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Inhalt

I

5

II

28

III

63

IV

92

V

148

VI

179

VII

212

VIII

255

IX

293

Bibliographie: Dieter Wellershoff

302

|5|I

ES WAR DAS ERSTE MAL in seiner anderthalbjährigen Amtszeit als Pfarrer, dass er nachts zu einer Unfallstelle gerufen wurde, weil jemand seelischen Beistand brauchte. Das entsprach einem kirchlichen Service, der sich eigentlich von selbst verstand, den er aber kurz nach seinem Amtsantritt, in der Absicht, die kirchliche Arbeit lebensnäher zu gestalten, zusammen mit vier Amtskollegen aus benachbarten Pfarreien zu einer Institution gemacht hatte. Sie stand unter dem etwas gewaltsam zusammengesetzten Namen »Notfallseelsorge« im Telefonbuch und war bei Feuerwehr und Polizei und den verschiedenen Rettungsdiensten als eine bei Unfällen abrufbare geistliche Hilfe notiert, inzwischen aber in Vergessenheit geraten, wenn man das überhaupt sagen konnte von einer Einrichtung, die noch nie jemand in Anspruch genommen hatte. Zwar gaben die fünf kooperierenden Pfarrämter halbjährlich eine Liste heraus, aus der hervorging, welcher Pfarrer des Bezirks Bereitschaftsdienst hatte, aber als der Anruf kam, hatte er weder die Termine noch überhaupt die Liste im Kopf. Und er zögerte, den Hörer abzuheben.

In letzter Zeit hatte er abends manchmal merkwürdige |6|Anrufe bekommen: Geständnisse einer älteren verwitweten Frau mit unüberhörbaren sexuellen Untertönen und zweimal anonyme Anrufe einer jüngeren weiblichen Stimme, bei denen er sich nicht sicher war, ob sich da jemand, vielleicht sogar vor heimlichen Mithörern, über ihn lustig machte. Die Stimme hatte Formulierungen benutzt, die er als seine eigenen wiedererkannte und auf einmal als hohl und peinlich empfand. Gewohnt zuzuhören, hatte er die Gespräche zu spät abgebrochen und war in einer nervösen Verstörtheit zurückgeblieben, die es ihm den restlichen Abend schwer machte, sich noch auf irgendetwas zu konzentrieren.

Er lebte allein in dem großen Pfarrhaus, das seine Vorgänger während des größten Teils ihrer Amtszeit mit vielköpfigen Familien bewohnt hatten, und war ein Gefühl von Unangemessenheit und Fremdheit nicht losgeworden. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor seinem Einzug zu heiraten. Doch Claudia, seine Freundin aus der Zeit seines Vikariats, war vor dem entscheidenden Schritt zurückgescheut und hatte sich von ihm getrennt. Sie war in eine andere Stadt gezogen und hatte ihm weder ihre neue Adresse noch ihre Telefonnummer mitgeteilt. Er hatte sie allerdings auch nicht darum gebeten, weil er annahm, dass sie zu einem anderen Mann gezogen war. Die vielen Gespräche, die sie in den Monaten vor ihrer Trennung geführt hatten, waren für ihn auf ihren Satz geschrumpft: »Wir passen eben nicht zusammen.« Das war ihr Angebot gewesen, die Trennung als eine vernünftige und notwendige gemeinsame Entscheidung |7|zu betrachten. Aber es hatte auch andere Töne gegeben: Streit und kurze Versöhnungen und nicht mehr gutzumachende Worte.

Für ihn war die Trennung ein Schock, auch wenn er sich sagte, dass damit nicht allein seine Person gemeint war, sondern alles, was er für Claudia repräsentierte: das Leben auf dem Land, in einer Ortschaft, die ein nach allen Seiten ausgewuchertes Dorf, aber eben keine Stadt war, und das düstere, heruntergekommene Pfarrhaus, in das er dann allein eingezogen war.

Es war ihm schwergefallen, sich einzurichten. Ohne sie fehlte ihm die Phantasie und die Notwendigkeit, um im Haus viel zu verändern und zu verbessern. Wozu? Er kam auch so zurecht. Das Dachgeschoss, in dem ursprünglich die Kinder seines Vorgängers gewohnt hatten, hatte er ganz außer Acht gelassen. In den Räumen mit ihren stockfleckigen Tapeten waren kaputte Möbel und mehrere Kisten voller alter Gemeindeakten abgestellt, die er sichten musste, bevor er das ganze Geschoss entrümpeln ließ, was aus Gründen des Feuerschutzes längst fällig war. Aber da er für die Mansarden keine Verwendung hatte, war er dieser Arbeit bisher aus dem Weg gegangen. Für seine Wohnung im ersten Stock hatte er einige ausrangierte Möbel seines Vorgängers übernommen und sie mit seinen wenigen eigenen Möbeln zusammengestellt. Es wirkte zufällig und achtlos. Für einen Junggesellen, der Studienzeit, Vikariat und den anschließenden Hilfsdienst noch nicht lange hinter sich hatte, blieb es eine ungewohnt große Wohnung, in der er sich immer |8|noch etwas verloren fühlte. Anfangs hatte er abends einmal in allen Räumen das Licht brennen lassen. Doch nachdem ihn am nächsten Tag eine Gemeindehelferin gefragt hatte, ob er gestern Abend eine Party gefeiert habe, hatte er das nicht wiederholt.

Immer noch war er der junge Pfarrer, der unter aller Augen mit dem Schatten seines Vorgängers zu kämpfen hatte, einem Mann, der in seiner ganzen Lebensart besser in die ländliche Umgebung gepasst hatte, schon deshalb, weil er verheiratet war, als er die Pfarrstelle angetreten hatte. Er dagegen galt als Modernist, obwohl er sich selbst nicht so sah, jedenfalls nicht in einem ausgeprägten Sinn. Im Seminar hatten sie oft über die neu sich stellende Aufgabe gesprochen, in der heutigen Welt christliche Glaubensinhalte zu vermitteln. Zeitgemäß und praxisnah sollte es geschehen. Das waren die Leitvorstellungen seiner Studienkollegen, die sich gerne als eine Generation von Neuerern verstanden hätten, aber natürlich wussten, dass vor Ort in den Gemeinden viele fortschrittliche Neuerungen und Aktivitäten auf sie warteten, sodass nicht mehr viel Spielraum für weitere Projekte blieb. Es gab Kindergärten und Altenbetreuung, Gesprächsgruppen und Singkreise, Vorträge und Theatergemeinschaften. Es war ein florierender Betrieb mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen, neben denen der sonntägliche Gottesdienst eher als eine traditionelle Pflichtübung dahinkrankte.

Eigentlich war dies ja das Problem. Es ging nicht um Neuerungen, sondern um Erneuerung. Daran waren alle Neuerungen zu messen.

|9|Die Neuerung, die er eingeführt hatte – dass sich die Gemeindemitglieder beim Segen zum Ende des Gottesdienstes die Hände reichten –, hatte anfangs die Gemeinde gespalten. Manche waren dem Gottesdienst ferngeblieben. Im Presbyterium hatte er das neue Ritual als anschauliches Bekenntnis zur Nächstenliebe verteidigt. Und als gemeinsame Erfahrung der Gleichheit vor Gott. Aber Kurt Rautenbach, ein pensionierter Oberstudienrat, der ihm häufig widersprach, hatte das abschließende Händereichen als sentimentalen Kitsch bezeichnet, der nicht in den Gottesdienst gehöre. »Wir wollen hier keinen Hippiekult«, hatte er gesagt. Und obwohl niemand ihm zustimmte, war sichtbar, dass diese Bemerkung Eindruck machte. Als er beim nächsten Gottesdienst vor dem abschließenden Segen sagte: »Und nun wollen wir uns alle die Hände reichen«, hatte er gebangt, ob die Gemeinde ihm folgen würde. Dann hatten fünf oder sechs Leute den Anfang gemacht, und alle hatten sich angeschlossen.

Inzwischen gab es kein Zögern mehr. Aber er fragte sich, was der Grund gewesen sei. Nur Gewohnheit? Oder vielleicht das Gefühl, dass das Händereichen eine Gemeinsamkeit vortäusche, die es überhaupt nicht gab? Sein Widersacher im Presbyterium schien es so gemeint zu haben, als er von sentimentalem Kitsch sprach. Aber das hieß doch, die moralische Kraft symbolischer Handlungen zu verkennen.

Er hatte darüber mit einem ehemaligen Studienkollegen zu sprechen versucht, der damals eine Pfarrstelle in der Nachbarschaft gehabt hatte. Aber der |10|hatte im Gegensatz zu früher wenig Interesse an dem Gespräch gezeigt und es mit der Bemerkung abgeschlossen: »Mehr oder minder sind wir alle nur noch Entertainer und Animateure.«

Er war sprachlos gewesen, hatte sogar genickt. Wieder hatte er daran denken müssen, dass Claudia ihn auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung einen Prediger genannt hatte. Es war einer jener Momente in seinem Leben, die ihn immer wieder bedrängten. Er konnte sich nur vor diesen Erinnerungen schützen, indem er irgendetwas Stärkendes, Aufbauendes dagegenstellte, für andere und für sich selbst. Morgen hatte er im Sonntagsgottesdienst eine gute Gelegenheit. Er musste die Predigt zu einer Trauung halten. Das war ein Thema, dem er sich immer wieder stellen musste. Und diesmal wollte er frei darüber sprechen, in der Sprache eines Zeugen.

 

Draußen fiel seit einer Stunde ein immer dichter werdender Regen, der in den Nachrichten als ein Tief aus Nordwesten angekündigt worden war. Es war noch kein Sturmtief, aber ein Rauschen, das ab und zu böig gegen die Fenster schlug. Eine Weile hörte er zu. Das Geräusch war beunruhigend. Aber vielleicht nur, weil er selbst voller Unruhe war. Ich sollte heute früh schlafen gehen, dachte er. Doch vielleicht war es noch zu früh, um gleich einzuschlafen, und dann begann die Quälerei des Wartens und nervösen Herumwälzens. Uneins mit sich selbst schaltete er das Fernsehen an und ließ mit der Fernbedienung die Programme über den Bildschirm rutschen. Er stoppte bei einem |11|Turnier von japanischen Sumoringern. Fettleibige Kolosse mit weibischen Brüsten, die windelartige Tücher um ihre Hüften geschlungen hatten, hockten am Rand des Kampfrings in einer froschartigen Haltung einander gegenüber, um auf ein Zeichen des Schiedsrichters hochzuschnellen und in der Mitte des Ringes mit der ganzen Wucht ihrer Riesenleiber aufeinanderzuklatschen. Sie stießen und schoben sich oder versuchten, einander auszuhebeln, und wer stürzte oder mit einem Fuß aus dem Ring geriet, hatte verloren. Manchmal dauerte es nur Sekunden. Ohne besonderes Interesse schaute er sich einige Paarungen an und schaltete aus.

Das Rauschen des Regens und die Windstöße schienen noch stärker geworden zu sein. Hinter den Fensterscheiben, an denen das Wasser in glasigen Strömen herunterlief, sah er nur verschwommene Dunkelheit. Aber die Fenster waren dicht. Er sagte sich, dass er nachschauen müsse, ob auch im Dachgeschoss alles in Ordnung sei, und stieg zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder nach oben.

Als er in die erste Kammer trat, sah er im matten Licht der einzigen von der Decke herunterhängenden Glühbirne die aufeinandergestapelten Kisten und eine Reihe umgekippter Aktenordner. Einige hatten sich geöffnet, und die eingehefteten Briefe schauten wie ein schmutziges, obszönes Unterfutter aus den schwarzen Pappdeckeln heraus. Es roch modrig. Die dunklen Flecken an den Wänden waren Schimmelpilze. Die schmalen Fenster in den Dachgauben schienen allerdings dicht zu sein. Er hatte das Gefühl, |12|dass die Wind- und Regengeräusche hier oben noch stärker waren als im ersten Stock. Gleich bei seinem Eintritt war es ihm so vorgekommen, als würde ihm eine Kappe aus Geräuschen über den Kopf gestülpt. Deshalb hatte er, während er durch die drei Kammern ging und hier und da ein loses Fußbodenbrett unter seinem Schritt knarrte, nicht bemerkt, dass im ersten Stock das Telefon klingelte. Erst als er schon wieder auf der Treppe nach unten war, hörte er in seinem Wohnzimmer, immer noch kaum lauter als ein Zirpen, die letzten Signale. Wer mochte das gewesen sein zu dieser außergewöhnlichen Zeit? Vielleicht doch die so lange verstummte Stimme Claudias, die leise fragte: »Wie geht es dir?« Nein, das musste er sich aus dem Kopf schlagen. Wahrscheinlich war es wieder eine dieser namenlosen aufdringlichen Anruferinnen, oder immer dieselbe. Er war gerade ins Zimmer getreten, als der Apparat wieder klingelte. Er zögerte, den Hörer abzunehmen, und sagte dann nur »Ja?«

 

Er hörte aufgeregte Stimmen und ein sich näherndes Martinshorn, dann ganz nah eine Männerstimme, die ihn fragte: »Sind Sie Pfarrer Ralf Henrichsen von der Notfallseelsorge?«

»Ja«, sagte er, »was ist los?«

Der Anrufer stellte sich als Polizeimeister von der Funkstreife vor.

»Wir haben hier einen schweren Unfall«, sagte er. »Es wäre gut, wenn Sie kämen. Soll ich Ihnen einen Streifenwagen schicken?«

|13|»Nein, ich habe einen Wagen. Wo ist es denn?«

Der Polizist beschrieb die Lage des Unfallortes an der Landstraße zur Kreisstadt, etwa zweieinhalb Kilo­meter vom Ortsausgang entfernt, wo der Baggersee an die Straße grenzte.

»Und was ist passiert?«, fragte er.

»Jemand hat sein Auto mit Frau und Kind in den See gefahren.«

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte er.

»Ja, das wissen wir auch nicht, Herr Pfarrer. Der Mann sagt, er sei von einem entgegenkommenden Fahrzeug geblendet worden. Er konnte noch rausspringen, bevor der Wagen versunken ist.«

»Sind Frau und Kind tot?«

»Das wissen wir nicht. Gerade ist die Feuerwehr gekommen, um den Wagen zu bergen. Ein Notarzt ist auch dabei. Oder sogar zwei.«

»Ich bin gleich da«, sagte er.

Er drückte die Austaste und ließ seine Fingerspitze einige Sekunden darauf ruhen, in dem Gefühl, die Nachricht festhalten zu müssen, die in seinem Kopf schon zu einem dunklen Klumpen schrumpfte. Ein plumpes Objekt versank in der Schwärze: – das Auto, lautlos eintauchend und verschwindend im nächtlichen See.

Es war ihm völlig entfallen, dass er in dieser Woche Bereitschaftsdienst bei der Notfallseelsorge hatte, obwohl er ein Mitbegründer dieser Einrichtung war. Glücklicherweise hatten sie zweimal bei ihm angerufen und hatten ihn erreicht.

Was brauchte er jetzt? Da die Polizei und die Rettungsdienste |14|vor Ort waren, brauchte er nur seine Regenjacke. Es war eine unerwartete Situation. Aber es freute ihn, dass man ihn gerufen hatte.

 

Der Wind hatte nachgelassen, doch der Regen fiel unverändert dicht, sodass er die Wischer in den Schnellgang schaltete. Der rechte Wischer schrammte über die Scheibe, war wahrscheinlich verbogen. Und der Motor lief ziemlich rau. Aber das Auto fuhr immer noch zuverlässig. So alt es auch war – er mochte sich nicht von ihm trennen. Nicht das Haus, nicht seine Wohnung, auch nicht die Kirche – dieser enge, schäbige Kasten war für ihn der vertrauteste Ort. Besonders nachts auf leeren Landstraßen war der kleine dunkle Innenraum mit den matt beleuchteten Instrumententafeln hinter dem Lenkrad für ihn eine Art Mönchszelle, in der er sich geborgen und bei sich selbst fühlte. Auch jetzt genügte ihm die kurze Fahrt zum Unfallort, um sich zu sammeln und zu ordnen. Er war nicht mal gespannt, was er sehen würde, er fuhr nur, während die Scheibenwischer den Wasserschleier beiseiteräumten und im Licht seiner Scheinwerfer der Regen weißlich sprühend auf dem Asphalt tanzte. Jetzt begann die große Kurve, mit der die Straße an den See heranrückte, und nun sah er die kreisenden Blaulichter der Polizeiautos und der Feuerwehr, die mit einem Scheinwerfer die Unfallstelle beleuchtete. Zwischen den Fahrzeugen liefen Feuerwehrleute und weiß gekleidete Sanitäter oder Ärzte, verschwommen im dichten Regen. Ein Polizist winkte ihn mit einer Leuchtkelle an den Straßenrand und trat grüßend auf |15|ihn zu, als er ausstieg. Es war der Polizeibeamte, der ihn angerufen hatte.

»Wie sieht’s aus?«, fragte er.

»Sie haben den Wagen jetzt angekettet und werden ihn gleich rausziehen. Der Fahrer steht da vorne.«

Der Polizist zeigte auf einen Mann, der ein wenig abseits von den Sanitätern und Feuerwehrleuten am Ufer stand und auf den See starrte, wo jetzt Bewegung entstand, weil die Seilwinde des Feuerwehrwagens zu arbeiten begann.

»Ich kümmere mich um ihn«, sagte er und ging auf den Mann zu, ohne schon zu wissen, was er tun und was er sagen wollte. Der Mann stand regungslos da. Als er von der Seite an ihn herantrat, glaubte er spüren zu können, mit welcher unablenkbaren Konzentration der Mann den Punkt fixierte, wo das vor Spannung vibrierende Drahtseil in die Wasserfläche einschnitt und gleich, wenn die Befestigung nicht riss, das Auto zum Vorschein kommen musste.

»Kommen Sie hier weg«, sagte er zu dem Mann. »Bleiben Sie nicht hier stehen. Ich bin Pfarrer Henrichsen, ich kümmere mich um Sie.«

Der Mann schien nichts verstanden zu haben, wandte nicht einmal den Kopf. In diesem Augenblick tauchte das Wagenheck auf, das Rückfenster, das Wagendach, und durch die Seitenfenster, an denen das Wasser herunterströmte, sah man undeutlich zwei Menschen, die wie Dummys in den Gurten hingen. Der Mann neben ihm stöhnte auf, wehrte sich aber kaum, als er ihn an der Schulter fasste und fortdrehte. Über seine Schulter hinweg sah er, wie das Auto, ein |16|roter Opel Astra, auf die Böschung gezogen wurde, wo Feuerwehrleute die anscheinend verklemmte Beifahrertür aufbrachen und Sanitäter die zusammengesunkenen Körper von den Sitzen hoben, zuerst die Frau, dann den kleinen Jungen, beide mit schlaff herunterhängenden Gliedmaßen und wirren Haaren, in von Wasser triefenden Kleidern. Ihre Ohnmacht, oder war es der Tod, schien ihr Gewicht vergrößert zu haben. Trotz ihrer geübten Griffe hatten die Sanitäter Mühe, die leblosen Körper auf Tragen den glitschigen Abhang hochzuschleppen. Sie stellten sie am Straßenrand ab. Zwei Ärzte knieten bei ihnen, um nach Lebensresten zu suchen, umstellt von Menschen, die sich bereithielten für irgendwelche Hilfen oder auch nur, um zuzuschauen.

Der Mann in seinen Armen stöhnte, als sähe er, was hinter seinem Rücken geschah und wenig Hoffnung auf Rettung ließ. Die Ärzte waren nach kurzer Prüfung wieder aufgestanden, und sofort hoben die Sanitäter die Tragen auf und liefen damit quer über die Straße zu den beiden Rettungswagen, in denen jetzt wahrscheinlich Wiederbelebungsversuche begannen. Noch immer hielt er den Mann in seinen Armen, eine sperrige, dumpfe Körpermasse, in der er ein Beben spürte, das er zu beschwichtigen versuchte.

»Man hat sie in die Rettungswagen gebracht«, sagte er leise, denn er war sich bewusst, dass der Kopf des Mannes an seiner Schulter lehnte und er fast direkt in dessen Ohr sprach. Er bekam keine Antwort. Vorsichtig löste er seine Umarmung, hielt aber einen Oberarm fest, unsicher, ob er den Mann zu den Rettungswagen |17|auf der anderen Seite der Straße führen sollte oder besser ein Stück von hier fort.

»Wollen Sie sich setzen?«, fragte er. »Mein Wagen steht gleich hier«.

Anscheinend hatte der Mann seinen Vorschlag nicht verstanden oder nicht zugehört. Er stand da und schaute unverwandt zur anderen Straßenseite hinüber, wo hinter den undurchsichtigen Milchglasscheiben der Rettungswagen die Ärzte um das Leben der Ertrunkenen kämpften. Plötzlich schüttelte er sich, als erschauere er, murmelte dann fast tonlos in sich hinein: »Mein Gott, mein Gott.«

Konnte er etwas Hilfreiches sagen? Sollte er ihn wieder umarmen? Etwas hinderte ihn daran, etwas in dem Mann selbst, eine Ausstrahlung von Unberührbarkeit, die ihn auf Abstand hielt.

Bisher hatte er nicht daran gezweifelt, dass es in solchen tragischen Situationen richtig sei, ein Gebet zu sprechen. Das erschien ihm jetzt unzumutbar formelhaft. Nein, er konnte es nicht. Vielleicht sollte er stattdessen zusammen mit dem Mann zu den Rettungswagen hinübergehen und fragen, ob die Ärzte Erfolg hatten. Aber er fürchtete sich, die endgültige Auskunft zu bekommen und es dem Mann sagen zu müssen. Er blickte ihn von der Seite an: das fahlblonde Haar, der schwere Kopf. Von irgendwoher kannte er diesen Menschen, hatte ihn jedenfalls schon mal gesehen, wusste aber nicht wo und bei welcher Gelegenheit. Und nur, um eine Verbindung zu ihm herzustellen, fragte er, wie der Unfall geschehen sei.

Der Mann wandte den Kopf und schaute ihn aufgestört |18|an, als sähe er an seiner Stelle etwas anderes, einen wiederkehrenden Schrecken: »Bin geblendet worden. Ein Fahrzeug kam mir entgegen. Ich musste ausweichen.«

Er wagte nicht weiterzufragen. Es war das, was ihm schon der Polizist am Telefon gesagt hatte. Für den Mann schien es zu viel zu sein; denn er schlug die Hände vor sein Gesicht und stöhnte leise auf.

Inzwischen hatten die Feuerwehrleute den Opel bis zur Straße hochgezogen und machten Platz für den eben eingetroffenen Abschleppwagen, der seine Rampe herunterließ und langsam zurücksetzte. Seltsam, dass solche einfachen Vorgänge so beruhigend und erleichternd wirkten. Auch der Mann neben ihm hatte zugesehen. Vielleicht fragte er sich, ob sein Auto noch zu reparieren sei.

War jetzt hier alles zu Ende? Die Fahrer der Rettungswagen, die mit den Polizisten und einigen Feuerwehrleuten zusammengestanden hatten, mussten ein Zeichen bekommen haben, denn sie stiegen eilig in ihre Fahrzeuge und starteten die Motoren. Mit aufheulenden Martinshörnern fuhren die Wagen ab und entfernten sich mit schnellem Decrescendo in der lang gestreckten Kurve auf dem Weg zur Stadt. Die Fahrzeuge der Feuerwehr folgten, zuletzt der Abschleppwagen mit dem aufgebockten Unglücksauto. Die Lichter der Kolonne wurden kleiner und verschwanden in der regnerischen Dunkelheit.

Er überlegte, ob er sagen solle, dass der plötzliche Aufbruch ein gutes Zeichen sei. Doch er war gelähmt von dem Gefühl, Zeuge einer Katastrophe zu sein.

|19|Ein Polizist trat auf sie zu, gewappnet mit amtlicher Höflichkeit.

»Herr Karbe, ich muss Sie bitten mitzukommen. Sie müssen zur Kontrolle ins Krankenhaus. Und wir müssen auch noch ein Protokoll aufnehmen.«

Der Mann nickte und schaute zu Boden. Plötzlich stieß er hervor: »Was ist eigentlich los? Warum sagt man mir nichts? Sind sie tot?«

»Genaues weiß ich leider nicht« sagte der Polizist. Und als wollte er so schnell wie möglich auf sicheren Boden zurück, fügte er hinzu: »Wir bringen Sie ja ins Krankenhaus, Herr Karbe. Dort können Sie mit den Ärzten sprechen und die Nacht über bleiben.«

Jetzt, da er den Namen gehört hatte, erinnerte er sich: Der Mann war Lehrer in der städtischen Realschule, an der er selbst eine Zeit lang aushilfsweise Religion unterrichtet hatte. Er hatte ihn dort einige Male gesehen. Sie hatten nie miteinander gesprochen.

In den nächsten Tagen wollte er den Mann besuchen und ein ruhiges Gespräch mit ihm führen. Die Adresse konnte er sich wohl in der Schule besorgen oder bei der Polizei. Damit brauchte er ihn jetzt nicht aufzuhalten, zumal Karbe wie abwesend wirkte, nicht ansprechbar. So sagte er nur kurz: »Ich rufe Sie an«, und schaute ihm nach, wie er, begleitet von dem Polizisten, in einen der beiden Streifenwagen einstieg. So müde und fügsam wie sich der Mann bewegte, konnte man meinen, er sei verhaftet worden. Offensichtlich war er am Ende seiner Kräfte.

Nun wurde er wohl nicht mehr gebraucht und konnte nach Hause fahren.

|20|Als er zu seinem Wagen zurückging, traf er den Polizeimeister, der ihn angerufen hatte. Er hatte mit einer Stablampe bei der Unfallstelle die Böschung abgeleuchtet.

»Was haben Sie gesucht?«, fragte er.

»Eine Bremsspur. Da ist aber alles zerwühlt und zertrampelt. Und der Regen hat den Boden aufgeweicht. Es lässt sich nicht feststellen, ob es eine Bremsung gegeben hat.«

Es entstand eine Pause, in der sich etwas in ihm ausbreitete wie der Schatten eines Gedankens, den er von sich fernzuhalten versuchte, der aber doch von ihm Besitz ergriff, obwohl oder weil der Polizeibeamte es bei seiner Anmerkung beließ. Der Beamte hatte wohl nur seinen Frust ausdrücken wollen über eine Ermittlungspanne, die man der Polizei vielleicht vorwerfen würde. Er hatte ja auch gleich die Gründe genannt, die er zur Entschuldigung bereithielt: das schlechte Wetter, der Vorrang der Rettungsarbeiten. Offenbar beruhigte ihn das, denn er ging wie nach getaner Arbeit neben ihm her und begleitete ihn zu seinem Auto, das einige Schritte weiter am Straßenrand stand. »So«, sagte er und blickte auf seine Uhr, »vor genau einer halben Stunde habe ich Sie angerufen. Und jetzt ist hier alles schon vorbei. Soll man nicht glauben, was?«

»Nein, wirklich nicht. Wissen Sie etwas über die Frau und den Jungen?«

»Nein. Nicht mehr als Sie.«

»Wahrscheinlich sind sie beide tot. So sah es für mich jedenfalls aus.«

|21|»Davon muss man ausgehen. Die Ärzte probieren natürlich alles.«

»Und was geschieht mit dem Mann?«

»Dem wird eine Blutprobe abgenommen. Und wir nehmen seine Aussage über den Unfallhergang zu Protokoll, falls er überhaupt vernehmungsfähig ist.«

»Meiner Meinung nach stand er unter Schock.«

»Wahrscheinlich«, sagte der Polizist und fügte hinzu: »Er wird diese Nacht im Krankenhaus bleiben müssen. Vielleicht auch länger. Möglicherweise hat er ja auch Schäden davongetragen. Man wird ihn jedenfalls gründlich untersuchen und medizinisch versorgen.«

»Beeindruckend zu sehen, wie der Rettungsapparat funktioniert.«

»Waren Sie zum ersten Mal dabei?«

»Ja, zum ersten Mal. Als Sie mich anriefen und nach der Notfallseelsorge fragten, wusste ich im Augenblick nicht, was gemeint war.«

»Das habe ich aber nicht gemerkt.«

Sie standen wie gute Bekannte in einem Augenblick von Vertrautheit beieinander, und es lag an ihm, »Gute Nacht« zu sagen und in sein Auto zu steigen. Doch er konnte es nicht lassen, die Frage zu stellen, die ihn irritierte: »Was würde es denn bedeuten, wenn es tatsächlich keine Bremsspur gäbe?«

»Zunächst einmal nur, dass der Fahrer nicht gebremst hat.«

»Natürlich«, sagte er erleichtert. »Es hätte ja auch gar keinen Sinn gehabt, da auf der Böschung.«

|22|»Sinn nicht«, sagte der Polizeibeamte. »Aber in solchen Situationen bremst man instinktiv.«

»Und wenn er nicht gebremst hat?«

»Dann stehen wir vor der Frage: Warum nicht?«

»Aber Sie haben doch gesagt, man kann nicht mehr feststellen, ob es eine Bremsspur gab.«

»Das ist die Schwierigkeit, die wir haben.«

»Das unterscheidet uns«, sagte er. »Ich habe damit keine Schwierigkeiten. Ich finde, man muss den Menschen erst einmal vertrauen.«

»Erst einmal?«

Er ärgerte sich, dass er das gesagt hatte, und korrigierte sich: »Nein, ich meine grundsätzlich.«

Auch das war nicht ganz richtig. Er wusste das schon, als er es sagte. Und nun musste er sich anhören, wie der Polizeibeamte sagte: »Es ist Ihr gutes Recht, Herr Pfarrer, die Sache so zu sehen. Doch wir müssen allen Spuren nachgehen. Auch der Tatsache, dass es keine Spur gibt.«

Der Polizeibeamte sagte das freundlich lächelnd, wie ein Angebot, die kleine Debatte zu beenden. Doch er hörte eine Zurechtweisung heraus. Wahrscheinlich hatte er den Beamten mit der moralischen Belehrung gekränkt. Es war eine jener Phrasen gewesen, die ihm manchmal unterliefen, wenn er sich unsicher fühlte und sich gleichzeitig im Recht glaubte. Wenn er an den Mann dachte, den er umarmt und zu beruhigen versucht hatte, kamen ihm die Andeutungen des Polizeibeamten noch immer voreilig und unerlaubt vor.

»Vielleicht reden wir noch einmal miteinander«, sagte er.

|23|»Gerne.«

Der Polizeibeamte war jetzt kurz angebunden, vermutlich weil er das Gespräch für sinnlos hielt und endlich nach Hause wollte. Auch für ihn wurde es höchste Zeit. Doch das Gefühl, Fragen stellen zu müssen, die er noch nicht einmal in Gedanken formuliert hatte, ließ ihn zögern.

»Ja«, sagte er, »das alles wird mich noch beschäftigen.«

»Kann ich mir denken«, sagte der Polizeibeamte. »Schon wegen der Beerdigungen.«

Er nickte, blickte vor sich auf den Boden. Dann sagte er: »Geben Sie mir doch bitte Ihre Adresse. Vielleicht ergibt sich einmal eine Gelegenheit.«

»Gerne«, sagte der Polizeibeamte wieder, zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Uniformjacke und schrieb die Adresse auf.

»Und die Adresse von Herrn Karbe bitte.«

»Die habe ich leider nicht. Er wohnt in einem Nachbarort.«

Der Beamte riss das Blatt aus dem Block und reichte es ihm. Er las den Namen, den er schon gehört hatte, als er hier eintraf, aber gleich wieder vergessen hatte. Der Mann hieß Pfeiffer. Arnold Pfeiffer, Polizeimeister. Darunter standen Telefonnummer und Anschrift eines Polizeireviers in der Kreisstadt. Er dankte. Sie gaben sich zum Abschied die Hand, und der Polizist wünschte ihm gute Heimfahrt und Gute Nacht.

 

|24|Während er nach Hause fuhr, versuchte er, sich an die Bergung der Ertrunkenen und die Reaktionen Karbes zu erinnern, war aber wohl zu erschöpft. Es blieb bei schwachen, verwaschenen Bildern. Karbe war eine leblose, unbewegliche Figur, die er festhielt und stützte. Plötzlich durchfuhr es ihn, dass er etwas Auffälliges gesehen hatte, ohne es wahrzunehmen. Karbe war lehmbeschmutzt und durchnässt vom Regen, doch seine Hose und seine Schuhe, seine ganze Kleidung hatten nicht so ausgesehen, als wäre er bei einem Versuch, seine Frau und sein Kind zu retten, in das Wasser gewatet. Was bedeutete das? Lähmung? Aussichtslosigkeit? Musste er das melden? Oder konnte er es den Polizisten überlassen, diesen Fragen nachzugehen? Und wenn nicht, war es dann seine Aufgabe, ohne zu wissen, ob er sich vielleicht in seiner Erinnerung getäuscht hatte, einen Verdacht zu schüren? Nein, das wollte er nicht. Er wollte abwarten. Er musste es aushalten, abzuwarten, wie die Dinge sich entwickelten.

Morgen war Sonntag. Er musste Gottesdienst halten, predigen, ein Brautpaar trauen, anschließend noch am Hochzeitsessen teilnehmen.

Ich muss schlafen, tief schlafen, dachte er, während er die Haustür aufschloss und wie ein Schlafwandler die Treppe zu seiner Wohnung hochstieg. Vor einer Stunde bin ich hier aufgebrochen, dachte er, als er in sein Wohnzimmer trat und die beiden Sessel, die Kissen und eine verrutschte Decke wahrnahm: eine stehen gebliebene Momentaufnahme, fremd in ihrer Selbstverständlichkeit. Noch etwas trinken, dachte |25|er, trinken und durchatmen und dann schlafen. Ja, ich muss schlafen. Am besten nehme ich eine Tablette.

 

Als er im Bett lag und die Augen schloss, merkte er, dass sein Herz viel zu schnell schlug. Das konnte er besser aushalten, wenn er sich auf den Rücken legte und ruhig zu atmen versuchte. Wieder sah er die Körper der Ertrunkenen, die von den Sanitätern aus dem Auto gezogen und auf die Bahren gelegt wurden.

Ich sollte für sie beten, dachte er. Und um ihr Leben bitten.

Aber wahrscheinlich waren sie beide tot. Und es schien ihm verstiegen und barbarisch, Gott zu bitten, Verstorbene zum Leben zu erwecken. Es missachtete das Heilsversprechen der Auferstehung aller Toten am Jüngsten Tag, das dem Tod einen großen Platz im Leben einräumte, nur nicht den endgültigen. Bei Bittgebeten, die nicht bloß allgemeine Bitten um Beistand waren, hatte er immer das Gefühl, dass sich in der Tiefe der Welt nichts rührte.

Als Kind hatte er nicht so empfunden, sondern sich vorgestellt oder blind vorausgesetzt, dass jemand ihm zuhörte, der unsichtbar blieb, aber trotzdem bei ihm war, bereit, ihm zu helfen, und es hatte sein Gefühl nicht beeinträchtigt, dass keiner seiner Wünsche in Erfüllung gegangen war. Wenn er jetzt betete, musste er vermeiden, allzu genau an Gott zu denken, denn er konnte ihn sich dann nur als eine schwindelerregende Ferne vorstellen, die seine Worte stocken ließ. Die Mystiker hatten so gebetet. Er konnte das nicht. Er brauchte einen unangefochtenen Rest seiner |26|kindlichen Frömmigkeit. Und Rituale, vorgegebene Texte.

Im theologischen Seminar war damals viel über »selbstreflexive Frömmigkeit« gesprochen worden. Er hatte sich an diesen Gesprächen nicht beteiligt, weil er nicht richtig verstanden hatte, was gemeint war. War das nicht eigentlich eine Form des Zweifelns? Er hatte damals nicht gewagt, seinen Einwand zu formulieren. Seine vaterlose Kindheit haftete ihm an, das enge Zusammenleben mit seiner Mutter, die nach seiner Geburt von seinem Vater verlassen worden war und später Verhältnisse mit zwei anderen Männern gehabt hatte, die anscheinend auf die gleiche Weise gescheitert waren. Damals hatte er angefangen zu beten, wenn er im Nebenzimmer Streit und die verzweifelte Stimme seiner Mutter hörte. Er hatte sich in sein Gebet eingehüllt wie in einen wärmenden Mantel. Und zweifellos war es die Erinnerung an seine damaligen Gefühle gewesen, die ihn später veranlasst hatte, Theologie zu studieren. Seine Mutter hätte ihn lieber als Architekten, Arzt oder Wissenschaftler gesehen. Doch schließlich hatte sie sich mit seinem Wunsch abgefunden.

Jetzt hatte er sein Amt. Er konnte sich nicht immer klarmachen, was das hieß. Die Modernisten sagten, man muss den Beruf des Pfarrers neu erfinden. Das hatte er früher auch einmal so geäußert. Jetzt war er nicht mehr dieser Auffassung. Eigentlich hatte er keine klare Auffassung mehr.

Er stand auf und ging ins Badezimmer, um Wasser zu trinken. Es beruhigte ihn zu spüren, wie das kalte |27|Wasser durch seine Kehle lief. Wie spät mochte es sein? Zwischen zwei und drei? Er wollte kein Licht machen. Dann würde er nur noch wacher werden. Im Dunkeln ging er zu seinem Bett zurück und legte sich mit vorsichtigen Bewegungen hinein. Um sich herum spürte er das Haus mit seinen vielen dunklen Zimmern. Morgen musste er sich um Karbe kümmern und um die beiden Unfallopfer im Krankenhaus. Nein, nicht morgen. Es ist ja schon heute, dachte er noch.

|28|II

OBWOHL ER ALS PFARRER durch seine häufigen Krankenbesuche im Kreiskrankenhaus gut bekannt war, konnte er am frühen Sonntagvormittag keine Auskunft bekommen, wie es um die Unfallopfer stand. Kurz bevor er zum Gottesdienst aufbrechen musste, versuchte er es ein zweites Mal und wurde mehrfach weiterverbunden. Keiner der ihm bekannten Ärzte schien im Haus zu sein. Er geriet an eine Krankenschwester von der Intensivstation, die ihn kannte, aber zögerte, seine Fragen zu beantworten. Schließlich sagte sie, wie sie gehört habe, sei die Frau vergangene Nacht tot eingeliefert worden. Über den Zustand des Jungen wollte sie sich nicht äußern. Es war ihr aber anzumerken, dass die Dinge nicht gut standen. Über Karbe wusste sie nichts, denn sie hatte keinen Nachtdienst gehabt. Falls er die Nacht im Krankenhaus verbracht habe, sei er jetzt wahrscheinlich nach Hause gefahren. Sie bot ihm an, ihn mit der Aufnahme zu verbinden, wo man ihm Genaueres sagen könne. Sie schien in Eile zu sein oder tat nur so, um sich weiteren Fragen zu entziehen.

In der Aufnahme erfuhr er, dass Karbe vor etwa zwei Stunden das Krankenhaus verlassen hatte. Die |29|junge Frau, mit der er redete, gab ihm auch die Adresse. Karbe wohnte im Nachbarort Imhoven, der zu seiner Gemeinde gehörte. In der Kirche hatte er ihn allerdings noch nie gesehen. Es war jetzt zu spät, ihn noch anzurufen, um einen Besuchstermin mit ihm zu verabreden. Karbe war sicher noch verstört. Vermutlich auch ein verschlossener, misstrauischer Mensch, der so schnell niemanden an sich heranließ. Gerade deshalb durfte er ihn jetzt nicht allein lassen.

Die Glocken begannen zu läuten, für ihn das Zeichen, sich auf den Weg zu machen. Bis zur Kirche waren es kaum hundert Meter. Er konnte langsam gehen, dem ruhigen Rhythmus des Läutens entgegen. Sich einstimmen, im Einklang sein. Es schien ein schöner Tag zu werden. Der Regen hatte wohl gegen Morgen aufgehört. Als er frühmorgens wach geworden war und den Vorhang ein Stück zur Seite gezogen hatte, um aus dem Fenster zu blicken, war draußen alles in Nebel gehüllt gewesen. Das hatte es ihm leicht gemacht, gleich wieder einzuschlafen. Jetzt hatten sich große Wolkenlöcher gebildet, in denen sich ein hellblauer Himmel zeigte, und das Licht glänzte auf dem nassen Laub der Bäume. Auf dem Parkplatz bei der Kirche standen dicht nebeneinander die Autos der Hochzeitsgesellschaft.

Die Tochter eines reichen hiesigen Bauunternehmers heiratete einen Juristen. Die beiden kannten sich schon lange und lebten seit einiger Zeit zusammen, wie sie ihm beiläufig erzählt hatten, als sie sich ihm vorstellten. Sie war eine lebhafte junge Frau mit kurz geschnittenen braunen Haaren, die im Immobiliengeschäft |30|arbeitete. Er, wenig älter als sie, war Rechtsanwalt und Juniorpartner einer bekannten Sozietät und strahlte die Selbstsicherheit eines erfolgsgewohnten Menschen aus. Als Student war er Feldhockeyspieler gewesen und hatte an etlichen internationalen Turnieren teilgenommen. Sie hatte ihn dazu gebracht, mit ihr Tennis zu spielen. Und inzwischen war er besser als sie. Außerdem hatten sie beide den Segelschein gemacht. Im Urlaub segelten sie.

Er hatte sich bemüht, locker mit dem Brautpaar zu sprechen, und es half ihm, dass er sich dank des Fernsehens im Sport oberflächlich auskannte. Die beiden drückten auf ihn. Sie waren ein eingespieltes Paar mit ausgeprägtem Geschmack und starken gemeinsamen Überzeugungen, und er fürchtete, dass sie spürten, wie lebensunkundig er war. Andererseits brauchte er nicht anzunehmen, dass sie sich besonders für ihn interessierten. Vermutlich heirateten sie nur, weil sich die Familie der Braut aus Tradition und aus Gründen der gesellschaftlichen Repräsentation hier an ihrem Stammsitz ein großes Hochzeitsfest wünschte.

Für ihn stellte das eine Herausforderung dar. Er hatte sich vorgenommen, dem Gottesdienst und der Trauung eine strenge sakrale Form zu geben. Das entsprach wohl auch dem Wunsch der Familie, vor allem dem Wunsch des Brautvaters.

Er war jetzt so nah, dass er glaubte, die Schwingungen der Luft spüren zu können. Der vibrierende Klang, der aus den Schallfenstern des Turmes kam und sich nach allen Seiten ausbreitete, umgab die Kirche wie ein Schutzraum.

|31|Einige verspätete Kirchgänger aus dem Ort grüßten ihn, und er grüßte freundlich zurück. In der Sakristei empfing ihn der Küster mit der Nachricht, die Kirche sei brechend voll.

»Der Parkplatz auch«, sagte er. »Viele auswärtige Gäste.«

»Da wird heute im Bellevue ein großes Fest steigen.«

»Muss ich anschließend auch noch hin.«

Er streifte den Talar über, zupfte, in den Spiegel blickend, den Stoff an den Schultern zurecht und sagte, weil es ihm plötzlich einfiel: »Ich bin heute Nacht zu einem schweren Unfall gerufen worden.«

»Hab ich gehört. Das war der Lehrer Karbe aus Imhoven mit seiner Familie.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Meine älteste Tochter hatte Nachtdienst im Krankenhaus. Die Frau sei tot, hat sie gesagt.«

»Ja, ich habe heute Morgen angerufen. Wissen Sie etwas über den Jungen?«

»Der soll einen schweren Hirnschaden haben. Meine Tochter meint, das Auto sei nicht gleich ganz gesunken und er habe hinten auf dem Rücksitz noch länger atmen können.«

Er nickte, konnte jetzt nicht weiter darüber nachdenken, denn das Läuten hatte aufgehört, und im Kirchenraum begann die Orgel ihr Vorspiel. Gleich musste er der Gemeinde gegenübertreten und vielen unbekannten Gesichtern. Er blickte in den Spiegel, überprüfte seine Haare, sah sein bleiches, übernächtigtes Gesicht.

 

|32|Er trat von der Seite in den Kirchenraum, wo auf dem Altar die Kerzen brannten und alle Bänke bis zur letzten Reihe besetzt waren, vorne Braut und Bräutigam und die Brauteltern und dahinter viele unbekannte Gesichter, auswärtige Hochzeitsgäste und Leute aus dem Ort, die er sonst nie in der Kirche sah. Auf den Pulten der Bänke lagen die neuen, rot eingebundenen Gesangbücher, eine Spende des Brautvaters zum heutigen Tag, und dazu die Zettel mit der fotokopierten Ordnung des Gottesdienstes.

Er streifte das alles mit einem Blick und wartete das Ende der Musik ab.

Als das Orgelspiel verklungen war, hob er den Kopf und sprach langsam den Satz, den er als Eingangsspruch gewählt hatte, mächtige Worte, die ihm das Gefühl gaben, dass sie den Raum weiteten und alle Anwesenden im gemeinsamen Glauben versammelten.

»Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.«

Er lauschte dem Satz nach und sagte: »Amen.« Unterstützt von der Orgel sang die Gemeinde, meist nur die Frauenstimmen, die Antwort: ein in hoher Tonlage schwebendes und verfliegendes Amen. Er wartete einen Augenblick und sagte, indem er ungewollt die altertümliche Sprachform wählte: »Lasset uns beten.« Dann sprach er mit fester Stimme den Psalm »Der Herr ist mein Hirte« und hörte das gedämpfte, immer um eine halbe Sekunde verzögerte Gemurmel der Mitbeter, die bis zum Schluss des Textes nicht zu seiner Stimme aufschlossen und ihm manchmal das Gefühl |33|gaben, eine graue Schar murmelnder Gespenster schlurfe gehorsam hinter ihm her. Anfangs hatte er versucht, langsamer zu sprechen, um mit den anderen Stimmen in einen gemeinsamen Takt zu kommen. Das hatte aber nichts geändert. Sie hatten sich weiter von ihm mitziehen lassen, als brauchten sie einen Vorbeter, um den Widerstand zu überwinden, der für sie von dem Schweigen ihrer Banknachbarn ausgehen mochte. Es war der lahmende Rhythmus der Halbherzigkeit. Sie beteten, als ob sie beteten, wie gefesselt von einer vagen Beschämung, die sie veranlasste, ihre Stimmen in undeutlichem Gemurmel verschwimmen zu lassen.

Er konnte sie deswegen nicht verurteilen, denn er konnte die wachsende Kluft nicht leugnen, die zwischen dem Alltag der Menschen und dem Glauben lag, und musste froh sein, dass sie überhaupt noch zum Gottesdienst kamen. Mehr litt er, wenn der Gesang der Gemeinde dünn und zaghaft blieb. Doch heute hatte er, dank der großzügigen Unterstützung durch den Brautvater, einen besseren Chor aus der Kreisstadt bekommen und war nicht angewiesen auf die schüchternen und ungeübten Stimmen aus dem Singkreis, die verstreut zwischen den meist stummen Kirchgängern saßen.

Als Eingangslied hatte er Paul Gerhardts »Befiehl du deine Wege« ausgesucht, dessen Melodie, ruhig und unbeirrbar fortschreitend, in ihrer Einfachheit und Klarheit dem unerschütterlichen Gottvertrauen des Liedtextes entsprach. Vor allem liebte er die erste Strophe, die mit den Worten des 37. Psalms begann |34|und ohne Umschweife die Verbindung vom einzelnen Menschen zur Allmacht Gottes schuf.

»Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreuesten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.«