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5VORWORT

Das westliche Gesellschaftsmodell ist in der Krise. Kräfte des Aufstiegs wie des Abstiegs zerren an einer Ordnung, die bislang allen Alternativen weit überlegen schien. Die Dialektik der Krise hat zu allererst etwas mit dem überwältigenden Erfolg dieses Modells zu tun. Die Magie von Markt und Wohlstand, persönlicher Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung wirkt ungebrochen. Die Potenzen der Marktwirtschaft in Amerika, Europa und Asien sind überwältigend. Gewiss: Neuer, immenser Reichtum lässt Armut umso krasser und skandalöser erscheinen. Doch aufs Ganze gesehen hat die Globalisierung Hunger und Elend erheblich gemindert. Sie hat Wohlstand gesteigert, Freiheiten vermehrt, Grenzen schwinden lassen. Allerdings sind auch die Anpassungszwänge enorm. Es wird nicht nur soziale Ungleichheit beklagt, es zerfallen auch bewährte Ordnungen und gut durchdachte Institutionen. Der Preis für die Verweigerung der Anpassung wird höher. Manch autoritärer Herrscher und manche populistische Bewegung, nicht nur in Griechenland, kalkulieren die Kosten einer fundamentalen Verweigerung. Schwellenländer, aber auch die alten, die etablierten Demokratien geraten in eine Schieflage zwischen den Kräften internationaler Koordinierung, kultureller Fragmentierung und dem Protest von Wählern, die sich weiter im politischen Raum der Nationalstaaten orientieren.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist eine der offenen Grenzen, der Vernetzung von Politik, Wirtschaft und Kultur. Unter den neuen Bedingungen der Internationalität können die politischen Parteien ihre im 6Wohlfahrts- oder Sozialstaat gegebenen Versprechen nur noch dann einlösen, wenn sie den Menschen hohe Mobilität und mehr Leistungen abfordern, wenn sie Standortvorteile ausnutzen, Nischen besetzen und ihre politischen Entscheidungen sehr angepasst an die Bedürfnisse eines dynamischen Weltmarktes treffen. Die Politik der Staaten und der miteinander verbundenen Handelsräume versucht ihre jeweilige Volkswirtschaft durch die Klippen einer offenen Weltgesellschaft zu steuern. Dabei kann im politischen Betrieb selten die ungeschminkte Wahrheit gesagt werden, diplomatisch verschlüsselte Botschaften und sachliche Rücksichtnahmen auf Stimmungen gehören seit jeher zum Alltag jeder Herrschaft. Wenn allerdings die wirtschaftliche Rationalität und die Anpassungszwänge überstaatlichen Regierens den Wählern in einer grundlegenden Weise nicht länger vermittelbar sind, können links- und rechtspopulistische Bewegungen das traditionelle Parteienspektrum erschüttern und irrationales Politikverhalten fördern. Im Ergebnis entsteht eine schleichende, aber hartnäckige Legitimationskrise.

Die wirtschaftspolitischen Rezepturen in den USA, der EU oder Japan wirken nicht immer durchdacht und schon gar nicht aus einem Guss. Die Deregulierung der internationalen Finanzwirtschaft und hohe Staatsverschuldung haben gravierende Strukturprobleme verursacht. In einigen Staaten scheint das Finassieren mit fiskalischen und monetären Instrumenten eine schlichte Notwendigkeit, damit das komplexe Gebäude nicht wie ein Kartenhaus zusammenfällt, in anderen Ländern wird womöglich aus der alten sozialen Marktwirtschaft eine neue, politisch gelenkte Marktwirtschaft. Die expansive Geldpolitik und die Nullzinsstrategie erschüttern die Institution des Privateigentums, sie entkoppeln das Finanzsystem ein weiteres Mal von den Bedingungen der Realwirtschaft. Geld, das in der Finanzbranche nach wie vor rasch verdient wird, lässt sich in „bürgerlichen“ Anlageformen nur noch schwer erwirtschaften und untergräbt ein Stück weit das Vertrauen der Mittelschicht.

Während der wirtschaftliche Ordnungsrahmen der großen Demokratien ungewisser wird, wachsen alltagskulturelle Zukunftsängste. 7Orientierungsverluste werden beklagt. An der Peripherie mehren sich die Zeichen einer Rebellion gegen den Westen mit seinen Leitwerten und Lebenseinstellungen. Nicht nur im gewalttätigen Islamismus gelangt das zum Ausdruck, sondern etwas verdeckter wird das Aufbegehren auch in Ländern wie Russland, Ungarn, der Türkei, Ägypten, Venezuela, China oder gar Japan sichtbar. Man mag darin Anzeichen für einen Kulturkampf sehen, mit unklarem Frontverlauf. Muss man die Ganzkörperverhüllung, die Burka im öffentlichen Straßenbild verbieten oder wäre so etwas eine islamophobe Überreaktion? Manche Menschen artikulieren ihre Angst vor der Islamisierung Europas und blicken zugleich voller Sympathie auf Putins Russland. Verteidigt der russische Präsident nur die Souveränität, ja letztlich die Freiheit seines Landes oder stranguliert er Demokratie und Marktwirtschaft, entzieht so dem Land den Anschluss an den Westen?

Die widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Verlaufsmuster deuten auf einen Umbruch. Öffentliche Meinungsführer beschleicht ein ungutes Gefühl, sie wollen die Gesellschaft pädagogisch auf dem richtigen Weg halten. Aber politische Sprechzettel des richtigen Verhaltens und des fairen Umgangs miteinander werden nicht ohne Weiteres die gewünschte Wirkung entfalten. Es kommt stattdessen darauf an, auch den Finger in die Wunden des Westens zu legen. Trotz des immensen Erfolges bestehen Zweifel an seiner soziokulturellen Nachhaltigkeit. Es fehlt am Bewusstsein für die normativen und praktischen Grundlagen von Freiheit und Wohlstand. Entscheidende Institutionen wie Rechtsstaat, Demokratie, Bürgerstatus, Bildung, Familie, soziale Marktwirtschaft, internationale Zusammenarbeit, tolerante Glaubensgemeinschaften oder Freiheit der Wissenschaft werden als selbstverständlich gegeben angenommen. Von solchen Institutionen wird Leistung verlangt, manchmal zu viel, ohne vernünftiges Augenmaß, während ihre Wertschätzung leidet.

Die Politik, abhängig von oberflächlichen Stimmungen, Leitbildern und Moden, aber noch mehr abhängig vom tieferliegenden Fleiß, vom Ideenreichtum und der Urteilskraft ihrer Bürger, kann nicht besser sein als die Summe der Menschen, die ein Land ausmachen. Wenn das 8westliche Gesellschaftsmodell nicht nur überleben, sich nicht nur stabilisieren, sondern auch ein mitreißender Zukunftsentwurf sein will, müssen die Grundlagen neu vermessen und kartographiert werden. Es geht um die geistigen (normativen) und realen (faktischen) Voraussetzungen einer freien Gesellschaft nach dem Muster der westlichen Neuzeit. Es soll die Zukunft des Westens ausgelotet werden.

Bonn, im August 2015

Udo Di Fabio

15„Asia has witnessed a shift from one vision of Western decadence to another. It has been a movement from the West seen as a soulless machine that produces an inhuman modernisation, to the West seen as lazy and lacking a competitive edge“

(Alastair Bonnett, The Idea of the West)

1. KAPITEL
WAS IST DER WESTEN?

Wenn Alastair Bonnett Recht hat, dann gibt es bedeutende Regionen der Welt, die den Westen entweder als seelenlose Maschine betrachten oder aber als dekadente Wohlstandsgesellschaft verachten. Was verbirgt sich ideell hinter „The West“, was eigentlich ist der Westen? Gemeint ist im Grunde nichts Geografisches mehr. Er ist auch kein Platzhalter für den kulturpathetischen Begriff des Abendlandes. Der Westen heute, das sind der Glanz eines Ideensystems und die unwiderstehliche Faszination eines Lebensstils. Die Ideen kreisen rund um die Freiheit und Würde des Menschen. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch, zerbrechlich, aber stolz, aufrechten Gangs, die Welt nach seinem Maß gestaltend, den anderen achtend, das Leben in eigene Verantwortung gelegt. Sein Geist war und ist merkantil und kreativ. Er strebt nach Gewinn und dem Neuen, sucht das Bessere, strebt nach Glück in privaten Räumen und einer gerechten Welt in der Pflicht öffentlichen Wirkens.

Wer vom Westen redet, meint ein Menschenbild, ein spezifisches Muster der Welterklärung, eine bestimmte Organisation von Gesellschaft und eine standardisierte soziale Sinngebung.

Der normativ üblicherweise gezeichnete Bauplan arbeitet mit einem Menschenbild personaler Würde, aus dem die Gesellschaft folgt: angeborene persönliche Freiheit und Gleichheit im Recht als Ausgangspunkt der legitimen Ordnung. Der Westen ist insofern das Synonym für Menschen- und Grundrechte, für das allgemeine Prinzip individueller Selbstbestimmung1, konsequent fortgeführt in Vereinigungen (Ehe, Familie, Vereine, Verbände, Parteien, Gewerkschaften bis hin zu politischen Vereinigungen wie dem Staat oder internationalen Organisationen) und Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft, in Europa überwiegend als soziale Marktwirtschaft.

Der Begriff des Westens steht auf der normativen Grundebene für die Verbindung von persönlicher Freiheit mit demokratischer Selbstbestimmung. Er steht für Menschenrechte, Meinungsfreiheit und für Marktwirtschaft, die auf Privateigentum und Vertragsfreiheit beruht. Demokratie hat das Recht, Machtungleichgewichte und Disparitäten des Wohlstandes auszugleichen und kollektive Güter politisch verbindlich zu formulieren, darf aber nicht Privatautonomie und Marktmechanismus zerstören. Aber ob die Marktwirtschaft wirklich ein unentbehrliches Bauelement westlicher Zivilisation ist, war seit dem Zeitalter der Aufklärung umstritten und ist es bis heute geblieben. Man wird schon deshalb die Definition des Westens nicht an den Anfang stellen können, sondern wird seine normativen Kernaussagen ermitteln müssen. Fürs Erste arbeiten wir demnach mit einer vorläufigen 17Näherung und versuchen plausibel zu machen, warum es sich lohnt, die Idee des Westens kritisch zu analysieren. Es könnte sich lohnen, weil sich das westliche Gesellschaftssystem seit der islamistischen Herausforderung, multilateraler Bildung von Machtblöcken, neuen Friedensgefährdungen, der demographischen Entwicklung, der digitalen Verwandlung der Welt, der Weltfinanzkrise und der europäischen Stabilitätskrise im Zustand einer multiplen Dauerkrise zu befinden scheint.

182. KAPITEL
DER WESTEN IN DER KRISE

Ende der Pax Occidentalis?

Ein Tag im August 2014: Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) brüstet sich damit, 250 gefangene Soldaten getötet zu haben, nachdem wenige Tage zuvor die Bilder von der Enthauptung des US-Journalisten James Foley verbreitet wurden. Auf den Golan-Höhen werden 43 UN-Blauhelm-Soldaten entführt. Ein Führer der Boko-Haram-Sekte, die das westliche Wertesystem brutal bekämpft, erklärt die besetzten Teile im Nordosten Nigerias zu einem Kalifat. Der ukrainische Staatspräsident beklagt, dass Russland mit getarnten, aber regulären Truppen die Grenzen seines Landes überschritten habe. Deutschland entschließt sich in diesen Tagen, Kriegswaffen an die Kurden Iraks zu liefern. Die Flüchtlingsströme werden breiter. Die pax occidentalis bröckelt.

Bis zur Weltfinanzkrise hielt der Nimbus des Westens. Er schien mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion sogar Höhepunkt und Vollendung gefunden zu haben. Als der arabische Frühling 2011 begann, schien sich noch einmal seine Faszination stürmisch zu verbreiten. Die Kommentatoren amerikanischer und europäischer Medien jubelten über die spontane Kraft einer mobilen, technisch vernetzten Jugend, die die greisen Potentaten über die Straße aus ihren Palästen fegte. Dasselbe schimmernde Licht der Displays kehrte 2014 in Hongkong zurück, doch inzwischen sind auch dort Plätze und Barrieren geräumt.

19Heute nagt der Zweifel. Allein schon das Beispiel Ägyptens steht für kleinlauten Rückzug. Im Grunde waren viele im Blick auf den gewählten Präsidenten Mursi froh, dass das Militär die Mubarak-Zustände in kaum verjüngter Form restaurierte. Aber das ist nur ein Beispiel für viele an der Peripherie. Rand und Zentren rücken einander näher. Die Bevölkerungen westlicher Kernstaaten altern, Einwanderer aus anderen Kulturkreisen lassen sich nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit integrieren, wie dies vor zwei Generationen noch der Fall war. Wanderungsbewegungen nehmen zu und führen womöglich in naher Zukunft zu Kontrollverlusten über die Bevölkerungszusammensetzung. An der geographischen Peripherie und in der Mitte der Gesellschaft mehren sich herausfordernde Töne gegen das westliche Modell: Manche fordern das Zivilisationsmodell des Westens heraus. Während der Westen sein Gesellschaftsmodell seit Rousseau als „Zivilisation“ einem Kulturverständnis als überlegen entgegenstellt2, das er für partikular und essentialistisch hält,3 betrachten seine Opponenten heute den Westen als dekadente Form fehlentwickelter Kultur, als negative Kultur, die sie ablehnen, weil leere Zweckrationalität und Sittenlosigkeit den Verlust von Würde bedeute. Angesichts der wirtschaftlichen Übermacht des Westens muss man der Politik von Putin und Erdogan nicht unbedingt eine große Zukunft voraussagen, aber der Virus antiwestlicher Identitätsbehauptung wird auch bei deren Scheitern nicht aus der Welt verschwinden.4

Die Ablehnung westlicher Modernisierungsprozesse ist allerdings nicht auf Reaktionsmuster beschränkt, die im Islam oder im asiatischen Raum wurzeln. Zur Dialektik westlicher Modernisierung gehört auch, dass diejenigen, die sich im Mainstream der öffentlichen Meinung nicht wiederfinden, die in Furcht vor dem Verlust lebensweltlicher Gewissheiten und Gewohnheiten verharren, ebenfalls gegen einen kosmopolitisch libertären Trend rebellieren. In Deutschland mag es mit „Pegida“ nur ein Aufflackern gewesen sein, aber politische Radikalisierungen rechter und linker Art in Frankreich, Ungarn oder Griechenland senden Signale.

20Während auch die militärische Ohnmacht des Westens an seiner Peripherie immer deutlicher wird, bleiben die mit der weltweiten Finanzkrise offen gelegten Strukturprobleme ungelöst. Die Politik des lockeren Geldes und der schuldenbasierten Wachstumsförderung ist zwar ersichtlich an Grenzen gestoßen, aber nicht wenige möchten das Spiel mit höherem Einsatz fortsetzen. Selbst Insider des Systems rufen nach einer grundlegenden Neuordnung der Finanzmärkte.5 Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten nehmen zu. Die vernetzte Technik und künstliche Intelligenz treiben die Wirtschaft und verändern die Lebensverhältnisse. Das Netz macht fast alles transparent, aber die Geschäftsmodelle der großen Intermediäre sind undurchsichtig. Die Möglichkeiten der heimlichen Überwachung und Steuerung sind immens gewachsen. Über die Rolle des Staates besteht kein Konsens. Internationalisierung und De-Nationalisierung sind für die Eliten ein selbstverständlicher Trend, während standortgebundene Bürger von Zweifeln befallen werden.6 Das Credo der Eliten, wonach der Staat unfähig sei, die Probleme des 21. Jahrhunderts zu meistern, mag richtig oder falsch sein: Es steht aber in geradezu abenteuerlichem Gegensatz zu der Erfahrung, dass ohne organisierte Staatlichkeit mit einem Minimum an neuzeitlicher Rationalität nichts geht: Keine Menschenrechte, kein Frieden, kein Klimaschutz, keine Gerechtigkeit.

Ordnungsverluste

Die Gesellschaften des Westens vertrauen zwar immer noch auf ihre alten Institutionen wie Markt, Demokratie und Rechtsstaat, aber die Ordnungsverluste nehmen zu, offen oder verdeckt. Vielleicht war und ist der Westen eine harte seelenlose Maschine, die alles an nationaler und kultureller Tradition überrollte7, so tut sie doch heute beinah alles, um reich zu bleiben. Die eingesetzten Mittel und die herrschenden Überzeugungen sind oft auf kurzfristige Effekte angelegt und ohne rechten Sinn für die nachhaltigen Grundlagen einer Gesellschaft, die mit dem Prinzip persönlicher Freiheit überwältigenden Erfolg hatte 21und hat. Dieser Gesellschaftsordnung scheine – so die Kritiker – jedes Mittel recht. Sie arbeite in ihrem sozialtechnischen Unverstand, getrieben von falschen Versprechungen und falschen Erwartungen wirtschaftlich mit monetären Taschenspielertricks. Es sei ein „Kapitalismus auf Pump“ (Ralf Dahrendorf), in unablässiger Angst vor Stagnation und Rezession.

Die Weltfinanzkrise und die zähen Versuche, Europas Schuldenkrise zu meistern, ohne Prämien für Moral Hazard, also das anstößige Verhalten von Versicherungsbetrügern, zu zahlen, der schwankende Kurs der USA zwischen Interventionismus und rhetorisch verpackter Ohnmacht: Das verleiht mancher Kritik Substanz. In ihrer ideellen Trägheit und dem ziellosen Hedonismus verbrauchen die westlichen Gesellschaften nicht nur natürliche Ressourcen, sondern auch psychosoziale Schätze von Alltagsvernunft und Anstand. Sie verlieren den klugen Respekt vor vernünftigen Institutionen. Die üblich gewordenen Einstellungen begreifen nicht mehr, warum Demokratie und Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Privatautonomie, warum die Kontrolle über das eigene Leben und persönliche Daten genauso von grundgebendem Wert sind wie intakte Familien als emotionale Räume der Geborgenheit und der Gemeinschaftsbildung. Es verblasst das klare Bewusstsein, warum Wissenschaft von politischen Sprachregelungen und ideologischen Modetrends frei gehalten werden muss, wie auch von allzu engen wirtschaftlichen Interessenfixierungen.

Die Kluft zwischen Eliten und Populismus

Während sich die Eliten weiter an Sprachregelungen aus der Vergangenheit klammern, machen sich Sorge und Unsicherheit über die Zukunft breit, kommt eine Fin-de-Siècle-Stimmung auf. Manche Menschen feiern weiter, die Politik diskutiert über die Freigabe von Marihuana und führt das Wahlrecht mit 16 Jahren ein, während bislang subkutan bleibende Spannungen sich stärker entladen. Dahinter stehen manchmal Konflikte, die sich aus überwunden geglaubten 22Mustern wie Rassismus, Antisemitismus, religiösem Fanatismus und Intoleranz speisen. Große Projekte der Eliten wie die europäische Integration, der Klimaschutz, kosmopolitische Grenzüberschreitungen und die Durchsetzung von Menschenrechten der Dritten Generation8 geraten in eine immer stärker spürbare Spannung zu populistischen Bewegungen (mal linker und mal rechter Ausrichtung) in nationalen oder regionalen Räumen, die Emotionen politisch organisieren, die das überstaatliche Verhandlungssystem unter Druck setzen, ohne es selbst konstruktiv ersetzen zu können. Umgekehrt dürften auch die Versuche der Eliten, an die Gefühle mit Gerechtigkeitsannahmen anzudocken9, eher zur Deformation des freien rationalen Diskurses führen.

Wachsende Fragmentierung

Der Begriff der Fragmentierung ist der negative Wert einer pluralen Gesellschaft, der Gegenbegriff zu einer in offenem Austausch verbundenen Sozialität.10 Globalisierungsprozesse und die Universalisierung über Mechanismen des Marktes, der Moralcodices, des Rechts oder durch konsumtiven Lebensstil lassen an sich große Varietät zu. In der pluralen Gesellschaft bilden sich verschiedene Lebensentwürfe, Interessengruppen und inhaltliche Positionen aus, die sich aber in einem gemeinsamen Horizont bewegen. Das Gespräch, und sei es als heftiger Streit, bleibt deshalb möglich, weil Verständigung in einem historisch gewachsenen, von innerer Systematik geprägten, begrifflich anschlussfähigen sinngebenden Raum erfolgt.

Fragmentierung bedeutet demgegenüber die Entstehung von Parallelwelten, Subkulturen, die untereinander abgeschlossene Sozialordnungen und Weltdeutungen entwickeln, aber auf andere Gruppen allenfalls mit Ignoranz und Sprachlosigkeit oder aber auch mit Aggression und Hass reagieren. Damit verbunden sind Strategien, die andere zum Feind machen, zum Ungläubigen, zum Unmoralischen, zum Reaktionär oder zum Ignoranten erklären. Dazu gehören (häufig als 23Reaktion auf subkulturelle Fragmentierungsprozesse) die Zunahme politischer Sprachregelungen, die Ausweitung von Tabus auf der einen Seite und die Bildung selbstbezüglicher Räume der Weltdeutung, Verschwörungsszenarien auf der anderen Seite. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts sprachen vom internationalen Finanzjudentum oder von Revanchisten, während sie angeblich Kultur oder Frieden verteidigten. Das alte christliche Europa hatte die Heiden oder die Juden, deren Bekehrung oder Bekämpfung auch mit Gewalt in mancher Zeit als legitim galt, ebenso wie der Islam im Dschihad heilige Rechtfertigung sehen mag.

Solche Bilder der scharfen Differenzierung sind nicht auf Betonung eines legitimen Unterschieds ausgerichtet, sondern zumindest latent aggressiv auf Unterwerfung und Krieg. Auch heute gibt es geschlossene Weltbilder, in Feindschaft zur westlichen Gesellschaftsorganisation, die den gesamten liberalen Lebensstil ablehnen. Diese fundamentale Opposition findet sich vor allem in religiösen und politischen Milieus, aber auch in esoterischer Weltablehnung. Immer sind es einfachste Erklärungen und starke Moralisierungen bei erheblicher kognitiver Unterbilanz. Es handelt sich dabei jedenfalls um gefährliche Beiträge zur Fragmentierung der Gesellschaft, um den Abbruch von Verständigungsmöglichkeiten. Am Ende der Fragmentierung kultureller Erfahrungswelten steht die Sprachlosigkeit. Diskussionsverweigerung wird zur Empfehlung, wenn die politische Richtung nicht stimmt.

Nicht jeder Konflikt, nicht jeder Protest und jede örtlich begrenzte Eruption sind gleich Menetekel einer grundlegenden Wende oder Krise. Vieles ist tagespolitische Aufgeregtheit, die morgen verblasst und vergessen sein wird. Doch es rumort im kulturellen Fundament Europas und Nordamerikas.

Weltöffnung und Parallelgesellschaften

Wer sich nach außen öffnet, wer auf eine offene Welt dringt, sollte sich seiner selbst sicher sein. Der weltoffene Mensch braucht Identität, um 24sich nicht in einem Universum der externen Reize und Herausforderungen zu verlieren. Bis 1990 konnte der Westen seine normativen Grundlagen als Gesellschaftsmodell im Vergleich zum Gegner gut kenntlich machen, weil der Ostblock als Systemantipode so deutlich unattraktiv und freiheitsverachtend war. Die grauen kommunistischen Diktaturen mit ihrer Mangelwirtschaft und Repression machten es leicht, klar und überzeugend für Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und für einen libertären wie konsumtiven Lebensstil zu werben. Doch nach dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion der Sowjetunion verfielen die Selbstgewissheit der eigenen Stärke und das Wissen um die Bedingungen des Erfolges rasch.

Identitätsverluste haben verschiedene Ursachen, sie sind kaum je allein eine Frage des mangelnden guten Willens. Interessen politischer, ideologischer oder wirtschaftlicher Art verzerren die Wahrnehmung und führen zu falschen, weil der Wirklichkeit nicht angemessenen Weltbildern. Identitätsverluste können aber auch entstehen, wenn man sich anderen übermäßig anpasst und in der Verleugnung, im Verstecken oder der Verwandlung des Selbst eine Technik der guten Kontaktpflege sieht. Der Erfolg des geöffneten Westens verbreitet seine gesellschaftlichen Integrationsmechanismen und seinen Lebensstil. Aber unerwartete Rückwirkungen und kulturelle Umformungen sollten einkalkuliert werden.

Der wirtschaftliche und militärische Aufstieg Chinas beispielsweise bedeutet zunächst einmal nur Verschiebungen im globalen Machtgefüge, und das nicht allein zum Nachteil des Westens. Der Aufstieg einer Region muss auch keineswegs den zwangsläufigen Abstieg anderer Regionen und Gesellschaftsmodelle bedeuten. Es kann auch sein, dass die Weltgesellschaft sich mit neuen gegenläufigen Gleichzeitigkeiten entwickelt. So können die Möglichkeiten universeller Verständigung und Koordinierung einerseits zunehmen und kann sich andererseits unter dem augenscheinlichen Sachzwang der internationalen Angleichung (eher unauffällig) die Fragmentierung in verschiedene Kulturräume zugleich vertiefen.

25Die Entstehung von Parallelgesellschaften wird häufig bei Einwanderern oder in religiösen Milieus vermutet. Sich selbst gegen Kritik immunisierende Räume können aber ebenso gut für den gesellschaftlichen Mainstream diagnostiziert werden, wie er durch öffentliche Meinungsbildung entsteht oder in der digitalen Netzwelt. Eine Entwicklung beginnender Fragmentierung ließe sich am ehesten daran ablesen, dass die Wirklichkeit einer in Wertmaßstäben und im Lebensstil nivellierten Gesellschaft verblasst. Ein Teil dieser Entwicklung findet statt, wenn sich gesellschaftliche Eliten internationalisieren und im Wertekanon über Grenzen hinweg einander annähern, während gleichzeitig expressive Minderheiten oder latente Mehrheiten durch Rückbesinnung auf Religion, Nation oder regionale Verbundenheit oder auch gewalttätiges Aufbegehren nach neuen oder alten Gemeinschaften suchen.

Selbstzweifel und Überschätzung sozialtechnischer Steuerungsfähigkeit

Der Westen zweifelt an sich. Er zweifelt vielleicht gerade dort, wo seine größte Stärke liegt: in einer innovativen und dynamischen Marktwirtschaft. Wer an sich zweifelt, wo er stark ist und sorglos bleibt, wo er Schwächen hat, neigt zu teuren Steuerungsfehlern. Die Politik der großen Demokratien hat auch in Friedenszeiten seit den späten sechziger Jahren alle Register der makroökonomischen und sozialtechnischen Steuerung gezogen und dabei finanzielle, institutionelle und kulturelle Ressourcen in einem so großen Maße verbraucht, dass das Problem der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit dringlich wird.

Unter „sozialtechnisch“ wird hier eine bestimmte Art der politischen Gestaltung von Gesellschaft sowohl deskriptiv als auch kritisch verstanden: Die sozialtechnische Vorgehensweise zeichnet sich dadurch aus, „dass der Vollzug ohne allzu viel Reflexion, vor allem aber ohne Rückfrage beim Subjekt oder beim Beobachter möglich ist“.11 Die moderne Gesellschaft orientiert sich an ökonomischen, an gut quantifizierbaren 26Leitwerten, die als Wachstumsraten, Beschäftigungsgrad, Leistungsbilanzen oder Währungsstabilität maßgebliche Parameter sind. Um hier messbar günstige Effekte zu erreichen, wird eben sozialtechnisch agiert, d. h. es werden Anreize gesetzt, es wird gedämpft, Verhalten gelenkt, limitiert oder aktiviert.

Soziale Steuerung aus dem politischen System heraus ist nicht schlecht und verdient nicht von vornherein Misstrauen. Der moderne Sozialstaat ist gar nicht anders denkbar als mit verhaltenslenkenden Gesetzen, Leistungsansprüchen, Versichertengemeinschaften. Ohne ein gewisses Maß an rechtlichen und finanziellen Regelungstechniken geht es nicht.

Sozialtechnische Gesellschaftsgestaltung operiert mit erfolgreichen „Simplifikationen“, kann aber gerade deshalb Nebenwirkungen und größere Zusammenhänge nicht gänzlich überschauen. Der sozialtechnische Stil ist gefangen im Netz seiner heterogenen Zwecke. Nur selten kommt es zu Reformen, die sowohl praktische Regelungszwecke verfolgen als auch der normativen Architektur der Gesellschaft entsprechen. Die von (dem später öffentlich stark angefeindeten) Peter Hartz konzipierten Arbeitsmarktreformen aus der Agenda 2010 folgten insofern einem vernünftigen Leitbild der Nachhaltigkeit. Es ging nicht nur technisch um konsequente und instrumentell erfolgreiche Arbeitsvermittlung, sondern dahinter stand eine strategisch-normative Entscheidung. Langzeit-Arbeitslose sollten nicht länger in den Zustand verwalteter Existenzen abgleiten, die mit Sozialhilfe dauerhaft alimentiert werden und dies womöglich dann in die nächste Generation als resignativen Lebensstil weitertragen würden. Stattdessen sollten die Arbeitsagenturen aktiv fördern und Eigeninitiative fordern, damit Erwerbsfähige wieder zurück in die Mitte der arbeitenden Gesellschaft finden.

Es geht demnach nicht um die Verteufelung rechtlicher, finanzieller oder kultureller Steuerungsansätze, sondern darum, solche Ansätze nicht geistig abzulösen von den normativen Grundsätzen einer auf persönliche Selbstentfaltung setzenden Gesellschaft.

27Erosion soziokultureller Grundlagen

Anfang der siebziger Jahre markierte der Bericht des Club of Rome mit seinen pessimistischen, aber im Grundsatz unbestreitbaren Vorhersagen über die Endlichkeit von Ressourcen den Wandel zu der Erkenntnis, dass natürliche Lebensgrundlagen nicht beliebig ausgebeutet werden können. Mensch und Natur sind auf bestimmte Regenerationsprozesse angewiesen, die der menschliche Eingriff in den Naturhaushalt nicht einfach ignorieren kann12. Es ist fraglich, ob es wirklich unüberschreitbare (d. h. ohne Inkaufnahme von Zerstörung) Grenzen des Wachstums gibt, aber die sozialtechnische und ökonomische Verengung des Blickwinkels ist jedenfalls mit erheblichen Risiken behaftet. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass dieses Argument auch für moderne Gesellschaften selbst gilt. Es geht um soziokulturelle Nachhaltigkeit.

Die soziokulturelle Nachhaltigkeit ist bedroht, wenn die Lebensgrundlagen einer Gesellschaft erodieren. Eine stabile und erfolgreiche Gesellschaft hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab. Sie besitzt einen normativen Kern, der die grundsätzliche nach außen gerichtete Existenzgrundlage des gesellschaftlichen Verbandes mit der persönlichen Sinngebung und Handlungsmotivation der Mitglieder verbindet. Typischerweise erfolgt der Brückenschlag zwischen Organisation und Motivation, zwischen Kollektiven und Individuen, zwischen notwendiger Realitätsanpassung und ideeller Weltdeutung durch eine große Erzählung. Kompatibel mit dieser großen normativen Weltdeutung müssen dann grundlegende Organisationen, Entscheidungen und Institutionen sein, ihrerseits stabil und leistungsfähig. Organisationen als sachliche und personelle Mittel, die mit einem sinnhaften Ordnungsmodell Zwecke verfolgen und erst recht Institutionen, die Handlungs-, Erlebnis- und Denkzusammenhänge als soziales Sinnsystem stabil halten, sollten nicht konkret als das Bürohochhaus einer Bank oder als ein Fonds wie der IWF verstanden werden. Der Institutionenbegriff zielt auf abstrakte Interaktionssysteme wie den 28Markt oder die wissenschaftliche Forschung oder die juristische Entscheidungsbegründung.

Gesellschaftliche Institutionen sichern funktionell bedeutsame Grundentscheidungen der Gesellschaft, sie können sich rund um konkrete Gemeinschaften wie die Familie bilden oder sie können als kognitiv wirkmächtige handlungsleitende Prinzipien, beispielsweise als Rechtsinstitute (Privatautonomie, Vertragsfreiheit, Rechtsstaat) wesentliche Beiträge zur Stabilisierung und zum Funktionieren der Gesellschaft leisten. Je erfolgreicher das westliche Gesellschaftsmodell in seiner Existenzsicherung, seiner Naturbeherrschung und seiner Wachstumsdynamik wurde, desto mehr Varietät, desto mehr Risiko konnte die Entwicklung erlauben. Freiheit und Autonomie sind insofern normative Übersetzungen einer erfolgreichen sozialen Evolution. Wer abweichendes Verhalten erlauben kann, fördert das Neue und Überraschende.

Durch das Komplexitätswachstum von Funktionssystemen oder – etwas traditioneller gesprochen – durch den Grad der Spezialisierung im Prozess gesellschaftlicher Arbeitsteilung wuchsen aber nicht nur der Wohlstand und die Potenziale westlicher Gesellschaften, sondern auch die Belastbarkeit des Organisationsgefüges. Mit anderen Worten: Je mehr sich die neuzeitliche Gesellschaft entwickelte, desto weniger Rücksicht brauchte sie auf schwerfällige, früher einmal unentbehrliche Institutionen wie religiöse Glaubenssysteme, großfamiliäre Bindungen, regionale und lokale Netzwerke oder starre Rollenklischees nehmen.

Sozialtechnischer Tunnelblick und sinnentleerte Räume

Die gesellschaftliche Elite des Westens hat daraus gelernt, dass alles, was dem politischen Gestaltungswillen und der Marktlogik Grenzen setzt, im Grunde genommen entbehrlich geworden ist. Aus dieser Auffassung einer allein wirtschaftlich und politisch/rechtlich integrierten 29Gesellschaft entsteht der sozialregulative Tunnelblick, der andere kulturelle Voraussetzungen einer gelingenden Gesellschaft vernachlässigt. Der wirtschaftlich und politisch sozialregulativ verengte Blick lässt uns übersehen, dass jede noch so raffinierte Ausdifferenzierung technischer Organisation ihrerseits von kulturellen und mentalen Voraussetzungen abhängt, die dem wirtschaftlichen und politischen Zugriff nicht oder nicht vollständig offen stehen, vor allem wenn man an einen Zugriff in kausal steuernder Weise denkt.

Auf bestimmten Feldern ist die Aufmerksamkeit westlicher Demokratien erheblich fehlgewichtet. Während der Sozialstaatsauftrag eine zentrale Rolle spielt und von der Rechtsprechung die Existenzsicherung aus der Würde des Menschen mit normativem Höchstwert abgeleitet wird, fehlt es an hinreichendem Verständnis für Institutionen. Man weiß nicht mehr so recht, was Erziehung bewirken soll, was Bildung ausmacht, was Familie bedeutet, was der Rechtsstaat erfordert. Auch der Staat selbst ist eine Institution13, die zwar nicht mit der Gesellschaft verwechselt werden sollte, dessen Existenzbedingungen aber auch nicht ignoriert werden dürfen. Der Anachronismus des Nationalstaates wird beinah täglich beklagt. Geradezu ritualisiert wird er wegen der großen Weltprobleme immer wieder verabschiedet. Welcher politische Herrschaftsverband aber hat die solidarische Kraft, Existenzsicherung verlässlich zu organisieren und wer hat die Mittel, Menschenrechte durchzusetzen? Dazu braucht der demokratische Rechtsstaat bei aller verfassungsrechtlichen und internationalen Eingebundenheit auch Handlungsfreiheit und Unterscheidungsspielräume. Wenn beinah alle Unterscheidungen unter Diskriminierungsverdacht stehen, auch die zwischen Inländern und Ausländern, verliert der Staat seine Gestaltungsfähigkeit und seine Kraft, eine gerechte Friedensordnung zu garantieren. Inzwischen vergrößert sich die Gefahr, dass sich die international orientierten Eliten vom Nationalstaat verabschieden – entweder weil sie in einem fehlgeleiten Liberalitätsglauben meinen, auf politische Herrschaft komme es nicht mehr an, oder weil sie Politik nur jenseits des Staates attraktiv finden, in Brüssel, in NGOs, den Vereinten Nationen. Unterdessen könnten in den alten 30Nationalstaaten dadurch Plätze freigemacht werden für Populisten und Hasardeure. Es würde sich dann sehr schnell herausstellen, dass die atlantische internationale Ordnung, wie sie nach 1945 entstanden ist, die alten Machtstaaten zwar diszipliniert und rechtlich gebunden hat, sie als zivilisierte Verfassungsstaaten und demokratische Primärräume aber alles andere als entbehrlich hat werden lassen. Die Staaten sind in Europa und der Welt weiterhin die tragenden Bausteine der internationalen Ordnung, sie sind die Garanten für den rechtsstaatlichen Schutz der Menschenrechte und für Handlungsfähigkeit nach innen und außen.

Wenn Institutionen wie der demokratische Rechtsstaat oder die soziale Marktwirtschaft nicht gepflegt und intakt gehalten werden, droht eine Dauerkrise. Die ostentativen Optimisten, die jeden Ansatz der gesellschaftlichen Nachhaltigkeitskritik mit dem Argument wegwischen, man solle doch bitte nicht in „Kulturpessimismus“ verfallen, nicht in die Fußstapfen Oswald Spenglers treten: Sie treten etwas leiser auf. Denn Menetekel des Abstiegs, jedenfalls der Dauerkrise lassen sich nicht länger ignorieren. Allmählich dämmert die Erkenntnis, dass nicht nur die ökologischen Grundlagen der Pflege bedürfen, wie dies Art. 20 a des Grundgesetzes als Ziel vorschreibt, sondern auch die soziokulturellen Lebensgrundlagen der Gesellschaft.14 Wir verbrennen im Kampf um Wachstum und Wohlstand humane Ressourcen, solche der Inhalte von klassischer Bildung, des Bandes der Familie, vergessen die transzendente Dimension des Lebens, unsere tiefen kulturellen und ideengeschichtlichen Grundlagen. Wir strapazieren unentwegt die großen, tragenden Institutionen: den Rechtsstaat, die Demokratie, die Grundsätze tragfähiger Haushaltswirtschaft, die soziale Marktwirtschaft, das Leistungsprinzip, das Ethos des professionellen Berufsbeamtentums, das Leitbild des ehrbaren Kaufmanns.

31Verlust der großen Antipoden

Die unbesonnene Haltung und die Tendenz zur Überlastung der Fundamente hat Ursachen in einem intellektuellen Habitus der Verachtung „bürgerlicher“ Lebenswelten. Die (künstlerische) Moderne hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre bürgerliche Gegenwelt zur kritischen Projektionsfläche gemacht, sie verwandelt und teilweise zerstört, wo diese das nicht selbst getan hat.15 Heute ist eine Farce von schlecht rezipierter Modernität und beschränkter Aufklärung zur Massenkultur geworden, so wie aus kühnen Gropius-Bauten die lebensfeindlichen Betonvororte der europäischen Großstädte wurden. Die Kultur des Westens scheint eigentümlich erschlafft – und das mitten in hektischer Betriebsamkeit. Der kräftige Spannungsbogen zwischen konservativer Lebensführung, institutioneller Wertschätzung und vorwärtsdrängender gesellschaftlicher Umgestaltung ist in sich zusammengefallen. Die großen Antipoden gibt es nicht mehr. Bürgertum und Christentum taugen nicht länger als ernsthafte Gegner für eine künstlerische und intellektuelle Avantgarde, die sich in mal aggressiver, mal liebenswert ödipaler Tücke an ihren Übervätern abmüht. Der autoritäre Charakter von Kleinbürger und Kirche: Sie werden dennoch immer wieder auf die Bühne geschoben, weil sie unentbehrlich sind, wenn man alles beim Alten lassen will. Die öffentlichen Diskurse sind nach dem schalen Sieg der antibürgerlichen Kritik langweilig formatiert, sie sind zuweilen sogar nach politischen Tagesparolen eines eindimensionalen Denkens formiert.16

Die Staaten des Westens halten Universalität und Solidarität als internationales Rechtsprinzip hoch, es ist sogar von der „Zärtlichkeit unter den Völkern“ die Rede.17 Aber dennoch fragmentieren sich die Gesellschaften im Innern und ebenso die globale Weltordnung, die ihren kosmopolitischen Zauber verliert, wie er seit Gründung der Vereinten Nationen bestand. Für die Techniker des Flugverkehrs und für den Reisetourismus wird die propagierte „Eine Welt“ inzwischen kleiner. Die Gebiete mit Reisewarnungen sind keine Randphänomene mehr, Terrorismusgefahr oder Piraterie veralltäglichen sich.

32Die „Maskone“-Welt als Illusionstheater

Während im Nordirak hunderttausende Jeziden und Christen auf der Flucht vor Mord und Gewalt sind, demonstrieren in Berlin tausende bei der „Hanfparade“ für die Freigabe von Halluzinogenen. Während manche Weltgegenden und Grenzen unsicherer werden, richten sich die Menschen in einer schönen neuen digitalen Welt ein. Umsorgt von Bildern, Spielen und Apps für alle Bedürfnisse, verkümmert mancher geordnete sinnliche Lebensalltag oder schwindet Urbanität. Übliches Sozialverhalten, wie die Weitergabe von persönlichen Informationen, Meinungskundgaben, Weltdeutungen, Normierungen des Alltagshandelns, Moden und Moral verlagern sich ins Netz: „Das, was einstmals schon wegen der Bedingungen einer Face-to-Face-Interaktion als privat galt, wird enträumlicht, simultan zugänglich, speicherbar und verwertbar gemacht. Es findet eine Vergemeinschaftung mit viel Unverbindlichkeit, mit belanglos scheinender Intimität statt, es wächst eine ebenso kommunikative wie konsumtive Grundstruktur, die eigentlich auf naivem Technikglauben basiert, aber deren Nutzer auch sehr empfindlich auf Enttäuschungen des Vertrauens reagieren können.“18 Die Bereitschaft der Menschen zur konsumtiven Selbstdetermination wird genutzt und gelenkt durch Netzintermediäre, die ihr günstiges oder kostenloses Leistungsangebot in strategischer Absicht kommerziell verwerten.19

Vielleicht entsteht – durch die digitale Verwandlung der Welt kräftig unterstützt – allmählich eine Illusionswelt wie sie Stanisław Lem mit seinem 1971 erschienenen Roman „Der futurologische Kongress“ erahnt hat: Dank „Maskone“, chemischen Substanzen, die dem Geist Gegenstände vortäuschen, erscheint die Umgebung angenehm glänzend, reich und sehr komfortabel, während sie in Wirklichkeit schmutzig und elend ist. Droht uns heute der Zerfall öffentlicher Infrastruktur und privater Ordnung zugunsten einer allzu einseitig auf Konsum ausgerichteten Freizeit- und Spielwelt? Ist die Freigabe von Halluzinogenen ein Menetekel? Drohen der westlichen Zivilisation Infantilisierung und Regression?

33Rückkehr der Gewalt

Die Gewalt kehrt zurück. Russland annektiert Gebiete, bedroht unabhängige Staaten. Manche wollen darin nationale Sehnsucht nach Freiheit der ewigen russischen Seele sehen20, jedenfalls aber – hier in der Analyse besser liegend – ein Aufbegehren gegen den Westen. China stellt ebenfalls Grenzen in Frage und übt Druck auf seine Nachbarn aus. Autokratien gedeihen neu, wo der Weg zur Demokratie vorgezeichnet schien. Dschihadismus, als gewalttätiger Islamismus zerstört alles, wofür der Westen (vermutlich auch der traditionsbewusste, fromme Islam) steht. Im Irak werden bizarre Herrschaftsgebilde errichtet, die Andersgläubige brutal ermorden, schänden und vertreiben. Syrien zerfällt. Die Taliban warten in Afghanistan auf ihre endgültige Rückkehr an die Macht. Auch in Afrika expandiert der Islamismus. Lange vor den Ereignissen in Ägypten wurde der Islamismus in Algerien nur mit einer verkappten Militärdiktatur gestoppt. Israels fortbestehende militärische Stärke wirkt gleichwohl schwach, weil dem Hass nicht mit moderner Waffentechnik beizukommen ist, und eine Fragmentierung zwischen religiösem Fundamentalismus und Singularität in den eigenen Reihen zu beobachten ist. Das Ergebnis vieler Ordnungsverluste ist weltweit übereinstimmend und alarmierend: Überall dort, wo halbwegs rechtsstaatliche und funktionstüchtige wirtschaftliche Ordnungen zerfallen, machen sich die Sumpfpflanzen des Fanatismus, der Korruption, der Gewalt, der Entrechtung breit.

Unreflektierte Kapitalismuskritik

Ein weiteres Krisenzeichen ist die hartnäckige Persistenz der alten Kapitalismuskritik. Sie führt zu falschen Diagnosen und Rezepturen. Das Finanzkapital, die USA und die Globalisierung werden zu Mächten des Bösen und der Zerstörung stilisiert. Manche Fehlentwicklung wird zum Anlass zur ganz großen Systemkritik genommen, anstatt sich in die Niederungen einer mitunter kompliziert verschachtelten 34Wirklichkeit zu begeben. Je höher der moralische Oberton der Kapitalismuskritik ist, desto mehr tritt die einfache Erkenntnis zurück, dass persönliche Freiheit und Demokratien angewiesen sind auf Privateigentum und Markt, auf ein offenes und kooperatives Welthandelssystem ebenso wie auf wirksame militärische Verteidigung. Öffentliche Meinung und politische Gruppen, die sich selbst als Zivilgesellschaft ermächtigen, tragen womöglich auch ihren Teil der Verantwortung dafür, dass der Ordnungsrahmen nicht mehr stimmt.

Wenn Feinde jenseits des Finanzkapitals gesichtet werden, sind es (kaum noch zu findende) Vertreter alter Werte, so als hätte das Massenpublikum sich mit 250jähriger Verspätung „voltairisiert“. Ein paar einfache Zusammenhänge bleiben dabei auf der Strecke. So wird die fundamentalste aller Gerechtigkeitsvoraussetzungen entweder als selbstverständlich gegeben geglaubt oder in ihrer Bedeutung erheblich unterschätzt. Es geht um eine rechtsstaatliche, friedensichernde Ordnung, die in der Lage ist, die Grundrechte der Bürger und damit ihre Würde zu schützen, ihnen einen berechenbaren Raum für die persönliche Entfaltung und einen Mindestschutz gegenüber existenziellen Risiken zu gewähren. Gerechtigkeit, so viel Übereinstimmung mit John Rawls besteht21, liegt in einem fairen System von Regeln und nicht so sehr in ständigen Korrekturen, die aus dem Evidenzerlebnis des Einzelfalles heraus politisch oder rechtlich vorgenommen werden.

Die häufig als Systemkritik vorgetragenen Anklagen gegen den Kapitalismus22 haben nicht selten einen berechtigten Kern, wie etwa den Hinweis auf den seit Reagan und Thatcher eingeleiteten, zu weitgehenden Regulierungsverzicht der Finanzwirtschaft. Sie erfassen aber bei weitem nicht das ganze Ausmaß der Fehlentwicklung. Die neomarxistische oder stark moralisch motivierte Kapitalismuskritik greift regelmäßig viel zu kurz, weil sie sich weigert, den erheblichen, ja ausschlaggebenden politischen Anteil der Demokratien (und damit auch ihre eigene politisch-ideologische Verantwortung für Fehlentwicklungen) ausreichend in Rechnung zu stellen. Obwohl es noch nie in der Geschichte eine Demokratie ohne auf Privateigentum aufgebaute Marktwirtschaft gegeben hat, wird wieder vermehrt der 35Eindruck erweckt, der Westen müsse sich zwischen Demokratie oder Kapitalismus entscheiden.23

Auf dem Radarschirm der meisten Kapitalismuskritiker fehlt die dichte strukturelle Kopplung von Demokratie und Markt. Wenn ein autokratisches präsidiales System wie in Russland die Wirtschaft imprägniert, steuert oder auch deformiert, sind wir durchaus in der Lage, das kritisch wahrzunehmen. Wenn der amerikanische Kongress, der US-Präsident, der Deutsche Bundestag oder das Europaparlament, die amerikanische Notenbank FED, die europäische EZB oder die japanische Notenbank unter dem Beifall der öffentlichen Meinung weichenstellende Strukturentscheidungen für die Wirtschaft treffen oder eine falsche Mentalität verfestigen, neigen wir dazu, diesen Verantwortungsanteil für krisenhafte Entwicklungen gravierend zu unterschätzen und die Verantwortung abzuwälzen auf renditeorientierte Unternehmen.24

Zu den Verursachern der 2008 offen ausgebrochenen Weltfinanzkrise wird immerhin ganz zu Recht die amerikanische Zentralbank gerechnet, die mit der Ausdehnung der Geldmenge und künstlich niedrig gehaltenen Zinsen das Wirtschaftswachstum fördern wollte, genauso wie Demokraten und Republikaner im amerikanischen Kongress, die das Wohnungseigentum einkommensschwacher Gruppen und damit die Verschuldung der privaten Haushalte hochtrieben, die Investmentbankbranche, die mit ihren die Risiken verschleiernden Finanzprodukten und ihrem irrwitzigen Boni-System ebenso einen Beitrag leisteten wie die leichtfertig Kredit vergebenden Hypothekenbanken und natürlich auch die überoptimistischen Kunden und die Wähler, die Politikern mit ihren einfachen Rezepturen zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums das Mandat gaben.25 Kann man das alles auf die Rechnung des „Kapitalismus“ setzen?

36Falsche Mentalität als Ursache der Krise

Es ist nicht die Marktwirtschaft, nicht der Kapitalismus, es ist auch nicht die Demokratie als Herrschaftsform, sondern eine jahrzehntelang verfestigte falsche Mentalität, die die Institutionen in Misskredit bringt, ohne dass eine andere bessere Institution zur Verfügung stünde.

Die zuerst vielversprechende, dann nur noch viel versprechende Politik der „Globalsteuerung“ hat seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu in Friedenszeiten beispielloser Staatsverschuldung geführt, die ganz erhebliche makroökonomische Auswirkungen hat und auch Finanzmärkte verformen kann.26 Subkutan hat im dynamischen Prozess der Globalisierung ein Standortwettbewerb stattgefunden (und findet weiter statt), der mit der De-Regulation der Finanzmärkte oder strategischen Verhaltensweisen im Steuerwettbewerb einherging und zur Destabilisierung des an sich hoch leistungsfähigen westlichen Wirtschaftssystems beigetragen hat.

Kluge Globalsteuerung oder Politisierung der Wirtschaft?

Die Verursachung der Weltfinanzkrise „dem Kapitalismus als Wirtschaftssystem“ zuzuschreiben, so als säße man in einer Londoner Bibliothek des 19. Jahrhunderts, ist vor allem naiv. Die Demokratien der westlichen Staaten sind Wirtschaftsakteure von ganz erheblichem Gewicht. Enttäuscht über die zu geringe Rolle des Staates gegenüber einem angeblich entfesselten Kapitalismus sind vor allem diejenigen, die der Vorstellung anhängen, man könne wirtschaftliche Ergebnisse politisch einigermaßen exakt bestimmen, Wohlstand an der Wahlurne unmittelbar herbeiwählen. Wer meint, dass wirtschaftliche Prozesse, Investitionsentscheidungen, Rentabilitätsbedingungen, Erwerbseinkommen, Massenkaufkraft und Prosperität politisch kausal entschieden 37werden können, wird unentwegt den Steuerungsverlust demokratischer Herrschaft beklagen. Der die europäischen Partner nervende sprunghafte und emotionale Kurs der griechischen Tsipras-Regierung findet eine Ursache in ihrer ideologischen antikapitalistischen Fixierung, die auch bei aller Entschiedenheit keine Marktgesetze und keine Gesetze kooperativer Politik durchbrechen kann, ohne dass Griechen oder andere dafür „zahlen“ müssten, Ärmere vermutlich mehr als Reichere.

Funktionale Differenzierung und Trends zur Entdifferenzierung

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