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Das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen unterstützte gemeinsam mit der Erste Bank Stiftung die Recherche zu diesem Buch mit dem Milena Jesenská Stipendium.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2015
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: Stephanie Raubach, Berlin unter Verwendung
eines Motivs von thinkstock (490374161)
Satz: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag, Berlin

ISBN 978-3-86153-843-1
eISBN 978-3-86284-316-9

Inhalt

Einleitung
Kleine Geschichte der Heimat
VOM VERLUST DER HEIMAT
Die alte Heimat
Schlesien duftet nach Heimat
Vogelsang war unser Untergang
Wenn die Heimat zur Fremde wird
Über Nacht verschwanden die Bilder von Erich Honecker
Das Riesengebirge war ein Staat im Staate
Patchwork-Heimat
Heimat ist eine Evolution in kleinen Schritten
Es gibt nun einmal keinen idealen Ort für mich
Ich kann jederzeit meinen Koffer packen und weiterziehen
HEIMAT IST DA, WO EINEN DIE NACHBARN GRÜSSEN
Zur Willkommenskultur in Deutschland
VON DER SUCHE NACH HEIMAT
Auf der Flucht
Ich habe Gott gesehen
Sobald es geht, will ich zurück in meine Heimat
Ich will einfach nur in Frieden leben
Heimatlos
Mein Leben wäre heute besser, wenn ich in Russland geblieben wäre
Das Leben der Sinti kennen meine Kinder nur aus Erzählungen
Als Immigrant verliert man vollständig seine Identität und muss sich eine neue aufbauen
Aus der Ferne für die Heimat
Schon als Kind begriff ich, dass meine Heimat etwas sehr Wertvolles war
Solange man in der Heimat ist, kann man sie nicht richtig verstehen
Heimat ist der Raum, in dem wir uns sicher bewegen können
Ein Gespräch mit Beate Mitzscherlich, Psychologin
ÜBER DAS ANKOMMEN IN DER NEUEN HEIMAT
Wiederentdeckte Heimat
Ich war immer die ›Andere‹
Mütterchen Prag hat wirklich Krallen
Wurzeln schlagen in der Wahlheimat
Phyllis war mir wichtiger als Heimat
Ich muss jetzt nicht mehr in die Weite
Schlussgedanken
Anhang
Quellenverzeichnis
Weiterführende Literatur zum Thema
Dank
Zur Autorin

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»Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.«

Herbert Grönemeyer

Sie verspricht Geborgenheit in einer unübersichtlichen Welt, sie fasziniert, sie ist unausweichlich, sie prägt unser Leben – die Heimat. Für dieses Buch habe ich mit Menschen gesprochen, die sie verlassen, verloren oder wiedergewonnen haben. Manche lehnen die Heimat ab, manche hängen an ihr – gleichgültig kann man ihr gegenüber nicht sein. Heimat lässt uns nicht los. Sie bleibt ein Teil unserer Identität, auch wenn wir sie bewusst verlassen. Sie kann für einen gewissen Zeitraum überdeckt werden, in den Hintergrund rücken, um dann im Alter meist wieder mehr Raum einzunehmen. Auf Dauer lässt sich die Heimat nicht ausradieren, sie taucht wieder auf, wenn wir in der Fremde unsere heimische Mundart hören, eine Landschaft wiedererkennen oder es plötzlich so riecht wie bei der Großmutter am Herd.

Die Protagonisten dieses Buches erzählen von ihrer Heimat, vom Verlust der alten und vom Neuanfang in der neuen, von Träumen, Sehnsüchten, Enttäuschungen und Erfolgen. Ob Ric, der sich als schwuler Latino und Schauspieler lieber nicht mehr auf eine örtlich fixierte Heimat festlegen will und seine gesamte Habe auf dem Gepäckträger seines Fahrrads transportieren kann; ob Yuan, die aus China in eine ganz andere, fremde Welt kam oder Christel, die ins Nachbardorf ziehen musste, weil ihr Heimatort Wollseifen zu einem militärischen Übungsplatz wurde; ob Juliane, deren Heimat DDR vom Lauf der Geschichte weggespült wurde oder Schahrsad aus Teheran, die der soziale Abstieg durch den Umzug nach Deutschland beinahe gebrochen hätte – alle diese Menschen haben den Verlust von Heimat als einen Bruch erlebt, der ihr Leben bereichert, erschwert und fundamental verändert hat.

»Was ist eigentlich Heimat?«, fragte ich auch Wissenschaftler wie die Psychologin Beate Mitzscherlich, den Historiker Klaus Ries und seinen Romanistik-Kollegen Edoardo Costadura oder die Ethnologen Beate Binder und Friedemann Schmoll. Brauchen wir sie – als Individuum und als Gesellschaft? Leben Menschen glücklicher, wenn sie in ihrer Heimat bleiben oder schmeckt sie nur von Weitem so süß? Sind wir auf das Gefühl angewiesen, eine Heimat zu haben, um unseren Weg in der Fremde gehen zu können? Oder blockiert sie uns dabei, in der neuen Umgebung ein neues Leben aufzubauen?

In den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Flüchtlinge dramatisch an. Bis zu 800 000 Menschen werden voraussichtlich im Jahr 2015 nach Deutschland kommen. Das provoziert einerseits Rechtsradikale. Fast täglich berichtet die Presse von brennenden Flüchtlingsunterkünften. Das bewegt aber auch immer mehr Menschen, die Notleidenden willkommen zu heißen. Werden sie jemals in Deutschland eine Heimat finden?

Medizinisch gesehen entsteht das warme Gefühl für unsere Heimat schlicht durch ein riesiges Sammelsurium an Engrammen, also Spuren in unserem zentralen Nervensystem, die durch besondere Reize oder Eindrücke hinterlassen wurden. Je positiver diese Eindrücke waren und je öfter wir sie erlebt haben, umso stärker sind die Engramme synaptisch verfestigt. Ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine besondere Landschaft – all das kann sich neurologisch gesehen wie ein Spinnennetz in unser Gehirn weben und Heimatgefühle erzeugen. Heimat kann damit an mehreren Orten empfunden werden oder überhaupt nicht örtlich gebunden sein. Wenn die neuralen Verlinkungen sich auflösen, etwa bei Demenzkranken, dann verschwindet auch die Heimat aus den Köpfen.

Welche Eindrücke wir unbewusst wählen, um unser neurales Heimatnetz zu weben, bleibt individuell. Übereinstimmend kann man festhalten: Heimat ist verbunden mit der Umgebung, in der jemand die wichtigsten Jahre seiner Sozialisation verbracht hat. Aber diese Jahre erlebt der eine als Kind, ein anderer als Jugendlicher, ein Dritter vielleicht erst als Erwachsener. Selbst Geschwister, die in derselben Familie, am selben Ort, unter denselben sozialen Bedingungen aufwachsen, können Heimat ganz unterschiedlich empfinden. Was dem einen Sicherheit bietet, ist dem anderen zu eng und miefig. Der eine leidet, wenn er in der Fremde lebt und versucht, so viel Traditionen und Gewohnheiten wie möglich auf seine neue Welt zu übertragen. Der andere passt sich scheinbar spielerisch an, findet Freunde, gründet eine Familie und wird bald nicht mehr als Zugezogener wahrgenommen. Während sich manche auf ihre Heimat besinnen als eine Art Kompensationsraum, der sie vor den Zumutungen der Globalisierung schützen soll – unter anderem vielleicht vor dem als unheimlich empfundenen Zuzug von Migranten –, stehen andere vor der Notwendigkeit, sich zu integrieren und eine neue Heimat aufzubauen.

Das Phänomen Heimat ist nicht ohne deren Verlust zu betrachten. Die meisten Menschen denken wenig über ihre Heimat nach, so lange sie nicht bedroht oder verloren ist. Erst dann beginnen sie, sie zu vermissen – und verstehen oft gar nicht genau, was sie eigentlich vermissen. Manche Menschen träumen ihr Leben lang davon, wieder nach Hause zurückzukehren. Und wenn sie es schließlich tun, finden sie dort keine Heimat mehr. Diese Ambivalenz der Sehnsucht bewegte Philosophen, Historiker und Psychologen seit jeher. Schon der römische Philosoph Seneca kam zu dem Schluss, der Mensch brauche eine Heimat und implizierte gleichzeitig, dass er sich auf der Wanderschaft danach sehnt. Er sagte: »Einem Schiff ohne Hafen ist kein Wind der richtige.« Rund 2000 Jahre später prägte der Philosoph Martin Heidegger für Jahrzehnte die Diskussion mit seiner These, ohne Heimat leide der Mensch an einer »Seinsvergessenheit«, die ihn in eine tiefe Krise stürze.

Gerade Heidegger steht wegen seines Flirts mit der nationalsozialistischen Ideologie jedoch auch für die Desavouierung des Heimatbegriffs. Für Jahrzehnte war er scheinbar unauflösbar konnotiert mit der deutschen »Blut-und-Boden«-Politik Hitlers, für die so unfassbar viele Soldaten begeistert in den Krieg und so viele »Volksdeutsche« heim ins Reich gezogen waren. Der rassistische und ausgrenzende Heimatgedanke der Nationalsozialisten war Grundlage für die Ermordung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern. Nach dem Krieg strebten die Deutschen daher nach einem rationaleren Verhältnis zu ihrem Staat, den Hitler ihnen als die »Heimat« verkauft hatte. Im intellektuellen Diskurs war Heimat out.

Viele der Millionen Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen und den tschechoslowakischen Grenzgebieten blieben ihrem Sehnsuchtsort treu, aber deren revisionistische Vertreter diskreditierten die Heimat in den Augen vieler Deutscher noch mehr. Zwar flüchteten sich in den 50er Jahren gerade ältere Leute in die heile Welt der Heimatfilme und -romane, in denen es keinen Krieg und keine Schuld der Deutschen gab. Aber die nachkommende Generation fand diese Schmöker altmodisch, kitschig, unerträglich. Sie wollte lieber die Welt entdecken, als an ihrer Heimat zu kleben. Der moderne, aufgeschlossene Mensch sollte mobil und flexibel sein. Der Medienphilosoph Vilém Flusser etwa, der als Prager Jude während des Zweiten Weltkrieges aus seiner Heimat fliehen musste und in Brasilien lebte, sagte in seinem Vortrag »Heimatlosigkeit ist Freiheit«[1], der Mensch sei kosmopolitisch wie eine Ratte und könne sich überall eine neue Heimat schaffen.

Jetzt aber lässt sich seit ein paar Jahren beobachten, wie sich die Heimat vom verstaubten Mauerblümchen zum neuen Trendwort Deutschlands mausert. Tim Mälzer gab ein Kochbuch mit dem schlichten Titel »Heimat« heraus, der Heimathirsch in Köln ist längst kein Geheimtipp mehr unter Jazzfreunden, in Hamburg isst man im Restaurant Heimat Küche & Bar und in Berlin zieht die Neue Heimat in den Hallen des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks mit zahlreichen Events junge Kreative und Schaulustige an. Das Leitmotiv des Performance-Künstlers Stefan Strumbel lautet: What the fuck is Heimat? Heimatgeschäfte und Heimatagenturen werden gegründet und nicht zu vergessen: unzählige neue Heimatmuseen. Auch in der Sprache besinnt sich Deutschland auf seine regionalen Dialekte. In München betreibt die Akademie der Wissenschaften bayerische Mundartforschung, es gibt Online-Sprachkurse für Plattdeutsch und in Köln kann man Examen an der Akademie för uns kölsche Sproch machen. Heimat wurde von den Teilnehmern eines Wettbewerbs des Deutschen Sprachrats und des Goethe-Instituts im Jahr 2004 zu einem der schönsten deutschen Wörter gekürt. Und Bayern schuf 2014 ein Heimatmuseum.

Woher kommt diese unerwartete Popularität? Die Psychologin Beate Mitzscherlich erklärt die heutige Suche nach Heimat als eine Reaktion auf die Uferlosigkeit innerhalb einer globalisierten Gesellschaft. Immer mehr Menschen empfinden ihre kleine Lebenswelt als bedroht. In der modernen Gesellschaft ist Flexibilität eine Voraussetzung für Erfolg. Und Mobilität ist längst kein Ausdruck mehr von persönlicher Freiheit, sondern von beruflichen Zwängen. Das Verlassen der Heimat gehört zum Alltag. Es ist fast unmöglich, sein gesamtes Leben an ein und demselben Ort zu verbringen. Menschen ziehen aus freien Stücken oder notgedrungen, für die Arbeit oder für die Liebe, aus politischen Gründen oder aus wirtschaftlicher Not von einer Stadt in die andere, in fremde Länder oder auf andere Kontinente. Alte Beziehungen werden abgebrochen, neue geknüpft. Nicht immer gelingt die Integration am neuen Wohnort. Heimat lässt sich nicht einfach ersetzen.

Und auch die Zurückgebliebenen fühlen sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Alle Krisen und Kriege auf der Welt fühlen wir zeitnah auch in Deutschland. Längst hat die Globalisierung das kleinste Dorf erfasst – wenn der Weizen im Ausland billiger produziert werden kann, betrifft das auch den ansässigen Bauern. Der Firmeninhaber muss damit rechnen, dass die Konkurrenz irgendwo auf der Welt günstiger produziert, der Angestellte wiederum damit, dass seine Firma in ein Billiglohnland abwandert.

Die Geborgenheit und Verlässlichkeit der kleinen, überschaubaren Heimat erfährt angesichts dieser Ohnmacht gegenüber den Katastrophen in einer unüberschaubar großen Welt eine neue Bewertung. Die Menschen wollen sich neu verorten, ihre kleine Nahwelt – den Kiez, das Dorf, die Familie – aktiv lebenswert gestalten. Das äußert sich sowohl in der bereits beschriebenen Wiederentdeckung der Heimat als auch in einer gesellschaftlichen Bewegung, die »zurück zu den Wurzeln« will und die an die Anfänge der deutschen Heimatbewegung erinnert: Menschen mieten ein Stück Land oder besetzen städtische Brachen, um Gemüse anzubauen, sie kaufen regionale Produkte, engagieren sich gegen Umweltpro-bleme vor Ort. »Kommunität«, nennt das die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus, die sich Anfang der 70er Jahre als eine der ersten Wissenschaftlerinnen für die Rehabilitierung der Heimat einsetzte: »Regionale und lokale Proteste stellen Selbstverwaltungen gegen Zentralisierung, eigene Kultur gegen Einheitskultur, sparsame eigene Nutzung der eigenen Ressourcen gegen zentralisierte Ausbeutung und Lieferung, Gegenseitigkeit des Handelns gegen Wohlfahrtsabhängigkeit und Bürokratisierung.«[2]

Zwar denken auch heute bei dem Begriff Heimat viele Menschen an blühende Alpenlandschaften, Bauernmädel in Trachten und rustikale Kneipen mit Hirschgeweihen an den Wänden. Aber unbemerkt hat sich eine Ironie, eine Leichtigkeit in dieses Bild geschlichen. Längst wird Heimat von einer unbeschwerten Generation, die den Krieg nur noch aus Büchern und Filmen kennt, als Schablone für Gemütlichkeit, Geborgenheit und Eigeninitiative genutzt. Ihrer bedienen sich Jung und Alt, linke Umweltaktivisten und Partypeople, aber auch konservative »Wutbürger« und rechte Ausländerfeinde. »Heimat ist ein nuttiger Begriff«, sagt der Ethnologe Friedemann Schmoll: »Sie schmiegt sich an jeden an, der sie benutzen will.« Während die einen ihre Heimat als ein soziales Netz begreifen, das auch fremde Hilfsbedürftige auffangen kann, glauben andere, die Heimat durch Abschottung vor Veränderung schützen zu müssen. Sie gehen auf die Straße, um gegen eine vermeintliche »Überfremdung« durch die Flüchtlinge zu demonstrieren.

Dabei erzählen vor allem die Schicksale der Einwanderer von Heimat. Manche von ihnen kommen nur durch Zufall nach Deutschland, andere wählen es ganz bewusst. Wer sein Land wegen Hunger oder Krieg verlassen musste, reflektiert vielleicht zunächst nicht, ob er sich in der deutschen Kultur auch heimisch fühlen kann. Nur die Zeit zeigt, ob Deutschland für sie zu einer neuen Heimat wird. Nicht jeder mag seine Vergangenheit, die Traditionen und Werte, einfach ablegen und in ein neues Leben schlüpfen. Viele hoffen, bald wieder nach Hause zurückkehren zu können. Andere wollen sich in unserer Gesellschaft einfinden, aber es gelingt ihnen nicht – ihre Ausbildung wird nicht anerkannt und sie finden keine Arbeit oder dürfen als Asylbewerber nicht arbeiten, suchen vergeblich Freunde oder fühlen sich schlichtweg abgelehnt. Und selbst diejenigen, denen eine Integration vollends gelingt, sehnen sich manchmal nach ihrem früheren Leben zurück, als die Zugehörigkeiten klarer und die Beziehungen einfacher waren.

Heimat und Fremde gehören zusammen. »Man muss in die Ferne gehen, um die Heimat, die man verloren hat, wiederzufinden«, sagte Franz Kafka 1924. Ich würde hinzufügen: Man muss den Fremden zuhören, um seine eigene Heimat zu verstehen. Die Geschichten meiner Protagonisten zeigen, was Heimat jenseits der Kochbücher, Jazzkneipen und Hirschgeweihe für eine universelle, tiefe Bedeutung hat. Was Heimat eigentlich ist, zeigen die Antworten in diesem Buch, das ein buntes Kaleidoskop voller Denkanstöße sein will.

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Ob die Menschen, die in der Spätantike in einer regelrechten Völkerwanderung in neue, fruchtbarere Regionen zogen, wohl ihre Heimat vermissten? Oder die Kaufleute der Hanse, die im Mittelalter bis nach Novgorod reisten, um ihre Waren zu verkaufen? Sie bauten sich extra ein eigenes Kontor, den Petershof mit einer St. Peterskirche und Wohnhäusern, in denen die Händler unter sich blieben. Sollten sie etwa nicht an Heimweh gelitten haben? Ob Germanen, Hanseaten oder die neuzeitlichen Arbeitsnomaden: Wer seine Heimat verliert, beginnt, sie zu vermissen.

Der Verlust kann unterschiedliche Gründe und Qualitäten haben: Jemand kann die Heimat gezielt verlassen, kann verschleppt werden – oder er fühlt seine Heimat durch äußere Einflüsse bedroht. Letzteres hat in der deutschen Geschichte meist die großen Heimatwellen ausgelöst. Der Bruch mit Traditionen und Geschichte, von außen oder bewusst von innen herbeigeführt, führt zu einem Wandel, der als Verlust wahrgenommen wird. Auch die gesellschaftlichen Umwälzungen der Völkerwanderung und des modernen internationalen Handels werden für die Betroffenen eine solche Bedrohung dargestellt haben. Und doch werden sie in den Forschungen zur Heimat nie erwähnt. Denn Heimat, so erklärt Klaus Ries, Historiker an der Universität Jena, ist nicht nur ein reaktiver, sondern auch ein reflexiver Begriff: »Heimat reagiert auf Transformationsprozesse – und aus der Reaktion resultiert ein Reflektieren darüber. Erst dieses Zusammenspiel prägt unseren modernen Heimatbegriff.« Selbst wenn die Hanseaten ihre Heimat vermissten – für die Wissenschaft ist das unsichtbar geblieben, denn es gibt keine Quellen dazu.

»Heimat war bis zur Neuzeit ein rauer Begriff ohne jede Romantik«, betont Ries. Er war schlicht eine notwendige an-thropologische Konstante, die mit harter Arbeit, oft auch Armut und Not, verbunden war. Ursprünglich stammt das Wort vom althochdeutschen »heimōt« und dem daraus entstandenen mittelhochdeutschen »heimuot« ab. Damals bezeichnete es noch sehr konkret Haus, Hof und Eigentum einer Person, den Ort, an dem er geboren war oder sich Land erworben hatte, vergleichbar mit unserem heutigen »ständigen Wohnsitz«. Mit dem Besitz waren bestimmte Rechte, aber auch Pflichten verbunden, etwa die Pflege der Eltern bis zu deren Tod. Wer längerfristig in die Fremde ging, sich an einem anderen Ort ansiedelte, verlor das Heimatrecht.

Erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wandelte sich der Begriff – und wird damit für die Wissenschaft interessant, wie Ries einräumt. In Jena befassen sich gleich drei Wissenschaftler aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema. Im Seminar für die Studenten versucht Ries gemeinsam mit seinem Romanistik-Kollegen Edoardo Costadura, auch die europäische Perspektive von Heimat nicht aus dem Blick zu verlieren. Synergien gibt es auch mit dem Volkskundler Friedemann Schmoll, ebenfalls an der Universität Jena tätig. Diese kleine Geschichte der Heimat beruht vor allem auf ihren Erkenntnissen und Überlegungen.

Für den ersten markanten Wandel der Heimat machen die Wissenschaftler den enormen Modernisierungsschub verantwortlich, der ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz Europa erfasste. »Das Gefühl der Heimat kann erst mit der Individualisierung entstehen«, erklärt Klaus Ries. Und die begann mit der Aufklärung. Die Vernunft wurde zum wichtigsten Gut erklärt und den Naturwissenschaften sehr viel Platz eingeräumt. Allgemeine Menschenrechte, Bildung und das Zusammenspiel von Staat und Nation waren die Schlagwörter der Aufklärung und sie rückten den mündigen Bürger in den Mittelpunkt. »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, forderte Immanuel Kant 1784.

Die Französische Revolution ab 1789 setzte dieses aufklärerische Denken in die Praxis um und Napoleon trug es in den Kriegen bis 1812 durch ganz Europa. Es zeigte auch ganz konkrete Folgen für das Zusammenleben der Deutschen: Mit seinen Eroberungen und Neugliederungen warf Napoleon plötzlich Menschen zusammen, die vorher nichs miteinander zu tun hatten. »Plötzlich wurden Grenzen auf dem Reißbrett kartiert, statt sich wie bisher an Sprachen, Dialekt, historisch Gewachsenem zu orientieren«, beschreibt Ries diese Umwälzungen.

Es folgte 1871 die Gründung des deutschen Nationalstaates. Auch der schien den Heimatschützern zunächst eine Bedrohung: Sie fürchteten die Zentralisierung und die damit einhergehende preußische Hegemonialmacht – politisch wie kulturell. Der Flickenteppich von unterschiedlichen Herrschaften hatte gleichsam auch die regionale Vielfalt garantiert. Jetzt drohten die Eigenarten verloren zu gehen. Die Bayern wollten zwar Deutsche, aber sie wollten auch Bayern sein. Die damaligen Heimatschützer wie der Folkloreforscher Friedrich Salomon Krauß[3] warnten vor einer Nivellierung, vor der Verwischung der regionalen Unterschiede.

Etwa zeitgleich veränderte die Industrialisierung nachhaltig den Lebensraum. Edoardo Costadura erklärt: »Heute ist uns diese ständige Weiterentwicklung der Wirtschaft vertraut, aber damals war das für die Menschen ein Schock.« In Massen verließen sie die Dörfer und zogen in die Städte, wo es mehr Arbeit gab. Die Landflucht glich einer Völkerwanderung. Das aber zog enorme soziale Verwerfungen nach sich. Ganze Landstriche verwaisten und gleichzeitig stiegen innerhalb weniger Jahre die Einwohnerzahlen in den Städten auf das Vielfache. Es mussten Wohnraum geschaffen, Müll entsorgt, Abwassersysteme erfunden werden. Und auch die Landschaft veränderte sich: Wälder wurden gefällt, Boden und Gewässer durch Fabrikabwässer verseucht, die Luft war von giftigen Dämpfen verpestet, durch den Bergbau sanken ganze Landstriche ab. »Natur wurde im Denken einer instrumentellen Rationalität zur Ware degradiert«, beschreibt Friedemann Schmoll den Prozess.

Schließlich folgte diesen Jahren voller Umwälzungen und Kriegen die größte Naturkatastrophe der Neuzeit: Im April 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus und spuckte etwa eine Woche lang Gas und Magma. Nach heutigen Erkenntnissen der Wissenschaft wurden mehr als hundert Kubikkilometer Asche, Gestein und Schwefel in die Stratosphäre ge-schleudert. Es war der Schwefel, der weltweit einen Klimawandel auslöste – er reflektierte die Sonne und es wurde kalt auf der Erde. In Nordamerika schneite es im Juni. Und auch Deutschland war betroffen: 1816 war ein Jahr ohne Sommer, es kam in ganz Europa zu einer Hungerkatastrophe, weil die Ernte ausblieb.

Die vielen Missernten und die daraus resultierende Not, aber auch Enttäuschungen über die politischen Entwicklungen, führten zu einer Massenauswanderung. Mehrere Millionen deutschsprachige Migranten zog es im 19. Jahrhundert nach Amerika. Der Regisseur Edgar Reitz beschreibt diese Euphorie in seinem Film »Die andere Heimat«, in der der Bauernsohn Jakob Simon um 1840 davon träumt, sich ein neues Leben in Brasilien aufzubauen.

Der Heimatbegriff erlebte angesichts all dieser Krisen, Bedrohungen, Umwälzungen um 1900 den Höhepunkt seiner Popularität. Die Heimatschutzbewegung brachte unzählige Trachtenvereine, Heimatbunde und Geschichtsvereine hervor. Die schafften ein abstrahiertes Bild von einer romantisch-kitschigen Heimat, die sie als gefährdet oder sogar verloren betrachteten. Die bestehende Zivilisation wurde kritisiert und die Natur idealisiert. Heimatliteratur boomte. Der Schriftsteller Berthold Auerbach beispielsweise stilisierte den Schwarzwald zur Kulisse für ein idyllisches Landleben, das durch Eindringlinge – meist aus der Stadt – gestört, wo aber schließlich die gottgewollte dörfliche Ordnung und Hierarchie wieder hergestellt wird. Ludwig Ganghofer, Peter Rosegger – das waren die Bestsellerautoren der Jahrhundertwende. Die Menschen suchten nach alternativen Lebensformen im Einklang mit der Natur. Viele Heimatfreunde fanden die Lösung in Freikörperkultur, Alpenverein, Lebensreform- oder Wandervogelbewegungen. Reisefieber begann in allen Gesellschaftsschichten um sich zu greifen und gerade die idyllischsten Orte in den Bergen oder am Meer wurden von der neu entstehenden Tourismusindustrie vermarktet. Die Stadtjugend sollte das Landleben kennenlernen und die Idee der Jugendherberge kam auf. Doch kaum jemand von den Heimatfreunden lebte tatsächlich im Grünen. »Sie kämpften für die heile ländliche Welt, dabei waren sie selbst städtische Bildungsbürger«, sagt Schmoll lachend.

Zu dieser Zeit noch arbeiteten die Heimatschützer länder-übergreifend zusammen. 1911 fand in Salzburg die erste internationale Tagung für Denkmalpflege und Heimatschutz statt. Die Tatsache, dass es schwer ist, in anderen Sprachen ein Wort zu finden, das der Heimat entspricht, dürfe nicht zu dem Rückschluss führen, dass dort nicht ähnliche Prozesse stattfanden, mahnt Costadura. Auch Honoré de Balzac, Stendhal, Guy de Maupassant oder Gustave Flaubert erzählen von Provinzlern, die nach Paris gehen. In Italien beschreibt Alessandro Manzoni in dem Klassiker »Die Brautleute« (1827) ein Liebespaar, das aus der Heimat fliehen muss und in einem letzten Blick zurück versucht, sich die geliebte Landschaft einzuprägen.

Vermutlich war der deutsche Heimatkurs ein wenig mehr als bei den europäischen Nachbarn auf den Schutz der Umwelt fokussiert. Costadura vertritt die These, dass die Deutschen ein sehr spezielles Verhältnis zur Natur haben, das sehr stark durch die genuin deutsche Epoche der Romantik gefärbt ist. Viele berühmte Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, auch Goethe oder Novalis, hatten einerseits einen naturwissenschaftlichen Zugang zur Natur und zelebrierten andererseits eine Naturmystik, nach der die Natur ein lebendiger, verletzlicher Organismus ist. Der Deutsche erfahre sich als einen Teil dieses Organismus, glaubt Costadura. Es sei daher kein Zufall, dass die ökologische Bewegung in Deutschland am stärksten ist und die Partei der Grünen sogar zeitweilig an der Regierung war.

So gesehen könnte man die Heimatschutzbewegung auch als eine Art Vorläufer der heutigen grünen Bewegung verstehen. Seit dem späten 18. Jahrhundert machten die Menschen immer wieder die Erfahrung, dass eine enthemmte industrielle Unternehmerschicht und verantwortungslose Politiker sich mithilfe von Wissenschaft und Technik rücksichtslos über alles hinweg setzten, was ihnen wichtig war – über historische Traditionen, soziale Strukturen, die zu dieser Zeit noch sehr nachständisch und organisiert waren, und eben auch über die Natur. Die Heimatschutzbunde waren ein Weg, sich dagegen zu wehren. Für den Historiker Ries sind sie »die Globalisierungsgegner der damaligen Zeit.«

Auch damals schon herrschten Ängste, die Natur könne endgültig zerstört werden. Als 1840 in Süddeutschland die ersten Eisenbahnlinien gebaut wurden, protestierten die Anwohner, weil sie den giftigen Dampf und den Lärm fürchteten. Im Grunde sind es ähnliche Ängste, die 170 Jahre später in Stuttgart die Menschen gegen den Bau eines erweiterten Hauptbahnhofs S21 auf die Straße trieben. Für die deutsche Identität sei diese fortgesetzte Tradition der Heimatbewegung elementar wichtig, glaubt Schmoll: »Die Schlüsselfrage für alle modernen Gesellschaften wird von den Heimatschützern gestellt: Wie sollen die Beziehungen untereinander und im Einklang mit der Natur organisiert werden?«

Die Sorge um die ökologische und soziale Umwelt teilten die Deutschen noch mit den anderen Europäern, doch führte die Rückbesinnung auf eine vermeintlich »heile Welt«, die von äußeren Einflüssen zerstört würde, dazu, dass sich die Heimatschützer zunehmend isolierten. Mit dem Ersten Weltkrieg 1914 war die Internationalität des Heimatschutzgedankens passé. Heimat wurde zu einer Definition der Abgrenzung. Im 19. Jahrhundert war sie noch eine Alternative zum abstrakten Nationalstaat gewesen, hatte mit ihm im Konflikt gestanden. Jetzt wurde sie selbst immer abstrakter – ganz Deutschland wurde zur Heimat. Keiner der drei Jenaer Wissenschaftler hat eine richtige Erklärung für diesen Prozess finden können. Schmoll überlegt: »Jetzt ist Heimat plötzlich das Deutsche. Dabei kann das eigentlich gar nicht funktionieren, weil ein ganzes Land nicht identifizierbar ist. Man kann Deutschland nicht riechen, schmecken, fühlen.« Und doch wachsen Deutschland und die Heimat zusammen. Von da war der Weg zur »Blut und Boden«-Propaganda Hitlers nicht mehr weit.

Bereits 1914 zogen deutsche Soldaten singend für ihre Heimat in den Ersten Weltkrieg. »Treue Grenzwacht steht bereit in des Reiches Osten / für der Heimat Hof und Herd jeder auf dem Posten«, heißt es in einem Soldatenlied. Die Niederlage vier Jahre später mit territorialen Verlusten, gesellschaftlichen Krisen und nationalen Demütigungen führte zu einer weiteren Radikalisierung. Deutschland betrat seinen Sonderweg – bei dem der Heimatbegriff eine große Rolle spielte. War ursprünglich die Heimatbewegung vielstimmig, pluralistisch, mit einem breiten politischen Spektrum, trat jetzt das völkische Denken in den Vordergrund und fütterte eine biologistische und rassistische Ideologie.

Die große Tragik des Diskurses um die Heimat sieht Schmoll darin, dass Integration und Exklusion bei ihr so nah zusammen liegen. »Der Heimatbegriff versteht den Menschen nicht nur als soziales und kulturelles Wesen, sondern auch in seiner Beziehung zur Natur. Das mag ich an ihm«, sagt der Volkskundler. »Aber dadurch, dass die Eigenart verteidigt werden soll, ließ sich die Heimat in der deutschen Geschichte allzu leicht und oft als Kampfvokabel benutzen.« Das Trauma des Ersten Weltkrieges führte dazu, dass alles, was als fremd identifiziert wurde, nicht nur abgewiesen, sondern sogar zerstört, eliminiert werden sollte.

Der eigentliche Heimatdiskurs klang zu dieser Zeit offenbar ab, wie der Historiker Ries feststellte: Es gibt kaum historische Quellen bis 1933. Und danach meldeten sich nur noch Menschen zu Wort, die sie bereits instrumentalisieren und in einem Heimatsekretariat bündeln wollten. Heimat wurde unter Hitler eine einheitliche Sache, ein staatliches Programm, das mit einer Bürgerbewegung nichts mehr zu tun hatte. Die Nationalsozialisten stellten sich dabei vermeintlich durchaus in die Tradition der Heimatschützer – 1933 setzten sie das erste Tierschutzgesetz durch, 1935 wurde das erneuerte Reichsnaturschutzgesetz erlassen und eine Reichsstelle für Naturschutz eingerichtet. Geschickt nutzten sie die Vorarbeiten der Heimatschützer in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, um mit den beliebten Umweltthemen Sympathien in der breiten Öffentlichkeit zu sammeln. Schon in den frühen 30er Jahren konnte Ries dabei eine enge Verknüpfung mit der »Blut und Boden«-Ideologie nachweisen. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Heimat dann endgültig zu einem Vorwand für eine menschenverachtende Vernichtungspolitik. Um den eigenen Lebensraum zu erweitern, griffen die Nationalsozialisten andere Länder an, sie deklassierten Menschen zu »Untermenschen«, sie töteten Millionen in Konzentrationslagern.

Nach diesen Exzessen blieb von der »deutschen Heimat« nur ein schwarzes, verwüstetes Loch. Sie schien unwiderruflich verbrannt. Rigoros wurde sie aus dem intellektuellen Diskurs verbannt. Die ungute Verknüpfung von Staat und Heimat wich einem »Verfassungspatriotismus«, wie Klaus Ries es beschreibt: Staatszugehörigkeit sollte nicht mehr auf Sprache oder Abstammung beruhen, sondern auf dem gemeinsamen Bekenntnis zu Demokratie und Meinungsfreiheit. Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder Hans-Ulrich Wehler dachten in Kategorien wie Gesetzen, Rechten oder Pflichten der Bürger. »Offenbar versuchte man aus völlig ersichtlichen Gründen, die Heimat zu verdrängen«, erklärt Ries: »In der jungen Bundesrepublik hatte sie nichts zu suchen.«

Trotz all dieser rationalen Bemühungen drückte sich die Sehnsucht der Deutschen nach Heimat im Alltag »subkutan« schnell wieder durch. Heimatmuseen und Heimatvereine wurden gegründet, Heimatfilme und Heimatromane kursierten in allen Gesellschaftsschichten. Um deren Erfolg in den 50er Jahren zu verstehen, muss man die Bilder der äußeren und seelischen Trümmerlandschaften mitdenken. Die Abgründe der Schoah und des Weltkrieges ließen die Menschen in Klischees fliehen. Immer fand die Handlung vor dem Zweiten Weltkrieg statt, als die Welt scheinbar noch in Ordnung war. Dabei war nicht nur die Natur intakt. In »Heidi«, »Der Förster vom Silberwald« oder »Bambi« war auch das Familienleben noch traditionell und wunderbar vereinfacht. Das Moderne – etwa die rauchende Frau aus der Stadt – war ein Schreckensbild, das Gegenstück zum einfachen, ehrlichen Mädchen vom Lande. Man konnte die Romane aus dem Schwarzwald als pars pro toto problemlos auf andere Regionen übertragen. Heimat war damit nicht mehr örtlich gebunden, sondern wurde zu einem undifferenzierten Gefühl, einer Utopie. Sie verkam weitgehend zu Kitsch.

Eine ganz andere Dimension hatte der Begriff der Heimat für die rund zwölf Millionen Vertriebenen, die durch den Krieg ihr Zuhause gewaltsam verloren hatten. Die Zuwanderer stießen sowohl im Westen Deutschlands als auch in der Sowje-tischen Besatzungszone auf eine feindlich gesonnene Umgebung. Sie waren eine Konkurrenz, nahmen die eh knappen Ressourcen, Wohnraum und Lebensmittel weg. Äußerst widerwillig wurden sie aufgenommen. In Ostdeutschland kam noch erschwerend hinzu: Man durfte nicht von Vertreibung, nur von Umsiedlung sprechen. Dadurch wurde die existentielle, traumatisierende Erfahrung der Vertreibung auch noch sprachlich versachlicht. Angesichts dieser Härten im Nachkriegsalltag wurde die »alte Heimat« für die meisten zu einem stark verklärten Sehnsuchtsort.

In linken, aufklärerischen Kreisen trug jedoch gerade das öffentliche Klagen der Vertriebenenverbände zur Diskreditierung der Heimat bei. Schmoll erinnert sich noch daran, dass er selbst in seiner Jugend die »Gesinnungsheimatvertriebenen« hasste. Seine Familie war schwäbisch und evangelisch – die Majorität in seinem schwäbischen Heimatort jedoch katholisch und heimatvertrieben. Schmoll fand die revisionistischen Forderungen der Verbände grauenhaft. Er sagt: »Heute finde ich es beschämend, dass wir über diesem politischen Gekläffe der Funktionäre all das echte Leid der Menschen überhört haben. Wir haben einfach weggesehen.«

Es bedurfte eines weiteren gesellschaftlichen Umbruchs, damit sich die junge Generation und die Intellektuellen die Heimat zurückerobern konnten. Den stieß schließlich die 68er Revolution an. Die rebellischen jungen Leute brachen mit den alten Traditionen, prangerten die Fehler der Vätergeneration an und hinterfragten deren Werte. Dadurch war in den 70er Jahren der Weg freigeräumt, den Begriff der Heimat neu zu besetzen: als Symbol für Autonomie und Selbstbestimmung für diejenigen, die gegen das marktorientierte, rationalistische Denken der Nachkriegszeit rebellierten. Auch jetzt hing die Sehnsucht nach Heimat eng mit dem Gefühl der Bedrohung zusammen – die Menschen fühlten sich von einer erneuten Urbanisierungswelle bedroht, vom Kalten Krieg, vom Waldsterben. Und auch jetzt stach wieder die deutsche Naturverbundenheit international hervor, wie der Romanist Costadura betont: »Während die Hysterie in Deutschland fast apokalyptische Züge hatte, wurde der Begriff in viele Sprachen nicht einmal übersetzt, ›le Waldsterben‹ sagten die Franzosen.«

Besonderen Ausdruck fanden diese Ängste in der Anti-AKW-Bewegung. Initialzündung für die neue Bewegung war der Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl in Baden-Württemberg. Wyhl brachte Menschen aus allen politischen und sozialen Gruppen zusammen. Bauern und Intellektuelle, Kleriker und Künstler, Leute aus der Region, aber auch aus ganz Deutschland schafften es mit ihren anhaltenden Protesten und Klagen gemeinsam vor Gericht, den Bau zu verhindern. Damit knüpften sie direkt an das rebellische Erbe der Heimatschützer an, sich gegen die übergeordneten Strukturen zur Wehr zu setzen. Volkskundler Friedemann Schmoll konstatiert eine völlig veränderte Wahrnehmung: »Die Heimat wurde von einem rückwärtsgewandten, konservativen plötzlich zu einem progressiven Begriff. Sie steht jetzt für Menschen, die Verantwortung für die Welt übernehmen, die sie umgibt.«

Das Individuum rückte wieder stärker ins Zentrum der Heimataktivisten und drängte die Identifikation mit der Nation zurück. Dieser Perspektivenwechsel zeigte sich auch in der Wissenschaft. Bis in die 80er Jahre wurde Geschichte eigentlich als reine Strukturgeschichte unterrichtet, erklärt Ries. Makroprozesse wie Industrialisierung, Modernisierung, Disziplinierung und Bürokratisierung wurden untersucht. Jetzt aber begann eine neue Generation von Forschern, den Alltag der »kleinen Leute« zu beleuchten. Oral history, also erzählte Geschichte, entwickelte sich zu einer wissenschaftlich anerkannten Methode, die Interviews mit Zeitzeugen als historische Quellen auswertet. Das Individuum und sein Blick auf das Weltgeschehen rückten in den Fokus. Und damit auch seine Traditionen, Bräuche – und sein Verhältnis zur Heimat. Dieser wissenschaftliche Diskurs spiegelte sich in der Gesellschaft wider, in Kunst und Literatur. Edgar Reitz’ erste Heimatfilme, entstanden Anfang der 80er Jahre, greifen genau diese Perspektive der Betroffenen auf. Sie zeigen Heimat wieder als etwas sehr Konkretes – als einen Ort im Hunsrück. Sehr verdienstvoll, wie Ries findet, denn dadurch kehrte die Heimat als Identifikationsmöglichkeit in das intellektuelle Bewusstsein zurück. Sie wurde wieder gesellschaftsfähig.

Und heute? Durchläuft die Gesellschaft wieder einen elementaren Wandel. »Die Anforderungen an die Menschen sind gestiegen, sie sollen flexibel und anpassungsfähig sein, denn die neoliberale Gesellschaft benötigt immer und überall verfügbare Ressourcen«, sagt Schmoll. Deshalb ist die Heimat wieder in aller Munde. Heimat ist ein vielfältiger, schillernder Begriff, um den sich so viele Sehnsüchte, Interessen und Absichten ranken, dass er schon fast beliebig zu werden droht: Er boomt in der Unterhaltungsindustrie mit Popsongs, Filmen und Büchern, aber auch als Gemütlichkeitselement in Bars und Restaurants. Und nicht zu vergessen als Marketinginstrument mit Etiketten von glücklichen Familien vor Berglandschaften auf Lebensmitteln, die in Wahrheit in Massentierhaltung und industrieller Landwirtschaft hergestellt werden.

Eine weitere wichtige Facette ist die politische Heimat. Die entzieht sich jeder Einordnung. Der linke Heimatdiskurs wird aufgefangen durch ökologische Aktivisten, soziale Regionalprojekte oder die Antiglobalisierungsbewegung. Aber auch die rechte Szene will sich in der langen Tradition der Heimatschützer sehen. Die Jenaer Neonazis nennen sich Thüringer Heimatschutz und versuchen damit, so Schmoll, sich als fürsorgliche »Kümmerer« zu positionieren. Dabei will die »Heimatpartei« NPD ja keineswegs eine humane Welt gestalten, wie es die Heimatschützer einst anstrebten, sondern schürt Überfremdungsängste. Die wiederum greifen auch bei vielen »Normalbürgern«.

Die Heimat der »Anderen« wird bis heute oft nicht mitgedacht. Schmoll empört diese historische Amnesie: »Wie kurzatmig und blind ist unser Gedächtnis, dass wir die Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben, und tradierten Familiengeschichten mit Heimatlosigkeit, bei den anderen nicht identifizieren wollen.« Der Flüchtling ist in Zeiten der Globalisierung eine universelle Gestalt, und er ist genau wie alle anderen Menschen darauf angewiesen, ein Zuhause zu finden, an dem er menschenwürdig leben kann. Aber nicht nur die Nachfahren der Vertriebenen scheinen zu vergessen, wie schwer und existentiell der Neuanfang in der neuen Heimat für die Familie gewesen ist. Sondern auch die Verwandten der Millionen deutschen Wirtschaftsflüchtlinge im 18. und 19. Jahrhundert, die begeistert Reitz’ Film »Die andere Heimat« sahen. Schmoll kann darüber nur ungläubig den Kopf schütteln: »Unzählige Deutsche wanderten damals aus just denselben Gründen aus, aus denen jetzt Menschen nach Europa kommen oder ihr Leben im Mittelmeer lassen. Aber während das eine als kulturelle Leistung gefeiert wird, gilt das andere als illegitim und unmoralisch.«

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Gewaltsam aus der Heimat vertrieben zu werden, das ist für die meisten von uns nur noch eine Erinnerung an die Geschichte. Dabei sind Millionen Deutsche von der Sehnsucht nach ihrer »alten Heimat« erfüllt. Der Verlust prägte eine ganze Generation. In diesem Kapitel erzählen Vertriebene, Gebliebene und ihre Kinder von der Suche nach Zugehörigkeit.