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Für Lena

Dank an Antje, Daniel, Klaus und Sibylle

Aus dem Vergehenden, dem Verwehenden das Merkwürdige und zugleich Menschlich – Bezeichnende festzuhalten ist die Pflicht des Schriftstellers.

Joseph Roth

Das Gewitter hat sich in der Nacht verzogen. Paul steht am Fenster und beobachtet, wie eine Krähe vom gespannten Draht der Straßenlaterne eine grüne Kugel in die Tiefe fallen läßt. Im sausenden Fall stürzt der Vogel hinterher, bremst mit einem kurzen Aufbausen, um mit schwereloser Zartheit zu landen. Die grüne Kugel ist beim Aufprall auf die harten Pflastersteine nicht aufgeplatzt. Die Krähe pickt sie abermals auf, hebt ab und läßt sich auf der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses nieder. Schaut sich ruhig um, öffnet den Schnabel, die Kugel fällt, schlägt laut auf das Blech einer Motorhaube. Die Krähe beobachtet den Tanz der widerspenstigen Kugel, segelt hinterher, nimmt sie auf und fliegt davon. Paul schaut dem blaugrün schimmernden Vogel nach. Der ist längst nicht mehr zu sehen.

Er setzt sich an den Küchentisch, zündet sich eine Zigarette an. Die Zeichnungen des Tisches sind schärfer als die Traumspuren der letzten Gewitternacht. Der Tisch ist ein Bewahrer. Seine Schublade ist ein Ort der Habseligkeiten. Beiläufig gerettete Knöpfe, versponnene Fäden, die sich verheddert haben, eine Schere, die nicht mehr scharf schneidet, eine heillos zerquetschte Tube Klebstoff, die ausgetrocknet ist. Ein Sammelsurium von Zetteln und Postkarten, Medikamenten, die längst abgelaufen sind. Dinge, die dämmern.

Paul steht auf, nimmt den Schlüssel, um nach der Post zu sehen. Er sehnt sich nach Briefen. Der Postbote ist einer, der einen Moment wartet, wenn Paul die Treppe hinunterkommt. Einer, der die Briefe persönlich überreicht und den kleinen Plausch liebt. Einer, der es nicht lassen kann zu sinnieren, wie viele Liebesbriefe er im Laufe seines Lebens zugestellt hat. Jedes Jahr zum Hochzeitstag schreibt er seiner Frau den Liebesbrief ab, den er vor unzähligen Jahren verfaßte. Paul hat aus einer üblen Laune heraus die Sammlung seiner erhaltenen Liebesbriefe weggeworfen. Und nicht nur die. Trotzdem tauchen hier und da immer wieder längst zugestellte Briefe auf. In Zeiten, in denen die Sonne nicht klar am Himmel steht, fallen sie ihm in die Hände. Dieser Brief lag Jahre in der Schublade des Kirschbaumtisches. Der Umschlag ist achtlos aufgerissen.

Sehr geehrter Herr Paul…,

endlich konnte ich Ihre Anschrift ausfindig machen.

Unsere Anne hat mich gebeten, Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Es sind ihre Worte. Verzeihen Sie, wenn ich das ein oder andere hinzufüge. Anne spricht oft von Ihnen. Sie haben ihr nie einen Brief geschrieben. Sie sagt, die Jahre dauern länger, wenn sie an Sie denkt. Anne fragt sich, ob Sie sich überhaupt an die Sommergewitter und an sie erinnern.

Anne ist tapfer, sie ist eine zähe Frau. Eine Frau jenseits des Alters. Ihr Körper ist schon lange nicht mehr für sie da. Sie ist eine Seele, das sagt sie selbst über sich. Sie hat nur ihre Erinnerungen, geschliffene Steine in einem ausgetrockneten Bachbett.

Wenn das Wetter danach ist, schiebe ich sie in ihrem Bett auf unseren Hof. Inmitten der Blumenbeete fühlt sie mit dem Wind den Himmel. Sie müssen verstehen, ihr ist vor einigen Jahren auch das Augenlicht abhanden gekommen. Im Freien erzählt sie mir dann von all dem alten Licht, in dem sie lebt. Herr Paul, Sie sind eines von den Lichtern. Anne ist eine lebendige Seele, das sage ich nicht, weil ich Nonne bin und das Wort Seele so wunderbar klingt. Anne glaubt nicht an Gott. Sie kann nur an sich glauben. Das hat mich schon oft verzweifeln lassen. Ich habe aber gelernt, nicht in ihrer Nähe zu beten, sie mag es nicht. Sie sagt, besser sei es, mit sich selber zu sprechen. Worte wie Steine in die Hand zu nehmen, sie zu betrachten und sie dann im hohen Bogen zu werfen. Wer so denkt, der braucht keine Zeit.

Ich schrieb soeben, daß Sie ein Licht für unsere Anne sind. Sie sind auch eine nicht enden wollende Geschichte für sie. Ich hab schon viel von Ihnen gehört.

Bitte besuchen Sie uns. Kommen Sie, damit Sie mit eigenen Ohren hören, wie göttlich und eindringlich die Geschichten unserer Anne sind.

Der Tod ist für mich eine Erlösung. Es gibt andere Ansichten darüber. Anne sagt, Sie wüßten Bescheid. Deswegen bin ich neugierig auf Sie. Kommen Sie doch bitte, ich glaube, Ihre Stimme ist für Anne sehr wichtig.

Sie ist überzeugt, daß sie trotz ihres Zustandes noch mal die Augen öffnen wird, wenn Sie da sind. Ich finde es einen Gedanken der Liebe. Verzeihen Sie, wenn eine alte Nonne sich auf so etwas einläßt. Ich habe nichts anderes in meinem Leben getan, als die Menschen zu lieben. Anne ist mein Beweis.

Kommen Sie, zögern Sie nicht, wir erwarten Sie. Möge die Sonne scheinen. Ihnen eine gute Reise.

Ihre Schwester Clarissa