Impressum

Covergestaltung: Alexandra Paul

Bearbeitung: Johannes Krüger

ISBN: 9783955017361

2015 andersseitig.de

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andersseitig Verlag

Dresden

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II

Sie trug ein weißes Kleid mit kurzen Ärmeln. Mit dem Ellenbogen stützte sie sich auf das Fensterbrett. Eine Hand lag am Munde; ihr Blick hing vage und unbestimmt draußen am Boden. Ihr schwarzes Haar lag glatt und geknotet an den Schlafen und glänzte wie die Schwinge eines Raben. Sie hielt den Kopf ein wenig vornüber geneigt. Im Nacken hatten sich ein paar Haare gelöst und kräuselten sich am Halse. Ihr großer gebogener Kamm war oben mit Korallen besetzt.

Sie stieß einen Schrei aus, als sie mich bemerkte, und sprang auf. Ich fühlte mich von dem glänzenden Blick ihrer Augen getroffen. Als ich, vom Gewicht dieser Blicke bedrückt, meine Stirn wieder zu heben vermochte, sah ich in ein Gesicht von wunderbarer Schönheit: eine gerade Linie lief, vom Scheitel beginnend, zwischen ihren großen geschweiften Augenbrauen hindurch auf ihre Adlernase, deren zitternde Flügel emporgezogen waren, wie man es auf antiken Kameen sieht, und teilte ihre sinnliche Lippe, die ein bläulicher Flaum beschattete. Dann kam der Hals, der volle, weiße, rundliche Hals. Durch ihr zartes Gewand sah man die Rundungen ihrer Brüste beim Atmen steigen und fallen. So stand sie mir gegenüber, in Sonnenlicht gehüllt, das durch den gelben Vorhang fiel und das weiße Kleid und den dunklen Kopf hob.

Schließlich fing sie an zu lächeln, fast mitleidig und sanft, und ich kam näher. Ich weiß nicht, womit sie ihr Haar parfümiert hatte, doch duftete sie wunderbar, und mein Herz war weicher und hingebender als ein Pfirsich, der auf der Zunge zerschmilzt. Sie sagte zu mir:

»Was möchten Sie denn? Kommen Sie!«

Und sie setzte sich auf ein langes Sofa, das mit grauem Stoff überzogen war und an der Wand stand. Ich nahm an ihrer Seite Platz, sie faßte meine Hand; die ihrige war heiß. So verharrten wir lange schweigend, einer den andern anschauend.

Niemals hatte ich eine Frau aus solcher Nähe gesehen; ihre ganze Schönheit drang auf mich ein, ihr Arm berührte den meinigen, die Falten ihres Gewandes fielen über meine Knie, die Wärme ihrer Hüften setzte mich in Flammen. Ich fühlte bei dieser Berührung ihre wogenden Körperformen, ich betrachtete die Rundung ihrer Schulter und die blauen Adern ihrer Schläfen. Sie sagte:

»Nun?«

»Nun?« erwiderte ich vergnügt, den Zauber gewaltsam abschüttelnd, der mich einschläferte.

Doch weiter kam ich nicht, ich war ganz damit beschäftigt, sie mit Blicken zu verzehren. Schweigend legte sie einen Arm um mich und zog mich in stummer Umschlingung an sich. Da schlang ich meine beiden Arme um sie und preßte meinen Mund auf ihre Schulter. Ich trank wonnevoll den ersten Kuß der Liebe. Ich trank darin die lange Sehnsucht meiner Jugend und die verwirklichte Wollust aller meiner Träume, und dann warf ich den Kopf zurück, um ihr Gesicht besser zu sehen. Ihre Augen leuchteten, sie setzten mich in Flammen. Ihr Blick faßte mich fester als ihr Arm. Ich war in ihre Augen versunken, und unsere Finger verstrickten sich ineinander; die ihrigen waren lang und zart, sie spielten in meiner Hand mit lebhaften, bebenden Bewegungen; mit geringer Anstrengung hätte ich sie zerbrechen können; ich drückte sie in dem Wunsche, sie besser zu fühlen.

Ich erinnere mich jetzt nicht mehr genau, was sie mir sagte und was ich ihr antwortete. Lange verharrte ich so, versunken, schwebend, gewiegt in dem Klopfen meines Herzens. Mit jeder Minute wuchs mein Taumel, in jedem Augenblick fluteten neue Ströme in meine Seele. Mein ganzer Leib erschauerte vor Ungeduld, vor Verlangen, vor Lust. Und doch war ich schwer gestimmt, eher düster als froh, ernst, in etwas Göttlichem und Höchstem vergehend. Sie drückte mit der Hand meinen Kopf an ihr Herz, aber zart, als wenn sie gefürchtet hätte, ihn an ihrer Brust zu zerbrechen.

Mit einer Bewegung der Schulter schlüpfte sie aus dem Ärmel. Ihr Kleid ging auf; sie trug kein Korsett; ihr Hemd stand offen. Ein prächtiger Busen wurde sichtbar, an dem man in Liebe hätte vergehen mögen. In kindlicher, träumerischer Haltung saß sie auf meinen Knien. Ihr schönes Profil zeichnete sich in reinen Linien ab. Unter der Achsel bildete die Haut eine Falte von wundervollem Schwung, die wie das Lächeln der Schulter war. Ihr weißer Rücken war leicht gekrümmt, als sei sie müde, und ihr herabgesunkenes Kleid fiel in weiten Falten auf den Boden. Sie blickte zum Himmel und summte eine traurige, sehnsuchtsvolle Melodie durch die Zähne.

Ich faßte ihren Kamm und zog ihn heraus. Ihre Haare umflossen sie wie eine Woge, und die langen, schwarzen Strähne fielen zitternd auf ihre Hüften. Ich fuhr mit der Hand zuerst darüber, dann hinein, darunter. Ich tauchte meine Arme hinein, ich badete mein Gesicht darin, ich wollte vergehen. Zuweilen belustigte ich mich damit, sie hinten zu teilen und nach vorn zu legen, sodaß ihre Brüste davon verhüllt waren; dann wieder faßte ich sie wie ein Netz zusammen und zog daran, um ihren nach hinten geneigten Kopf und den zarten vorgestreckten Hals zu sehen. Sie ließ es geschehen wie eine Tote.

Plötzlich machte sie sich von mir frei, zog die Füße aus dem Kleide und sprang mit der Behendigkeit einer Katze auf das Bett. Die Matratze sank unter ihren Füßen ein, das Bett krachte, sie zog mit brüsker Bewegung die Vorhänge zurück und legte sich nieder. Sie streckte ihre Arme nach mir aus und umfaßte mich. Oh, selbst die Laken schienen noch warm von den Liebkosungen, die dort ausgetauscht waren.

Ihre sanfte feuchte Hand betastete meinen Leib. Sie gab mir Küsse auf das Gesicht, auf den Mund, auf die Augen. Jede einzelne ihrer hervorstürzenden Liebkosungen nahm mir die Besinnung. Sie streckte sich auf dem Rücken aus und seufzte. Bald schloß sie die Augen halb und blickte mich mit wollüstiger Ironie an, dann wieder stützte sie sich auf den Arm, drehte sich herum, streckte die Füße empor und war voll bezaubernder Schäkereien, raffinierter und unverdorbener Bewegungen. Schließlich gab sie sich mir hin, sah empor und stieß einen tiefen Seufzer aus, der durch ihren ganzen Leib ging ... Ihr warmes, zitterndes Fleisch breitete sich erschauernd unter mir. Von Kopf zu Füßen fühlte ich mich von Wollust umfangen. Ich preßte meinen Mund auf den ihrigen. Unsere Finger waren ineinander verschlungen, im selben Beben zuckend, in einer Verstrickung verschränkt. Während ich den Duft ihres Haares und den Hauch ihrer Lippen einsog, fühlte ich mich vor Wonne vergehen. Einige Zeit verharrte ich noch gespannt, das Klopfen meines Herzens und das letzte Zittern meiner Nerven genießend; dann schien alles zu erlöschen und zu versinken.

Doch sie, sie sagte ebenfalls nichts. Sie lag unbeweglich wie eine Bildsäule aus Fleisch. Ihr schwarzes, reiches Haar umrahmte ihr bleiches Gesicht, und ihre gelösten Arme ruhten lässig ausgestreckt. Von Zeit zu Zeit lief ein krampfhaftes Zucken über ihre Knie und Hüften. Auf ihrer Brust brannte an der Stelle meiner Küsse ein roter Fleck. Ein heiserer, kläglicher Ton kam aus ihrer Kehle; wie wenn jemand einschläft, nachdem er lange geweint und geschluchzt hat. Plötzlich hörte ich sie dies vor sich hinsagen: »Wenn du im Taumel der Sinne Mutter würdest!« Und was dann noch folgte, weiß ich nicht mehr. Sie schlug die Beine übereinander und wiegte sich von der einen Seite auf die andere, als wenn sie in einer Hängematte gelegen hätte.

Spielend fuhr sie mir mit der Hand durchs Haar, als wäre ich ein Knabe gewesen, und fragte mich, ob ich schon eine Geliebte gehabt. Ich antwortete bejahend, und da sie mich weiter fragte, erzählte ich, sie sei schön und verheiratet. Sie tat noch andere Fragen, nach meinem Namen, meinem leben, meiner Familie.

»Und du,« sagte ich, »hast du geliebt?«

»Geliebt? Nein!«

Und sie lachte gezwungen auf, was mich aus der Fassung brachte.

Sie fragte mich noch, ob meine Geliebte wirklich schön sei, und nach einer Weile fuhr sie fort:

»Ach, wie sie dich lieben muß! Sage mir deinen Namen, ach, deinen Namen.«

Ich wiederum wollte den ihrigen wissen.

»Marie,« antwortete sie, »doch ich hatte noch einen anderen, zu Hause nannte man mich nicht so.« Und weiter geht meine Erinnerung nicht. Alles das ist vergangen und schon so lange her. Indessen steht manches noch vor mir, als hätte ich es gestern gesehen, zum Beispiel ihr Zimmer: ich sehe noch den Teppich vor dem Bett, der in der Mitte abgetreten war, das Bett aus Mahagoniholz mit Verzierungen von Kupfer und die Vorhänge aus roter Moiréseide; sie knisterten bei jeder Berührung; ihre Fransen waren verschlissen. Auf dem Kamin standen zwei Vasen mit künstlichen Blumen. In der Mitte die Stutzuhr, deren Zifferblatt zwischen vier Alabastersäulen saß. Hier und dort hingen alte Stiche in Rahmen von schwarzem Holz an den Wänden; sie stellten Frauen im Bade, Winzer oder Fischer dar.

Und sie! Sie! Manchmal kommt mir die Erinnerung an sie so lebhaft, so deutlich zurück, daß alle Einzelheiten ihres Gesichtes mir wieder erscheinen mit jener wunderbaren Treue des Gedächtnisses, die wir nur aus Träumen kennen, wenn wir unsere alten, längst verstorbenen Freunde in denselben Kleidern und mit demselben Ton der Stimme wiederfinden und darüber erschrecken. Ich erinnere mich, daß sie auf der linken Seite der Unterlippe ein Korn hatte, das beim Lächeln in einer Falte der Haut lag. Sie hatte keine Frische mehr, und ihre Mundwinkel zogen sich bitter und müde zusammen.

Als ich mich anschickte, fortzugehen, sagte sie mir Lebewohl.

»Lebe wohl!«

»Wird man sich wiedersehen?«

»Vielleicht!«

Und ich verließ das Haus. Die Luft belebte mich. Ich kam mir ganz verwandelt vor. Es schien mir, als müsse man auf meinem Gesichte lesen, daß ich nicht mehr derselbe Mensch war. Ich ging leicht, stolz, zufrieden, frei dahin. Ich hatte nichts mehr zu lernen, nichts mehr zu erfahren, nichts mehr zu wünschen im Leben. Ich kam heim. Eine Ewigkeit war verstrichen, seit ich fortgegangen. Ich stieg in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett, von dem ganzen Tag ermüdet, der mit unglaublicher Schwere auf mir lastete. Es war vielleicht sieben Uhr abends. Die Sonne sank, der Himmel stand in Feuer, ein tiefroter Horizont flammte über den Dächern der Häuser. Der Garten, schon im Dämmer liegend, war voll von Melancholie. Gelbe und orangefarbene Kreise tanzten an den Mauerecken, sanken und stiegen im Gebüsch; die Erde lag trocken und grau. Auf der Straße zogen ein paar Leute aus dem Volke am Arme ihrer Frauen singend vorüber und gingen den Stadttoren zu.

Ich dachte immer wieder an das, was geschehen war, und eine unsagbare Traurigkeit erfaßte mich. Ich war voll Widerwillen, ich war gesättigt, ich war müde. »Aber heute morgen noch war das anders,« sagte ich mir, »ich war frischer, glücklicher, woran liegt das?« Und im Geiste ging ich wieder durch all die Straßen, die ich betreten hatte; ich sah die Frauen wieder, die ich getroffen, alle Pfade, die ich zurückgelegt. Ich kehrte zu Marie zurück, und ich verweilte bei jeder Kleinigkeit, die mir die Erinnerung bot. Ich preßte mein Gedächtnis aus zu einem möglichst reichen Ertrag. Der ganze Abend ging damit bin. Die Nacht kam, und wie ein Greis blieb ich an diese bezaubernden Gedanken gefesselt. Ich fühlte, daß ich nichts wieder davon erleben würde; daß andere Abenteuer sich einstellen könnten, doch daß sie jenem nicht ähneln würden. Dieser erste Duft war genossen, dieser Klang war verflogen, ich wünschte mir mein Verlangen wieder und ersehnte meine Lust zurück.

Wenn ich mein vergangenes und mein gegenwärtiges Dasein überschaute, ich meine das Harren der verflossenen Tage und die Mattigkeit, die auf mir lastete, dann wußte ich nicht mehr, wie mein Inneres sich zu meinem Leben verhielt, ob ich träumte oder handelte, ob ich voll Überdruß oder Verlangen war, denn ich empfand zugleich den Ekel der Übersättigung und die brennende Begierde hoffnungsvoller Erwartung.

Die Liebe war also weiter nichts als das! Ein Weib war weiter nichts! Warum, mein Gott, haben wir noch Hunger, wenn wir uns satt gegessen? Wozu so viel Sehnsucht und so viel Enttäuschung? Warum ist das Herz des Menschen so weit und das leben so eng? Es gibt Tage, wo selbst die Liebe der Engel ihm nicht genügen würde, und nach einer Stunde ist es aller Liebkosungen der Erde müde.

Doch die entschwundene Illusion läßt ihren Feenduft zurück, und wir suchen ihre Spur auf allen Pfaden, über die sie geflohen ist. Man gefällt sich in dem Gedanken, daß alles noch nicht so bald vorbei sei, daß das Leben erst anfange und eine Welt sich vor uns auftue. Soll man in der Tat so viel glänzende Träume und so viel glühende Wünsche verschwendet haben, um hier zu enden? Nun wollte ich auf all die schönen Dinge, die ich mir erdichtet, nicht verzichten. Ich hatte mir nach Verlust meiner Unschuld andere, weniger bestimmte, doch schönere Gestalten geschaffen, andere Wonnen, die nicht so deutlich waren als mein bis dahin empfundenes Verlangen, doch himmlisch und grenzenlos. Mit den Phantasiegebilden, mit denen ich mich unlängst umgeben und die ich wieder wachzurufen suchte, verband sich die intensive Erinnerung an meine jüngsten Erfahrungen. Und während alles, Phantom und Körper, Traum und Wirklichkeit, ineinander verschmolz, wurde die Frau, die ich eben verlassen, ein Symbol, in dem alles Vergangene zusammenfloß und von dem alles Künftige ausging. Ich dachte in der Einsamkeit an sie, betrachtete sie von allen Seiten, um noch etwas Neues an ihr zu entdecken, etwas, das mir beim ersten Male entgangen und noch unerforscht war. Die Lust, sie wieder zu sehen, faßte mich, nahm von mir Besitz, es war wie ein Verhängnis, das mich fortriß, wie ein Abhang, den ich herunterglitt.

Oh, die herrliche Nacht! Es war warm; ich kam in Schweiß gebadet vor ihrer Tür an. Ihr Fenster war erleuchtet. Gewiß wachte sie. Ich blieb stehen, hatte Furcht. Ich harrte lange unschlüssig, was ich tun solle, voll von tausend unbestimmten Ängsten. Noch einmal trat ich ein; zum zweiten Male glitt meine Hand über das Geländer ihrer Treppe und drehte den Schlüssel im Schloß.

Sie war allein wie an jenem Morgen. Sie saß an demselben Platze, fast in derselben Haltung, doch trug sie ein anderes Kleid. Dieses war schwarz; der Spitzenbesatz oben am Ausschnitt zitterte auf ihrer weißen Brust; ihre Haut strahlte, ihr Gesicht hatte eine unzüchtige Blässe, wie Kerzen sie geben. Ihr Mund war halb geöffnet. Ihr Haar hing lose auf die Schultern herab. Ihre Augen waren zum Himmel gehoben. So schien sie mit dem Blick einem entschwundenen Stern nachzuhängen.

Hurtig sprang sie mit einem fröhlichen Satz auf mich zu und schloß mich in die Arme. Da hielten wir uns bebend umschlungen wie Liebende beim nächtlichen Stelldichein, wenn sie lange ihr Auge in die Finsternis gebohrt, auf jedes Rascheln des Laubes gehört, jede unbestimmte, durch die Lichtung kommende Gestalt erspäht haben und endlich einander treffen und sich umarmen können.

Sie sagte mit hastiger und zugleich sanfter Stimme:

»Ach, du liebst mich also, da du wiederkommst? Sag, o sag, mein Herz, liebst du mich?«

Ihre Worte hatten einen klaren, weichen Klang wie die höchsten Töne der Flöte. Halb auf den Knien kauernd und mich in ihren Armen haltend, schaute sie mich in düsterer Trunkenheit an. Mochte ich auch noch so erstaunt über diese so plötzlich hervorbrechende Leidenschaft sein, so war ich doch entzückt und stolz darauf.