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Verlagstext

In seiner Erzählung «Der Tod in Venedig» beschreibt Thomas Mann zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ende der durchgeistigten Kulturtradition in Europa. Sein Szenario – ein ausgebrannter Mann zieht sich auf eine Urlaubsinsel zurück und verstrickt sich in eine unmögliche Liebe – wurde seitdem fast überall auf der Welt von Dichterkollegen und -kolleginnen aufgegriffen und weiterentwickelt, von Sylvia Townsend-Warner über Hermann Broch, Charles Jackson und Yukio Mishima bis zu Gilbert Adair und Hans Christoph Buch, um nur einige zu nennen; Luchino Visconti und Benjamin Britten interpretierten den Stoff zudem mit den Mitteln des Films und der Oper. Nah am literarischen Material rekonstruiert Joachim Bartholomae das Netz der Bezüge, Anspielungen und Widersprüche, die voller Leidenschaft eine weit zurückliegende Kultur beschwören und den Anfang von etwas Neuem ausprobieren.

Über den Autor

Joachim Bartholomae wurde 1956 in Bielefeld geboren. Nach Abschluss des Soziologiestudiums zunächst Buch-händler, dann Verleger in Hamburg. Diverse Veröffentlichungen zu zeitge-schichtlichen und literaturwissenschaft-lichen Themen, unter anderem «Wie der Keim einer Südfrucht im Norden» und «‹Schlaffe Ghaselen› und ‹Knoblauchs-geruch›» (mit Christopher Keppel).

Joachim Bartholomae

ASCHENBACHS VERMÄCHTNIS

Thomas Manns Novelle «Der Tod in Venedig»

und ihr Echo in der Literaturgeschichte

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Inhalt

Verlagstext

Über den Autor

Inhalt

Vorwort

Der Kuss der Galatea –

I

II

III

Auf Aschenbachs Spuren

Viktor Meyer-Eckhardt: «Die Gemme» (1926)

Sylvia Townsend Warner:

«Mister Fortunes letztes Paradies» (1927)

Hermann Broch: «Der Tod des Vergil» (1945)

Charles Jackson: «Die Niederlage» (1946)

Yukio Mishima: «Verbotene Farben» (1950)

Wolfgang Koeppen: «Der Tod in Rom» (1954)

Alvaro Pombo: «Leichte Vergehen» (1986)

Gilbert Adair: «Liebestod auf Long Island» (1990)

Hans Christoph Buch: «Tod in Habana» (2007)

Louis-René des Forêts: «Le malheur au Lido» (1987)

Thomas Mann im Medientransfer

Viscontis Spielfilme und Brittens Oper

Zusammenfassende Betrachtungen

Literatur

Impressum

Wer würde denn, wie Mr Pater einmal fragte, die geschwungene Linie eines einzelnen Rosenblattes gegen das formlose, unberührbare Sein eintauschen, dem Plato so hohe Bedeutung beimisst? Was bedeuten uns die Erleuchtung des Philon, der Abgrund Eckharts, die Visionen Böhmes, ja der enorme Himmel selbst, dessen Anblick Swedenborgs erblindeten Augen enthüllt wurde? Diese Dinge bedeuten uns weniger als die Blüte einer einzigen Narzisse auf dem Feld.

Oscar Wilde, Der Kritiker als Künstler

Vorwort

Als Viscontis Film «Der Tod in Venedig» Anfang der 1970er Jahre in die deutschen Kinos kam, war ich vom Donner gerührt: Derart unverhohlene Darstellungen der Faszination durch männliche Schönheit waren mir bis dahin vollkommen unbekannt. Ich las die Novelle und schrieb im Deutschunterricht eine «Jahresarbeit» darüber, die mir nur eine mäßige Note einbrachte, weil ich mich allzu einseitig mit der homoerotischen Dimension befasst hatte, aus persönlichen Gründen. Der Lehrer gab mir den Tipp, auch Wolfgang Koeppens «Tod in Rom» zu lesen, und damit begann eine lebenslange Beschäftigung mit dem sehr komplexen Stoff des «Originals» und den Besonderheiten verwandter Werke, von denen ich im Laufe der Jahre eine ganze Reihe entdeckte. Den Ausschlag, den Ertrag meiner Lektüre endlich einmal schriftlich zusammenzutragen, gab Charles Jacksons Roman «Die Niederlage» aus dem Jahr 1946, den ich vor drei Jahren ins Deutsche übersetzte. Ich las, wie der Held der Geschichte, ein Literaturprofessor namens John Grandin, schläfrig im Zugabteil sitzt, als plötzlich ein junger Offizier auf ihn zukommt:

«Als er Grandins Sessel erreicht hatte, geriet der baumlange Kerl ins Straucheln und musste sich mit der Hand am Gepäcknetz über Grandins Kopf festhalten, um nicht gegen das Fenster zu prallen. In dieser instabilen Haltung sah er auf ihn hinab und lächelte. John Grandin gelang es nicht sofort, das Lächeln zu erwidern; es war mit Sicherheit das umwerfendste Lächeln, das er je gesehen hatte, und er war wie vom Donner gerührt. Als er sich gefangen hatte, war der Soldat schon weitergegangen.» (Jackson 2016:51)

Das kam mir bekannt vor: Gustav von Aschenbach geht im nächtlichen Park spazieren, als plötzlich Tadzio aus dem Dunkeln hervortritt und ihn anlächelt. Aschenbach ist vom Donner gerührt und denkt: «Du darfst so nicht lächeln», und: «Ich liebe dich!» (Mann 1981:614). Weitere Anspielungen folgten Schlag auf Schlag; ich forschte ein wenig nach und erfuhr, dass Jackson Thomas Manns Novelle gelesen hatte, sobald sie auf Englisch verfügbar war, und Thomas Mann später persönlich kennenlernte.

Ich machte mich daran, all die «Echos», auf die ich im Laufe der Jahre gestoßen war, zusammenzutragen. Dabei beschloss ich, auf die an sich reizvolle Gegenüberstellung direkter Zitate oder Verweise zu verzichten, die zwar im Einzelfall verblüffend sein mag, auf Dauer jedoch ermüdet und zudem hauptsächlich einen kleinen Kreis verwandter Enthusiasten ansprechen würde. Stattdessen versuche ich, diese Echos in ihrer Ganzheit vorzustellen und die Art und Weise, wie die Autoren und Autorinnen mit den Bällen «unverhoffte Liebe», «Schönheit», «Geist versus Sinnlichkeit», «Meeressaum» etc. jonglieren, zu erörtern. Richtschnur ist mir dabei stets, den Bereich der Literatur möglichst nicht zu verlassen und Abstraktionen möglichst zu vermeiden: Die vielen faszinierenden Texte sollen für sich selbst sprechen; Ziel meiner Darstellungen ist es, zur eigenen Lektüre dieser Werke hinzuführen, und nicht, die Neugier der Leser und Leserinnen durch letztgültige Auswertungen abzuwürgen. Es gibt so viele Hamlet-Interpretationen, wie es Melancholiker gibt – man mag Gustav von Aschenbach oder jeden der anderen Protagonisten lieben oder hassen, nur eins würde ich bedauern: wenn es mir nicht gelingen sollte, sie den Lesern und Leserinnen interessant zu machen.

Eine Warnung muss ich voranstellen: «Diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen», wie Thomas Mann im Vorsatz von «Der Zauberberg» schreibt. Es ist von Menschen die Rede, deren Lebensglück von Sinnfragen und Wertentscheidungen beherrscht wird, die heutigen Lesern verstiegen erscheinen mögen, die jedoch seit dem 18. Jahrhundert die abendländische Kultur bestimmt haben. Ich selbst wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts geboren, weshalb ich vielleicht der letzten Generation angehöre, die in dieser geistigen Atmosphäre aufwuchs. Seit vielen Jahren verfolge ich mit großem Interesse, wie das Leben in Europa sich an anderen, an neuen Parametern zu orientieren versucht, und ich bezweifle, dass diejenigen, die von einer «deutschen Leitkultur» reden, eine klare Vorstellung haben, was sie damit meinen. Doch eins scheint mir nach wie vor zu gelten: Wir sind, wer wir waren, und deshalb ist es bestimmt kein Fehler, sich ein Bild von der Größe und dem Wahnsinn unserer Vorfahren zu machen. Die Literatur ist das perfekte Mittel zu diesem Zweck. Ich präsentiere zehn bunte Steine in einem Kaleidoskop, keinen Magischen Würfel, den es farblich zu sortieren gilt. Wie Hermann Broch sagt: die «rauschhafte Verzauberung einer Einheit, die so lange währt wie der Gesang» (1995:130).

Der Kuss der Galatea –

Thomas Manns Novelle «Der Tod in Venedig»

Thomas Mann schreibt 1911, im Alter von sechsunddreißig Jahren, nach einem Ferienaufenthalt in Venedig über Gustav von Aschenbach, einen alternden Schriftsteller, der sein Leben einem rein geistigen Schönheitsideal gewidmet hat. Weil ihn die Inspiration verlässt, unternimmt er eine Urlaubsreise. Vor dem Hintergrund der verfallenden Grandezza Venedigs erscheint ihm in Gestalt eines jungen Polen die physische Verkörperung vollkommener Schönheit, die ihn anfangs entzückt, dann jedoch in seinen Grundfesten erschüttert: Kann Schönheit so «leicht» zu haben sein? Und darf man die Schönheit sinnlich lieben? Gustav von Aschenbach ist nicht immun gegen den sinnlichen Reiz physischer Schönheit, und so verliebt er sich, ohne es zu wollen, in den jungen Tadzio – eine Liebe, für die es keine Erfüllung geben kann und die ihn schließlich verzehrt. Er ist so betört, dass weder der Verlust seiner Würde noch seines Lebens ihn darin beirren können, diesem schönen «Seelenführer» zu folgen.

Man kann wohl zu Recht behaupten, dass noch einhundert Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung ein sehr großer Teil des literarischen Publikums in Deutschland und selbst weltweit zumindest von dieser Novelle gehört hat und in etwa zu wissen glaubt, «worum es geht». Doch sobald man diesen Plot auf eine griffige Formel zu bringen versucht – alter Mann verliebt sich in pubertären Jungen –, fällt es schwer zu begreifen, was eigentlich das Besondere an dieser Geschichte sein mag, das ihren Weltruhm erklären könnte.

Das heutige Publikum wird vermutlich zum großen Teil Thomas Manns Novelle mit Luchino Viscontis prächtiger Verfilmung aus dem Jahr 1971 identifizieren, die, wie auch Benjamin Brittens Opernbearbeitung nach einem Libretto von Myfanwy Piper, jedoch durchaus eigene Akzente setzt, die von Thomas Manns Novelle deutlich abweichen. Eine Betrachtung von Gustav von Aschenbachs Vermächtnis kommt also nicht umhin, sich zunächst der komplexen Themenstruktur von Thomas Manns Novelle zu vergewissern.

I

Gustav von Aschenbach erlebt auf seinem Spaziergang durch den Englischen Garten einen Anfall von Reiselust – so setzt die Erzählung ein:

«Er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, – sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und fern emporstreben, [...] sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. Dann wich das Gesicht; und mit einem Kopfschütteln nahm Aschenbach seine Promenade an den Zäunen der Grabsteinmetzereien wieder auf.» (1981:562)

Der auktoriale Erzähler verwendet viel Raum darauf, dem Publikum seinen Helden vorzustellen. In den ersten zwei Kapiteln beschreibt Thomas Mann den Dichter Gustav von Aschenbach als Mann des Geistes. Sein literarisches Werk besteht aus Darstellungen hart geprüfter Menschen, die ihr Leben dem Kampf widmen, den Idealen der abendländischen Kultur gerecht zu werden, selbst wenn dieser Kampf über ihre Kräfte geht. Aschenbach widersteht dem modernen Realismus seiner Zeit, der sich am Menschen, seinen Nöten und Wünschen orientiert, und hält an einem Rigorismus fest, der ein menschliches Maß für moralisches Verhalten verneint. Die Schönheit, die sein Werk charakterisiert, resultiert aus der geistigen Schönheit des Opfers, das schwache, aber heroische Menschen den ewigen Idealen bringen:

«Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte schon früh ein kluger Zergliederer geschrieben: dass er die Konzeption ‹einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit› sei, ‹die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen›. Das war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu passivischen Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht nur Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiss der in Rede stehenden Kunst.» (1981:568)

Die Augen fest auf die Schönheit dieses Opfers gerichtet, verweigert der reife Aschenbach den realen Bedürfnissen und Beschränkungen der Menschen jedes Verständnis, obwohl er in jungen Jahren die Fragwürdigkeit einer auf Idealvorstellungen gegründeten Welt zutiefst erkannt und wütend angeprangert hatte. Dieser «Raubbau mit der Erkenntnis» war jedoch einem «Erstarken des Schönheitssinnes» gewichen, einer «adelige[n] Reinheit, Einfachheit und Ebenmäßigkeit der Formgebung». Diese «moralische Entschlossenheit jenseits des Wissens» (1981:569f.), dieses Ignorieren der Menschenrechte im Dienste des Heroisch-Schönen kennzeichnet den Künstler und Menschen Aschenbach, und vor dem Hintergrund einer solchen Persönlichkeit ist sein weiteres Schicksal zu lesen.

Insofern wundert es nicht, dass Aschenbach die Bilderflut tropischer Sümpfe mit einem Kopfschütteln verscheucht und sich für einen kultivierteren Urlaubsort entscheidet. Zunächst reist er zu einem Mode-Ort auf einer Adria-Insel, wo es ihm jedoch nicht gefällt, und von dort weiter nach Venedig. Während dieser Überfahrt beginnt der Reisende, mythologische Anspielungen in seiner Umgebung wahrzunehmen: War schon in der Gestalt eines Mannes auf dem Portikus der Aussegnungshalle am Englischen Garten eine Faun- oder Hermesfigur zu erkennen gewesen, so erscheinen der Kapitän des Schiffes, das Aschenbach nach Venedig bringt, wie auch der Gondoliere, der ihn zum Lido hinüberfährt, als Charon-Figuren. Ein Mitreisender in Aschenbachs Alter, der sich durch Kleidung und Schminke als junger Mann verkleidet, zeigt ihm schon bei seinem Eintreffen in Venedig das Schicksal, das auf ihn wartet.

Gut zwanzig der gerade einmal achtzig Seiten der Novelle beschreiben Vorgeschichte und Anreise. Folgt man der Kapiteleinteilung, so endet diese Anreise erst am dritten Tag seines Aufenthalts mit Aschenbachs Rückkehr nach einer gescheiterten «Flucht». Doch die Begegnung, die seinem Leben die entscheidende Wendung geben wird, erlebt er bereits am ersten Abend seines Aufenthalts, als er sorgfältig gekleidet in der Hotelhalle sitzt und auf den Gong zum Diner wartet:

«Gleich in der Nähe ward polnisch gesprochen. Es war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei junge Mädchen, fünfzehn- bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, dass der Knabe vollkommen schön war. Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von so einmalig persönlichem Reiz, dass der Schauende weder in Natur noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben glaubte.» (1981:585)

Nach und nach verlassen die Hotelgäste die Halle und gehen hinüber in den Speisesaal. Auch die polnische Familie erhebt sich und geht, Tadzio, der schöne Knabe zuletzt. «Aus irgendeinem Grunde wandte er sich um, bevor er die Schwelle überschritt, und da niemand sonst mehr in der Halle sich aufhielt, begegneten seine eigentümlich dämmergrauen Augen denen Aschenbachs, der, seine Zeitung auf den Knien, in Anschauung versunken, der Gruppe nachblickte.» (1981:587) Den nächsten Vormittag verbringt Aschenbach am Strand, wo der Junge immer wieder sein Blickfeld durchquert. Doch das Wetter ist unangenehm schwül, und am Ende des Tages teilt er der Rezeption mit, unerwartete Gründe würden ihn zur Abreise zwingen.

Kaum getroffen, bereut er die Entscheidung, zumal das Wetter am folgenden Tag zu wechseln scheint. Der Zufall, dass sein Gepäck am Bahnhof falsch aufgegeben wurde, liefert ihm den Vorwand, zum Hotel zurückzukehren, um dort auf sein Gepäck zu warten. Er bekommt ein neues Zimmer und sieht vom Fenster aus den Jungen Tadzio am Strand.

«Aschenbach erkannte ihn aus seiner Höhe sofort, bevor er ihn eigentlich ins Auge gefasst, und wollte etwas denken, wie: Sieh, Tadzio, da bist du ja auch wieder! Aber im gleichen Augenblick fühlte er, wie der lässige Gruß vor der Wahrheit seines Herzens hinsank und verstummte, – fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den Schmerz seiner Seele und erkannte, dass ihm um Tadzio’s willen der Abschied so schwer geworden war.» (1981:601)

Aschenbach horcht lächelnd in sich hinein, und seine schlaff auf den Armlehnen seines Sessels liegenden Arme vollführen eine «gelassen aufnehmende Gebärde» (1981:602).

Auch als sein Gepäck nach ein paar Tagen wohlbehalten eintrifft, bleibt Aschenbach im Hotel am Lido. Nachdem der Übergang von München nach Venedig im Text durch das Auftreten mythologischer Gestalten begleitet wurde, markiert Thomas Mann den Beginn des vierten Kapitels und damit der zweiten Hälfte der Novelle mit einem Wechsel der Sprache, die sich dem Hexameter annähert: «Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels, und sein gelbes Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind.» (1981:602)

Die antike Welt beginnt Aschenbachs Person in Besitz zu nehmen. Tadzio wird für ihn mehr und mehr zur lebenden Statue: «Welch eine Zucht, welche Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe!» (1981:605f.) Thomas Mann stellt hier gewissermaßen die alte Pygmalion-Legende1 auf den Kopf: Die Liebe des Künstlers erweckt nicht den toten Marmor zum Leben, sie verwandelt vielmehr das lebendige Objekt der Liebe in ein erschaffenes Kunstwerk – und den liebenden Künstler gleich mit. Denn noch ist Gustav von Aschenbach nicht bereit, andere als geistig erschaffene Objekte zu lieben.

Doch die Liebe ist in seine Gedanken eingedrungen, und so imaginiert er sich in den Dialog des Sokrates und des Phaidros‘ hinein. Zweimal taucht der sokratische Dialog in seinen Gedanken auf, und er verleiht ihm dabei eine anfangs kaum merkliche Wendung, die der platonischen Absicht direkt zuwiderläuft. Aus der Tatsache, dass nur die Schönheit geistig und sinnlich wahrnehmbar zugleich ist, folgert Aschenbach: «So ist die Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste» (1981:607), weshalb der Liebende, der diesen Weg gegangen ist, göttlicher sei als der Geliebte, der nur den Anlass dazu bietet. Und gesagt, getan: Aschenbach beginnt, die Schönheit Tadzios vor Augen, eine literarische Abhandlung zu schreiben:

«Und zwar ging sein Verlangen dahin, […] beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug. […] Seltsam zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft, ja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage führte.» (1981:608f.)

Das, worauf Aschenbach sich mit jener «gelassen aufnehmenden Gebärde» eingelassen hat, ist eingetreten – das Wesen seines künstlerischen Schaffens hat sich umgekehrt: Die Schönheit hat sich aus ihrer dienenden Rolle befreit, es genügt ihr nicht mehr, geistigen Vorstellungen Gestalt zu verleihen – nun übernimmt sie das Ruder und zeigt der geistigen Bewegung die Richtung. Damit ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die geistige Liebe zur Schönheit eingestehen muss, die Liebe zu einem schönen Körper zu sein. Diese Katharsis erlebt Aschenbach am Ende eines Tages, den Tadzios Familie nicht wie üblich am Strand verbracht hatte. Voller Sorge, die Polen könnten abgereist sein, geht Aschenbach des Abends im Park spazieren, als Tadzio plötzlich aus dem Dunkel vor ihm auftaucht:

«Er war der teuren Erscheinung nicht gewärtig gewesen, sie kam unverhofft, er hatte nicht Zeit gehabt, seine Miene zu Ruhe und Würde zu befestigen. Freude, Überraschung, Bewunderung mochten sich offen darin malen, als sein Blick dem des Vermissten begegnete, – und in dieser Sekunde geschah es, dass Tadzio lächelte: ihn anlächelte, sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich im Lächeln erst langsam öffneten. Es war das Lächeln des Narziss, der sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte, hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerscheine der eigenen Schönheit die Arme streckt.» Und Aschenbach denkt: «Du darfst so nicht lächeln», und: «Ich liebe dich!» (1981:614)

Aschenbach hat – nach seinen eigenen Wertmaßstäben – gesündigt, die abendländischen Ideale verraten, damit ist er den schwülen Sümpfen des Orients schutzlos ausgeliefert, die ihm bei seinem Abendspaziergang im Englischen Garten als bedrohliches Bild erschienen waren: Aus Indien breitet sich zum wiederholten Male eine Cholera-Epidemie aus, die 1911 tatsächlich Venedig erreicht, und Aschenbachs Geist wird im Schlaf von einem Traum barbarisch-dionysischer Wollust zerrüttet.2 Abends wagt sich ein Trupp italienischer Bänkelsänger in den Hotelpark und singt ein Spottlied auf die noblen Feriengäste. Und der Höhepunkt des Verfalls: Aschenbach lässt sich beim Friseur die Haare färben und das Gesicht schminken. Obwohl er nichts so sehr fürchtet wie die Abreise der polnischen Familie, ist er besessen davon, den auffälligen Desinfektionsmaßnahmen in Venedig auf den Grund zu gehen. Endlich klärt ihn ein Angestellter des Cook-Reisebüros auf, und für einen Moment malt er sich aus, wie es wäre, Tadzios Mutter anzusprechen und zu warnen. Doch sein bizarrer Liebesrausch ist stärker als jede Moral: Im Chaos einer unter Quarantäne gestellten Stadt voller Kranker und Sterbender sieht er die einzige Hoffnung auf Erfüllung seiner Liebe. Ein zweites Mal geht ihm der Dialog von Sokrates und Phaidros durch den Kopf: