Wolfgang Hantel-Quitmann

Basiswissen Familienpsychologie

Familien verstehen und helfen

Klett-Cotta

Für meine Enkelin Antonia, unser jüngstes Familienmitglied, geboren am 24. August 2012, und meine Mutter Hannelore, unser ältestes Familienmitglied, geboren am 4. Juni 1925. Ich freue mich, dass die beiden sich kennengelernt haben.

Impressum

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Klett-Cotta

© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger

Unter Verwendung eines Fotos von © Tatyana Gladskih – Fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94726-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10487-5

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Inhalt

Familien verstehen und helfen – Eine Einführung

1. Blinder Mann sucht schöne Frau − Zur Psychologie der Partnerwahl

Partnerschaft und persönliche Entwicklung

Blinder Mann sucht schöne Frau

Die große Liebe des Lebens

Die Angst vor der großen Liebe

Komplikationen der großen Liebe

Die Suche nach Heilung alter Wunden

Die Suche nach Ablösung aus alten Beziehungen

Delegationen

Die Wahl des zerstörerischen Partners

Partnerwahl als Komplettierung und Stabilisierung des eigenen Selbst

Die Wahl des negativen Selbst

Nähe-Frau sucht Distanz-Mann

Die vielfältigen Motive der Partnerwahl

Vertiefende Fragen zum Thema

2. Das Wagnis der Intimität − Paare in der Entwicklung

Paare in der Entwicklung

Stress und Konflikte im Alltag

Teamarbeit durch dyadisches Coping

Erfolgskriterien für partnerschaftliche Zufriedenheit und Stabilität

Intimität

Vertiefende Fragen zum Thema

3. Liebeskonflikte − Wenn Paare Eltern werden

Von der Partnerschaft zur Elternschaft

Hochzeit und Kinderwunsch

Die Phasen von der Schwangerschaft bis zum 1. Lebensjahr

Wunsch und Wirklichkeit

Der Verlust der partnerschaftlichen Aufmerksamkeit unter Stress

Elterliche Einfühlsamkeit

Innere Arbeitsmodelle

Gespenster im Kinderzimmer

Die Macht der inneren Bilder

Verteilungsprobleme der Liebe

Epilog

Vertiefende Fragen zum Thema

4. Die alltägliche Sorge − Familienleben und Eltern-Kind-Beziehungen

Familien

Kinder und ihre Familien

Freizeit

Neue Medienwelten

Symbolisierungsfähigkeit

Freunde

Schule

Armut

Ängste

Eltern-Kind-Konflikte

Wohlbefinden, Zuwendung und Selbstwirksamkeit

Kinderglück

Rituale

Epilog

Vertiefende Fragen zum Thema

5. Geschwisterbeziehungen − Die längsten intimen Beziehungen im Leben

Sigmund Freud und seine Geschwister

Die Entwicklung der Geschwisterbeziehung

Eine vergessene Beziehung

Sprache und Spiel

Kindergarten und Schule

Jetzt bin ich groß!

Geschwister als Eltern, Onkel und Tanten

Konstruktive Kritik

Alter und Tod

Schattenkinder

Die Geschwisterbeziehung wieder entdecken

Vertiefende Fragen zum Thema

6. Liebesaffären − Zwischen Sicherheit und Sehnsucht

Ein modernes Dilemma

Liebesaffären

Liebe, Sehnsucht, Liebessehnsucht

Sexualität und Leidenschaft

Die Liebesaffären der Frauen

Parallelwelten

Die Betrogenen

Die Motive für eine Liebesaffäre

Das Dilemma der Liebe zwischen Sicherheit und Sehnsucht

Vertiefende Fragen zum Thema

7. Trennung als Lösung − Die moderne Logik der Liebe

Untrügliche Anzeichen

Beziehungsauffälligkeiten in Trennungsfamilien

Trennungsambivalenzen

Trennungsfolgen und Krisenbewältigung

Die kindliche Perspektive

Das Leiden der Kinder

Der Schläfereffekt

Vertiefende Fragen zum Thema

8. Vom Sinn eines schweren Lebens − Alleinerziehen, Alltagsstress und Armutsrisiko

Working poor

Alltagsstress

Eltern-Kind-Beziehungen

Väter und Söhne

Jan

Vom Sinn eines schweren Lebens

Vertiefende Fragen zum Thema

9. Zweite Familien − Hohe Erwartungen und komplexe Beziehungen

Strukturen und Beziehungen

Die Normalfamilie der Zukunft?

Die Familiendynamik und der familiäre Alltag

Die Urlaubsplanung

Parallele Elternschaft und multiple Vaterschaft

Soziale und biologische Elternschaft und das Problem der Grenzen

Wer gehört zur Familie?

Kinder in zweiten Familien

Zusammenfassung der psychologischen Entwicklungsprobleme in zweiten Familien

Aushandlungsfamilien

Epilog

Vertiefende Fragen zum Thema

10. Das Vertraute und das Fremde − Migration, Familie und die Folgen

Die biografische Rückwende

Die Motive der Migration

Die Familiendynamik in Migrationsfamilien

Partnerwahl mit Familienarrangement

Muslimische Familien

Wanderschmerzen

Epilog

Vertiefende Fragen zum Thema

11. Der Mensch stirbt, die Familie nicht − Generationenbeziehungen im Alter

Schuld und Macht zwischen Generationen

Familiendynamische Muster

Mehrgenerationenbeziehungen

Bindung und Loyalität, Delegation und Vermächtnis

Vergessen und Demenz

Trauer und Trauerarbeit

Sterben und Tod

Sterbehilfe

Epilog

Vertiefende Fragen zum Thema

ANHANG

Von Allparteilichkeit bis Zirkularität.

Glossar ausgewählter Grundbegriffe der Familienpsychologie

Literatur

Familien verstehen und helfen – Eine Einführung

Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber, ist auf ihre eigene Art unglücklich.

Leo Tolstoi, Anna Karenina

Eine Familie ist die wichtigste menschliche Gemeinschaft und die Psychologie die Wissenschaft, die diese komplexen Beziehungen am besten verstehen und erklären kann. Die Familienpsychologie hilft mir seit 30 Jahren, Menschen in ihren intimen Beziehungen zu verstehen und sie in Paar- und Familientherapien zu begleiten. In diesem Buch geht es um die erste Begegnung des Paares, das Verlieben und die Partnerwahl, das Paar und den Kinderwunsch, die verliebte und die gelebte Liebe, die Partnerschaft und die Elternschaft, die Sorge im Familienalltag, die Geschwisterbeziehungen, die Krisen der Liebe und die Liebesaffären, Trennungen und Scheidungen und ihre Folgen, Alleinerziehende und Stieffamilien, die Besonderheiten der Migrationsfamilien und die Vielfalt der Generationenbeziehungen im Alter. Dieses Buch Basiswissen Familienpsychologie thematisiert die normalen Entwicklungen, Alltagskonflikte und Reifungskrisen in Familien. Der nächste Band Klinische Familienpsychologie behandelt die schweren Probleme und Pathologien von Familien und damit u. a. folgende Themen: psychische und psychosomatische Krankheiten in Familien, Kinder psychisch kranker Eltern, Misshandlung und Vernachlässigung der Kinder, sexueller Missbrauch (Inzest), Familie und Sucht, Kinder in Suchtfamilien und Gewalt in Familien.

Mein theoretischer Ansatz ist mehrdimensional, denn eine einzige theoretische Sichtweise reicht heute nicht mehr aus, um der Komplexität von Familienbeziehungen gerecht zu werden. Will man moderne Familien verstehen, sollte man mehrdimensional denken, denn eine Familie hat verschiedene Seiten: individuelle, emotionale, unbewusste, systemische, kontextuelle und intergenerationelle. Jede Perspektive hat ihre eigene Berechtigung, fokussiert einen besonderen Aspekt, bleibt damit aber eindimensional und in sich begrenzt. Erst die Integration dieser Perspektiven führt zu tieferem Verstehen, das die Basis jeder guten Hilfe ist.

Individuell geht es um die Eigenarten, Temperamente und Fähigkeiten der einzelnen Familienmitglieder. Dies betrifft individuelles Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln oder den Umgang mit Konflikten. Auch Identitätsfragen sind betroffen, als Frau und Mutter, Mann und Vater, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester. Und manchmal geht es auch um Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung, oder um den ganz persönlichen Narzissmus. Diese individuellen Besonderheiten der einzelnen Mitglieder machen jede Familie einzigartig.

Emotional geht es in Familien häufig um Liebeskonflikte. Und es geht um viele Formen der Freude und Angst, um Wut, Ärger, Zorn und manchmal auch Rache, um Trauer, Schuld- und Schamgefühle, Eifersucht, Ekel oder auch Sehnsucht. Gefühle stehen heute zu Recht im Zentrum der modernen Psychologie. Der Mensch muss von seinen Gefühlen her gedacht und verstanden werden, insbesondere in Familien, die von starken emotionalen Bindungen geprägt sind.

Unbewusst nennt man in der modernen Psychologie die gesammelten guten und schlechten Beziehungserfahrungen eines Menschen und einer Familie, die nicht jederzeit bewusst sind, weil sie oftmals mit Ängsten und Konflikten verbunden sind, mit denen es sich schlecht leben lässt. Menschen handeln nicht immer reflektiert, sondern oftmals intuitiv, und dieses intuitive Handeln wird durch unbewusste Beziehungserfahrungen geprägt und gesteuert. Dies betrifft nicht nur das individuelle Handeln der einzelnen Familienmitglieder, sondern auch ihre Beziehungen zueinander. Individuell sind es frühe, innere Arbeitsmodelle, die eine Art Leitlinie des Denkens, Fühlens und Handelns aller Menschen bilden. Mit dem richtigen familienpsychologischen Wissen und den entsprechenden therapeutischen Fähigkeiten kann man sie erkennen, verstehen und ändern.

Systemisch ist jede Familie ein eingespieltes Team mit einer besonderen Art, Feste zu feiern, die Freizeit zu verbringen, Geheimnisse zu hüten, die Eltern-Kind-Beziehungen zu gestalten oder sich zu streiten und Konflikte auszutragen. Familien haben ihre Zeiten und Kommunikationsformen, ihre Rhythmen, Regeln, Rituale und Ressourcen. Sie bestehen aus vielen Dyaden und Triaden, aus Koalitionen und Allianzen. Ihre inneren und äußeren Grenzen verändern sich im Laufe der Familienentwicklungen. Sowohl die einzelnen Familienmitglieder als auch die Familie als Ganzes müssen immer wieder Anpassungsleistungen an die sich verändernden Umstände erbringen. Zudem sind die Familienmitglieder aufeinander bezogen, nicht nur als Partner, Eltern oder Geschwister, sondern vor allem emotional und unbewusst. Sie verstehen sich meistens ohne Worte, im Guten wie im Schlechten.

Kontextuell bezieht sich auf den kulturellen, sozialen, historischen und politischen Kontext, in dem Familien leben. Migrationsfamilien müssen verschiedene Kulturen vereinen; Familien in Armut haben weniger Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe; Familien vor 50 Jahren hatten andere Horizonte und Anforderungen als die heutigen Weltfamilien (Beck, Beck-Gernsheim, 2011); und Familien in Demokratien können ihr Leben in Freiheit gestalten. All diese kontextuellen Aspekte machen Unterschiede für das alltägliche Leben der Familien. Insbesondere betrifft dies das soziale Milieu, die Arbeitswelten und die Bildungseinrichtungen der Kinder.

Intergenerationell lassen sich viele Phänomene als Muster im Denken, Fühlen oder Handeln in Familien verstehen und erklären, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Diese Muster werden durch Lernprozesse und Identifikationen übernommen. Werden sie nicht bewusst reflektiert und auf ihre Funktionalität überprüft, haben sie die Tendenz zur Wiederholung. Dabei erweisen sich die alten Muster der vorherigen Generationen nicht immer als hilfreich für die nächsten. Manchmal verstehen wir die Fragen und Themen einer Generation nur, wenn wir die vorherigen kennen, weil die jeweils neue Generation versucht, die Probleme der alten zu lösen. So bestehen offene oder verdeckte intergenerationelle Bindungen, aus denen Loyalitäten, Delegationen oder Vermächtnisse erwachsen.

Diese verschiedenen Perspektiven sollten zu einem mehrdimensionalen Ansatz integriert werden. Sie sind ein Versuch, der Komplexität der modernen Familienbeziehungen auch theoretisch gerecht zu werden, damit das Denken nicht dort aufhört, wo die Besonderheiten der einzelnen Familie anfangen. Dieser mehrdimensionale und integrative Ansatz ist die theoretische Grundlage dieses Buches und findet sich in den einzelnen Themen in verschiedener Form wieder. Dabei geht es nicht nur darum, eine Familie aus verschiedenen Perspektiven nebeneinander oder nacheinander zu betrachten, sondern auch um deren Interaktionen: Was macht das Individuelle mit dem System und umgekehrt, welche Gefühle tauchen dabei auf, was daran ist bewusst und was unbewusst, wie wirkt sich der Kontext aus und welche Muster aus der Geschichte der Familie werden dabei heute wieder aktuell und verändern die familiären Beziehungen? Im Prozess des Verstehens und Helfens sollte man immer offen für neue Informationen und Veränderungen bleiben.

Jede gute Theorie muss sich an der Wirklichkeit messen lassen und erfährt durch sie neue Impulse, es gibt keine Empirie ohne Theorie und keine Theorie ohne empirische Fundierung. Es geht folglich nicht um Theorie oder Empirie, sondern um Theorie und Empirie. Ich habe versucht, die zum Verständnis der einzelnen Themen aus meiner Sicht relevanten theoretischen Verstehenszugänge zu eröffnen und zugleich einige wichtige Ergebnisse empirischer Untersuchungen anzuführen. Manchmal möchte ich auch Kontroversen darstellen und die Widersprüche stehen lassen. Insofern war mein Vorgehen subjektiv und selektiv.

Dieses Buch habe ich aufgrund meiner 30-jährigen Erfahrung in der Lehre und Weiterbildung, Beratung und Therapie geschrieben. Es ist ein Lehrbuch für Studierende und Lernende, und für alle, die professionell mit Familien arbeiten. Es kann auch Familien helfen, sich selbst besser zu verstehen und zu helfen. Insofern danke ich allen Familien, denen ich bisher begegnet bin und von denen ich lernen durfte. Und ich danke den neugierigen Studierenden, die mich immer wieder mit ihren Fragen herausfordern.

Als Mann habe ich im Buch die maskuline Form gewählt, weil mir eine nach Gender-Gesichtspunkten korrekte Formulierung auf Dauer als schwer lesbar erscheint. Bei aller Theorie und Empirie habe ich versucht, lebendig von den Familien zu erzählen. So wird jedes Kapitel mit einem Fallbeispiel aus meiner eigenen paar- und familientherapeutischen Praxis eingeleitet, über das am Ende des Kapitels weiter berichtet wird. Zur weiteren Illustration finden sich im Text immer wieder Beispiele aus der Praxis. Am Schluss jeden Kapitels werden Fragen und Denkanstöße zum vertieften Verständnis jedes Themas gestellt. Wer diese Fragen beantwortet, wird nicht nur mit Theorien und empirischen Ergebnissen konfrontiert, sondern meist auch mit den eigenen Erfahrungen als Familienmitglied. Insofern wünsche ich Ihnen in jeder Hinsicht viel Spaß beim Lesen!

Wolfgang Hantel-Quitmann
Hamburg, im November 2012

KAPITEL 1
Blinder Mann sucht schöne Frau − Zur Psychologie der Partnerwahl

It ain’t me you’re looking for, babe.

Bob Dylan



Partnerschaft und persönliche Entwicklung

Den falschen oder den richtigen Partner gibt es nicht. Die Suche nach dem passenden Liebespartner ist abhängig von unserem persönlichen Entwicklungsstand. In der Jugend suchen wir Partner, mit denen wir sexuell und erotisch erste Erfahrungen im Sinne einer Selbsterfahrung machen können. Danach üben wir uns im jungen Erwachsenenalter in dem Versuch, in einer Liebesbeziehung Intimität zu erfahren. Wenn wir später eine Familie gründen wollen, suchen wir nach einem Partner, der verantwortungsbewusst und verlässlich ist und als Mutter oder Vater unserer Kinder tauglich erscheint. In späten Liebesbeziehungen suchen wir einen Menschen, der all das hinter sich und möglichst daraus gelernt hat. Partnerwahl ist zu jedem Zeitpunkt im Leben verknüpft mit unseren jeweiligen persönlichen Entwicklungen, und anscheinend muss es für den modernen Menschen jeweils nicht weniger als die große Liebe sein (Hantel-Quitmann, 2009). Dies ist aber nur scheinbar ein Anspruch an den Partner, viel wichtiger ist es, dass wir selbst als große Liebe erkannt und geliebt werden wollen: Wir suchen nach der großen Liebe, weil wir selbst eine sein wollen.

Unser privates Glück scheint immer davon abhängig zu sein, mit welchen Menschen wir zusammenleben. Zunächst ist es die Herkunftsfamilie, in die wir hineingeboren werden, die schon früh die Weichen für unsere Entwicklung und unser späteres Leben stellt. Danach kommen die Freundschaften in Kindergarten und Schule, die fordernden und fördernden Lehrer, die Gemeinschaft der Gleichaltrigen in den schwierigen Zeiten der Pubertät, die Kollegen in Ausbildung und Beruf und die ersten Liebes- und Paarbeziehungen. Später kommen die eigenen Kinder hinzu und bereichern unser Leben auf außergewöhnliche Weise. Leben wir in liebevollen privaten Beziehungen, dann fühlen wir uns wohl und begegnen den Herausforderungen des Lebens mit Selbstvertrauen, Mut und Zuversicht.

So können beispielsweise persönliche Entwicklungen gelingen, Krankheiten dank einer besseren Immunabwehr weniger Chancen haben, Herausforderungen des Lebens angenommen und gemeistert werden, Glückshormone freigesetzt werden oder die berufliche Karriere mit Elan und Kraft verwirklicht und die persönlichsten Lebensziele angestrebt werden − beinahe alles erscheint möglich, wenn wir die richtigen Menschen um uns haben.

Von allen persönlichen Beziehungen sind die Liebesbeziehungen zu unseren Partnern − neben den zu unseren Kindern − die wichtigsten. Mehr als 95 % aller Menschen haben mindestens einmal in ihrem Leben eine Liebesbeziehung (Hassebrauck, 2005). Die richtige Partnerwahl entscheidet über einen erheblichen Teil unseres persönlichen Glücks oder Unglücks. Und selbst wenn Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit uns das Leben schwer machen, kann es mit einem liebevollen Partner besser ertragen und verändert werden. Empirische Untersuchungen (Hassebrauck, 2005) haben bestätigt, dass eine hohe Zufriedenheit in der Partnerschaft in der Regel eine allgemeine Zufriedenheit im Leben bewirkt und dass diejenigen, die mit ihrer Partnerschaft unzufrieden sind, auch über ein schlechtes Lebensgefühl klagen. Wie aber finden wir den richtigen Partner? Kann die Psychologie als Wissenschaft dabei helfen?

Blinder Mann sucht schöne Frau

Dem Wissensdrang der psychologischen Forscher scheint keine Fragestellung zu abwegig, wenn sie nur die kleinste Aussicht auf neue, wissenschaftliche Erkenntnisse eröffnet. So haben Forscher der Gesamthochschule Wuppertal eine Telefonbefragung unter 57 geburtsblinden und 62 sehenden Männern und Frauen durchgeführt und kamen zu folgenden Ergebnissen: Geburtsblinden Männern ist die physische Attraktivität der Partnerin wichtiger als geburtsblinden Frauen, aber dennoch weniger wichtig als sehenden Männern (Hasenkamp u. a., 2005, 57). Dies zeigt, dass selbst blinden Männern die Schönheit der Partnerin wichtig ist.

Wir wissen viel über die besondere Bedeutung der Schönheit bei der Partnerwahl. Wir entscheiden über die Attraktivität eines Menschen mit einem Blick von nicht mehr als 100 Millisekunden. Ein schmales Kinn, eine kleine Nase und große Augen sind die Merkmale für Jugendlichkeit, dagegen sind volle Lippen, hohe Wangenknochen und ein ovales Gesicht die Kennzeichen für sexuelle Reife. Um sich diese Merkmale auf moderne Weise durch Kosmetika oder gar plastische Chirurgie herstellen zu lassen, wird weltweit jährlich mehr Geld für Kosmetika und Modeartikel ausgegeben als für Nahrungsmittel. Schöne Menschen werden durchweg als kompetenter, ausgeglichener, leidenschaftlicher, intelligenter und gesünder eingeschätzt als weniger schöne Menschen. Nur in Bezug auf Eitelkeit und Arroganz schneiden sie schlechter ab. Männer finden generell diejenigen Frauen besonders attraktiv, die schön, gesund und jung sind. Dennoch scheint Schönheit immer noch im Auge des Betrachters zu liegen. Es gibt kein Merkmal, das von allen Menschen übereinstimmend als bedeutsam für Schönheit angesehen wird, nicht einmal für Hässlichkeit. Dennoch waren sich bei einer Untersuchung mehr Menschen darin einig, welche Menschen hässlich sind statt schön. Eine Übereinstimmung zeigte sich geschlechtsunabhängig deutlicher für das Konstrukt Hässlichkeit als für das Konstrukt Schönheit. (Cyrus, Kerstin, 2010)

Symmetrie spielt bei der Beurteilung der Schönheit eines Menschen eine besondere Rolle. Wir wissen, dass die Symmetrie der Gesichtszüge und des Körperbaus nicht erst beim Menschen, sondern bereits in der Tierwelt als Kennzeichen für Gesundheit gilt. Studien haben ergeben, dass Gesundheit, Lebenserwartung, Wachstum oder Fruchtbarkeit bei symmetrischen Menschen größer sind. Allerdings ist die Wahrnehmung der potentiellen Partner auch abhängig von hormonellen Faktoren. So nehmen Frauen die Männer während ihres Menstruationszyklus differenzierter wahr. Die attraktiven Zonen sind bei beiden Geschlechtern gleich: Männer und Frauen sehen zuerst auf die Augen und den Mund. Insgesamt wird die Schönheit eines Menschen an nicht mehr als vier Punkten im Gesicht und am Körper in weniger als zwei Sekunden beurteilt. Die Selbstbeurteilung ist wiederum interessant: Schöne Frauen beurteilen andere Frauen in ihrem Aussehen kritischer und schlechter, während schöne Männer andere Männer freundlicher bewerten. Aber was soll man von solchen Informationen halten, wenn man gleichzeitig weiß, dass die Beurteilung der Schönheit potentieller Partner bei Sonnenschein oder guter Musik positiver ausfällt als bei Regen und schlechter Laune.

Was wissen wir über diese so entscheidende Frage, wie Menschen den richtigen Partner finden können? Wir wissen beispielsweise, dass statistisch noch immer 90 % aller Ehen zwischen Partnern eingegangen werden, die nicht mehr als 30 Kilometer voneinander entfernt geboren wurden (Hassebrauck, 2005). Ist dies ein Hinweis darauf, dass die Menschen sehr bodenständig wählen, dass die Globalisierung doch noch nicht so weit fortgeschritten ist wie vermutet oder dass die Partnerwahl bevorzugt solche Menschen zusammenbringt, die dem gleichen Kulturkreis entstammen? Wahrscheinlich ist auch, dass die Partnerschaften in Indien und China insbesondere in den ländlichen Gebieten häufig im gleichen Dorf oder in derselben Gemeinde geschlossen werden und dass diese beiden Länder aufgrund ihrer Bevölkerungsgröße beinahe jede Statistik beherrschen.

Wir wissen, dass Partnerschaftsanzeigen in Printmedien dann die größte Chance haben, von vielen Menschen beantwortet zu werden, wenn sie möglichst kurz und allgemein gehalten sind. Die beste Anzeige lautet demnach: »Junge, attraktive Frau sucht Partner!« Oder für ihn: »Erfolgreicher, intelligenter Mann sucht Partnerin!« Je mehr sie an Wünschen, Erwartungen, geforderten Eigenschaften oder Mitteilungen über sich selbst in eine Anzeige schreiben, je ausführlicher, offener und ehrlicher sie also sind, desto weniger Antworten werden sie bekommen. Glauben die Menschen den Selbstdarstellungen sowieso nicht? Oder meinen sie, den Erwartungen und Wünschen eines anderen nicht entsprechen zu können? Oder lässt eine solche kurze Anzeige den größten Raum für Fantasie und fördert damit den Wunsch, sich kennenzulernen, weil die eigene Vorstellungskraft der beste Nährboden für das Verlieben ist?

Wir wissen, dass die meisten Menschen sich nicht in Diskotheken, Bars oder Kneipen kennen lernen, sondern immer noch dort, wo sie arbeiten, zur Schule gehen oder studieren. Dies mag je nach Altersgruppe unterschiedlich sein und es ist wahrscheinlich, dass bei Jugendlichen die Diskotheken eine größere Bedeutung für Partnerkontakte haben als bei Menschen mittleren Alters. Die meisten Menschen, die heute in Mitteleuropa auf der Suche nach einem Partner sind, werden versuchen, die Vorteile des Internets zu nutzen. Aber auch wenn man nach vielen eingegebenen Kriterien einen vermeintlich richtigen und passenden Partner gefunden hat und mit diesem viele Stunden anonym im virtuellen Chatroom war, steht die Bewährungsprobe in der Realität noch aus.

Die moderne Logik der Kontaktanbahnung lautet: Chatten − Telefonieren − Treffen. In einem aktuellen Beitrag zu der Frage Wie wir Liebes- und Sexpartner im Internet finden berichtet Nicola Döring (2010) über den aktuellen Forschungsstand, dass Online-Steckbriefe in der Regel viel umfangreicher und aussagekräftiger gestaltet werden als herkömmliche Kontaktanzeigen in Printmedien, dass Angaben geschlechtsspezifisch geschönt werden, um bei der Online-Darstellung einen positiveren Eindruck zu hinterlassen, dass Partnersuchende, die ohnehin gute Chancen auf dem Partnermarkt haben, durch Online-Plattformen diese noch verbessern, dass die herkömmlichen sozialen Fertigkeiten (Höflichkeit, Humor, Perspektivenwechsel, Geduld) bei der Online-Kontaktanbahnung ebenso gefragt sind wie bei der traditionellen Partnersuche, und dass das Online-Dating häufig durch enthusiastische Erstkontakte und unerwartete Kontaktabbrüche gekennzeichnet ist . . . Es wird vermutet, dass die neue Alternativfülle die Stabilität von Bindungen gefährden und zu einer Rast- und Ruhelosigkeit führen könnte (Döring, 2010). Ergänzend anzumerken sei noch, dass das geschlechtsspezifische Schönen der eigenen Angaben sich darauf bezieht, dass sich Männer im Internet durchschnittlich größer und Frauen leichtgewichtiger machen als sie es in der Realität sind.

Als ein besonderes Problem bei der Partnersuche im Internet erweist sich das Bildungsniveau. Frauen haben anscheinend erhebliche Probleme damit, sich auf eine Beziehung zu einem Mann einzulassen, der ein niedrigeres Bildungsniveau hat als sie selbst. Und wenn es doch einmal zu einer solchen Konstellation kommt, ist dies auf die Entscheidung der Frau zurückzuführen. Die relative Seltenheit der Paare in Deutschland, bei denen die Frauen die höheren Bildungsressourcen haben als ihre Partner, ist deshalb vor allem auf die Präferenzen der Frauen und nicht die der Männer zurückzuführen. (Schulz u. a., 2010) Ein Kollege, der an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden möchte, hat dies in einem persönlichen Gespräch mit mir einmal so ausgedrückt: Die Rechtsanwältin geht nicht auf den Lastwagenfahrer! Aus tiefenpsychologischer Sicht könnte dies so interpretiert werden, dass die Frauen durch die Suche nach einem intelligenten Mann sicherstellen wollen, den männlichen Trieben nicht so ausgeliefert zu sein. Hier scheint die Wunschvorstellung, dass Intelligenz Triebhaftigkeit kontrolliert oder gar sublimiert, Grundlage für weit verbreitete Missverständnisse zu sein. Das Bildungsniveau ist für Frauen ein entscheidendes Kriterium bei der Partnerwahl: Je höher das Bildungsniveau der Frau, desto höher sind ihre Ansprüche an einen potentiellen Partner. Die Ergebnisse sprechen insgesamt für eine weitgehende Übertragung traditioneller geschlechtsspezifischer Suchstrategien in die neuen digitalen Heiratsmärkte und dämpfen die in der Literatur verbreitete Annahme, das Internet wirke eher sozial öffnend als schließend. (Skopek u. a., 2010) Die sozialen Grenzen lösen sich also im Internet nicht auf, man bleibt trotz des riesigen Angebotes doch weiterhin unter sich.

Wir wissen, dass die inneren Werte bei der Partnersuche und Partnerwahl immer noch bedeutsamer sind als alle anderen Faktoren. Auch eineiige Zwillinge mit gleichartigen Interessen, Lebensstilen, Gewohnheiten und Werten entwickeln unterschiedliche Partnerpräferenzen. Eine Rangfolge der wichtigsten Eigenschaften eines Partners ergibt folgende Wünsche an einen Traumpartner: Er oder sie sollte verständnisvoll sein, aufrichtig, intelligent, eine interessante Persönlichkeit, humorvoll, ausgeglichen und kreativ. Dies sind alles Persönlichkeitseigenschaften. Erst danach folgen äußerliche Eigenschaften wie gutaussehend, gesund, sportlich aktiv, gutes Einkommen, religiös oder hoch angesehen (Hassebrauck, 2005, 99). Diese Rangliste ist eine allgemein menschliche, d. h. unabhängig vom Geschlecht. Die meisten Menschen wollen einen ehrlichen Partner, weil sie in einer späteren Partnerschaft nicht betrogen werden wollen. Aber sind die Aussagen verliebter Menschen wirklich ein Gradmesser für das Verhalten der Partner nach drei oder fünf Jahren? Und was ist eigentlich guter Humor? Jeder Mensch, der versucht witzig zu sein und dies als Strategie in der Partnerwerbung anwendet, wird garantiert ausgelacht.

Wir wissen, dass Frauen bei der Partnerwahl die Bedeutung des Einkommens doppelt so hoch bewerten wie Männer. Dies ist bei Frauen aus Indien und Nigeria besonders ausgeprägt, während deutsche und australische Frauen das Einkommen weniger bedeutsam finden, aber immer noch höher als die Männer in diesen Ländern. Kann man daraus schließen, dass ein wohlhabender Mann in Nigeria und Indien die besten Chancen hat, seine Liebespartnerin zu finden? Wahrscheinlich wird er in diesen Ländern leichter eine Frau finden als in den anderen, aber ist er damit seinem Ziel, die Frau seines Lebens kennen und lieben zu lernen, wirklich nähergekommen? Und was ist mit den befragten Frauen, suchen sie wirklich einen Liebespartner, oder wollen sie damit nicht viel mehr das eigene Überleben sicherstellen?

Die Verliebten unterziehen sich gegenseitig einem Test, den Schiller in die berühmten Worte gefasst hat: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet!« Auf der anderen Seite wissen wir von der Liebe auf den ersten Blick. Wir wissen weiter, dass die spontane Liebe in Bezug auf Dauer und Glück nicht schlechter sein muss als die lang geprüfte, auch das gilt als empirisch erwiesen. Und wir meinen zu wissen, dass arrangierte Ehen schlechter sind, d. h. weniger haltbar und glücklich, als frei gewählte nach den Gesetzen der Liebe. Schon im Jahre 1967 befragte William Kephart 503 amerikanische Studenten und 576 Studentinnen, ob sie einen Partner heiraten würden, der alle Eigenschaften hätte, die sie sich wünschten. 65 % der Männer antworteten mit Nein, 75 % der Frauen mit Ja. (Hassebrauck, 2005, 69) Heute würden in den USA 80 % aller Männer und Frauen die Frage mit Nein beantworten, lediglich 50 % wären es heute in Indien und Pakistan. Die Frage, ob Liebe oder zumindest Verliebtsein eine Voraussetzung für eine Heirat ist, wird von der überwiegenden Mehrheit heute mit Ja beantwortet. In Indien gibt es noch eine große Zahl arrangierter Ehen. So haben indische Sozialforscher einen Vergleich angestellt zwischen Paaren, die aus Liebe heirateten und Paaren, deren Ehen arrangiert wurden. In den ersten fünf Jahren war das gemessene Ausmaß der Liebe bei den Liebespaaren größer als bei den arrangierten Ehen; nach fünf Jahren allerdings kehrte sich das Verhältnis um und fortan waren die Partner glücklicher, deren Ehe arrangiert worden war.

Die meisten Frauen erwarten von den Männern die Initiative beim Kontaktaufbau. Aber welche Strategie ist hier die richtige? Soll der Mann die Frau direkt ansprechen: »Ich finde Sie attraktiv und möchte Sie gerne kennenlernen?« Oder soll er den indirekten Weg wählen, beispielsweise fragen: »Kennen Sie den neuen Film von Detlev Buck?« Oder sollte er sogar den offensiven und frechen Weg wählen: »Sie sehen mich an, als ob Sie mich gerne kennenlernen möchten!« Auch zu dieser Frage hat es eine große empirische Befragung gegeben (Cunningham, in Hassebrauck, 2005, 12 4), mit dem Ergebnis, dass die direkte und die indirekte Art eher zum Ziel führen als die freche. Sieht der Mann gut aus, hat eine gute Ausstrahlung und bringt er sein Anliegen mit Humor und Charme vor, dann wird der Weg wahrscheinlich nachrangig sein. Ist er das glatte Gegenteil, hässlich, stotternd und unsicher, dann kann er jede Strategie anwenden, er wird mit ziemlicher Sicherheit scheitern − wahrscheinlich sogar bei einer Frau, die einen intensiven Partnerwunsch hat.

Der Altersunterschied zwischen den Partnern bei Erst-Ehen beträgt durchschnittlich drei Jahre, bei Zweit-Ehen fünf Jahre und bei Dritt-Ehen acht Jahre. Wissen wir damit auch, ob der Altersunterschied ein Kriterium der Wahl war, ob diese nur vom Mann ausging oder auch von der Frau und ob der Altersunterschied sich positiv oder negativ auf das Liebesglück der Paare ausgewirkt hat? Nach welchen Eigenschaften suchen die Frauen, wenn sie einen älteren Mann zum Partner wählen, ist es immer die große Erfahrung? Und wonach suchen die Männer, wenn sie sich eine jüngere Frau aussuchen, ist es immer die körperliche Attraktivität? Oder steckt dahinter eher die Abwehr des eigenen Alterns, letztlich die Leugnung des Todes? Dann verhilft der Blick in das junge und schöne Gesicht dem älteren Mann, sein eigenes Alter nicht mehr zu spüren und schenkt ihm die Illusion, sein Tod sei mindestens ebenso weit entfernt wie der seiner Partnerin.

Wir wissen aus empirischen Befragungen, dass die Beschreibung eines idealen Partners bei Frauen viel differenzierter ausfällt als bei Männern. Frauen beschreiben ihren idealen Partner mit durchschnittlich 40 % mehr Eigenschaften als Männer. Frauen suchen einen durchsetzungsfähigen, verlässlichen, erfolgreichen, intelligenten, verantwortungsbewussten und unabhängigen Partner, während Männer eher mit wenigen äußerlichen Faktoren antworten, wie gut aussehend, schön, attraktiv oder gute Figur. Bedeutet dies, dass Frauen generell differenzierter sind als Männer, dass sie nur deshalb mehr Kriterien formulieren, weil sie größere Angst haben, an einen falschen Partner zu geraten oder dass ihre Ansprüche an Partnerschaften und Liebesbeziehungen größer sind? Und kann man sich wirklich bei allen Befragungen an dem orientieren, was die Menschen sagen? Persönliche und partnerschaftliche Ideale, Selbst- und Fremdbilder, sind innerseelische Objekte, die mehr Auskunft über den Einzelnen und seine Geschichte geben als objektive Informationen.

Wir wissen auch, dass alle Menschen, Frauen wie Männer, den großen Traum von der Liebe des Lebens träumen (wie er bereits von Ovid in den Metamorphosen in der Geschichte von Philemon und Baucis beschrieben wurde). Sollte man sich dann so lange enthalten und nach der Liebe des Lebens suchen, bis man sie meint gefunden zu haben, oder sollte man realistisch sein und sich mit einem halbwegs tauglichen Lebensabschnittspartner begnügen? Der moderne Mensch erscheint in dieser Frage relativ kompromisslos.

Die große Liebe des Lebens

Die Suche nach dem richtigen Partner hat letztlich nur ein Ziel: die große, wahre und einzige Liebe des Lebens zu finden. Dafür werden auch gern Leiden, Frustrationen, Warten und Umwege in Kauf genommen. Und wenn man diese Liebe gefunden hat, gilt es, möglichst nie mehr an ihr zu zweifeln, sie festzuhalten und ein Leben lang bei ihr zu bleiben. Soweit der Traum der Liebesuchenden und der Glaube der Verliebten. In der konkreten Wirklichkeit stellen sich meist ganz andere Fragen.

Die erste Frage ist: Woran erkennt man die einzige, wahre, große Liebe des Lebens? Diese Frage bewegt viele Menschen, nicht nur die Liebenden, sondern auch diejenigen, die − mehr oder weniger zufrieden − in Liebesbeziehungen leben. Sie fragen sich in ihren Momenten des Zweifels immer wieder, ob sie den richtigen Partner gefunden haben, oder ob sie nicht lieber die Beziehung beenden und neu auf die Suche gehen sollten. Das Internet suggeriert die dauernde Verfügbarkeit aller möglichen Partner weltweit und wiegt die Menschen in der trügerischen Vorstellung, sie könnten jederzeit eine bessere Partnerschaft finden. Und manchmal sind Menschen sogar wirklich beunruhigt darüber, dass sie an einem bestimmten Ort sind, während gerade in dem Moment ihre Liebe des Lebens an einem anderen sein könnte. Und wenn man diese besondere Person dann wirklich treffen sollte, woran erkennt man sie? Der Himmel öffnet sich nicht als göttliches Zeichen, und die Geigen und Gesänge erklingen nicht, wie Madame Bovary sich dies noch bei Flaubert wünschte. Teilweise ist das erste Treffen sogar recht banal und das Verlieben stellt sich erst viel später ein. Manchmal aber erinnern sich die Menschen gar nicht mehr daran, wann und wie sie ihren Partner getroffen haben.

Woran sich die ehemals Verliebten erinnern, sind weniger die Auffälligkeiten beim Anderen als vielmehr die eigenen Gefühle, wie das Kribbeln im Bauch, die weichen Knie, die eigene Unsicherheit, das peinliche Gestammel oder alles zusammen. Sind das die untrüglichen Zeichen für die Begegnung mit einer großen Liebe? Man weiß es nicht, aber wenn diese Zeichen ausbleiben, denken viele, dass es nicht die große Liebe sein kann.

Man kann die große Liebe erkennen − auch unabhängig von den sogenannten untrüglichen körperlichen Anzeichen wie den Flugzeugen im Bauch. Dann sagen die Menschen Sätze wie: »Wir kennen uns zwar erst seit drei Wochen, aber vom Gefühl her sind es drei Jahre. Wir sind uns unglaublich vertraut, es ist alles so einfach und leicht.« Diese Äußerung einer schwärmerisch verliebten Frau war nicht nur Ausdruck ihrer Verliebtheit: Das Gefühl der Vertrautheit, sich schon viel länger zu kennen, ist durchaus ein Zeichen, auf das man sich verlassen kann. Die große, wahre Liebe des Lebens ist psychologisch gesehen eine Übertragungsliebe. Auf den neuen Partner werden alte Gefühle übertragen, die aus anderen, vorherigen Liebesbeziehungen stammen. Es verbindet sich eine neue mit einer alten Liebe. Diese neue Liebe ist deshalb so vertraut, weil sie die Erinnerungen an eine alte, vertraute Liebe wieder wachruft, meist ohne dass die Betroffenen es besonders merken. Die alte Liebe kann eine ehemalige Liebesbeziehung aus dem Erwachsenenleben sein, es kann eine Jugendliebe sein, es können aber auch Erinnerungen an unsere ersten frühen Beziehungen sein, in denen wir uns geliebt fühlten, wie damals in unserer Ursprungsfamilie bei unseren Eltern oder Geschwistern.

Wie kommt diese Übertragung zustande? Der neue geliebte Mensch hat ja oftmals überhaupt keinerlei Ähnlichkeiten mit den alten geliebten Personen, und in den seltensten Fällen sehen sich die Menschen ähnlich. Die Übertragung ergibt sich nicht aus einer Ähnlichkeit der Personen, sondern aus den eigenen Gefühlen zu diesen Menschen. Neurologisch könnte man sagen, dass die alten Aktivitätsmuster der Spiegelneuronen wieder aktiviert werden. Wir haben uns damals bei einer bestimmten Person vielleicht sicher und geborgen gefühlt, oder wir haben uns bedingungslos geliebt gefühlt, oder so verstanden wie noch nie im Leben zuvor. Es sind diese Gefühle, die wieder hochkommen, die aus alten Beziehungen stammen und die wir auf die neuen Beziehungen übertragen. Der Schlüssel zum Verständnis der großen Liebe liegt also nicht in der geliebten Person, sondern in der liebenden, genauer gesagt: in ihren Gefühlen. Diese Gefühle der Vertrautheit sind älter als die aktuelle Verliebtheit, und beide gehen miteinander eine Verbindung ein.

Die Angst vor der großen Liebe

Wenn eine solche tiefe Vertrautheit zu einer Person am Beginn einer Liebesbeziehung entsteht, dann verunsichert dies die Liebenden oftmals sehr und teilweise bekommen sie Angst, weil sie den Überschwang ihrer Gefühle nicht mehr ganz verstehen können oder sogar Angst haben, sich im Anderen oder der Beziehung zu verlieren. Diese Angst wird kurioserweise etwas schwächer, wenn es beiden so geht. Dann hat der heftig verliebte Partner nicht mehr das Gefühl, vielleicht in eine einseitige Abhängigkeit zu geraten, denn dem anderen geht es ja auch so. Doppelte Verunsicherung erbringt anscheinend Sicherheit, so wie in der Mathematik Minus mal Minus Plus ergibt. Die Verliebten glauben, dann werde der Partner sie nicht so leicht sitzen lassen oder enttäuschen, denn er scheint ja ebenso starke Gefühle zu haben wie sie selbst. Das ist dann die große Liebe: Wenn beide − und nicht nur einer − im Anderen neben aller Verliebtheit auch eine Vertrautheit wiederfindet. Dies hat schon Sigmund Freud angesprochen, als er 1905 darauf hinwies, dass das Finden des Liebesobjektes immer auch eine Wiederfindung früher Beziehungsvorbilder sei. (Freud, 1905, nach Stiemerling, 107) Wie gesagt: Nicht die Personen werden wieder gefunden, sondern die inneren Bilder und Gefühle aus früheren Beziehungen.

Was sind die Glück auslösenden Gefühle, die eine große Liebe begleiten? Man fühlt sich verstanden, grundsätzlich angenommen, als ganze Person wertgeschätzt, in der Beziehung sicher und als Mensch bedingungslos geliebt. Es ist wie ein Urzustand, wie das Grundgefühl eines gewünschten und geliebten Kindes oder das Wahrwerden aller bisherigen Liebessehnsüchte. Bleibt eine solche Liebe einseitig, dann kann sie sich tragisch entwickeln, ist sie beidseitig, dann kann sie für beide zur großen Liebe des Lebens werden.

Weil die große Liebe nur möglich ist, wenn beide sich so fühlen, bohren verliebte Menschen immer in der Seele des Anderen herum und befragen ihn teilweise im Minutenabstand, um herauszufinden, ob die Liebe bei dem Anderen auch so groß ist. Man justiert die eigenen Liebesgefühle durch ein Einstellen auf die korrespondierenden Gefühle des Anderen. Wenn dann die Liebe des Anderen nicht so groß zu sein scheint, wie die eigene − was man meist an untrüglichen Anzeichen wie etwa Zuspätkommen zu erkennen glaubt − dann kann man schnell seine eigenen Verliebtheitsgefühle wieder reduzieren und sich damit emotional in Sicherheit bringen. Je stärker die eigenen Verliebtheitsgefühle sind, desto stärkere Maßnahmen müssen unternommen werden, sie in Schach zu halten, sie zu kontrollieren, sie abzuwehren, um nicht von ihnen oder mit ihnen fortgeschwemmt zu werden.

Eine Besonderheit bei dieser verliebten Partnerwahl besteht darin, dass beide Partner nicht nur alte Gefühle aus früheren Liebesbeziehungen auf den jeweils anderen übertragen, sondern zudem eine tiefe Liebessehnsucht in sich tragen, bevor sie eine konkrete Liebesbeziehung eingehen. Insofern besteht ein inneres, idealisiertes Bild eines Partners, bevor man die konkrete Person trifft. Auch dieses Ideal setzt sich aus alten und neuen Sehnsüchten zusammen, die immer größer, umfassender, tiefer und maßloser sind als sie je ein real lebender Mensch befriedigen könnte. Wer entspricht schon einem Ideal? Die häufigste Lösung der Menschen für dieses Problem ist psychologisch einfach: Man glaubt daran, den idealen Liebespartner gefunden zu haben. Genauer gesagt: Man projiziert die eigenen Liebessehnsüchte in einen anderen Menschen hinein, ja man liebt die Liebessehnsüchte in ihn hinein, um sie danach wieder aus ihm heraus zu lieben. Insofern ist die große Liebe ein doppelter psychischer Vorgang, der seinen Ursprung im Liebenden, und nicht im Geliebten hat: Zum einen werden alte Gefühle übertragen, zum anderen werden Liebessehnsüchte projiziert. Wenn der betroffene Partner dies nicht nur zulässt, sondern ebenfalls so empfindet, dann werden Glückshormone freigesetzt, die auf der einen Seite extrem beunruhigen, andererseits aber eine Ruhe und Sicherheit geben, wie sie vielleicht nie zuvor empfunden wurden.

Komplikationen der großen Liebe

Kann es bei der großen Liebe des Lebens überhaupt Probleme geben? Jeder, der schon einmal eine solche Liebe des Lebens gelebt und geliebt hat, weiß, dass leider nicht nur die positiven, sondern auch die negativen Gefühle eine ungeheure Energie entwickeln können. Sind also die mit der großen Liebe verbundene Sicherheit und Gewissheit nicht ein ausreichendes Schutzschild gegen jede Krise der großen Liebe? Ja und nein. Ja, weil es kaum eine andere Paarbeziehung gibt, die bessere Startbedingungen hat. Nein, weil eine Partnerschaft ohne Krisen nicht denkbar ist, denn sie wäre unmenschlich. Jede Partnerschaft besteht aus zwei Menschen, die sich beide persönlich weiterentwickeln und einer Paarkonstellation, die auch ihre Reifungskrisen und Entwicklungszyklen durchläuft.

Die Stärke ist zugleich die Schwachstelle der Übertragungsliebe. Es sind die alten Gefühle, die unbewusst mit früheren Beziehungen verbunden werden und die manchmal auch ungelöste Konflikte, unbewältigte Krisen und unverarbeitete Ängste mit sich bringen. Nehmen wir zum Beispiel einen Mann, der in seiner Frau auch eine liebevolle Mutter wiederfindet, die ihn heute so umsorgt, wie seine Mutter es auch einmal getan hat. Mit den alten angenehmen und warmen Gefühlen, die die heutige Frau bei ihrem Mann dadurch auslöst, werden gefühlsmäßig aber gleichzeitig auch viele andere Themen rund um die Mutter wieder angesto- ßen und empfunden, ohne dass diese bewusst werden müssen. Denn da gab es nicht nur die liebevolle, sondern auch die strafende Mutter, die ihre cholerischen Anfälle bekam, herumschrie, ausrastete und sich später wieder dafür entschuldigte. Die Mutter, die sich ihrem Mann gegenüber unterwürfig zeigte bis zur Selbstverleugnung, und die in dem Sohn starke Errettungsgefühle auslöste, verbunden mit heftigen Aggressionen gegen den Vater. Und wenn er heute seine Frau erlebt, wie sie manchmal sauer wird und herumbrüllt, dann erinnert ihn das auch an seine Mutter. Aber eigentlich wollte er von einer Frau niemals mehr so behandelt werden, wie damals von seiner Mutter, wenn sie ihre Ausraster hatte. Dann geht er in den Clinch mit seiner großen Liebe des Lebens und will ihr die notwendigen Grenzen setzen, so wie er es früher immer gerne gegenüber seiner Mutter gekonnt hätte. Und seine Frau versteht die Welt nicht mehr, weiß nicht, warum er sich so aufregt, nur weil sie mal laut geworden ist. Dann bekommen beide einen heftigen Streit miteinander, verstehen sich nicht mehr und gehen sich danach tagelang aus dem Weg. Und schon wird das einstmals unerschöpfliche Konto der großen Liebe langsam weniger − und der Zweifel stellt sich ein.