Okay, Gott und manche seiner fanatischen Anhänger mögen das anders sehen, aber die sollen dann eben ihren Nachwuchs konventionell zeugen.»

Hasso seufzt, wie er immer seufzt, wenn ihm die Flausen in meinem Kopf zu ungestüm rotieren.

«Wenn nur noch Fanatiker heterosexuelle Kinder zeugen, dann gute Nacht, Marie! Wie schön, dass diese Apokalypse nur in deinem überspannten Hirn stattfindet.»

Er greift als Zeichen, dass er die Debatte für beendet hält, nach seinem Sakko, das über der Stuhllehne hängt. Ich lasse mich zurücksinken und schließe die Augen, um ihm großzügig den Vortritt beim Bezahlen zu lassen, doch leider klingelt nun mein Handy, sodass ich sie gleich wieder aufmachen muss. Ich werfe einen Blick aufs Display, dann auf Hasso, dann wieder auf das Display und gehe ran.

«Hallo!», höre ich die Stimme von Eduardo, den Hasso nach wie vor Maria Dolores oder kurz Dolo zu nennen pflegt und der dank seiner kubanischen Wurzeln gelegentlich einen Hauch Rumba und Mambo in unser Leben bringt, gern durch die Welt jettet und für irgendeine deutsche Umwelthilfe tätig ist. Hasso und Dolo sind vermutlich die Einzigen in unserem weiten Bekanntenkreis, die noch keinen Sex miteinander hatten. Das verbindet, auch wenn Hasso jetzt ein wenig die Augen verdreht, als ich ihm zuflüstere, ich hätte Dolo in der Leitung.

«Hallo! Rate mal, wo ich bin. Da kommst du nie drauf!» Eduardo scheint in einer seiner berüchtigten Euphorie-Phasen zu sein.

«In der Klapse?», frage ich. «Auf einer Modenschau?»

«Einmal darfst du noch …»

Ich überlege eine Sekunde zu lange und spüre schon die Ungeduld Eduardos.

«Ich helfe dir: Bei euch ist es längst stockdunkel, richtig? Hier sehe ich einen satten Sonnenuntergang in allen Farben des Regenbogens – über Dünen.»

«Du bist auf Gran Canaria, du Ferkel!»

«Glückwunsch: Treffer! Du bist unglaublich. Wie hast du das nur erraten.» Ich höre sein helles Lachen. «Komm doch vorbei!»

«Warum sollte ich das tun?»

«Du warst zehn Jahre nicht mehr hier, und kommende Woche ist Winterpride!»

«Was ist kommende Woche?»

«Winterpride. Noch nie davon gehört? Also wirklich. Gran Canaria ist schon ewig die schwule Destination im Atlantik …»

«Was du nicht sagst.»

«… und du hast immer noch nichts vom Winterpride gehört?»

Ich kenne Eduardo gut genug, um zu wissen, was jetzt kommt. Aber es hat keinen Sinn, ihn abzuwürgen, wenn er dabei ist, weit auszuholen, denn im Zweifelsfall klingelt das Telefon in zwei Minuten erneut, und man muss zusätzlich zur Geschichte noch einen Schwung Vorwürfe über sich ergehen lassen, deshalb halte ich die Luft an.

«Also, mein Lieber, hör zu. Wie es sich für jede solide schwule Destination ziemt, sollte irgendwann auch hier ein CSD stattfinden. ‹Muss das wirklich sein?›, hat der Tourismusverband gefragt. ‹Wir haben natürlich nichts gegen Schwule, aber wollen wir das schwule Image tatsächlich, also Sie wissen schon, muss man das noch weiter fördern, ist das nötig, was sollen denn die Familien denken, die herkommen, und überall sind diese Schwulen!› Aber dann hat man das mit dem CSD mal ausprobiert, hat ihn auf den Mai gelegt, und plötzlich standen da bei der Parade 50.000 Leute an der Straße, und in der Nebensaison waren alle Hotels ausgebucht. Hätten die mich als PR-Chef engagiert, wäre ich auch auf 100.000 gekommen, denn ich kenn doch meine Pappenheimer. Wenn man irgendwo für einen guten Zweck saufen und in der Sonne liegen kann, sind die immer dabei. Die Kerle sind also angereist und haben üppig Kohle dagelassen. Da hat dann der Tourismusverband gesagt: ‹Uii!› und ‹Äh› und ‹Entschuldigung, meint ihr nicht, wir könnten möglicherweise noch einen zweiten CSD im Jahr machen? Vielleicht irgendwann im Herbst?›»

«Und das ist der Winterpride, verstehe.»

«Ja, Süßer», säuselt Eduardo, «du sagst es. Stolz, schwul zu sein, das kann man schließlich nicht genug haben! Und wo Kohle winkt, da ist auch Pride.»

Jetzt verdrehe ich die Augen, und Hasso erhebt sich, um am Tresen zu zahlen.

«Und du bist da ganz allein?»

«Nun, das ist natürlich eine Frage der Definition von Alleinsein, aber ich bewohne gerade ein Doppelzimmer in Einzelnutzung, wenn du das meinst.»

Die Autobahn rauscht, während Eduardo aus der Ferne weiter plaudert, aber das Gefühl, am Meer zu sitzen, stellt sich nicht mehr ein. Es bleibt die A 100, sosehr ich auch versuche, an Brandung zu denken.

Hasso schüttelt nur den Kopf, als ich ihm zwei Stunden später in unserer Küche mein Flugticket auf den Tisch lege, das ich gerade ausgedruckt habe.

«Willst du nicht mitkommen? Ist auch nur für eine Woche», frage ich der Form halber, aber Hasso tippt sich nur an die Stirn. Besser so, denke ich, dann werde ich Eduardos Einladung annehmen und auf der Insel sein Doppelbett mit ihm teilen, ich werde Hasso gut aufgehoben wissen als Inspektor der heimischen Instandsetzungsarbeiten und meinerseits rücksichtslos tun und lassen können, was ich in der Hitze südlicher Tage und Nächte zwischen Dünen und Darkroom für richtig halte. Ist ohnehin eine absurde Idee, mit seinem Partner nach Gran Canaria zu fliegen. Man bringt sich ja auch nicht sein Bier mit in die Kneipe.

Andererseits erinnere ich mich gern an die Tage, die ich vor einer kleinen Ewigkeit mit Hasso, Dolo und unserer Sahneschnitte Lex in Maspalomas verbracht habe. Lex, denke ich, der ist uns damals abhandengekommen in den Bergen. Ich erhebe mich vom Küchentisch und suche in meiner Korrespondenz-Box, die auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer steht, seinen ersten Brief, der Monate später in meinem Briefkasten lag. Im Briefkasten! Er hatte ihn wirklich per Post geschickt, dabei hatte ich schon daran gedacht, meinen Briefkasten ganz abzuschrauben, denn seit Längerem fand sich dort nur noch Unangenehmes vor. Wozu eine Kiste im Treppenhaus aufhängen, in der sich lediglich Werbung und Rechnungen ansammeln? Briefkästen sind was für Masochisten. Bei jedem Aufschließen ein mulmiges Gefühl und die Erleichterung, wenn er mal leer ist. Aber dann kam der Brief von Lex, in dem er schrieb, er arbeite jetzt als Ziegenhirte und sei glücklich. Wo ist dieser Brief? Ich habe ihn natürlich aufgehoben, er müsste in dieser Box sein. Normalerweise schau ich hier nicht rein, sie erinnert mich zu sehr an Pandoras Büchse, von der man bekanntlich auch besser die Finger lässt. Zu viele Erinnerungen, Liebesbekundungen für die Ewigkeit, die verblasst und vergessen sind, und auch bittere Briefe voller Anwürfe, Enttäuschung, ja Hass. Die ganze Box einfach in den Müll zu werfen, schaffe ich aber auch nicht.

Ob Lex noch immer auf der Insel ist? Ich denke, ich werde es rausfinden. Soll ich ihn jetzt anrufen? Jetzt gleich? Seine Nummer habe ich noch gespeichert. Nein, das mache ich erst, wenn ich da bin.

Zur Vorbereitung auf Gran Canaria ziehe ich mich in unser Bett zurück, konsultiere das weltweite Netz und schaue, was die kommende Woche so bringen wird. Eduardo Maria Dolores hat nicht untertrieben, allerdings gibt es neben dem Sommer- und Winterpride auch noch einen Bären-Karneval, eine Fetischwoche, ein Freedom-Festival und ein Bären-Camp. Entweder die örtliche Tourismusbranche hat sich gesagt: wennschon, dennschon, oder sie hat endgültig die Kontrolle verloren.

Letztere Vorstellung bereitet mir deutlich mehr Vergnügen. Die Heteros sind in der Defensive, die Insel-Invasion der Schwulen war durchschlagend erfolgreich, die Machtübernahme verlief unblutig und nahezu lautlos, abgesehen vom rituellen Dröhnen einiger Hymnen wie YMCA, mit denen letzte Hetero-Familien akustisch ausgeräuchert und in die Flucht geschlagen werden. Eine friedliche Revolution. Homos aller Länder, vereinigt euch! Maspalomas als Idealstaat mit schwuler Majorität, Minderheiten werden großherzig toleriert, solange sie keinen Fanatismus zu Markte tragen, der antiquierte Nationalstaatsgedanke ist überwunden, Engländer vögeln mit Franzosen, Deutsche mit Polen, Ukrainer mit Spaniern. Ein europäischer Traum – verwirklicht im Geiste Brüssels.

Gemeinsame Sprache ist der Sex, das Bier geht nie zur Neige, und die Sonne scheint an über 300 Tagen im Jahr. Und gefeiert wird ohn’ Unterlass. Da hat sich doch einiges getan, seit ich das letzte Mal da war, denke ich und schlafe mit dem wohligen Gefühl ein, dass ich schon in zwei Tagen Teil des wilden Lebens unter Palmen sein werde, von dem Millionen Homos zwischen Prestwick und Pusztavacs, Potenza und Pasewalk träumen und das sich fast ebenso viele für ein paar Tage im Jahr leibhaftig gönnen.

Erster Tag: Sonntag

Hasso gibt mir einen Kuss auf die Nase, als ich mit Tasche in der Tür stehe.

«Pass auf dich auf», sage ich. «Und lass keine fremden Männer in die Wohnung.»

«Dein Rat wird schwer zu befolgen sein. Um zwei kommen die Rohrleger.»

«Gas, Wasser, Scheiße klingt in meinen Ohren beruhigender», sage ich. «Aber wie auch immer, pass auf dich auf.»

«Klar, wie immer.» Es schiebt mich sanft in den Hausflur und gibt mir freundlich ein Zeichen, dass ich den Abflug machen soll.

Als ich rund sieben Stunden später lande, ist es regnerisch und kühler als in Berlin. Das hatte Dolo mir verschwiegen. Der Flughafen von Las Palmas ist jetzt doppelt so groß wie vor zehn Jahren, aber sonst hat sich wenig geändert. Die ersten Mitreisenden stehen bereits in Flipflops am Gepäckband. So sind die doch in Berlin nicht eingestiegen, wie schaffen die das nur, frage ich mich. Das ist es vermutlich, was sie sich unter Urlaub von Anfang an vorstellen. Ich sehe zu, wie sie tonnenschwere, mit Riemen und Seilen und Gürteln notdürftig zusammengehaltene Koffer-Ungetüme auf Wagen hieven, vorbei an den gelangweilten Kontrolleuren nach draußen schieben, wo sie gemeinsam mit ihren Gepäckmonstern in Kleinbusse verladen werden für die halbe Stunde Fahrt durch Gewerbegebiete und andere lebensfeindliche Ödlandschaften bis zu ihren Hotels in der kanarischen Südkurve.

Was bin ich froh, diesmal kein Hotel aussuchen zu müssen, sondern ins gemachte Bett fallen zu können. Und was bin ich froh, nicht mit diesen Flipfloppern und ihren Bondage-Koffern in einen Zwölfsitzer gepfercht zu werden, sondern allein in einem Mietwagen zu sitzen und entspannt eine Zigarette zu rauchen.

Ingenio und Arinaga, Vecindario und Bahía Feliz, die Ausfahrten an der Piste klingen schon nach elegischen Abenden bei Vino tinto, nach verschlafenen Strandlokalen mit fangfrischem Fisch und Nächten mit heißblütigen Spaniern. Wunderbar. Warum bin ich nicht längst schon mal wieder hier gewesen? Zur Linken funkelt das Meer, rechts breiten sich die kargen Felslandschaften einer Westernkulisse aus, und vor mir tauchen nach kaum mehr als zwanzig Minuten die ersten Hotelblocks von Maspalomas auf. Maspalomas, dieses südlichste urbane Gebilde der Kanarischen Inseln, locker hingestreute Örtchen um das Zentrum Playa del Inglés, in dem das schwule Herz des Archipels pulsiert. Ich merke, wie es mich magisch anzieht, wie mein kleiner Corsa wie von selbst die Ausfahrt anpeilt, durch ein paar Kreisel schnurrt und auf die Zielgerade einschwenkt.

Dolo hat sich für eine Unterkunft direkt an der Hauptstraße entschieden, an der Avenida Tirajana, was wenig charmant klingt, mir aber langes Suchen erspart. Vorn, wo aus irrwitzigen Überlegungen des Architekten die Schlafzimmer liegen, braust der Verkehr und grölen vermutlich nachts die enthemmten Saufköppe, hinten hat man dagegen von einem Salon mit offener Küche und Balkon aus einen beschaulichen Blick auf ein paar dürre Palmen und ein Pool-Ensemble.

Ich werfe mein Gepäck in die Zimmerecke, Dolo drückt mich stürmisch an sich, und wir lassen uns gemeinsam aufs Bett fallen. Er wird immer der junge Hund bleiben. Verspielt und distanzlos, aber so herzerwärmend, dass man ihm nichts lange übel nehmen kann. Es ist fast schon ein Wunder, dass er mir nicht mit seiner Zunge einmal quer übers Gesicht schleckt.

Jetzt, wo ich auf dem Bett liege und mich umsehe, ist mein erster Gedanke: Du bist auch keine zwanzig mehr. Damals, bilde ich mir zumindest ein, haben mir längere Anreisen nichts ausgemacht. Damals habe ich sogar auf Bahnhöfen geschlafen, an Stränden, auf Friedhöfen. Das war nicht nur kein Problem, das war eine Selbstverständlichkeit. Und, frage ich mich, waren die Ferien damals weniger schön? Nein, sie waren außergewöhnlich in jeder Hinsicht, sie waren nicht konfektioniert, sie waren voller Überraschungen, die mir heute noch in Erinnerung sind. Es war die Prise Abenteuer, die diese Reisen unvergesslich machte. Hier dagegen ist alles darauf angelegt, Überraschungen jeder Art zu vermeiden, denn Leute, die hier Urlaub machen, lieben keine Überraschungen. Sie bringen sich ihren deutschen Tchibo-Kaffee und ihr deutsches Markensalz mit, und natürlich haben sie auch Schwarzwälder Schinken im Gepäck, denn Serrano, Iberico und Bellota, was soll das sein? Sie trinken ihren Kaffee bei Starbucks und kaufen ihren Käse bei Lidl. Sie wollen es auch in ihrem Hotel genormt, bespaßt, klimatisiert, buffetiert, televisioniert, und wehe, der Duschvorhang ist zu kurz.

Solche Urlaube mögen im Augenblick entspannend sein, aber nach einem Jahr sind sie nichts mehr als ein blasses Gespenst im Geisterhaus der toten Erinnerungen. Doch man kann auch in einer Holiday-Plattenbaukaserne Spaß haben, davon bin ich überzeugt. Also nichts wie los! Soll ich Sebastian vom Flughafen abholen?, hat Dolo sich am Morgen gefragt. Zumindest behauptet er das. Doch dann hat er seine Schmolllippen leicht gekräuselt und sich entschieden, dafür keinen halben Urlaubstag zu opfern. Man muss es ja nicht übertreiben. Und wer weiß, vielleicht ist Sebastian sogar ganz froh, wenn er die Fahrt im Taxi allein machen kann. Ich hatte Dolo nichts von meinen Mietwagenplänen gesagt. Er rollt sich also nach dem Frühstücksbuffet noch mal in die Laken und fügt seinem Schönheitsschlaf zwei weitere Stunden hinzu.

Seine Großmutter hat ihm einen kleinen lederbezogenen Dreifach-Bilderrahmen hinterlassen, der sich wie ein Altar aufstellen lässt und den man zusammenfalten und in fast jede Tasche stecken kann. Perfekt für die Reise. Dolo hat es nicht versäumt, ihn aufzustellen. Altäre besitzen für ihn eine besondere Faszination, sei es, weil sie in seinen kubanisch-katholischen Genen liegen, sei es, weil sie in der DDR seiner Kindheit einen so exotischen Charme besaßen. Er hat seinen kleinen Klappaltar stets bei sich und bestückt ihn mit Bildern seiner aktuellen Helden. Im Augenblick sind es Friedrich Hölderlin, Erich Honecker und ein orientalisch wirkender junger Mann, vermutlich irgendein beduinischer Popstar. Man darf also Dolos Geschmack mit gutem Recht als extravagant bezeichnen.

Das Hotelzimmer ist auch sonst bereits weitmöglichst individualisiert. Eine rote Batiktischdecke, Draperien über dem Sofa, ein Topf roter Rosen auf dem Balkon und rote Glühbirnen in den Nachttischlampen verwandeln das Ambiente in irgendwas zwischen Boudoir und Puff.

Wussten Sie, dass das schöne Wort Puff sich vom alten Wort puffen ableitet, was nichts anderes als kopulieren meint? Und wussten Sie, dass das noch weit schönere Wort Boudoir von französisch bouder kommt, was so viel wie schmollen bedeutet? In feudalen Häusern gab es nicht nur Bäder, Küchen, Salons, sondern extra einen Schmollraum, in den man sich zurückziehen konnte, wenn man angepisst war. Ich finde das fantastisch. Es erinnert mich natürlich auch an den heute in Mode gekommenen Panic Room. Was sagt das über eine Gesellschaft aus, wenn sie sich statt Schmollräumen Panikräume einrichtet? Ich möchte gar nicht drüber nachdenken. Zumindest nicht jetzt.

Dolo hat sein Hotelzimmer also, so weit es die begrenzten Mittel ermöglichen, in ein Etablissement zum Ficken und Schmollen verwandelt. Beides tut er mit Leidenschaft. Nun aber, wo ich angekommen bin, ist ihm das Dekor etwas peinlich, wie mir scheint. Er lächelt verlegen und klappt zumindest, nachdem ich einen flüchtigen Blick darauf geworfen habe, schon mal den Altar zusammen. Doch die Verlegenheit währt nur kurz. Er liegt neben mir auf dem Bett, küsst mich links, rechts, links und überschüttet mich mit Komplimenten, die ziemlich dick aufgetragen sind.

Ja, so ist er, so war er immer, denke ich. Ein paar silberne Haare haben sich in seinen nachtschwarzen Mecki eingeschlichen, aber sonst sieht er aus wie immer und hat wie immer auch schon den Cava kalt gestellt.

«Nicht schlappmachen», höre ich ihn. «Wie wär’s mit einem Make-over light und dann ab ins Café Wien? Du weißt schon, auf den schwulen Catwalk. Für den Strand ist es heut zu spät, und fürs Yumbo noch deutlich zu früh.»

Ich schaue in den Spiegel, fühle mich ein bisschen bleich, aber was soll’s. Vom Im-Bett-Liegen bekommt man keine Farbe.

«Ich werde nichts auslassen auf diesem Winterpride», verkündet Dolo gerade. «Und wenn ich nichts sage, dann meine ich nichts

Ich überlege noch, ob ich auch schon zu Flipflops greifen soll, als Dolo mit einem TaTa! in leuchtend roten Speedos vor mich tritt.

«So gehst du?»

«Aber ja, Süßer, man muss zeigen, was man hat. Dazu ein leichtes Leinenhemdchen und die Afternoon-Tea-Garderobe ist komplett. Siehst du diese Beine? Die sollte man doch nicht verstecken! Und so wirke ich, als käme ich direkt vom Strand, doch im Unterschied zu den anderen, die sich durch die Dünen kämpfen mussten und zerzaust und verschwitzt im Wien auflaufen, sehe ich aus, als könnten mir weder Zeit noch Raum etwas anhaben.»

Es ist nur ein Steinwurf bis zum Centro Comercial Cita, das seit 1970 auf mehr als zwanzigtausend Quadratmetern alles bietet, was man 1970 an Urlaubsfreuden erwarten durfte. Dank Dolos Pfadfinderspürsinn finden wir auf Anhieb durch die gespenstisch leeren Gänge den Weg zum Wien auf der herausgeputzten Terrasse im ersten Stock. Der Kontrast könnte nicht größer sein, denn das hier ist noch immer der place to be. Das Schnattern von zweihundert Männern und ein paar Frauen wogt uns entgegen, das Tortenbuffet ist leer gefressen und die Stimmung prächtig. Inzwischen sind die meisten Gäste zu Weißbier oder Sangria übergegangen oder schlürfen ihr vermutlich drittes Gläschen Cava. Mit Wiener Kaffeehaus hat das Ganze wirklich nichts zu tun. Statt dämpfender Fauteuils, schwerer Vorhänge, dunklem Holz und tausendjährigen Tapeten strahlt alles unter weißen Markisen und weißen Schirmen auf weiß lackierten gusseisernen Tischchen. Der Lärmpegel entspricht nicht dem einer Gruft, sondern dem einer Bahnhofshalle, die Kellner sind keine grantigen Fossile, sondern agile und einigermaßen flirtfreudige Zeitgenossen, und Sacher und Linzer scheinen prinzipiell nicht im Angebot. Wobei, wie gesagt, gerade gar nichts im Angebot zu sein scheint.

«Ein Paar Wienerle vielleicht? Würstchen gibt’s hier immer», höre ich unseren Kellner.

Das fehlt mir grade noch. Ich bestelle ein Tropical und schaue in die Runde. Dass es so was noch gibt, denke ich. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Ich sitze mitten in einem der letzten analogen Schwulenparadiese. Hier kann man noch jemanden kennenlernen, indem man ihm live in die Augen schaut, seiner Stimme lauscht, sieht, wie er auf eine flüchtige Berührung reagiert, hört, wie er über einen Scherz lacht. All das ist in den letzten zehn Jahren endgültig aus der Mode gekommen. Nur verschrobene Exoten, denke ich, verzichten heute noch auf eine virtuelle Kontaktanbahnung, doch hier ist alles so, wie es immer war. Ja, es gibt auch hier ein Passwort, und mancher konsultiert seinen smarten Begleiter im praktischen Hosentaschenformat, um zu erkunden, wer sich im Umkreis von zwanzig Metern befindet, aber die Mehrheit der Anwesenden wagt doch den direkten Blick und erkennt auch ohne Handy, dass dort Männer sitzen.

Einen Moment stelle ich mir vor, dass die Handys vielleicht gar nicht so wahnsinnig modern sind, wie alle zu glauben scheinen, sondern etwas von jenen altmodischen Tischtelefonen haben, die vor hundert Jahren in gewissen Etablissements die Kommunikation von Tisch zu Tisch anbahnten. Ich stelle mir vor, wie der Knabe von Tisch 3 sich Fotos vom Schwanz des Herrn an Tisch 17 betrachtet, bevor er ihn zu sich herüberbittet.

«Was grinst du so?», fragt mich Dolo, der sich gerade einen Eisbecher Wien Spezial reinpfeift.

«Irgendwie ist alles anders, und doch bleibt am Ende alles gleich», sage ich.