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Dr. Mathis Christian Holzbach, geboren 1971, promovierte bei Prof. Dr. Detlev Dormeyer mit dem Thema „Galba-Otho“ von Plutarch und das lukanische Doppelwerk - ein Gattungsvergleich. Er hat Lehraufträge an den Universitäten Dortmund und Gießen, und veröffentlicht vor allem auf dem Gebiet der Bibelwissenschaft und zu historischen Altbeständen von Bibliotheken.

 

Mathis Christian Holzbach

Die großen Seher und Propheten

Meinem Vater und Mitbesitzer unserer
gut sortierten Privatbibliothek!

Zum Buch

Ist das Schicksal berechenbar vorherzusehen? Diese Frage hat die Menschheit seit jeher beschäftigt und das Denken maßgeblich beeinflusst. Von der Antike bis zur Gegenwart gab es in allen Kulturkreisen viele Zukunftsdeuter, welche die Bestimmung des Unbestimmten, der Zukunft, versprachen und den Menschen durch ihr oft charismatisches Auftreten in Krisenzeiten einen Halt gaben. Jede Epoche hat ihren Zeitgeist, ihr Weltbild – und ihre Zukunftskünder, die für die Geschichtsbetrachtung noch heute von Bedeutung sind und nach wie vor auf lebhaftes Interesse stoßen. Von Kassandra, deren Rufe ungehört verhallen, über Merlin, der eine Johanna als Retterin Frankreichs vorausgesagt haben soll, bis zu dem Naturforscher und Mystiker Emanuel Swedenborg, der eigenwillige Visionen vom Jenseits hatte, und dem sagenumwobenen Rasputin widmet sich das Buch der Beschreibung jener Propheten in Bezug zur jeweiligen historischen Epoche und geht dabei auch dem kulturellen Phänomen der Zukunftsbestimmung nach. Das Werk bietet 25 Porträts der bedeutendsten Seher und Propheten, die die Geschichte kennt.

Mathis Christian Holzbach

Die großen Seher
und Propheten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: Kai Große Dreimann, Bochum
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: Artothek, Weilheim
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0322-9

www.marixverlag.de

 

 

Ich möchte mich herzlich bedanken bei Prof. Dr. Linus
Hauser (Justus-Liebig-Universität Gießen) und Frau
Miriam Zöller (marixverlag). Ohne sie wäre dieses
Buchprojekt wohl nicht zustande gekommen.

Besonders bedanken möchte ich mich bei Herrn Björn Bosserhoff,
M.A. und bei Herrn Kai Große Dreimann.
Sie haben mir beim Korrekturlesen sehr geholfen.
Für hilfreiche Gespräche und Hinweise bin ich Herrn
Prof. Dr. Christoph Kugelmeier (Universität Saarbrücken)
ebenfalls überaus dankbar.

INHALT

PROPHET UND SEHER: EINE KURZE BEGRIFFS-BESTIMMUNG

1. GRIECHISCHE UND RÖMISCHE SEHER

Teiresias, der blinde Seher

Mopsos und die Argonauten

Der Machtkampf zwischen den Sehern Kalchas und Mopsos

Kassandra und ihr unerhörter Ruf

Sibylle und die Sibyllinischen Bücher

Pythia und das Orakel von Delphi

Marcius und der zweite punische Krieg

Seherkunst im Dienst des Staates

2. BIBLISCHE PROPHETEN

Bileam, Irrlehrer und Bote Gottes (Num 22–24,31)

Deborah, die prophetische Heerführerin (Ri 4–5)

Eli und Samuel und der moralische Anspruch des Königs Israels (1 Sam, 1–28)

Ahija, der Bewahrer des wahren Glaubens

Elija der Gotteskämpfer und Endzeitbote (1 Kön 17–19; 2 Kön 1; 2 Chr 21)

Jesaja und die Prophezeiung auf Jesus Christus (Buch Jesaja)

Jeremia, der unerhörte Prophet

Jona und die Weissagung, die nicht eintraf (Buch Jona)

Daniel und das Schicksal der Weltreiche (Buch Daniel)

Johannes der Täufer, der nichtchristliche Wegbereiter des Christentums

3. MITTELALTERLICHE PROPHETEN

Merlin und die Errettung Frankreichs

Der heilige Malachias und die Päpste

Die heilige Hildegard und der Antichrist

4. NEUZEITLICHE PROPHETEN

Nostradamus und die ewige Angst vor dem Untergang

Bartholomäus Holzhauser und der Traum von der Einheit der Kirche

Swedenborg – Scharlatan oder Visionär?

Rasputin und das Schicksal des Zaren

5. RESÜMEE – SIND ZUKUNFTSVISIONEN EIN ÜBERLEBTES PHÄNOMEN?

LITERATUR

ABKÜRZUNGEN

PROPHET UND SEHER: EINE KURZE
BEGRIFFSBESTIMMUNG

Ist das Schicksal berechenbar? Diese Frage hat die Menschheit seit jeher beschäftigt und das Denken maßgeblich beeinflusst. Von der Antike bis zur Gegenwart gab es in allen Kulturkreisen viele Zukunftsdeuter, welche die Bestimmung des Unbestimmten, der Zukunft, versprachen und den Menschen durch ihr oft charismatisches Auftreten in Krisenzeiten einen Halt gaben. Obwohl schon im antiken Sprachgebrauch zwischen dem Propheten (πϱοϕτης = Verkünder) und dem Seher (μντις) scheinbar nicht unterschieden wurde, sollte man doch eine vermutlich unbewusste feine Unterscheidung wahrnehmen: In der ursprünglich-heidnischen Bedeutung verstand man unter einem Propheten nämlich gar nicht einen Vorboten für ein zukünftiges Schicksal; obwohl man die Propheten auch oft in Verbindung mit Orakeln gebracht hat, waren sie Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen.1 Diejenigen, die die Zukunft verkündeten, waren die Seher, die als Medien galten und in Verbindung mit Orakelstätten standen (wie z.B. die Pythia in Delphi), oder aber „selbstständige“ Zukunftsseher (wie z.B. Teiresias). Hierbei wurden die Begriffe χϱησμολγος („Wahrsager“) und auch μντις („Verzückter“, Gottbegeisteter“) verwendet. Aufschlussreich ist eine bestimmte Stelle bei Platon, in der dem Propheten eine gehobenere Stellung eingeräumt wird:

Wenn du willst, wollen wir uns darauf einigen, dass die Wahrsagekunst die Wissenschaft vom Zukünftigen ist und dass die Besonnenheit sie leiten soll, um die Großsprecher abzuwehren, diejenigen aber, die wahrhaftig wahrsagen, uns als Verkünder (= Prophet) des Zukünftigen einzusetzen.

(Plat. Charm. 173c)

In den jüdischen biblischen Büchern nahm der Prophet als Verkünder des göttlichen Willens eine persönliche Beziehung zu seiner Weissagung ein. Er wird direkt von Gott berufen (vgl. Phil. Mos. 2772). Diese Bedeutung übernahmen die Christen (Mt 11,9; Lk 1,76), welche die biblischen Propheten als Künder der Messiaserwartung auffassten, die sich in Jesus Christus erfüllte.

Um die wahre Bedeutung der Königsherrschaft Gottes vor Augen zu führen, verfolgt der Autor des Lukasevangeliums das Anliegen, die Freudenbotschaft durch Jesus Christus nicht als Prophezeiung machtpolitischer Hoffnungen erscheinen zu lassen. Jesus ist nicht Heilsverkünder, ein von Gott berufener Prophet, sondern Heilsvermittler, sowohl „nach dem Zeugnis seiner eigenen Verkündigung als auch seiner Anhängerschaft in der nachösterlichen Erfahrung.“3

In der Katholischen Kirche kam es auf dem II. Vatikanischen Konzil zu einem neuen Prophetenverständnis. Nach dem Konzilsdokument Lumen Gentium vom 21. November 1964 und dem Apostolischen Mahnschreiben Papst Johannes Pauls II., Christifideles laici, werden erstmals die Laien in das Prophetenamt mit eingebunden, um den göttlichen Willen besonders bezüglich der aktuellen Fragen in der Nachfolge Jesu Christi mit zu erkunden. Denn „die christgläubigen Laien werden auf ihre Weise des dreifachen Amtes Jesu Christi, des priesterlichen, prophetischen und königlichen, teilhaftig“ (Lumen Gentium 35).4

Jede Epoche hat ihren Zeitgeist, ihr Weltbild – und ihre Zukunftskünder, die für die Geschichtsbetrachtung noch heute von Bedeutung sind und nach wie vor auf lebhaftes Interesse stoßen. Jedoch hat es sich gezeigt, dass das antike und biblische Weissagungsverständnis seinen Einfluss beibehalten konnte und das gesellschaftliche Leben weiterhin bestimmt – bis heute.

Von Kassandra, deren Rufe ungehört verhallen, über Merlin, der die Johanna als Retterin Frankreichs vorausgesagt haben soll, bis zu dem Naturforscher und Mystiker Emanuel Swedenborg, der eigenwillige Visionen vom Jenseits hatte, widmet sich dieses Buch der Beschreibung jener Propheten und Seher in Bezug zur jeweiligen historischen Epoche.

________________

1    Vgl. PÖTSCHER 1979, 1183f.; KERN 1963, II 112f.

2    „[D]a geriet er sofort in Verzückung, ein prophetischer Geist kam über ihn, der seine ganze künstlich geregelte Seherkunst ihm aus dem Bereiche der Seele vertrieb; denn magische Zauberei durfte mit hochheiliger Verzückung nicht zusammenwohnen. Darauf kehrte er zurück, und als er die Opfer und die brennenden Altäre sah, sprach er wie ein Dolmetsch“.

3    GOTTLIEB 1991, 30.

4    DENZINGER 2001, 1172ff.

1.
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE
SEHER

Das Unterfangen, den göttlichen Willen ermessen zu wollen, gehört seit jeher zum Bedürfnis, die bestehende Lebensqualität halten zu können (vgl. Cic. div. 1, 2ff.). Während das von dem Menschen ausgehende Schicksal berechenbar ist, ist die überirdische Vorherbestimmung, die den menschlichen Willen im Glauben an die Wahrsagekunst nachhaltig beeinflusst, vom Menschen selbst zu erwägen. Ausgänge von Kriegen, das Wohl des Staates sowie des Einzelnen im positiven wie negativen Sinne, stehen schon seit jeher im Interesse des Menschen. Denn das Leben ist veränderlich, da das Glück sich rasch zu wechseln pflegt, wie der Dichter Plautus in seinem Schauspiel Truculentus schrieb (Plaut. Truc. 219). Und auch Cicero stellte fest, dass Glück und Unglück nicht in einer bestimmten Menschenführung ihre Ursachen hätten (Cic. nat. 3,89). Jedoch bemerkte er auch zugleich spöttisch, dass wohl die Vögel nur des Vogeldeutens da wären (Cic. nat. 2,54) und sieht auch überhaupt keinen Nutzen darin, das Zukünftige zu wissen (Cic. nat. 3,6). Damit rückt Cicero ins Bewusstsein, dass die Techniken des Wahrsagens auf menschliche Erfindungen zurückgehen und nur in ihrer Annahme existieren, über das bevorstehende Schicksal Auskunft zu geben.

Die Zukunftsdeutung in dieser Epoche ist mit dem antiken Weltbild verknüpft zu sehen. Dämonen gehören zu den Unheilsverursachern. Sie treten in der Vorstellung der Griechen als Zeichen übermenschlicher Macht in Erscheinung, insbesondere in ihrer Philosophie, nicht als ein Gegensatz göttlicher Macht; vielmehr wird unter dem Wort δαμων („zuteilende Gewalt“; „Unheilsgeist“) die bei einer bestimmten Gelegenheit sich äußernde göttliche Kraft verstanden (vgl. lat. numen). Damit sind im hellenistischen Verständnis alle unnennbaren Mächte gemeint, die fördernd und hemmend in das menschliche Leben eingreifen. Sie erhalten somit erst durch das Geschehen Individualität. So nennt Homer Götter gelegentlich Dämonen (Hom. Il. 6,407) und weist damit auf die Götter in ihrem übermenschlichen Wirken hin. Im antiken Glauben waren daher Dämonen nicht an einen Kultgott gebunden, sodass auch Verstorbene Dämonen genannt werden konnten (Aischyl. Pers. 642). Erst dadurch erwuchs die Vorstellung, dass Dämonen (gute oder böse) Zwischenwesen, Wesen niederen Ranges seien. Die Schutzfunktion hingegen kam von bestimmten Göttern, deren Schutz man sich durch gewisse Kulte zu erwerben dachte. Während der Dämon also in der Vorstellung der Antike das persönliche Schicksal bedeutet, ist das allgemeine Schicksal im Willen der Götter als Herrscher über das Böse und Gute zu begreifen, den es zu ergründen gilt.

In der Göttin Themis kann man das Modell des mystischen Ratgebers für den Staatenlenker erkennen. Anders als die irdischen Seher und Zukunftsdeuter, die den göttlichen Willen zugunsten der Menschen zu erahnen bzw. auszulegen hatten, deutete Themis für die Götterwelt die Ausgänge eines drohenden Schicksals, in das sich vor allem Zeus allzu leichtfertig begab. Wie Pindar berichtet, warnte sie ihn und auch Poseidon, sich mit Thetis zu vermählen, um ein Ungleichgewicht der Mächte zu vermeiden, das letztendlich durch die daraus entspringende Nachkommenschaft entstehen würde (Pind. I. 8,33). Darin zeigt sich, wie es ERWIN ROHDE ähnlich feststellte, dass die Seher nicht nur die Zukunft einfach voraussagten, sondern auch mit Rat und Tat beiseite standen, um ins drohende Schicksal einzugreifen und sich sogar vom Schicksal mitbetroffen zeigten. So war der Seher Aristandros ein ständiger Begleiter von Alexander dem Großen, der besonders bei seinen Feldzügen dem bedeutenden Feldherrn Mut zusprach (Plut. Alex. 14.25.33.52). Oder man denke an den Seher Astyphilos von Poseidonia, der dem athenischen Feldherrn und Staatsmann Kimon einen schwer zu deutenden Traum auslegte (Plut. Ki. 18). Die „Gabe oder Kunst der Wahrsagung, der Reinigung des „Befleckten“, der Heilung von Krankheiten“, schienen „aus Einer Quelle zu fliessen“.5

TEIRESIAS, DER BLINDE SEHER

Teiresias Ruhm als Seher war in der gesamten antiken Welt ein Begriff. Dazu, wie er zu seiner Sehergabe gekommen ist, gibt es die aberwitzigsten Geschichten, die aber allesamt dem Bild des blinden Sehers verpflichtet sind. Aus diesem Grund wurden sie vermutlich oft erzählt und müssen ob ihrer Erbaulichkeit wohl sehr populär gewesen sein. Nach einer Erzählung, die zu der Sammlung der Melampodeia gehörte, hat Teiresias als Kind Schlangen6 bei der Paarung beobachtet und je einmal selbst das Geschlecht gewechselt. Mit dieser Kenntnis musste er einen Streit zwischen Zeus und Hera schlichten, indem er ihnen beantworten musste, ob eine Frau oder ein Mann beim Beischlaf mehr Genuss empfinden könne. Teiresias soll geantwortet haben, dass die Frau einen höheren Genuss habe. Daraufhin blendete Hera ihn. Seine Blindheit glich Zeus damit aus, dass er ihm die Sehergabe verlieh und ihm eine über sieben Generationen sich erstreckende Lebensdauer bewilligte (Hes. fr. 161ff.; Hyg. fab. 75; vgl. auch Ovid. met. 3,316ff.). Nach einem anderen Bericht, der auf Pherekydes von Athen zurückgehen soll, hat Teiresias sein Augenlicht verloren, weil er Athena während des Badens nackt gesehen habe. Auf Zuspruch Chariklos, einer Nymphe und Begleiterin der Athena, erhielt Teiresias die Gabe des Volgelflugdeutens (Pherek. 5,77ff.). Wieder eine andere Geschichte führt den Verlust des Augenlichts darauf zurück, dass Teiresias seine Sehergabe dazu benutzt habe, göttliche Geheimnisse zu verraten (Apollod. 3,69.84). Ganz gleich wie Teiresias zur Seherkunst gekommen ist, bleibt er in der antiken Literatur eine wegweisende Sehergestalt.

Besonders in der berühmten Ödipus-Sage steht Teiresias nach dem Theaterstück von Sophokles im Mittelpunkt. Auf der Suche nach dem Mörder des Königs Laios erhält Ödipus von Teiresias die Erkenntnis, dass er der Mörder seines Vaters sei und mit seiner Mutter Kinder habe. Zuerst sträubt sich der greise Seher, die Wahrheit zu sagen („Ihr alle wißt ja nicht; ich aber sage nun nichts weiter, daß ich nicht dein Leid enthüllen muss. […] Ich will mir selbst und dir nicht wehtun. Warum forschst du vergebens nach? Von mir erfährst du’s nicht.“ (Soph. Oid. T. 328–334; übers. v. W. Willige, K. Bayer). Dann gibt er die Wahrheit preis: „Den Mörder des Mannes nenn’ ich dich, nach dem du forschst. […] Nichts ahnend, sag’ ich, pflegst du mit den Teuersten in Schanden Umgang, tief im Argen unversehens. (Soph. Oid. T. 362f, 366f; übers. v. W. Willige, K. Bayer – vgl. auch: 447–462).

Teiresias ist es auch, der als warnender Ratgeber Kreon davon abbringen will, sein Todesurteil gegen Antigone und Ismene aufzuheben. Nachdem in einem Machtkampf um die Herrschaft zwischen den Brüdern Eteokles und Polyneikes beide ums Leben gekommen waren, kam Kreon, der Bruder Iokastes, der Frau des Ödipus, an die Macht. Das Bestattungsverbot gegen Polyneikes verkündet Kreon in einer Staatsrede und begründet seinen Beschluss damit, dass er in ihm einen Usurpator sieht, der seinem Bruder Eteokles die göttlich legitimierte Herrschaft streitig machen wollte. Während der Rede erfährt er, dass Antigone Polyneikes bestattet hat und wittert Verrat. Am Schluss tritt schließlich Teiresias auf, der ihn mit diesen Worten ermahnt:

TEIRESIAS:

… die Opfer zeichenlos, die Deutung bleibt verwehrt!

Denn mir ist dieser Führer, andren bin ich’s selbst. –

Und nur durch deinen Willen duldet dies die Stadt.

Denn Feuerstätten und Altäre sind uns jetzt

besudelt durch der Vögel und der Hunde Fraß

am Leib von Ödipus’ gefallnem Unglückssohn.

Die Götter nehmen Opfer und Gebete schon

nicht mehr von uns entgegen, nicht der Schenkel Brand.

[…]

Nur Eigensinn verfällt der Schuld des Unverstands.

Gib nach dem Warner: stich nach dem Erschlagenen nicht!

Den Toten nochmals töten – welcher Heldenmut!

(Soph. Ant. 1013–1030, übers. v. W. Willige, K. Bayer)

Doch die Einsicht des Kreon kam zu spät – zu dem Zeitpunkt, als alle Beschuldigten sich das Leben nahmen.

Teiresias’ Grab befindet sich laut Pausanias dort, wo er auch gestorben ist, und zwar an der Quelle Tilphousa, von der er noch getrunken haben soll, bevor er starb (Paus. 9,33,1). Er erhielt sogar göttliche Ehren (Diod. 4,67; Plut. mor. 434c), sodass er auch im Hades das Bewusstsein behalten und Odysseus preisgeben konnte, wie er den Poseidon versöhnen kann (Hom. Od. 19, 492ff.; 11,90ff.).

MOPSOS UND DIE ARGONAUTEN

Wer kennt sie nicht, die alte Sage der 86 Männer, die auf dem Schiff Argo unter der Führung des Jason die abenteuerliche Fahrt nach Kolchis aufnehmen, um das goldene Vlies des Widders Chrysomallos in Besitz zu nehmen. Laut einer alten Sage wurde dieses Göttergeschenk als ein großer Schatz angesehen. Man erzählte sich, dass Phrixos, der Sohn des böotischen Königs Athamas, vor seiner bösen Stiefmutter Ino flüchtete. Damit er flüchten kann, bittet Nephele Hermes, ihm den sprechenden Widder mit diesem goldenen Fell zu schicken. Phrixos und Helle, seine Schwester, flohen dann auf dem Weg nach Kolchis. Helle bekam dieser Ritt nicht und fiel ins Meer, wovon der Name Hellespont zeugt – die heutigen Dardanellen. Jedenfalls hat Pelias seinen Neffen Jason dazu gebracht, das Vlies zu stehlen. Phrixos opferte Zeus, der seine Flucht ermöglichte, den Widder und gab dem König Aietes, der ihn in Kolchis gastfreundlich empfangen hatte, das goldene Vlies zum Geschenk. Da ein Orakelspruch besagte, dass das Leben des Aietes vom Besitz dieses Vlieses abhängig war, ließ er es von einem mächtigen Drachen bewachen. Dadurch wurde die Spannung dieser Erzählung erhöht. Nach einer abenteuerlichen Fahrt und verschiedenen Abenteuern besiegt Jason mit seinen Gefährten diesen Drachen und erobert schließlich das Vlies.7

Unter diesen Gefährten befand sich Mopsos, ein Angehöriger des mythischen Volkes der Lapithen. Er tritt nicht nur als Kämpfer gegen Kentauren in Erscheinung (Ovid. met. 12,456; Paus. 5,17,10), sondern auch als Seher der Argonauten. Als sie nach der Erzählung des Apollonios von Rhodos am Kallichoron vorbeifuhren, passierten sie das Grab des Sthenelos, dem Begleiter des Herakles, der nach einem tollkühnen Kampf gegen die Amazonen von einem Pfeil getroffen worden und an der Küste gestorben war. Um die Argonauten zu verunsichern, veranlasste die Göttin der Unterwelt, Persephone, dass Sthenelos den Argonauten erscheinen sollte. Um dieser Verunsicherung aus dem Weg zu gehen, riet Mopsos ihnen kraft seiner Weissagekunst dazu, dort zu landen und Sthenelos zu opfern (Apoll. Rhod. 2,911–929).

Und sie zogen rasch das Segel hoch, warfen die Ankertaue ans Gestade, kümmerten sich um das Grab, gossen Weihegüsse für ihn aus und brachten heilige Schafopfer dar. (Apoll. Rhod. 2,925)

Mopsos soll einem Schlangenbiss zum Opfer gefallen sein, als die Argonauten den Rückweg angetreten haben. Und er „entging durch seine Seherkunst nicht der bitteren Bestimmung – es gibt ja keine Abwehr gegen den Tod“ (Apoll Rhod. 4, 1502–1509; ähnlich bei Lykophr. 877ff.).

DER MACHTKAMPF ZWISCHEN DEN
SEHERN KALCHAS UND MOPSOS

Eine alte Legende erzählt von der Begegnung zweier Seher: Kalchas und Mopsos, der Kalchas unterlag. Dabei hatte Kalchas mit seiner Seherkunst den Verlauf des Trojanischen Krieges wie kein anderer beeinflusst. Er sagte bei einer Opferung für Apollo die Dauer des Krieges auf zehn Jahre voraus (Apoll. epit. 3,15; Hom. Il. 2,322; Ov. Met. 12,19; Hyg. fab. 97; Paus. 1,43,1). Er befürwortete, mit Achilleus in den Trojanischen Krieg zu ziehen und forderte die Opferung der Iphigenie (Hyg. fab. 98). Auch verlangte er die Rückgabe der Chryseis, die von Achilles erbeutet wurde, und die schließlich durch bestimmte Umstände Agamemnon bekam. Er riet sogar zum Bau des Trojanischen Pferdes (Verg. Aen. 2,185). Mopsos dagegen, der von dem oben erwähnten Lapithen Argonauten Mopsos zu unterscheiden ist, gründete zum Beispiel mit seiner Mutter Manto den Apollontempel in der Stadt Klarus (Hes. frg. 155; Paus. 7,3,2), in Kleinasien, dessen Ruine sich heute in der Nähe von Selçuk, in der Türkei befindet.

Die Geschichten über die Begegnung zwischen Kalchas und Mopsos sind in der Sammlung enthalten, die sich Melampodeia nennt. Diese geht auf den Seher Melampus zurück. Von ihr sind aber nur wenige Fragmente erhalten. Melampus galt als ältester Seher (Apollod. 2,26). Die aussagekräftigsten Erwähnungen über den Seherwettstreit finden sich hingegen bruchstückhaft bei Strabon, Homer und Pausanias.

Danach gab es ein altes Orakel über Kalchas, das besagte, dass die Sehergabe, die er von Apollo zugedacht bekam (Hom. Il. 1,72), ihm genommen werde, sobald er auf einen besseren Seher trifft (Strab. Geogr. XIV., 643: Strabon zitiert aus einem verlorenen Werk des Sophokles). Und in Mopsos erkannte Kalchas diesen besseren Seher. Kalchas stellt in einer Version des Hesiod Mopsos die Frage, wie viel Feigen dieser kleine wilde Feigenbaum trägt, woraufhin Mopsos antwortete, dass er zehntausend trage und dies dem Maß eines Scheffels entspreche, wobei hierbei eine Feige übrig bleiben würde. Kalchas stellte nicht nur fest, dass er damit recht habe, sondern er gelangte auch zu der Erkenntnis, dass Mopsos ihm überlegen war (Strab. Geogr. XIV., 643: Strabon zitiert aus einem verlorenen Werk des Hesiod). Daraufhin soll er gestorben sein. Eine weitere Version, wobei sich Strabon auf ein ebenfalls heute verschollenes Werk des Pherekydes beruft, schildert, dass Kalchas gefragt habe, indem er ihm eine trächtige Sau zeigte, wie viele Ferkel diese Sau werfen werde. Mopsos soll geantwortet haben, dass sie drei Ferkel bekommen werde und eines davon ein Weibchen würde. Mopsos behielt Recht, Kalchas nicht und starb deswegen aus Gram (Strab. Geogr. XIV., 643). Ein glückliches Schicksal ist jedoch auch dem Mopsos nicht beschieden. Es sollte seinen Tod in einem Streit mit seinem Gefährten Amphilochos finden, der ebenfalls ein Seher war. Nach dem Wettstreit mit Kalchas zog Mopsos mit Amphilochos weiter und gründete mit ihm Mallos. Dann trennten sich ihre Wege. Als Amphilochos wieder nach Mallos zurückkehrte, wollte Mopsos ihm keine Machtbefugnisse übertragen und sie gerieten in Streit miteinander. Amphilochos forderte Mopsos zum Zweikampf. Dabei töteten sie sich gegenseitig (Strab. Geogr. XIV., 675). Über diesen Zweikampf berichtet Strabon allerdings wie so oft in mehreren Versionen. So ist Amphilochos nach Hesiod von Apollon selbst getötet worden (Strab. Geogr. XIV., 675).

Sicher ist, dass diese Geschichten, im Gegensatz zu dem eher selbstgefälligen Mopsos, eine gewisse Sympathie für Kalchas widerspiegeln dürften – einem Mann, der während des kräftezehrenden Trojanischen Krieges seine Seherkraft zum Schutze Griechenlands einsetzte. Deswegen ist Kalchas, der entweder aus Mykene oder aus Megara stammte (Hyg. fab. 97, Paus. 1,43,1), noch lange Zeit auch in anderen Kulturen verehrt worden. Im Gregorianisch-Etruskischen Museum innerhalb der Vatikanischen Museen kann man beispielsweise einen Bronzespiegel bestaunen. Das gegen Ende des 5. Jh. v. Chr. geschaffene Werk ist ein Meisterstück etruskischer Handwerkskunst. Auf ihm erkennt man einen Haruspex, der aus den Eingeweiden eines Tieres liest. Anhand einer etruskischen Inschrift weiß man, dass Kalchas gemeint ist. Dass der Haruspex in diesem Kunstwerk mit Flügeln ausgestattet ist, ist nicht ungewöhnlich, denn Seher wurden in der etruskischen und griechischen Kunst für gewöhnlich mit Flügeln versehen.8 Mopsos hingegen war besonders in den Städten, die er selbst gründete, und zwar in Lykien, Pamphilien und Kilikien populär. Dies bezeugen noch heute verschiedene Münzprägungen, auf denen Mopsos abgebildet ist. So konnte L. ROBERT auf verschiedenen Silberdrachmen von Aspendos aus dem 5. Jhd. v. Chr. den Seher Mopsos erkennen.9

KASSANDRA UND IHR UNERHÖRTER RUF

In antiker Zeit konnte man in Pompeji ein besonderes Fresko betrachten, in dem Kassandra mit rechter erhobener Hand den Fall Trojas voraussagt. Dies spricht für die Popularität dieses Ereignisses, das zudem zu einem geflügelten Wort wurde, und zwar zu einem Sinnbild einer nicht ernst genommenen Warnung: dem Kassandraruf.