Cover

TOMAS DE NIERO

GEDANKEN
IM KOFFERRAUM

MEINE
FLUCHT AM
CHECKPOINT
CHARLIE

Du wirst haben eine Zeit,
wo der Glaube zu dir kommt
und bleiben wird wie eine Geliebte.
TOMAS DE NIERO

 

Prolog

Volles Risiko

Mama schläft

Meine erste große Liebe

Habe ich eine Macke?

Die Freude ist kurz, die Bewegung schier lächerlich

Bete ich hier etwa?

Mama und ihre Geisterwelt

Die Westbraut

Wie der Vater, so der Sohn

Wege noch mal gehen

Die magische Nacht

Oma Hedwig

Das Wunder der Waluscha

Die Scheidung meiner Eltern

Künstler in West und Ost

Die Milchstraße

Der Plan

Mama wird nervöser

Die Reise nach Warschau

Der Vorfall

Aussöhnung mit dem Vater

Glaubst du wirklich daran?

Kleine Jugendsünden

Pädagogik mit Feuer

Platzt die Nummer noch?

Abhauen oder bleiben?

Flucht in schwulen Jeans

Hunger und Durst

Gibt es Engel?

Checkpoint Charlie

Epilog

Dieses Buch ist all denen gewidmet, die ich liebe.
Und all denen,
die es geschafft haben, mich zu lieben.
Und Elke.

Insbesondere aber meinen Kindern Melanie, Nathalie und Daniel.

PROLOG

12. Dezember 1974
Es ist dunkel in Westberlin. Eine Person schleicht zum Briefkasten, sieht sich dabei nervös um. Ein Brief gleitet durch die zittrigen Finger. Die Person zögert kurz, dann wirft sie den Brief ein. Anschließend verschwindet sie unerkannt in der Dunkelheit.

Am 20. Dezember 1974 geht in der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, Abteilung VII (Abteilung zur Überwachung des Grenzverkehrs), ein Schreiben aus Westberlin ein. Dorthin weitergeleitet wurde es von Oberst S. aus der Abteilung M zur Überwachung des Postverkehrs.

Im Begleitschreiben ist von einer »operativ-bedeutsamen Briefsendung« die Rede:

Durch unsere Abteilung wurde eine Briefsendung ohne Absenderangabe
Empf.: Polizeirevier
Prenzlauer Allee
Berlin-Ost
im Posteingang aus Berlin-West festgestellt.
Die Sendung wurde wegen Hetzverdacht geöffnet.

Der Inhalt des handschriftlich verfassten Briefes lautet:

Berlin, den 12. 12. 1974
An das Pol. Rev.
Prenzlauer Allee:
Frl. Walusch Friedrich
1055 Berlin, Prenzlauer Allee 48 bereitet seit vielen Wochen, mit Hilfe ihrer ausländischen Freunde und ihrer Mutter, die Übersiedlung nach West-Berlin vor.

20. Januar 1975
In der Abteilung VII wird als Folge des Schreibens unter der Tgb.-Nr. 1057/75 ein erster vierseitiger Ermittlungsbericht erstellt.

Am 26. Februar 1975 berichtet der ehemalige Leiter der Diensteinheit VIII, Gen. Oberst S., ausgiebig von seiner Begegnung mit der Frau F. in einer Gaststätte.

Am 4. April 1975 wird ein Mieter des Hauses, ein Nachbar der Friedrich, befragt. Er bietet seine Mitarbeit sogar freiwillig an. Da er momentan ohnehin krankgeschrieben sei, könne er sich die Autonummern der Besucher gerne notieren. Der Mieter soll in zwei Wochen wieder befragt werden.

Im April 1975 schickt die Stasi einen inoffiziellen Mitarbeiter (IM) zu Frau Waltraud Friedrich in die Prenzlauer Allee 48.

Oberstleutnant N. aus der Abteilung XX/3 vermerkt am 7. Mai 1975:

Information
Eine zuverlässige Quelle berichtete:
Am 14. 4. 1975 besuchte die Quelle auftragsgemäß die »Valluscha Friedrich« in ihrer Wohnung. Der IM traf in der Wohnung einen ihm namentlich nicht bekannten Guinesen aus Westberlin und eine Guinesin aus der Hauptstadt, von der ihm der Name ebenfalls nicht bekannt ist, an.

Später kam der jetzige Geschäftsführer der Westberliner Gaststätte »Tamtam« hinzu.

Aus der Unterhaltung mit der Friedrich ging hervor, daß sie ein festes Verhältnis mit dem Michele [dem Geschäftsführer des Tamtam, Anm. d. Verlags] unterhält und daß er sie mindestens einmal in der Woche in der Hauptstadt besucht.

Aus der Unterhaltung mit Michele ging hervor, daß er in der Sowjetunion Rechtswissenschaften studiert hat. Zur Sowjetunion hat er eine negative Meinung. Er erklärte dem IM, daß sich die Russen schlecht zu fremden Menschen verhalten. Der IM versucht mit ihm ein persönliches Gespräch zu führen. Dabei kam er zu der Einschätzung, daß Michele in dieser Beziehung harmlos ist. Am 21. 4. besuchte der IM die Friedrich wieder. Michele wurde an diesem Tag gegen 20.00 Uhr erwartet. Aus der Unterhaltung mit der »Friedrich« ging hervor, daß jeweils montags Schließtag in der Gaststätte in Westberlin ist und sie zu diesem Zeitpunkt in die Hauptstadt kommt.

An diesem Tage erzählte die Friedrich dem IM, daß ihre Mutter aus Westberlin in die Hauptstadt gekommen ist. Anzeichen für eine beabsichtigte Republikflucht konnte der IM nicht feststellen.

N.

Oberstleutnant

Dieser Bericht entstand einen Tag vor unserem ersten Fluchtversuch, fast fünf Monate nachdem der Brief eingeworfen wurde.

Wer war die Person, die, aus dem sicheren Westberlin heraus, einen derartigen Denunziantenbrief verschickte und damit billigend in Kauf nahm, dass jemand deshalb ins Gefängnis kommt?

Nur gut, dass meine Mutter und ich zu diesem Zeitpunkt von alledem nichts wussten.

VOLLES RISIKO

16. Mai 1975 irgendwo in einem Wald in Berlin-Buch
Da liegen wir nun, Mama und ich, endlich! Es ist dunkel und gespenstisch still hier drin. Am vergangenen Donnerstag standen wir schon einmal im Wald, im wahrsten Sinne des Wortes, zum Einsteigen bereit, aber der Botschafter kam nicht. Ein Schock. Unverrichteter Dinge hatten wir wieder nach Hause fahren müssen. Sieben unendliche Tage und vor allem schlaflose Nächte lang warteten wir auf den zweiten Versuch. Bei jedem Klingeln an der Tür dachten wir an Verrat, Stasi und Gefängnis.

Aber nun ist es soweit, wir gehen volles Risiko, sind in den Kofferraum gestiegen, endlich geht es los.

Es ist verdammt eng in dieser Westkarre, ganz anders als ich mir das vorgestellt habe. Ich kann Mamas Angst förmlich riechen. Sie liegt auf der linken Seite und ich direkt hinter ihr, in grotesker Löffelchenstellung, wie tot. Ihr Gesicht ruht auf meinem ausgestreckten rechten Arm. Keinen Laut dürfen wir von uns geben, die ganze Zeit über nicht. Dabei wissen wir nicht genau, wie lange das alles dauern wird. Und was werden wir wohl zu Gesicht bekommen, wenn sich der Kofferraum wieder öffnet? Einen Vopo mit einer Maschinenpistole im Anschlag? Einen chronisch unterfütterten deutschen Schäferhund? Oder aber das mutige Gesicht des Botschafters, der jetzt hinterm Steuer sitzt und aus Verehrung für meine Mutter das Risiko eingegangen ist, bei unserem Fluchtversuch das Auto selbst zu fahren? Wir können, nein, wir dürfen uns nicht bewegen – aber unsere Gedanken gehen spazieren!

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten,
sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten.
Kein Staat kann sie wissen, kein Vopo erschießen,
es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!

Das geht mir ungefragt durch den Sinn, oft hatte ich es von meinem Vater genau so, als sarkastische Parodie, gehört.

Das war eine alte Tradition in meiner Familie, fast jedes Lied und jedes Gedicht wurde von meinem Vater, wenn er sich in entsprechender Laune befand, mit eigenen Texten versehen.

Meine Mutter vor mir in dem viel zu kleinen Kofferraum macht sich ihre unruhigen Gedanken, was ich daran bemerke, dass sie sich kaum spürbar bewegt, ständig an anderen Stellen ihres Körpers leicht zuckt.

Ich hätte nie gedacht, dass es so eng ist hier drin. Mein Gott, brummt mir der Schädel, aber jetzt ist es zu spät, irgendetwas zu bereuen!

Bin ich überhaupt noch eine Mutter, in dieser Stunde? Für Tommy hier sicherlich noch, aber für Peer und Dirk, meine anderen beiden Söhne? Warum kommt mir ausgerechnet jetzt meine Tochter Tanja in den Sinn, die ich durch eine Krankheit im Alter von knapp drei Jahren verloren habe? Verliere ich heute wieder ein Kind? Oder alle? Oder verlieren sie heute ihre Mutter? Gut, ich musste mich entscheiden, einer kann nur mit. Aber wählen Sie mal zwischen drei Söhnen aus, entscheiden Sie mal, wer vielleicht gemeinsam mit Ihnen bei der Flucht erwischt wird. Dann haben Sie ihr eigenes Kind auf dem Gewissen! Und damit nicht genug, die anderen beiden, die aus Platzmangel nicht mitkönnen, was wird wohl aus denen? Peer, tja, der ist achtzehn, da kann er schon allein laufen. Oder? Und Dirk, gerade mal fünfzehn Jahre alt? Werden sie das je verkraften, die beiden, je verstehen oder mir sogar irgendwann verzeihen können? Vielleicht kann ich sie später nachholen? Oder freikaufen?

Bin ich eine gute Mutter?

Klar bin ich das. Habe ich nicht die Kinder aufgezogen, fast ganz ohne Vater, der fast nie zur Verfügung stand? Dieses versoffene Genie! Egal, geliebt habe ich ihn, und wie. Dreizehn chaotische Jahre lang, na ja.

Bin ich eine gute Mutter?

Nein, in diesem Augenblick bin ich eine gottverdammte Egoistin! Ich will hier nur noch raus, aus der »größten DDR der Welt«, die Panik treibt mich, die Angst, hier im Osten nie Künstlerin sein zu dürfen. Und zwar so, wie ich es verstehe. Die DDR ist für mich ein böser Staat – aber mit unheimlich vielen guten Menschen darin. Die sind hier eingesperrt, werden bespitzelt, werden gegeneinander ausgespielt und gequält oder aber einfach ignoriert. Einfach weil sie gute Menschen sind. Eine Diktatur bekämpft immer die Guten, die Bösen sind die Diktatur! Was denke ich hier nur für einen Mist. Na ja.

Und die Liebe treibt mich. Michel ist ein so zauberhafter Mensch.

Er lebt in Westberlin und ist Geschäftsführer eines meist von Afrikanern besuchten Nachtclubs. Er stammt aus Kamerun, hat in Moskau Jura studiert und ist dann, statt nach Hause zurückzukehren, in Westberlin geblieben. Als er vor mir stand, da wusste ich sofort, das ist er, der, auf den eine Frau wie ich eigentlich wartet. Der, der von der ersten Sekunde an passt, in allen Dingen. Gott, ich klinge ja wie eine fünfzehnjährige Göre!

Aber er liebt mich so, wie ich bin. Und klar, er hat die Möglichkeit, dank seines Botschafter-Freundes, der mit seinem diplomatischen Status am Checkpoint Charlie Immunität genießt, einfach so von Ost nach West und zurück zu fahren. Am Checkpoint Charlie dürfen nur Ausländer und Diplomaten die Grenze überqueren. Sein Wagen darf nicht kontrolliert werden. Sagt er, der hagere, fast zwei Meter große Diplomat. Nun fährt »Vater«, wie wir ihn während der ganzen Zeit der Vorbereitung unserer Flucht konspirativ nennen, mit uns als heimlicher Fracht zu eben diesem Checkpoint Charlie. Und mein Michel wartet auf uns in Westberlin ...

Ich spüre, wie die Nervosität meiner Mutter vor mir zunimmt, und bin versucht, sie leise zu beruhigen, lasse es aus naheliegenden Gründen aber sein, drücke nur leicht ihre Schulter.

Plötzlich bleibt der Wagen stehen. Ist es schon vorbei, hat uns die Polizei am Wickel? Gefühlte Stunden vergehen.

Dann fährt er wieder an, er fährt!

Wahrscheinlich nur eine rote Ampel.

Apropos rot, wie die Liebe. Meine Freundin Sabine wird zu uns in die Wohnung kommen und nach mir fragen, und Oma wird ihr wie aufgetragen sagen, dass ich mit Mama übers Wochenende einen Grafiker-Kollegen bei Berlin besuchen bin. Sie wird sich fragen, warum ich sie dann zu mir bestellt habe, für heute Abend. Aber das musste ich doch, um alles ganz normal aussehen zu lassen. Ich werde Sabine wohl nie mehr wiedersehen. Das tut weh, denn ich liebe sie sehr. Ich sehe sie ganz klar vor mir, ihre schönen Augen, ihre herrlichen Brüste ...

In Sabine war ich meine gesamte Schulzeit hindurch verliebt. Außer in der zweiten Klasse, da besuchte ich mit meinen Brüdern ein Schuljahr lang eine andere Schule. In diesem Jahr waren wir in einem Heim unter gebracht. Eine furchtbare Zeit, und ich weiß bis heute nicht genau, warum unsere Eltern uns da abgaben. Mama hatte lediglich gesagt, sie müsse in Leipzig auf der Messe einen Stand bauen und unser Vater sei auf Tournee! Ich habe nie wieder nachgefragt, habe es lieber verdrängt. Denn nichts in meiner Kindheit habe ich düsterer, beklemmender und angstvoller in Erinnerung als diese Zeit ohne die Vertrautheit unserer Wohnung, ohne Mamas Nähe.

Mein Bruder Peer, der immer gut hinzulangen wusste, hat mich und Dirk im Heim so gut er konnte gegen die anderen Kinder verteidigt. Die meisten von denen waren so was von gestört.

Das Heim, das Mama uns gegenüber Kinderhotel nannte, lag in der Eberswalder Straße, ein roter Backsteinbau, unweit der Mauer. Im Nachbarhaus befand sich eine Art Storchennest aus Stein mit Glasscheiben auf dem Dach. Von hier aus beobachteten Grenzsoldaten die Mauer. Auf der anderen Seite, also der Westseite, hatte man an der Demarkationslinie, wie die Mauer im Westen genannt wurde, einen Hochstand errichtet, auf dem wiederum Westberliner und Touristen einen Blick über die Mauer hinein in das finstere Ostberlin werfen konnten. Man wurde bestaunt wie im Zoo.

Es ist schon erstaunlich, was das Gedächtnis alles so an Müll verschluckt! Jetzt, wo ich über das beschissene Heim nachdenke, treten Bildfetzen des Schlafsaales, Geruchsspuren der ekligen Küche und die Fratzen einiger Erzieher vor mein geistiges Auge. Ich sehe alles aus einem kindlichen Blickwinkel. Unscharf, unwirklich, übergroß, alles in einem bedrohlichen Grau. So ist das halt mit dem Kopfkino: Führt man Regie, ist alles cool, aber wenn Dinge ungefragt auftauchen und man zu einem passiven, meist erstaunten Zuschauer wird, dann ist es mitunter die Hölle!

So ist wahrscheinlich das ganze Leben, mal ist man ein Blatt im Wind und kann nichts dagegen unternehmen, ein anderes Mal ist man der King of the Road. Dieses Scheißheim war wirklich das Schrecklichste ...

MAMA SCHLÄFT

Nein, es gab doch etwas noch Bedrückenderes, Schmerzhafteres als dieses »Ausgeliefertsein« an völlig fremde Menschen in einem Kinderheim, an Erzieher, die uns den ganzen Tag herumkommandierten.

Die Erinnerung kehrt zurück, unvermittelt und mit aller Macht, hier in dieser Blechkiste, gefangen im Niemandsland zwischen den Welten. Und mit der Erinnerung kommt der tiefe Schmerz zurück, Hand in Hand mit der Verzweiflung.

Ich war etwa neun Jahre alt und schwänzte die Schule. Das heißt, ich war schon auf dem Weg dorthin, ließ mich aber von einem anderen Jungen überreden, zum Nordmarkplatz an der Prenzlauer Allee zu gehen, wo wir uns immer herumtrieben, Fußball spielten und Mädchen beobachteten.

Damit meine Mutter nichts von meiner selbst gewählten Schulfreiheit merkte, ging ich zur gleichen Zeit wie sonst nach Hause, so als wäre die Schule gerade vorbei.

Ich betrat die Wohnung, bog zunächst links ab in die Küche, da war aber niemand, lief den langen Flur hinunter zum letzten Zimmer, meinem Kinderzimmer. Das heißt, eigentlich war es nicht allein meins. Da für uns drei Jungs nur zwei Kinderzimmer vorhanden waren, konnte immer nur einer allein in dem einen wohnen, die anderen beiden mussten sich notgedrungen das andere Zimmer teilen. Das wechselte sich ab, je nach Lage der Dinge. Die Entscheidung darüber, wer für sich sein durfte, fällte Mama als Alleinherrscherin. Wer also besonders artig gewesen war, kam in den Genuss des Einzelzimmers, oft aber verdankte man den Luxus auch der simplen Tatsache, dass die anderen beiden etwas aus gefressen hatten oder man selbst nicht erwischt wurde.

Nachdem ich meine Schulsachen abgestellt hatte, ging ich ins Atelier meiner Mutter, in dem sich ein großes Kanapee befand. Mama hatte eine große Schwäche für Antiquitäten, und dieses Sofa hatte sie vor Jahren einer alten Dame aus der Greifswalder Straße abgekauft. Die Wohnung war voller alter Dinge. So gab es zum Beispiel einen alten Sekretär, angeblich aus dem neunzehnten Jahrhundert, mit einem richtigen Geheimfach. Das Schmuckstück der Wohnung war ein alter, majestätischer Bibliotheksschrank aus massivem Holz mit bunten in Blei gefassten Glasscheiben, dem gegenüber Mamas Bett stand. Der Schrank war so schwer, dass es vier Männer brauchte, um ihn zu bewegen. Das wusste ich, da meine Eltern eines Nachts auf die Idee gekommen waren, den Schrank ein Stück weiter nach rechts zu verrücken, um die bisher verdeckte Tür zum Nebenzimmer zugänglich zu machen. Wir Kinder wurden von einem Riesenknall wach und stürmten in das Wohnzimmer. Das Bild, das sich uns bot, war grotesk. Mein Vater und drei seiner Freunde hatten auf Anweisung meiner Mutter Kartoffelschalen unter die Füße des Schrankes geklemmt, um das Monster leichter bewegen zu können. In alkoholisierter Bestlaune war ihnen dies auch mehr als gelungen. Der Schrank war in einem Rutsch in den wirklich schönen Kohleofen in der Ecke gerauscht. Er stammte noch aus den Dreißigerjahren. Nun war er ein Trümmerhaufen, und alle fünf Erwachsenen ebenso wie die Möbel im Zimmer waren mit Ruß bedeckt.

Ich fand meine Mutter angezogen auf dem alten Bett liegend. Sie starrte merkwürdig abwesend auf den Bibliotheksschrank, und ich wunderte mich, was es da zu sehen gab. Außer mir war niemand weiter in der Wohnung. Ich sprach sie an, aber sie reagierte nicht. Ich rüttelte sie am Arm. Ein ungutes Gefühl kam in mir hoch und wurde zu einer ausgewachsenen Panik. Ich schrie sie verzweifelt an.

»Mama!«

Keine Reaktion. Ich rannte zu einer Nachbarin. Sie besaß ein Telefon und rief Mamas Freundin Karola, eine Ärztin, an. Karola kam so schnell sie konnte aus dem Krankenhaus Friedrichshain zu uns in die Wohnung. Sie lieferte Mama sofort ins Krankenhaus ein.

Mir war das alles unglaublich peinlich. Die lieben Nachbarn hatten auf dem Weg zum Krankenwagen ein Spalier gebildet und mutmaßten über Tod und Verbrechen. Es habe ja so kommen müssen, diese Künstler, der Alte habe sie vermutlich im Suff erschlagen, und dergleichen Bemerkungen mehr.

Karola war meine Patentante, bei der ich unregelmäßig an Wochenenden übernachtete. Sie selbst war kinderlos und steckte all ihre Mütterlichkeit und Liebe in mich. Und sie hatte etwas, was in meiner Kindheit eher selten war: einen immer randvollen Kühlschrank. Es war das Paradies. Denn zu Hause bestimmte mein Bruder Peer über die Essensverteilung. Bis Dirk sich darüber einmal richtig lange beschwerte. Daraufhin entschied Mama, einer von uns sollte immer teilen und einer der anderen konnte sich als Erster seine Portion aussuchen. Wie durch Zauberhand konnten Peer, Dirk und ich auf einmal chirurgisch genau jede Art von Speise schneiden. Mama hatte es faustdick hinter den Ohren!

Nun saß ich mit meiner Lieblingstante in unserer Küche.

Links stand ein riesiger Bauerntisch, an dem alle Platz hatten. Mama legte immer sehr viel Wert darauf, dass wir, egal wie viel oder auch wenig es zu essen gab, möglichst vollzählig an den Mahlzeiten teilnahmen. Es wurde so gut wie immer eingedeckt, Mama hatte ein herrliches blaues Zwiebelmustergeschirr und achtete von Anfang an auf gute Tischmanieren. Rechts in der Ecke stand ein alter Gasherd, an den sich eine kleine türlose Kammer anschloss, in der sich unser kleiner Kühlschrank befand. Die Regale und ein alter Schrank auf der anderen Seite waren von meiner Mutter handbemalt, meist mit Blumenmotiven. Das konnte sie gut. Die Zeiten, in denen es reichlich zu futtern gab und es uns gut ging, verdankten wir dieser Begabung unserer Mutter. Sie bemalte Bauermöbel, Kerzenleuchter und Holztruhen verschiedenster Größe für eine PGH, eine Produktionsgenossenschaft des Handwerks. In PGHs waren Handwerker zusammengeschlossen und stellten verschiedenste Dinge her.

Eigentlich hätte sie lieber ihre Grafiken und Ölbilder ausgestellt, aber das war nicht so einfach, wenn man nicht Mitglied der SED war. Auch wir Jungs wurden teilweise in die Massenproduktion eingebunden. Die PGH lieferte uns zum Beispiel Kerzenleuchter aus Holz ins Atelier. Diese wurden von einem von uns Jungs vorgestrichen, meist in einem herrlichen Bordeauxrot, und dann, nachdem sie getrocknet waren, von Mama in Affengeschwindigkeit bemalt. Das machte sie aus dem Handgelenk. War die Bemalung getrocknet, kam noch eine Lasur drauf. Die stank bestialisch, und so war der Job bei uns sehr umstritten. Es gab in ihrem Leben aber auch immer wieder künstlerisch wertvollere, jedoch nahrungstechnisch ärmere Zeiten.

Mama lag im Krankenhaus. Tante Karola versuchte mir zu erklären, was geschehen war, dass Mama sehr müde wäre und sonst nichts weiter. Ich verstand nur Bahnhof. Meine Brüder, die später hinzukamen, wurden ebenfalls schonend unterrichtet. Komischerweise schweißt das sofort zusammen. Wir drei saßen bis tief in die Nacht im Balkonkinderzimmer und rätselten über zwei Dinge: Was für eine Krankheit hatte Mama denn nun? Und wo war eigentlich unser Herr Vater?

Uns Kindern blieb das Verhältnis meines Vaters zu anderen Frauen nicht verborgen, das, sagen wir mal, ein sehr offenes war, was Mama natürlich nicht sonderlich gefiel. So hatte er beispielsweise ein paar Monate lang eine Frau Schwarz als Sekretärin, mit der er sich gerne in sein Arbeitszimmer einschloss, um ihr ungestört »diktieren« zu können. Eines Tages verschwand Frau Schwarz unter dem verbalen Donnerwetter meiner Mutter aus der Wohnung und ward nie mehr gesehen.

Meine kleine Kinderseele litt unendlich, als ich den Selbstmordversuch meiner geliebten Mutter durch Gespräche um mich herum langsam zu verstehen begann. Ich war heilfroh, als sie nach ein paar Tagen wieder in ihrem Atelier saß und malte. Wir haben über ihre Verzweiflungstat nie ein Wort gesprochen. Diese Kraft, egal was geschah, ein »Alles ist wieder gut« ausstrahlen zu können, habe ich an ihr immer bewundert. Ich habe das auch gerne und immer sehr schnell geglaubt.

Ich liebe meine Mutter und hänge furchtbar an ihr, auch jetzt, oder besser: gerade jetzt, selbstverständlich ohne ihr das andauernd zu zeigen. Schließlich ist man ja ein Junge! Es gab aber Zeiten, in denen ich meine Zuneigung sehr deutlich demonstrierte. Wenn wir zum Beispiel auf der Straße spazieren gingen, geschah es des Öfteren, dass Kinder und auch Erwachsene ihr nachriefen:

»Guck mal, ist die aber fett!«

Ich regte mich dann immer sehr auf, obwohl Mama versuchte, mich zu beruhigen. Trotzdem lief ich meistens zu den Lästerern hin und schrie: »Meine Mama is nicht fett, sie is vollslank

Das hatte mir Oma mal so erklärt. Meist lachten die Leute, und ich war unglücklich. Vielleicht lachten sie auch über meine hohe Operettenstimme oder meinen kleinen Sprachfehler, den ich durch einen nach vorne ragenden Vorderzahn hatte.

Einmal ging so ein Kerl auf meine Mutter zu und brüllte ihr mitten ins Gesicht, sie sei selbst schuld und solle nicht so viel fressen. Da bekam ich einen hysterischen Anfall und trat ihm voll in die Eier.

MEINE ERSTE GROSSE LIEBE

Ab der dritten Klasse wohnten wir wieder zu Hause und besuchten auch wieder die 18. Oberschule in der Christburger Straße. Und ich konnte wieder verliebte Blicke auf Sabine werfen.

Sie war blond und süß, und ich stand schon seit der ersten Klasse auf sie, hatte sie aber nie zur Freundin bekommen. Doch vor einigen Wochen hatte es nach fast elf Jahren Schwärmerei auf einer Fete plötzlich gefunkt.