Elsies Lebenslust

Für Kingsley

Die junge Frau überquerte rasch die Straße und sprang mit einem Satz auf den Bürgersteig. Sie trug neue, makellos weiße Turnschuhe, eine schwarze Cordhose und ein weißes T-Shirt mit einem stilisierten roten Apfel auf der Brust. Sie wich den anderen Passanten aus, machte einen kleinen Schlenker und verschwand in einem Geschäft, in dessen Schaufenster verschiedene lavendelfarbene Dinge sowie Perlen und knallrosafarbene Tücher ausgestellt waren. Sekunden später war sie wieder draußen und ging weiter. Sie schien drauf und dran, die Straße abermals zu überqueren, tat es jedoch nicht. Wie ein Schmetterling umsegelte sie im Halbkreis ein dahinschlenderndes Grüppchen und blieb vor einem anderen Geschäft stehen, dessen Waren bis auf den Bürgersteig quollen. Nein, auch hier nichts.

Die weißen Turnschuhe huschten weiter, das kurze, blonde Haar wippte. Die junge Frau bewegte sich auf einen roten Farbfleck zu, zögerte, trat ein. Auf dem Bürgersteig der West Fourth Street strömten Kauflustige in beide Richtungen. Es war kurz vor sechs an einem sonnigen Nachmittag Ende August, und die Luft war kühl. Die blonde Frau trat aus dem Geschäft, in der Hand eine beige Plastiktüte. Mit der anderen schob sie ein kleines Portemonnaie in die Gesäßtasche ihrer Cordhose. Das Lächeln auf

Die Fersen zusammengedrückt und ungeduldig auf den Zehenspitzen wippend, hielt sie inne, um einen Wagen vorbeizulassen. Ein junger Schwarzer ging vor ihr vorbei und machte eine Geste, als wollte er sie in den Busen kneifen. Sie fuhr zurück und verzog die Oberlippe, so daß ein spitzer Eckzahn zu sehen war. Und schon lief sie weiter, den Mund leicht geöffnet, um besser atmen zu können, und ihre Augen suchten nach Lücken im Strom der Passanten.

Ein Stück voraus, hinter dicken Frauen und Jungen in Bluejeans, entdeckte sie einen Mann mit einem leicht schwankenden Gang und einem Hund, den er an der Leine führte. Die junge Frau blieb abrupt stehen und wechselte bei der nächsten Gelegenheit die Straßenseite.

 

God hebt das Bein, und die Welt ist in Ordnung, dachte Ralph Linderman, als er sich der Ecke Grove und Bleecker Street näherte. Es war ein wunderschöner Sommertag, die tiefstehende Sonne fiel von Westen noch immer in bestimmte Straßen des verwinkelten Greenwich Village, und die Grove Street erschien Ralph hübscher als sonst. Die Grove Street war, wie die Barrow und die Commerce Street, ordentlich und aufgeräumt, und das gefiel Ralph. Die Menschen hier polierten ihre Türklopfer und fegten ihre Eingangsstufen. Die Morton Street dagegen, nur drei Straßen weiter südlich gelegen, war ein einziges Durcheinander: Dort lagen Papierfetzen im Rinnstein, und die Mülltonnen standen, für jedermann sichtbar, mitten auf dem Bürgersteig. Ralph war sich bewußt, daß er an Dingen und

Ralph wünschte sich manchmal, er wäre vor zwanzig Jahren oder noch früher aus New York weggezogen, als Irma und er sich getrennt hatten – oder vielmehr: als sie mit einem anderen Mann davongelaufen war, korrigierte er sich ohne Groll. Er hätte zum Beispiel nach Cleveland, Ohio, ziehen können, in eine Stadt, die vielleicht ein bißchen amerikanischer, ein bißchen anständiger war. Möglicherweise hätte er dort die richtigen Leute kennengelernt, oder wenigstens einen guten Menschen, mit dem er sich hätte zusammentun können und der aus Ralphs Ideen etwas gemacht hätte. Ralph hatte viele Ideen für nützliche

Der schwarzweiße Hund trabte gemächlich vor sich hin, schnupperte interessiert an einem Autoreifen oder einem zerknitterten Stück Aluminiumfolie und hob das Bein nur noch der Form halber, denn seine Blase hatte er bereits vor einer Weile geleert. Er war etwa sieben Jahre alt. Ralph hatte ihn aus dem Tierheim – er hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. God war eine Promenadenmischung, doch er hatte freundliche Augen, und das gefiel Ralph.

»God! God!« sagte er leise und zog an der Leine, denn

War das nicht Elsie, die da auf ihn zukam? Ralph blinzelte. Nein. Aber aus der Ferne sah sie ihr sehr ähnlich: der beschwingte Gang, der hocherhobene Kopf, ja, aus einiger Entfernung schien sie sogar wie Elsie zu lächeln. Doch als die junge blonde Frau an ihm vorbeiging, stellte Ralph fest, daß sie gar nicht lächelte. Elsie – also die sollte lieber einen richtigeren Kurs steuern, bevor es zu spät war! Ein unschuldiges, naives Mädchen aus einer Kleinstadt im New Yorker Hinterland, kaum zwanzig! Es war gewiß noch nicht zu spät, und bis jetzt war sie noch nicht in Schwierigkeiten geraten. Doch was ihr gefährlich werden konnte, war ihre Einstellung: Sie vertraute einfach jedem. Offenbar fand sie die Drogensüchtigen und grell geschminkten Prostituierten an der Eighth Street und der Sixth Avenue ebenso vertrauenswürdig wie … ganz normale Leute oder sogar ihn selbst! Elsie sagte, sie finde alle Menschen amüsant. Na ja, immerhin schien sie ihren Lebensunterhalt bislang selbst zu verdienen. Ralph hatte sie vor etwa einem halben Jahr in einem Coffeeshop in der West Fourth Street kennengelernt. Danach war sie für eine Weile von der Bildfläche verschwunden, und als er sie irgendwann auf der Straße wiedertraf, erzählte sie, daß sie in einem Coffeeshop mit 24-Stunden-Betrieb arbeite, wo man Espresso und Wein ausschenke. Elsie nahm befristete Jobs an. Ralph wußte nie, wo sie als nächstes auftauchen würde.

An Gods steifbeinigem Gang erkannte Ralph, daß der Hund gleich sein großes Geschäft machen würde. »In den

Es war eine Brieftasche, nur zwei Meter von dort entfernt, wo God seinen Haufen gemacht hatte. Ralph bückte sich und hob sie auf, ohne stehenzubleiben. Er und der Hund, dessen Nase die Brieftasche im selben Augenblick berührte wie Ralphs Hand, gingen weiter. Ralph sah starr geradeaus. Niemand eilte ihm nach, um die Brieftasche zurückzufordern. Ralph hatte sich schon immer gewünscht, so etwas zu finden: eine Brieftasche, in der Geld und vielleicht auch ein Ausweis war. Diese hier war ziemlich dick, und das Leder war weich und glatt, wahrscheinlich Kalbsleder. Ralph steckte sie in die Jackentasche. Er bog nach links in die Hudson Street ein und ging in Richtung Barrow Street, die zur Bleecker Street führte. Dort wohnte er.

Ralph und God betraten ein vierstöckiges Gebäude und gingen die Treppe zu Ralphs nach hinten gelegener Wohnung hinauf. Vor dem Eingang hatten wie immer die beiden verzogenen Kinder gestanden, die sich, als Ralph zur Tür ging, quer über die Stufen einen Ball zugeworfen hatten, und dann war er der wie immer dunkelgekleideten Italienerin begegnet, die im zweiten Stock wohnte und sich stets vor ihrer offenen Wohnungstür mit einem Eimer oder

Nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, nahm er God das Halsband ab, zog die Jacke aus und legte die Brieftasche auf den Tisch, der vor den beiden rückwärtigen Fenstern stand. An diesem Tisch saß er, wenn er aß oder las, wenn er mit einem Lineal Zeichnungen anfertigte oder Modelle mit beweglichen Holzteilen baute. Der Tisch war aus Fichtenholz und etwa eineinhalb Meter lang. Die Platte war alt und glänzte, und an den Kanten hatte die Säge Kerben hinterlassen. Ralph setzte sich auf einen Stuhl und klappte die Brieftasche vorsichtig auf.

Es waren viele Geldscheine darin, eine Menge neuer Zwanziger. Ralph zählte das Geld und kam auf zweihundertdreiundsechzig Dollar. Nun zu den Papieren, den Ausweisen. Offenbar gehörte die Brieftasche einem Mann namens John Mayes Sutherland, der mindestens drei Adressen zu haben schien: eine in einer kleinen Stadt in Pennsylvania, von der Ralph noch nie gehört hatte, eine andere in Kalifornien und eine dritte in der Grove Street. Sicher lebt er dort, dachte Ralph, vermutlich in der Nähe der Stelle, wo er die Brieftasche verloren hat. Auf einer Karte, die seine Unterschrift trug, war mit Heftklammern das Foto eines jungen Mannes in einem Rollkragenpullover befestigt; es war ein Presseausweis, der zum Besuch eines französischen Filmfestivals berechtigte. Er war bereits seit einem Jahr abgelaufen, doch das Geburtsdatum des Mannes stand darauf, und Ralph sah, daß Sutherland

Ralph wollte nicht jedes Stück Papier untersuchen, das in der Brieftasche steckte, und davon gab es etliche: Visitenkarten und Zettel mit gekritzelten Adressen und Telefonnummern. Er fragte sich, ob Sutherland im Telefonbuch stand. Ob er jetzt zu Hause war? Als er zum Telefonbuch griff, ertappte sich Ralph dabei, daß er lächelte.

Es gab mehrere Sutherlands, doch Ralph fand, was er suchte: J.M. Sutherland in der Grove Street.

Jetzt gleich? Ralph zögerte und beschloß dann, sein Vergnügen, seinen Triumph über die Unehrlichkeit noch ein paar Minuten auszukosten. Er konnte Sutherland ja auch eine Karte schicken. Heute war Mittwoch. Er würde seine Vorfreude bis Freitag genießen können. Nein, das wäre übertrieben.

Ralph legte das Telefonbuch aufgeschlagen auf den Tisch und zog das Telefon zu sich heran.

»Au-wuff!« machte God unvermittelt, starrte Ralph mit seinen dunklen Augen an und wollte ihn zum Kühlschrank lotsen.

»Na gut, zuerst du, God«, sagte Ralph und legte den Hörer wieder auf. Seine Schicht begann heute nacht erst um zehn – es blieb also genug Zeit, um zu versuchen, Sutherland zu erreichen.

Jack Sutherland fand, daß es ein schöner Tag gewesen war. Er war im Supermarkt gewesen und hatte alles eingekauft, was er für morgen brauchen würde, wenn seine fünfjährige Tochter Amelia kam. Dann war er Richtung Central Park gefahren und hatte Geld von seinem Banckonto abgehoben, und anschließend hatte er sich zu einem sehr angenehmen Mittagessen mit seinem alten Studienfreund Joel MacPherson in einem Restaurant getroffen, das eher wie eine Kneipe wirkte und in der Nähe der CBS-Studios lag, wo Joel arbeitete. Jacks vier Zeichnungen – eigentlich eher Rohentwürfe – für Halb verstandene Träume hatten Joel gefallen, und seine Worte hatten Jack aufgemuntert: »Genau das, was ich will! Diese Leute sehen verwirrt aus, entmutigt, halb tot!« Und dann hatte er ein etwas irres Lachen hinterhergeschickt. Joels Buch hatte zweiundachtzig Seiten, und Jack sollte mindestens zwanzig Zeichnungen beisteuern. Der Titel gefiel Jack nicht, und das hatte er Joel auch gesagt, aber den Titel konnte man ja noch ändern. Das Buch handelte von einem New Yorker Ehepaar, das einen Sohn und eine Tochter hatte, die beide schon beinahe erwachsen waren; sie alle hatten Träume und Erwartungen, die sie weder dem Rest der Familie noch anderen Menschen mitteilen konnten oder

Er freute sich besonders darüber, daß er einen ganzen Tag mit Amelia allein sein würde. Sie kam morgen früh in Begleitung von Susanne, ihrem inoffiziellen Kindermädchen, mit dem Bus aus Philadelphia. Da Natalia oft einen Tag später als geplant kam, würde er Amelia vielleicht sogar noch länger für sich haben.

Und Jack liebte auch die Wohnung in der Grove Street, die die ganze zweite Etage eines alten, aber gut erhaltenen Stadthauses umfaßte. Er liebte sie, weil Natalia und er eine ganze Menge Arbeit hineingesteckt hatten. Sie hatten bestimmte Räume nach ihrem Geschmack gestaltet und mit Möbeln eingerichtet, die ihnen gefielen. Eine Großtante von Natalia, die auf ihre alten Tage ein bißchen kauzig geworden war, hatte ihnen die Wohnung vor drei oder vier Jahren überlassen. Natalia und Jack zahlten nur die Steuern und die laufenden Kosten. Die Großtante besaß noch ein Haus irgendwo in Pennsylvania, aber da sie jetzt in einem Pflegeheim lebte, konnte man ziemlich sicher sein, daß sie nie mehr einen Fuß in dieses Haus oder die

Jack und Natalia hatten eine Wand herausreißen lassen, um das Wohnzimmer zu vergrößern, und an zwei Wänden Bücherregale aufgestellt. Jacks Arbeitszimmer befand sich am blinden Ende des Flurs und war von diesem durch einen Vorhang abgeteilt. Es war mit einem langen Tisch ausgestattet, der so hoch war, daß Jack daran stehen konnte, sowie mit einem höhenverstellbaren Bürostuhl für den Fall, daß Jack im Sitzen arbeiten wollte.

In den vergangenen drei Monaten war Jack in Philadelphia gewesen, in einem Studio in der Vine Street, das einem Freund gehörte. So war es für Jack leichter gewesen, Natalia an den Wochenenden im Haus ihrer Familie in Ardmore zu besuchen. Er hätte natürlich ebenfalls in dem großen Haus in Ardmore wohnen können – die Hälfte der Zimmer war ohnehin unbenutzt –, doch Jack arbeitete lieber in seinen eigenen vier Wänden, auch wenn es dort weit weniger luxuriös war. Natalias Mutter Lily verbrachte die Sommer in dem Haus in Ardmore, wo ihre Freunde sie besuchten und ein, zwei Tage blieben, und die Mahlzeiten wurden von Fred, dem Butler, serviert. Das war nicht so recht nach Jacks Geschmack, jedenfalls hielt er es dort nie länger als zwei Tage aus. Außerdem fand er, daß es Natalia ganz gut tat, nicht immer nur mit ihm zusammenzusein. Sie war eine Frau, die imstande war, einfach davonzulaufen, vielleicht für immer, wenn das Joch der Ehe sie auch

In seinem Arbeitsraum packte Jack die neue Mappe aus. Sie war noch so sauber, ohne die Abdrücke von mit Zeichenkohle verschmierten Fingern, ohne die Tuschespritzer, die sie in den kommenden Monaten bekommen würde. Er löste die drei schwarzen Schleifen, mit denen sie zugebunden war, betrachtete das noch leere Innere, klappte sie zu und legte sie beiseite. Die Flasche mit dem Fixativ schob er zu den Tuschefläschchen, Farbdosen und Bechern mit Pinseln und Stiften in der hinteren linken Ecke seines Tisches und legte die Skizzenblöcke vor sich hin.

Er war hungrig. Am Vormittag hatte er Pastrami und Kohlsalat gekauft, doch vor dem Essen wollte er einen schönen, kühlen Drink. Der Barschrank war aus Bambus und hatte Schiebetüren. Natalia hatte ihn ausgesucht, und er war beileibe nicht billig gewesen. Er goß Jack Daniel’s über ein paar Eiswürfel, gab etwas Leitungswasser hinzu und schaltete den Fernseher ein. Bevor er sich in den Sessel mit dem grünen Überwurf setzte, faßte er in seine rechte Gesäßtasche, um seine Brieftasche herauszuziehen. Sie war nicht da. Dann mußte sie in der Jacke sein, die er heute getragen hatte.

Jack zögerte kurz und sah auf den Bildschirm, bevor er

Was war geschehen? Er hatte das Geld, mit dem er das Taxi bezahlt hatte, aus der Brieftasche genommen, das wußte er genau. Hatte er sie vielleicht im Wagen verloren? Oder war sie beim Aussteigen in den Rinnstein gefallen? Jack nahm die Hausschlüssel und rannte die Treppe hinunter. Wenn er unglaubliches Glück hatte, würde er sie auf der Straße finden. Er wußte noch, wo das Taxi gehalten hatte. Im Rinnstein lagen nur ein paar Filterzigarettenkippen und die Reißöse von einer Bierdose. Jack suchte den Boden rechts und links der Stelle ab und ging dann wieder hinauf, den Blick auf die Stufen gerichtet.

Herrgott, war das ärgerlich!

Vielleicht hatte er die Brieftasche einstecken wollen und die hintere Hosentasche verfehlt. Geschah ihm ganz recht: Warum lief er heute auch wie ein Freizeitcowboy herum, in Jeans und Turnschuhen, was er sonst so gut wie nie tat, das Geld in der Gesäßtasche? Plötzlich fiel ihm ein, daß er die Brieftasche beim Bezahlen zwischen die Knie geklemmt hatte, nachdem er einen Dollar extra als Trinkgeld herausgenommen hatte. Sie mußte auf den Boden des Taxis gefallen sein, und das bedeutete, daß er sie nie wiedersehen würde. Der nächste Fahrgast würde sie finden und einfach einstecken.

»Verdammt!« Jack stand auf.

Und dann waren da noch die Kreditkarten von Brooks Brothers und American Express und von irgendeiner Tankstellenkette. Von welcher eigentlich? Er mußte den Gesellschaften sofort Bescheid geben und hoffte, daß er die Kreditkartennummern hier irgendwo hatte, daß sie nicht ganz hinten in dem Adreßbuch standen, das Natalia nach Ardmore mitgenommen hatte. Jack ging in die Küche, nicht mehr ganz so hungrig wie zuvor. Morgen würde er also noch einmal zur Bank gehen müssen, denn nun hatte er kein Bargeld mehr. Zum Glück war in seiner Tasche noch etwas Kleingeld für die Subway.

Er trug eine Dose Bier und den Teller mit Pastrami,

Das Telefon läutete, und Jack stand auf. Vielleicht war das Natalia. Er hoffte, daß sie nicht jetzt schon beschlossen hatte, später zu kommen.

»Hallo? Kann ich bitte Mr. Sutherland sprechen?«

»Das bin ich.«

»Würden Sie mir bitte Ihren Vornamen sagen?«

»Ja. John.«

»Haben Sie heute etwas verloren, Mr. Sutherland?«

Worauf wollte dieser Kerl – wie ein Junge hörte er sich nicht an – eigentlich hinaus? Natürlich war er auf Geld aus, aber Jack hatte plötzlich die Hoffnung, wenigstens die Fotos zurückzubekommen. »Ich habe meine Brieftasche verloren.«

Der Mann lachte kurz. »Tja, die habe ich gefunden. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sind Sie das auf dem Foto? Mit der blonden Frau?«

Jack runzelte angespannt die Stirn. »Ja.«

»Dann werde ich Sie ja erkennen, wenn ich Sie sehe. Nicht daß ich sie dem Falschen gebe. Ich bin in Ihrer Nähe. Soll ich sie gleich vorbeibringen? In der nächsten Viertelstunde?«

»Natürlich, Sir. In etwa zehn Minuten vor Ihrem Haus? Acht Minuten?«

Nachdem er aufgelegt hatte, kam es Jack einige Sekunden lang so vor, als habe er geträumt. Eine sehr amerikanische Stimme war das gewesen und eher die eines älteren Mannes. Trotzdem war es klug gewesen, diesen Burschen nicht in die Wohnung zu bitten. Das Geld war natürlich weg, aber vielleicht war alles andere noch da, sofern der Mann oder jemand, der die Brieftasche vor ihm gefunden hatte, auch die Kreditkarten behalten hatte. Jack sah auf seine Armbanduhr. Gleich halb acht.

Er nahm das blaue Jackett aus dem Garderobenschrank und ging hinunter. Auf dem Bürgersteig steckte er die Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans und blickte die Straße hinauf und hinunter. Ein schlaksiger junger Schwarzer kam auf ihn zu und ging an ihm vorbei. Dann zwei Frauen, die sich miteinander unterhielten, und drei einzelne Männer, doch keiner von ihnen sah ihn auch nur an. Die Minuten vergingen. Jetzt näherte sich ein Mann in mittleren Jahren, mit einem Hund, dahinter ein bärtiger, rasch ausschreitender Rabbi.

»Mr. Sutherland?«

Jack hatte auf den Mann mit dem Hund nicht weiter geachtet. In diesem Augenblick schaltete sich die Straßenbeleuchtung ein, obgleich es noch recht hell war.

»Ja, Sie sind es«, sagte der Mann, der ebensogroß wie Jack war, wenn nicht sogar größer. Er hatte schwarzes,

»Wo haben Sie sie gefunden? Hier, vor meiner Tür?«

»Ja. Vor etwa einer Stunde.«

Da der Mann ihm die Brieftasche hinhielt, nahm Jack sie und schob den Daumen hinein. Er klappte sie auf und sah das Bündel neuer Zwanzigerscheine, hob den Deckel des Fotofachs an und sah unter dem Fenster die Bilder. Auch die Kreditkarten waren da.

»Zweihundertdreiundsechzig Dollar«, sagte der Mann mit seiner etwas rauhen, aber artikulierten Stimme. »Ich hoffe, es stimmt.«

Jack lächelte überrascht und benommen. »Wenn Sie es sagen … Ich bin … völlig überwältigt. Darf ich Ihnen hundert Dollar für Ihre Freundlichkeit anbieten?« Er wollte das Geld schon abzählen. Der Mann sah aus, als könnte er es gebrauchen.

»Nein, nein!« sagte der Fremde lachend und machte eine schüchterne, abwehrende Geste. »Es war mir ein Vergnügen. Man findet schließlich nicht alle Tage eine Brieftasche und hat Gelegenheit, sie ihrem Besitzer zurückzugeben. Ich glaube, das war das erste Mal in meinem Leben.« Wenn er lächelte, sah man, daß ihm der erste Backenzahn fehlte.

Jack hatte den Eindruck, daß er ein einsamer, vielleicht exzentrischer Junggeselle war. »Wenn einem jemand einen solchen Gefallen tut, will man sich aber irgendwie erkenntlich zeigen.«

Jack lachte und nickte zustimmend. »Und Sie sind sicher, daß Sie es sich nicht anders überlegen und Ihrem Hund ein schönes Zwanzig-Dollar-Steak kaufen wollen?« Jack zog einen Zwanziger hervor.

»Für God? Nein, ich glaube, er ist mit seinem Futter ganz zufrieden. Meistens gebe ich ihm frisches Fleisch und nicht dieses fette Hamburger-Zeug aus der Dose. Er kriegt ohnehin zuviel.« Er ruckte an der Leine. »God, sag dem Herrn da guten Tag.«

»Er heißt God?« fragte Jack und betrachtete den schwarzweißen Hund, der ihm bis zum Knie reichte. Die nach vorn geklappten Ohren und sein Ringelschwanz verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem Schwein, nur daß die Schnauze recht spitz war.

»Ich bin Atheist«, sagte der Mann. »Darum habe ich Ihnen auch die Brieftasche zurückgegeben. Ich glaube nämlich, daß der Mensch sein Schicksal selbst gestaltet und sich Himmel oder Hölle hier auf Erden bereitet. Ich finde es zum Beispiel lächerlich, immer nur von einem einzigen Gott zu sprechen. Es gibt so viele Götter. Haben Sie schon mal daran gedacht, wie absurd es wäre, wenn in der Zeitung stünde, daß der Präsident zu Jupiter gebetet hat, um göttlichen Ratschluß zu bekommen? Oder vielleicht zu Thor? Das wäre doch lachhaft, nicht?«

»Wir nennen unseren Gott bloß ›Gott‹ – man könnte meinen, uns sind die Namen ausgegangen. Afrikaner haben alle möglichen Götter, und jeder hört auf einen anderen Namen.« Er schmunzelte.

Jack kam zu dem Schluß, daß der Mann ein Wirrkopf war und daß dieser Sermon den ganzen Abend dauern konnte, wenn er ihn nicht bremste. Er nickte. »Da könnten Sie recht haben. Tja, nochmals herzlichen Dank – das meine ich ganz aufrichtig.« Er streckte ihm die Hand hin.

Der andere ergriff sie, als schüttelte er gern Hände. »Es war mir ein Vergnügen, Sir. Sind Sie Journalist?«

Jack machte sich los und tat einen Schritt in Richtung Hauseingang. »Gelegentlich. Als freier Mitarbeiter. Einen schönen Abend, Sir, und nochmals danke.« Als er die Stufen hinaufging, hielt er den Schlüssel bereits in der Hand. Er hatte das Gefühl, daß der Mann ihn beobachtete, doch als er die Tür hinter sich schloß und auf die Straße blickte, ging der Mann mit seinem Hund in östlicher Richtung davon und sah sich nicht um.

Seltsame Geschichte, dachte Jack. In New York wußte man nie, was passieren würde.

Er setzte sich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Wohnzimmers stand, und untersuchte die Brieftasche genauer. Es war schon verwunderlich, daß er alles wieder zurückhatte. Als erstes betrachtete er die Fotos, dann zählte er die Kreditkarten – es waren nicht drei, sondern vier, aber das hatte schon seine Richtigkeit. Das Geld zählte er nicht, denn er war sicher, daß nichts fehlte. Er setzte sich an den Klapptisch und aß mit besserem Appetit als zuvor.

Ein komischer Kauz, dieser Mann mit dem Hund, der »God« hieß. Jack hatte höflich sein und ihn fragen wollen, wie er hieß und was er von Beruf war, doch jetzt war er froh, daß er das nicht getan hatte. Der Bursche war auf seine wohlmeinende Art bestimmt eine Nervensäge, und offenbar wohnte er in der Nachbarschaft. Es war eine witzige Geschichte, die er Natalia erzählen konnte.

Eine knappe Stunde später legte sich Jack die Arbeit zurecht, an die er sich morgen machen würde – vielleicht auch noch heute abend, wenn ihm danach war. Außer Joels Projekt, für das es noch keinen Vertrag und daher auch keinen Abgabetermin gab, warteten zwei Buchumschläge auf ihn, und die mußten in etwa zwei Wochen fertig sein. Auf dem einen sollte ein Haus mit drei Menschen an drei verschiedenen Fenstern sein, Neuengland-Stil, neunzehntes Jahrhundert. Auf dem anderen Umschlag sollte ein Gewimmel von Leuten sein, die einander schoben und sich drängelten wie die Menschenmassen, die um sechs Uhr abends aus den U-Bahnhöfen auf die Straßen quollen. Dem Lektor hatten die Entwürfe gefallen, die Jack ihm aus Philadelphia geschickt hatte, und gestern war Jack im Verlag gewesen, wo man sich bezüglich der farblichen Gestaltung verständigt hatte. Jack spielte mit dem Bleistift herum, kritzelte, träumte vor sich hin und experimentierte mit dem Weiß, das er für die Fassade des Hauses verwenden wollte. Das Haus sollte weiß, rosafarben und grün sein; die Konturen würde er mit dem schwarzen Tuschestift zeichnen. Morgen, wenn Amelia da war, würde er vielleicht nicht viel

Als Hintergrundmusik legte er eine Glenn-Gould-Kassette ein, doch seine Gedanken waren gleichermaßen bei der Musik wie bei den Farben und Linien auf dem Papier unter seiner linken Hand. Es kam darauf an, das Gleichgewicht zwischen dem Träumen und dem Gestalten zu bewahren, dachte Jack und fühlte sich mit jeder Minute glücklicher.

Jack spähte über die Menge der Passagiere hinweg, die auf ihr Gepäck warteten. Wie konnten in einem einzigen Bus so viele Menschen gewesen sein? Wo war Susannes langes braunes Haar, wo war ihr ernstes Gesicht, das sich zu Amelia hinunterbeugte, die, weil sie so klein war, natürlich nicht zu sehen sein würde?

»Ich nehm Ihre –«

»Finger weg!« fauchte ein schmächtiger Mann einen Burschen an, der seine Koffer nehmen wollte, um sie zu einem Taxi zu tragen. Der kleine Mann packte mit jeder Hand einen Koffer und schien entschlossen, den Größeren mit Fußtritten abzuwehren.

Jack hatte an diesem Morgen gearbeitet und in dem hohen Flur der Wohnung an den Ringen trainiert. Auch heute trug er Jeans und das blaue Jackett, doch diesmal hatte er die Brieftasche in die Innentasche gesteckt.

»Susanne!« rief er und winkte.

»Hallo, Jack! Ich warte noch auf einen!« Damit meinte Susanne einen Koffer.

»Hallo, Süße!« Jack hob das kleine Mädchen in Bluejeans und T-Shirt hoch. Amelias Haar war lang und glatt wie das ihrer Mutter, nur heller.

»Hallo, Daddy«, antwortete sie ruhig. »Laß mich runter.«

»Ich bin gewachsen.« Amelia griff nach ihrem kleinen Koffer.

Jack nahm Susanne einen Koffer und Amelias Rucksack ab. »Wie geht’s?«

»Prima, danke.«

»Kommst du mit in die Grove Street oder –«

»Nur wenn du mich brauchst, Jack. Aber wenn du mich brauchst, habe ich jede Menge Zeit.« Susanne war zweiundzwanzig, ernsthaft und recht hübsch, auch wenn sie sich kaum schminkte. Sie lebte mit ihren Eltern in einer geräumigen Wohnung am Riverside Drive.

»Nein«, sagte Jack. Sie gingen zum Taxistand. »Vielen Dank, daß du diese Woche ein bißchen aufgeräumt hast.« Susanne hatte vor seiner Ankunft die Wohnung in der Grove Street geputzt und ein paar Lebensmittel in den Kühlschrank gestellt. »Und Natalia kommt also morgen?«

»Ich glaube schon.« Susanne sah ihn mit ihrem freundlichen Lächeln an und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe jedenfalls nichts anderes gehört.«

Sie sagte, wenn er sie brauche, um auf Amelia aufzupassen oder um einzukaufen und für Gäste zu kochen, werde sie vorbeikommen. Das war die Abmachung, die sie vor über einem Jahr mit Susanne Bewley getroffen hatten. Susanne war Studentin an der New York University und arbeitete schon seit Ewigkeiten, wie Jack fand, an ihrer Dissertation.

»Nimm du das hier.« Jack meinte das erste Taxi. »Doch, ich bestehe darauf.« Er lud ihren Koffer hinein. »Ich melde mich. Danke, Susanne.«

Sogleich winkte Jack ein zweites Taxi herbei.

»Na, freust du dich, wieder in New York zu sein, Amelia?« fragte Jack, als sie in südlicher Richtung fuhren.

»Ja.« Amelia saß kerzengerade da und sah aus dem Fenster. »Ich verreise gern.«

»Wie geht’s deiner Mama?«

»Ganz gut. Sie spielt Golf und –«

»Golf?« Jack lachte.

Amelia lächelte und entblößte ihre Milchzähne. In ihrem Lächeln lag eine Andeutung wissender Amüsiertheit, und die Art, wie sie ihr Haar mit einem Kopfruck aus dem Gesicht warf, erinnerte Jack an ihre Mutter. Natalia trug den Scheitel rechts, Amelia links. »Aber man muß nicht Golf spielen, um dahin zu gehen«, sagte sie.

Jack wußte, daß sie von dem Golfclub sprach. Sie waren auf der Seventh Avenue und fuhren gerade an der Twentythird Street vorbei. »Und war Louis auch da?« fragte er. Er stellte diese Frage nicht gern, aber es würde wohl die erste und letzte sein, die sich auf Louis bezog.

»Nein, Louis würde nie in den Golfclub gehen!« sagte Amelia kichernd.

Doch er ist im Haus, wollte Jack sagen, tat es aber nicht. Nie das Personal aushorchen – an diesen Satz erinnerte er sich aus seiner Kindheit, und daraus folgte, daß man auch Kinder nicht aushorchte. Louis war immer in Natalias Nähe, wie ein unentbehrliches Accessoire. Louis Wannfeld hatte ein Haus in Philadelphia und eine Wohnung in New York, in den East Sixties, die er mit seinem Freund

Amelia akzeptierte Louis wie einen Onkel. Und Louis wiederum akzeptierte, wie Jack wußte, auf seine Art auch Jack und Amelia. Vermutlich fand er, seine Freundschaft zu Natalia sei ganz rein und unschuldig, denn schließlich hatte sie ja schon bestanden, bevor Natalia Jack kennengelernt hatte.

Sie bogen jetzt in die Barrow Street ein und näherten sich der Grove Street, und Jack zog die Brieftasche hervor, um zu bezahlen, achtete aber sorgfältig darauf, daß er sie wieder sicher in der Innentasche verstaute.

»Den kann ich nehmen!« sagte Amelia. Damit meinte sie ihren Koffer, und Jack überließ ihn ihr.

Oben verkündete sie: »Ich mag diese Wohnung«, als

»Dein Zimmer ist hier. Kennst du es noch?« Jack legte den größeren Koffer auf die blaßblaue österreichische Truhe mit dem rosafarbenen Blumenmuster.

Das Telefon klingelte.

»Wahrscheinlich für dich«, sagte Jack. »Gehst du dran, Amelia?« Er hoffte, daß es Natalia war.

»Familie Sutherland«, sagte Amelia. »Oh, hallo, Penny … Ja … Weiß nicht. Ich glaube schon.«

Jack wurde gerufen, damit er sein Einverständnis gab, daß Amelia Penny morgen bei Pennys Mutter in den East Eighties besuchte. Jack notierte sich die Adresse für den Fall, daß sie in keinem ihrer Adreßbücher stand. Um elf.

»Ich bringe Amelia dann gegen vier Uhr zurück«, sagte Pennys Mutter. »Ist Natalia da?«

»Sie kommt erst morgen«, sagte Jack.

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, drehte er sich zu seiner Tochter um. »Vielbeschäftigtes Mädchen.« Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie Mrs. Vernon, Pennys Mutter, eigentlich aussah, doch er erinnerte sich, daß Natalia sie einige Male erwähnt hatte. Die Kinder kannten sich von Amelias Schule in der West Twelfth Street. »Was habt ihr beiden morgen vor?«

»Wir sind zu mehreren. Vielleicht vier oder fünf. Penny hat neue Videokassetten. Kann ich baden?«

»Klar.«

Amelia wollte, daß er die blauen Kügelchen aus dem

Barfuß, in weißen Shorts und ohne Oberteil trat Amelia in die Küche. Sie erklärte, in New York sei es heißer als in Ardmore, doch die Luft gefalle ihr besser. Jack lachte, doch er wußte, was sie meinte.

»Was ist das?« fragte sie, als sie sich gesetzt hatte, und nahm das Geschenk in die Hand.

»Für dich. Mach’s auf.«

Sie löste die schmale Schleife. Ihr blondes Haar, noch feucht vom Bad und dunkler als sonst, sah so golden aus wie das von Natalia, ihre Augenbrauen wirkten ebenso ungewöhnlich wie die ihrer Mutter – schwere, unweiblich gerade Balken –, doch ihr Mund war eher wie seiner: schmaler als der von Natalia, beweglicher, veränderlicher. Amelia kam ihm bei jedem Wiedersehen, selbst nach nur zwei Wochen, ein wenig größer, ein wenig verändert vor, und schon darum wurde es Jack nie müde, sie zu betrachten.

»Oh, eine … eine Plockflöte!«

»Blockflöte, Schatz. Eine echte. Damit kannst du schöne Musik machen.«

Amelia versuchte es und legte angestrengt die Stirn in Falten.

Als es Abend wurde, hatte Natalia noch nicht angerufen, was darauf hindeutete, daß sie morgen kommen würde. Amelia hatte sich mit Blockflöte und Büchlein in ihr Zimmer zurückgezogen und beinahe eine halbe Stunde lang geübt, und Jack hatte sich von den falschen Tönen nicht bei der Arbeit stören lassen. Dann hatte sie zu seiner Überraschung einen langen Mittagsschlaf gehalten. Danach war sie hungrig gewesen, doch Jack hatte sie überredet, noch eine halbe Stunde zu warten – er wolle nämlich mit ihr ausgehen.

»In ein Restaurant, wo sie riesige Portionen servieren. So groß.« Er breitete die Arme aus.

»Und wie heißt das?«

»Mexican Gardens. Wir können zu Fuß hingehen. Waren wir da nicht schon mal? Kommt mir so vor.«

Amelia konnte sich nicht erinnern. »Du hast Tusche am Finger.«

Jack betrachtete den Mittelfinger seiner linken Hand, der oft mit Tusche verschmiert war. »Na und? Ich hab übrigens eine Geschichte für dich.«

Er erzählte ihr, er habe seine Brieftasche verloren und sich sehr geärgert, weil er gedacht habe, daß er die Fotos nie mehr wiedersehen würde, und außerdem sei auch eine Menge Geld darin gewesen. Dann von dem geheimnisvollen Anruf, dem Treffen vor dem Haus, dem fremden Mann und seinem Hund namens God. Während er sprach, griff Jack zu dem Bleistift und dem Notizblock, die auf dem Küchentisch lagen.

Amelia lachte und sah zu, wie der Bleistift sich über das Papier bewegte.

»Aber er hatte meine Brieftasche, und das ganze Geld war noch darin, und er wollte nicht mal zwanzig Dollar Finderlohn. Ist das nicht eine nette Geschichte? Ist das nicht ein netter Mann?«

Amelia legte den Kopf schief und betrachtete nachdenklich lächelnd die Zeichnung. »Wie alt war er?«

»Hm – etwas über fünfzig, vielleicht fünfundfünfzig.«

»Fünfundfünfzig!«

»Na ja, deine Großmutter ist auch fast fünfundfünfzig. Ja, das stimmt. Aber ist diese Geschichte nicht schöner als diese Bibelgeschichten?« fragte Jack, denn ihm fiel ein, daß Natalia ihm erzählt hatte, ihre Mutter habe Amelia ein paar Geschichten aus einer Kinderbibel vorgelesen – allerdings wohl nicht sehr viele, denn Lily war nicht sonderlich religiös. »Und noch dazu wahr.«

»Sind die Bibelgeschichten denn nicht wahr?«

»Doch. Die meisten jedenfalls. Also, Amelia, wenn du mal eine Brieftasche oder Handtasche findest und den Besitzer ausfindig machen kannst, dann machst du es hoffentlich wie dieser Mann: Du gibst sie demjenigen zurück, der sie verloren hat.«

Abermals legte Amelia den Kopf schief. »Auch wenn richtig viel Geld drin ist?«