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Prof. Dr. Lutz von Werder, geb. 1939 in Berlin, Studium der Philosophie in Göttingen und Berlin; 1972 Promotion in Pädagogik; 1974-1980 Aufbau der „Stadtteilnahen Volkshochschule Schöneberg“; 1975 Habilitation in Soziologie; ab 1977 Professur für Kreativitätsforschung an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin; ab 1982 Aufbau und Leitung des „Institut für kreatives Schreiben e.V. Berlin“; 1990-2000 Entwicklung einer praktischen Philosophie und Lebenskunst; ab 1997 Moderation von Philosophischen Cafés im Literaturhaus Berlin; ab 1999 Moderation von Philosophischen Cafés in der Urania Berlin; seit 2000 Leitung des philosophischen Radios beim WDR5.

Zum Buch

Tausendfach und
erfolgreich erprobt!

Das Lehrbuch stellt die in Deutschland relativ neue Methode des kreativen Schreibens vor. Es besteht zu einem Drittel aus praktischen Übungen, zu einem Drittel aus empirischem Anschauungsmaterial und zu einem Drittel aus einer theoretischen Grundlegung. Es leitet zur Durchführung und Auswertung kreativer Schreibgruppen an und entwirft Strategien zur Durchsetzung am Markt und in den Institutionen.

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Lutz von Werder
Lehrbuch des kreativen Schreibens

Meinem Sohn Max gewidmet

Lutz von Werder

Lehrbuch des
kreativen Schreibens

mit 22 Schreibbildern von Frank Steinicke

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INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung: Die Schreibbewegung in Deutschland und den USA

1. Ausbildung zum Schriftsteller oder was?

2. Die Schreibbewegung in Deutschland seit den 80er Jahren

3. Die Schreibbewegung in den USA seit den 80er Jahren

4. Aufbau und Ziel des vorliegenden Lehrbuches

5. Dank für Hilfe

1. TEIL: DAS POETISCHE FELD

A. Das kreative Schreiben

1. Begriff und Geschichte

2. Wissenschaftliche Zugänge zum kreativen Schreiben

2.1. Kreatives Schreiben als literarischer Stil

2.2. Kreatives Schreiben als Spiel

2.3. Kreatives Schreiben als Selbsterkenntnis und Selbsttherapie

2.4. Kreatives Schreiben als integrativer Ansatz

3. Schreibwerkstatt: Phasen, Potenzen, Struktur

4. Kreatives Schreiben in der Gruppe: Aspekte der Förderung und Hemmung von Kreativität in Schreibgruppen

5. Psychologische Aspekte des kreativen Schreibens

5.1. Das kognitive Modell des Schreibprozesses

5.2. Das emotionelle Modell des Schreibprozesses

5.3. Das kognitiv-emotionelle Modell des Schreibprozesses

6. Schreibblockaden, kognitiv und emotionell

6.1. Die kognitiven Blockaden

6.2. Die emotionellen Blockaden

6.3. Kulturelle Blockierungen

7. Kleine Poetik des kreativen Schreibens

8. Säkularisierte Initiation im Kreativen Schreiben

8.1. Sehnsucht nach dem Ursprung

8.2. Traumzeit und Traumfahrt

9. Das Archaische im kreativen Schreiben

9.1. Archaisches Dichten zur Zeit der Herrschaft der bikameralen Psyche oder zur Bedeutung der Musen

9.2. Probleme des Dichtens in der Phase des Unterganges der bikameralen Psyche oder der Kampf der Poesieheroen

9.3. Dichterprobleme in der Zeit der Dominanz der linken Hirnhemisphäre oder die Wiederkehr des Orpheus

10. Amerikanische Schreibbewegung

B. Techniken und Methoden des kreativen Schreibens

1. Methoden der Themenfindung

2. Schreibstimuli

3. Schreibtechniken

3.1. Therapeutische Schreibtechniken

3.2. Dichterische Schreibtechniken

3.3. Schreibtechniken der Deutschdidaktiker

3.4. Schreibtechniken der Journalisten

3.5. Schreibtechniken der Wissenschaftler

3.6. Schreibtechniken der Manager

3.7. Philosophische Schreibtechniken

4. Überarbeitungstechniken

4.1. Spielerische Techniken der Textarbeit

4.2. Systematische Techniken der Textarbeit

5. Techniken der Textdeutung

5.1. Spielerische Textdeutung

5.2. Systematische Textdeutung

6. Techniken der Textumsetzung

6.1. Text und Text

6.2. Text und Bild

6.3. Text und Sprache

6.4. Text und Spiel

6.5. Texte und technische Medien

6.6. Text und Musik

6.7. Text und Meditation

C. Szenarien des kreativen Schreibens

1. Die Spiele des kreativen Schreibens

1.1. Literarische Schreibspiele

1.2. Therapeutische Schreibspiele

2. Projekte als Szenarien des kreativen Schreibens

2.1. Projekt: Moderne Lyrik

2.3. Projekt: Märchen schreiben

2.4. Projekt: Romantisches Schreiben in der „Romantischen Galerie“ Berlin

2.5. Projekt: Reisen und Schreiben im mythischen Cornwall (England)

2.6. Projekt: Meditatives Schreiben

2.7. Projekt: Science Fiction

2.8. Projekt: Utopisches Schreiben

2.9. Projekt: Wissenschaftliches Schreiben

2.10. / 2.11. Projekte: Soziologisches Schreiben

2.10. Projekt: Der Homo clausus

2.11. Projekt: Der eigene Sozialcharakter

2.12. Projekt: Revue der klassischen Schreibspiele

2.13 Projekt: Philosophisches ABC

2.14. Projekt: Galerie der schönsten Schreibbilder

2.15. Projekt: Die durchgespielte Autobiographie

2.16. Projekt: Schreiben gegen Schreibstörungen

2.17. Projekt: Schreibaktionen

2.18. Projekt: Zielgruppenprojekte: Jugendliche und Senioren

2.19. Projekt: Die gereimte Familie

2.20. Projekt: Kollektives Schreiben

D. Beispieltexte des kreativen Schreibens

1. Autobiographische Texte

2. Texte mit Buchstabenspielen

3. Texte mit Stilvorgaben

4. Texte nach Stimuli

5. Kollektiv geschriebene Texte: Reihumtexte

6. Heilende Texte

2. TEIL: DIE PRAXIS DER POESIEPÄDAGOGIK

A. Empirische Grundzüge der Poesiepädagogik

1. Poesiepädagogik als unstete kulturelle Bildungsarbeit

2. Empirische Untersuchungen zu den „fruchtbaren Augenblicken“ im kreativen Schreiben

B. Theorie der Poesiepädagogik

1. Besonderheiten des Lernens im kreativen Schreibprozess

2. Krisen im Schreibprozess

2.1 Regression

2.2. Schreibblockaden

2.3. Katharsis

3. Chancen im Schreibprozess

3.1. Verschriftlichung/Fortschreiben

3.2. Rationales Schreibkalkül fördern

3.3. Mit Sprache und Schrift spielen

3.4. Beim Finden des eigenen Stils helfen

3.5. Förderung der Gestaltung schöner Sätze

3.6. Therapie und kreatives Schreiben verbinden

3.7. Beim Veröffentlichen unterstützen

4. Die autonome Funktion im Schreibprozess

C. Empirische und theoretische Aspekte der Poesiegruppenpädagogik

1. Unstete Aspekte der Schreibgruppenentwicklung

2. Krisen in Schreibgruppen

2.1. Krisenphasen

2.2. Autoritätskonflikte

2.3. Störungen in Schreibgruppen

2.4. Textdynamik

3. Chancen in Schreibgruppen

3.1. Zielgruppen und Trägerinstitutionen finden

3.2. Veranstaltungsplanung entwickeln

3.3. Szenarien einsetzen

3.4. Regeln für Schreibgruppen etablieren

3.5. Arbeitspapiere vorlegen

D. Anleiter und Teilnehmer des pädagogischen Feldes

1. Die Interventionen der Anleiter

2. Das Lernen der Teilnehmer

2.1. Emotionelles, soziales und kognitives Lernen

2.2. Lerngeschichten von Teilnehmern

3. Das Halten der Balance auf dem Weg zum poetischen Wir

3.1. Die Balance

3.2. Entspannen oder Ausbrennen

Schluss: Wie kann mit dem Lehrbuch gearbeitet werden?

1. Interessenten ohne jede Vorbildung

2. Teilnehmer an Schreibgruppen

3. Anleiter von Schreibgruppen

4. Fernstudenten

Literaturverzeichnis

Index

EINLEITUNG

Die Schreibbewegung in Deutschland und den USA

1. Ausbildung zum Schriftsteller oder was?

In der Bundesrepublik entwickelte sich seit Anfang der 70er Jahre eine kreative Schreibbewegung. Sie ging von der provokanten These aus: „Schreiben über seine alltäglichen Erlebnisse, Wünsche und Krisen kann jeder.“ Man formulierte: „Schreiben – in unserer Gesellschaft ein arbeitsteilig organisiertes Spezialvermögen – wollen wir als eine allgemeine Fähigkeit propagieren.“ (Boehncke, H.; Humburg, J.: Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität, Beruf und Freizeit. Reinbek 1980, S. 9) Dieses freie Schreiben sollte sich „in dem Maße entfalten, in dem es eingebunden ist in selbstbestimmte Erfahrungs-, Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge und dies einhergeht mit der Aneignung der Schreibtechniken bzw. Kommunikationsmittel.“ (Boehncke, H., Humburg, J., a.a.O., S. 89 f.).

Diese Expansion des Schreibens stieß bald auf die Kritik von Schriftstellern. Sie fragten: Zielt die Schreibbewegung auf langweilige Verständigungsliteratur, will sie Hobbyschriftsteller oder Berufsschriftsteller ausbilden? Es wird nicht überraschen, dass sich die Schriftsteller von der Schreibbewegung abwandten und verbreiteten, dass sie für Hobbyautoren und schreibende Selbsttherapeuten keinen Bedarf hätten. Der Autor Hugo Dittberner formulierte: „Da entsteht Verständigungsliteratur, die viele schreiben, aber keiner mehr lesen will.“ (Dittberner, H.: Arche Nova. Aufzeichnungen als Literarische Leitform. Göttingen 1998, S. 8)

Die Schreibbewegung hat sich um die Ablehnung durch die Schriftsteller nicht gekümmert, sondern – im Zugriff auf die 100-jährige Tradition des „kreativen Schreibens“ (Creative Writing) in den USA und Lateinamerikas – Theorie, Methodik, Didaktik und Evaluation des Kreativen Schreibens für alle in Deutschland ausgebaut. Der Schreibbewegung war dabei klar, dass Kreatives Schreiben als Unterhaltung, Selbstverständigung, Selbsttherapie ebenso nützlich ist, wie zur Aneignung von Schreib-Handwerkszeug. Sie ging davon aus, dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur eine kleine Genie-Elite schreiben dürfe, sondern sie erkannte: Geschrieben wird, leider auf niedrigem Niveau, in der Schule, in der Universität, im Beruf und in der Freizeit, in der Erwachsenenbildung, in der Therapie, in der Altenarbeit, im Knast, in der Reha, auf Bildungsreisen usw., usw. Die Konsequenz war: Kreatives Schreiben als professionelles Schreiben wurde als Medium des Lernens, des Kommunizierens, der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung ebenso praktiziert, wie als Vorschule für Schriftsteller und Journalisten, aber auch für Schüler und Studenten aller Disziplinen bei der Aneignung der Wissenschaft.

Das Berufsziel des Kreativen Schreibens wurde als Autobiograph, Hobby-Autor, als Kultursozialarbeiter, Schreibcoach, Schreibpädagoge, Schreibtherapeut oder Schreiblehrer an Universitäten und Hochschulen in allen Fächern umrissen. Das Berufsziel „Schriftsteller“ bzw. hochgelobter „Bestsellerautor“ war nur eine Marginalie für die Schreibbewegung.

Allerdings ist heute im 21. Jahrhundert das „kreative Schreiben“ auch in den Schriftstellerausbildungsgängen in den Universitäten von Leipzig, Hildesheim und Berlin angekommen. In diesen Ausbildungsgängen wird behauptet: Die Literatur über kreatives Schreiben stellt in ihren Büchern nicht die Frage, was kreatives Schreiben ist. Die Literatur des kreativen Schreibens käme weitgehend ohne begriffliches oder historisches Denken aus. Man erklärt nun mit großer Emphase: „Es ist also an der Zeit, das kreative Schreiben ernst zu nehmen.“ (H.-J. Ortheil: Aristoteles und andere Ahnherren. Über Herkunft und Ursprung des Kreativen Schreibens. In: Haslinger, J.: Treichel, H.-U. (Hrsg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren. Frankfurt 2006, S. 17) Das ist ein totaler Irrtum. Das Kreative Schreiben ist längst, außerhalb der universitären Seminare in Leipzig, Berlin und Hildesheim, seit über 30 Jahren in Deutschland weit verbreitet und wissenschaftlich fundiert. Viele Schreibgruppen des Kreativen Schreibens helfen auch vielen anleitenden Schriftstellern beim Überleben, ohne die bezahlte Anleitung von kreativen Schreibgruppen gehören heute Schriftsteller zur Hartz-IV-Kultur. Sehen wir uns also die Entwicklung des kreativen Schreibens in Deutschland an.

2. Die Schreibbewegung in Deutschland seit den 80er Jahren

Die selbst organisierten Schreibwerkstätten mit literarischem Anspruch umfassten in der BRD 1988 etwa 200 Gruppen (M. Basse, E. Pfeiffer. Literaturwerkstätten und Literaturbüros in der Bundesrepublik. Lebach 1988). Ebenso viele Schreibgruppen gab es bis 1989 in der DDR, die sich am „Bitterfelder Weg“ des Schreibens für alle orientierten. Dieser Weg forderte: „Kumpel greif zur Feder!“ (Vgl. U. Steinhaussen, D. Faulseit, J. Bonk: Handbuch für schreibende Arbeiter. Berlin 1969) Die Zahl der literarischen Schreibgruppen hat sich in Gesamtdeutschland bis heute sicherlich verdoppelt.

Neben die literarischen Schreibwerkstätten treten die Kurse zum Kreativen Schreiben an den Volkshochschulen. Hier ist die rasante Entwicklung des Kreativen Schreibens ungebrochen. Eine Umfrage zeigte, dass es „heute im Durchschnitt an jeder Volkshochschule zwei Schreibwerkstätten gibt. Wenn jede Werkstatt 20 Teilnehmer hat und 1000 Volkshochschulen existieren, die im Jahr zwei Kurse anbieten, dann lernen heute jährlich 40.000 Deutsche kreatives Schreiben an deutschen Volkshochschulen.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke: Die deutsche Schreibkrise. Empirische Umfragen von 1994-2002. Hohengehren 2003, S. 76)

An den deutschen Gymnasien firmiert kreatives Schreiben als „produktiver Umgang mit Literatur“. In 5 von 16 Bundesländern ist heute kreatives Schreiben fester Bestandteil der Rahmenpläne Deutsch. Die meisten Bücher zum Kreativen Schreiben richten sich deshalb in Deutschland auch an Lehrer oder Schüler.

Ansätze zum Kreativen Schreiben in den Wissenschaften gibt es in verschiedenen Fächern der Universitäten und Fachhochschulen. Gab es 1986 an deutschen Hochschulen 37 einsemestrige Schreibseminare, so haben sich die Angebote heute auf über 100 entwickelt. (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 20) Obwohl festgestellt wurde, dass „bei einem Drittel der Studenten die Schreibfähigkeit unterstützt werden muss, kann von einem endgültigen Durchbruch des Kreativen Schreibens in allen universitären Fächern noch keine Rede sein.“ (Vgl. L. v. Werder: Kreatives Schreiben in den Wissenschaften. Berlin 2002)

Das kreative Schreiben im Beruf „wird bisher in Deutschland von Akademikern in seinem Stellenwert für den Erfolg im Beruf noch häufig verkannt.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 86) Dabei haben nach einer Umfrage „98% der Fach- und Führungskräfte der deutschen Wirtschaft Probleme mit dem beruflichen Schreiben.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O.) Sowohl an Universitäten wie im Betrieb wird das Kreative Schreiben im Gegensatz zu außeruniversitären Institutionen erst ansatzweise gefördert.

Allerdings ist sicher, dass kreatives Schreiben ein wichtiges Hobby für die Freizeit der Einzelnen ist. Da die Gesellschaft immer älter wird, wird kreatives Schreiben seine Bedeutung in Deutschland bald für ein Millionenpublikum ausbauen können. Ja, es ist sicher, dass viele Menschen in Lebenskrisen, als Autobiographen und Tagebuchschreiber, als Gelegenheitsdichter und eigene Lebensphilosophen und Selbsttherapeuten das Kreative Schreiben heute schon hunderttausendfach nutzen.

In der internationalen Szene des Kreativen Schreibens liegt Deutschland mit diesem Verbreitungsprofil bisher gegenüber den USA und England deutlich im Hintertreffen. Während es in den USA über 350 Schreibstudiengänge für die literarische, wissenschaftliche oder berufliche Schreibqualifikation gibt, lassen sich in Europa nach Barbara Glindemann nur 56 Schreibstudiengänge in England finden. (B. Glindemann: Creative Writing in England, den USA und Deutschland. Frankfurt 2001). Theoretisch tritt die Erforschung des Kreativen Schreibens in Deutschland besonders an den Universitäten Leipzig und Hildesheim auf der Stelle.

Immerhin gibt es seit 2000 die Zeitschrift „TextArt. Magazin für Kreatives Schreiben“, die Oliver Buslau viermal im Jahr erscheinen lässt. Diese Zeitschrift bietet einen sehr praxisbezogen Einblick in das Schreiben verschiedener Textsorten vom Tagebuch über das Drehbuch bis zum Krimi. Sie stellt Schriftsteller vor, die Berichte von der Arbeit am Schreibtisch liefern. Schreibwerkstätten von Schreibpädagogen werden porträtiert. Die wichtigsten Neuerscheinungen zum kreativen Schreiben werden rezensiert. Verlage werden unter die Lupe genommen, besonders Druckkostenzuschuss-Verlage. Aber auch der Einsatz des Computers beim Schreiben wird gewürdigt. In jedem Heft werben 30-50 Schreibseminare bundesweit um Kunden.

3. Die Schreibbewegung in den USA seit den 80er Jahren

Das Kreative Schreiben in den USA expandiert seit 100 Jahren. In den USA erscheinen 16 Zeitschriften zum Kreativen Schreiben und vier Zeitschriften zum Kreativen Schreiben in allen wissenschaftlichen Fächern (Vgl. H. A. Rau (Hrsg.): Kreatives Schreiben an Hochschulen. Tübingen 1988, S. 15) Seit 1988 erscheint in den USA – in Deutschland undenkbar – jährlich eine Bibliographie zum Kreativen Schreiben. Sie wird von der „Conference on College Composition and Rhetoric” in Carbondale durch die „Southern Illinois Universal Press“ herausgegeben und verzeichnet jährlich rund 2000 der wichtigsten Publikationen zum Kreativen Schreiben.

Diese Bibliographie gliedert sich in folgende Abschnitte:

1. Bibliographien zum Kreativen Schreiben

2. Theorie und Forschung zum Kreativen Schreiben

3. Ausbildung zum Schreiblehrer

4. Studiengänge des Kreativen Schreibens

5. Qualitätskontrolle des Kreativen Schreibens

Die USA entwickelt eine umfassende kreative Schreibforschung, in Deutschlands Universitäten wird höchstens mal nach der Beziehung von Literaturwissenschaft und Kreativem Schreiben gefragt (S. Porombka: Abgewandt. Angewandt. Zugewandt. Über die Beziehung von Literaturwissenschaft und Kreativem Schreiben. In: Zeitschrift für Germanistik. H3/2006, S. 597–609).

Auch nach 10 Jahren Schreiblehre am „Deutschen Literaturinstitut“ an der Universität Leipzig ist man erst soweit, zu fragen, ob es denn für Berufsschriftsteller eine Poetik des Kreativen Schreibens geben müsste (J. Haslinger, H.-U. Treichel (Hrsg.): Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? Frankfurt 2005, Dies. (Hrsg.): Schreiben lernen – schreiben lehren. Frankfurt 2006). Als besondere Entdeckung gilt in Deutschland auch im Studiengang „Kreatives Schreiben“ an der Universität Leipzig die Verbindung von Lesen und Schreiben. Josef Orthei will außerdem mit dem Zugriff auf die Poetik von Aristoteles, Horaz und Poe Fundamente des Kreativen Schreibens legen. Kreatives Schreiben ist für die deutsche Schreibforschung eben nur „angewandte Literaturwissenschaft.“ (S. Porombka, a.a.O., S. 605)

In den USA ist dagegen kreative Schreibforschung seit 100 Jahren an der Tagesordnung. (Vgl. D. R. Russell: Writing in the Academic Disciplines 1870-1990. A Curricular History. Carbondale: 1991; Jollife, D. A. (Hrsg.): Writing in Academic Disciplines. Norwood 1988; Adams, K. H.: A History of Professional Writing Instructions in American Colleges. Dallas 1993)

Das Kreative Schreiben in den USA hat längst das Ghetto des literarischen Schreibens durchbrochen. In den USA existiert auch seit 1986 das „National Network of Writing across the Curriculum“, das an über 400 Hochschulen verankert ist. Kreatives Schreiben überschreitet den Bereich der Literaturproduktion und wird in Mathematik, Physik, Chemie, Recht und allen Geistesund Sozialwissenschaften, um durch kreatives Schreiben zu lernen, transdisziplinär entwickelt. Die Werkstätten des „Writing across the Curriculum“-Programms (abgekürzt WAC) versuchen, kreatives Schreiben und kritisches Denken zu verbinden.

Die Bibliographie “Writing across the Curriculum. An annotated Bibliography” von C. M. Anson, J. E. Schwiebert und M. M. Williamson (Westport 1993) macht deutlich, dass Theorie und empirische Erforschung im Kreativen Schreiben in allen Disziplinen wichtige Schwerpunkte sind. Das Buch zeigt aber auch, dass das Kreative Schreiben in Mathematik, Technik, Sozialwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Finanzwissenschaft und Recht eine besondere Aufmerksamkeit genießt.

Es gibt auch kreative Schreibseminare an US-Universitäten, in denen das Schreiben interdisziplinärer Texte gelehrt wird. An allen amerikanischen Universitäten und Colleges gibt es Schreiberatungszentren.

Das Handbuch “Writing Centres. An annotated Bibliography” (Hrsg.: C. Murphy, J. Law, S. Sherwood. Westport 1996) zeigt, dass die Geschichte der Schreibzentren, ihre Programme, die Theorie der Schreibzentren, die Verwaltung und Finanzierung, die Ausbildung von Lehrpersonal für Schreibzentren im Mittelpunkt einer lebendigen Forschung stehen.

Diese Praxis hat auch auf die Großbetriebe übergegriffen. Große Anwaltskanzleien und Forschungsinstitute haben Schreibberatungszentren. Wichtig ist in den USA auch die Erforschung des Schreibens in Gruppen, die kollektive Textproduktion betreiben, geworden. (Dynes, R.: Creative Writing in Group Work. Oxson 1988, Gere, A. R.: Writing Groups: History, Theory and Implication. Carbondale 1987) Die Verbindung von kreativem Lesen und Schreiben ist in den USA Standard (Fulwiler, T., Young, A.: Language Connection: Writing and Reading across the Curriculum. Urbama 1982). Alle Studenten in allen Fächern der USA werden angehalten, ein kreatives wissenschaftliches Tagebuch zu führen (Fulwiler, T.: The Journal Book. Portsmouth 1987). Jede Elite-Universität gibt ein eigenes Handbuch des Kreativen und wissenschaftlichen Schreibens für ihre Studenten heraus. (Hier eine winzige Auswahl: Hefermann, J. A. W., Lincoln, J. E.: Writing. A College Handbook. New York 1986; Hacker, D.: The Bedford Handbook for Writers. Boston 1994; Axelrod, R. B., Cooper, C. R.; The St. Martins Guide to Writing. New York 1988; Fulwiler, T.: Hayakawa, A. R.: The Blair Handbook of Writing. Prentice Hall 1994 usw.)

Als wichtige Grundlage des Kreativen Schreibens wird in den USA die Tiefenpsychologie, die Rhetorik, die Literaturwissenschaft, aber auch die Erwachsenenbildung und die Schreibpädagogik betrachtet. (Vgl. z.B. Lindemann, E.: A Rhetoric for Writing Teachers. New York 1982; Winterowd, W.R.: Composition / Rhetoric. A Synthesis. Carbondale 1986) Die Erforschung von Schreibstörungen ist in den USA ein wichtiger psychologischer Beitrag (Mundis, I.: Break writing black now. New York 1991; Rose, M. (Hrsg.): When a Writer Can’t Write. New York 1985; Kelloy, R.T.: The Psychology of Writing. New York 1999 etc.). Die Methodik und Didaktik des Kreativen Schreibens wird besonders entwickelt (Bishop, W. u.a.: Teaching Creative Writing. A Selective annotated Bibliography. Bloomington 1989).

Natürlich gibt es in den USA auch eine entwickelte Schreibtherapie, die 1980 mit A. Lerners Buch: „Poetry in the Therapeutic Experience“ (New York 1980) begann und von J. J. Leedy: „Poetry as Healer“ (New York 1985) weitergeführt wurde. P. Kelley hat in ihrer Untersuchung “The Uses of Writing in Psychotherapy“ (New York 1990) nachgewiesen, dass auch der therapeutische Aspekt des Kreativen Schreibens eindeutig nachweisbar ist. (Vgl. auch L.v. Werder: Kreative Einführung in Grundkonzepte der Psychotherapie. Berlin 1998, S. 14-17)

Die Wissenschaft des Kreativen Schreibens in den USA basiert auf einer riesigen universitären und außeruniversitären Schreibszene. So gibt es rund 200 Schreiborganisationen von professionellen und Hobby-Schreibern, die zwischen 5.000 bis 15.000 Mitglieder umfassen (Malone, E.: The complete Guide to Writers Groups, Conferences and Workshops. New York 1996, S. 129-151) Es gibt 350 Studiengänge zum Kreativen Schreiben. Dabei werden 200 dieser Studiengänge von Universitäten und 150 von Colleges angeboten. (Malone, E., a.a.O., S. 153-182) Dazu kommen die 400 Schreibprojekte des Schreibens „across the Curriculum“. Bekannt sind rund 1.500 Schreibberatungszentren und private Schreib-Lehr-Institute quer durch die USA. Sie wenden sich an alle Zielgruppen von Frauen, über Farbige, von Managern bis Fotografen, an Jugendliche und Leute über 57 Jahre (Malone, E., a.a.O., S. 183–245).

Es ist deshalb nicht überraschend, dass jährlich rund 2.000 Publikationen zum Kreativen Schreiben in den USA veröffentlicht werden. Die Zahl der Schreibprofessoren muss über 3.000 Hochschullehrer umfassen. Die deutschen Zahlen sehen dagegen mager aus: 3–5 Bücher über kreatives Schreiben pro Jahr und 5–6 Schreibprofessoren an deutschen Hochschulen. Hochgerechnet!

4. Aufbau und Ziel des vorliegenden Lehrbuches

Die Entwicklung des Kreativen Schreibens in den USA setzt sich aber auch in Deutschland langsam durch. Es ist deshalb an der Zeit, mit dem neu aufgelegten „Lehrbuch des Kreativen Schreibens“ einen immer noch aktuellen Überblick über Theorie und Praxis des kreativen Schreibens für alle zu geben.

Die Geschichte des Kreativen Schreibens in Deutschland lässt sich in folgende Phasen gliedern:

– Kreatives Schreiben in der Schule (ab 1970)

– Kreatives Schreiben in der Freizeit (ab 1980)

– Kreatives Schreiben in Wissenschaft, Beruf und Therapie (ab 1990)

– Kreatives Schreiben in allen wissenschaftlichen Fächern (ab 2000)

Das Lehrbuch fasst die sich erweiternden Erkenntnisse aller dieser Phasen zusammen.

Im Lehrbuch wird nicht der kritische Umgang mit fertigen Texten vorgestellt, sondern die Begleitung durch den Schreibprozess mit seinen vier Phasen: Ideen sammeln, gliedern, schreiben und überarbeiten.

Dabei ist klar, dass für den Schreibprozess in der 1. Phase die Kreativitätsforschung und die Neurologie zum Zuge kommen. In der 2. und 3. Phase sind die kognitive und die Tiefenpsychologie von Wichtigkeit. In der 4. Phase hat die Poetik, die Rhetorik, die Metapherologie ihren Stellenwert.

Für die Durchführung des Kreativen Schreibens in Gruppen ist dann noch die Gruppenpädagogik und Gruppendynamik von Wichtigkeit. Für den Vertrieb der entstandenen Texte wären die Ökonomie und das Marketing zu Rate zu ziehen. Das Lehrbuch ist deshalb, seitdem es zum ersten Mal erschienen ist, interdisziplinär.

Das Lehrbuch des Kreativen Schreibens gliedert sich in zwei Teile:

Der 1. Teil umfasst das Feld des Schreibens: Er definiert das Kreative Schreiben, stellt die Techniken und Methoden vor und entwickelt Schreibszenarien für viele Textsorten in vielen Fächern und Formaten.

Der 2. Teil entwickelt die Theorie der Schreibpädagogik und der Schreibgruppenpädagogik.

Am Schluss gibt es Hinweise wie man mit diesem Buch kreativ umgehen kann.

Das Buch hat eine große und differenzierte Zielgruppe:

• Es wendet sich an Schriftsteller, die eine Qualifikation als Schreibgruppenleiter erwerben wollen.

• Es richtet sich an Hobby-Schriftsteller, die Anregungen für Schreiben in der Einsamkeit oder in Schreibgruppen suchen.

• Es ist für alle Menschen bestimmt, denen kreatives Schreiben helfen kann, ihr Leben und ihre Lebenskrisen zu meistern.

• Das Buch ist auch für Sozial- und Pflege-Profis bestimmt. Es gibt Hilfen für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, die mit dem Medium Schreiben ihre Zielgruppe zur Verbesserung ihres Selbstverständnisses führen wollen.

• Dieses Buch hilft Schreiblehrern und Schreiberatern, die Ressourcen des Kreativen Schreibens für ihre Kunden besser zu nutzen.

• Schließlich kann es Erwachsenenbildner für ihre Schreibgruppen an Volkshochschulen, in Gewerkschaften, in Vereinen und Verbänden Anregungen vermitteln.

• Außerdem kann für Hochschullehrer das Kreative Schreiben zusammen mit dem Kreativen Lesen ein wichtiges Medium zur Verbesserung ihrer Lehre werden.

• Studenten aller Fächer können mit diesem Lehrbuch ihr Potential des Selberlernens durch Schreiben verbessern.

Angesichts dieser breiten Zielgruppe ist klar, dass auf dem Gebiet des Kreativen Schreibens noch viel Forschungsbedarf besteht. Das Lehrbuch kann hier nur die Forschung sowie die Praxis anregen. Es weist selbstverständlich noch viele Lücken in der Schreibforschung wie in der Schreibpädagogik auf.

Die ausführliche Bibliographie zum Kreativen Schreiben am Ende des Buches deckt diese Defizite auf und hält viele überraschende Informationen für alle Schreibbegeisterten bereit.

5. Dank für Hilfe

Ohne 20 Jahre Schreibforschung und viele Studentengenerationen aus Schreibgruppen und Schreibprojekten, ihren Praxisberichten und Diplomarbeiten wäre dieses Buch nicht entstanden. Ohne 15 Jahre Schreibforschung am Hochschuldidaktischen Zentrum (HDZ) der Alice-Salomon-Fachhochschule wäre die Aufarbeitung der amerikanischen Forschung zum Kreativen Schreiben nicht möglich gewesen. Die 2006 erfolgte Eröffnung des 1. Master-Aufbau-Studiengangs „Zum kreativen und autobiographischen Schreiben“ an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin war ohne dieses Lehrbuch undenkbar.

Ich danke Frau Miriam Zöller für die Möglichkeit, dieses Buch in einer neuen Ausgabe einem breiten Publikum vorzustellen. Frau Iris van Beek vom Schibri-Verlag und Frau Dipl. Ing. Sonja Lingk, meiner Assistentin, gilt mein Dank für die Betreuung dieses Buchprojekts.

Berlin, Frühjahr 2007

Prof. Dr. Lutz von Werder

1. TEIL

DAS POETISCHE FELD

„Ich habe oft gehört, dass niemand ohne Begeisterung und einen gewissen Anhauch von Wahnsinn ein guter Dichter werden kann.“
Demokrit, in: W. Capelle (Hrsg.):
Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968, S. 465

„Denn ein leichtes Wesen ist der Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist, und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.“

(Platon Ion, in: Platon: Sämtliche Werke.
Reinbek, 1959 Bd. 2, S. 103)

„Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst naht, in der Überzeugung, schon durch gute Technik ein fähiger Dichter zu werden, der bleibt selbst erfolglos, und die Dichtung des Vernünftlers verschwindet vor der Dichtung der im Wahn Verzückten ins Nichts.“

(Platon Phaidros. Frankfurt 1963, S. 35)

A. Das kreative Schreiben

1. Begriff und Geschichte

Die moderne Kreativitätsforschung hat ihren Gegenstand von zwei Seiten umschrieben: Kreativ ist jeder Akt, der für ein Individuum etwas Neues darstellt oder im weiteren Sinne etwas Neues für einen Kulturkreis oder die Menschheit bedeutet (U. Beer, W. Erl: Entfaltung der Kreativität. Tübingen 1974, S. 9).

Kreatives Schreiben soll also das Schreiben genannt werden, das einmal für den einzelnen eine Entfaltung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, Kommunikationsformen und neue Formen der Selbsterkenntnis mit sich bringt. Damit das kreative Schreiben aber nicht nur einen individuellen, sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt beinhaltet, muss das kreative Schreiben die produktive Auseinandersetzung mit den literarischen Experimenten fortführen, die seit der Romantik die Literatur prägen. Es muss die großen Alternativen in der heutigen Literatur, Sprachexperiment und Selbsterfahrung, zu vermitteln suchen.

In der neuen Literaturdiskussion seit 1945 tritt ein wichtiger Antagonismus auf. Schreiben wird als Rühmen des Lebens (H.G. Oates, O. Paz), als Sprachexperiment und Sprachspiel (Gomringer, Mon, Heissenbüttel, Jandl) einerseits und als Gefühlsausdruck (W.H. Auden, A. Ginsberg), als Darstellung von Erfahrung (C. Wolff, R. Baumgart), als Selbsterkenntnis (Sartre, Eich, Domin) andererseits verstanden und praktiziert.

Dieser Antagonismus und seine Vermittlung birgt neue Kreationsmöglichkeiten, die das kreative Schreiben nutzen sollte. Kreatives Schreiben als produktives, literarisches Schreiben (vgl. C. Eykman: Schreiben als Erfahrung. Bonn 1985, 32–68) ist also zu unterscheiden von dem spontanen Schreiben in vielen Schreibgruppen, und es ist besonders zu unterscheiden von anderen Schreibarten wie journalistisches, wissenschaftliches oder triviales Schreiben (vgl. W. Gössmann: Theorie und Praxis des Schreibens. Düsseldorf 1987, S. 57–137).

Die Geschichte des kreativen Schreibens wird durch das Jahr 1900 in zwei Teile geteilt. Die Zeit vor der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung und die Zeit nach der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung. Vor Freud diente das Schreiben der Darstellung von Gefühlen, der Erfahrung, der Selbsterkenntnis. Es verwandte besonders die Produktionstechniken der freien Assoziation und der Imagination. Freuds Tiefenanalyse der Triebkräfte der freien Assoziation, seine Enthüllung der kindlichen Komplexe als Quelle des Schreibens, haben Technik und Inhalt des Schreibens umgewälzt. Schon die Wiener Literatur (Schnitzler, K. Kraus, H. v. Hofmannsthal) verstrickte sich in eine intensive Auseinandersetzung mit Freud (W. Worbs: Nerven-Kunst. Frankfurt 1983). D. H. Lawrence entwickelte als Reaktion auf Freud „eine eigene Auffassung vom Unbewussten, das es nicht aufzuklären, sondern in der Erfahrung des Körpers, insbesondere in der sexuellen, als Energie zu wecken gilt“ (H. Mettler: Autoren schreiben anders: Der Einfluss der Psychoanalyse auf die moderne Literatur. In: Psychologie im 20. Jahrhundert. München: Kindler 1980, Bd. 15, S. 837). Rilke und Kafka lehnten die Analyse ab. Hesse und Th. Mann verwerteten die Psychoanalyse als eigene Erfahrung oder Vorbild. Aber erst der Expressionismus schuf mit der Technik der mythologischen Imagination, der Surrealismus mit dem automatischen Schreiben, der Dadaismus mit dem zitierenden Schreiben Produktionstechniken, die über die freie Assoziation hinausgingen, die Textdeutung überwanden und dem Sprachspiel, dem Sprachexperiment den Weg ebneten. Diese neuen Schreibtechniken gehen über die freie Assoziation des 19. Jahrhunderts hinaus. Schon C.G. Jung konnte J. Joyce mitteilen, dass Joyces innerer Monolog der Molly Bloom im Schlusskapitel des Ulysses: „eine Kette veritabler psychologischer Perlen ist. Höchstens des Teufels Großmutter weiß so viel von der Psychologie einer Frau. Ich wenigstens nicht“ (zit. n. R. Ellmann: James Joyce. Frankfurt 1979, Bd. 2, S. 947).

Seit die neuen literarischen Produktionstechniken des 20. Jahrhunderts in engster Auseinandersetzung mit der freien Assoziation sich entwickelt haben, tut sich die Psychoanalyse schwer mit der literarischen Moderne. „Es scheint unmöglich, die surrealistischen Produktionen der Analyse zu unterziehen“ (M. Rutschky: Lektüre der Seele. Berlin 1981, S. 166). Während die Analyse an Texten des 19. Jahrhunderts die Tiefenschichten erhellte, muss sie angesichts der literarischen Moderne oft vor dem „schöpferischen Geheimnis“ kapitulieren (vgl. C.D. Eck: Psychoanalytiker deuten Gestalten und Werke der Literatur. In: Psychologie des 20. Jahrhunderts. München: Kindler 1987, Bd. 15, S. 863). Die moderne Literatur spaltet sich: Sie zerfällt in eine Strömung, die traditionell assoziativ weiter schreibt und in eine Strömung, die die neuen literarischen Produktionstechniken benutzt. In der traditionellen Schreibe werden heute auch die vielen Vater- und Muttergeschichten geschrieben, die als Selbsttherapie einige Therapeuten um Kunden bringen. Davon abgegrenzt arbeiten die experimentellen Texter, vor denen die Deuter ratlos stehen. Kreatives Schreiben könnte sich auf beide Lager beziehen und aus ihrer Integration neue Schreibimpulse entwickeln.

2. Wissenschaftliche Zugänge zum kreativen Schreiben

Die neue deutsche Schreibbewegung hat seit Beginn der 70er Jahre nicht nur viele Schreibpraxen entwickelt, sondern sie war auch um eine wissenschaftliche Theorie ihres Tuns bemüht. Die wissenschaftlichen Zugänge zum kreativen Schreiben haben sich allerdings zersplittert. Um aber einen gewissen Überblick zu bekommen, sollen die Zugänge nach ihrem Verständnis des Gegenstandes des kreativen Schreibens unterschieden werden. Nach meiner Einschätzung lassen sich drei wissenschaftliche Zugänge typologisieren: Kreatives Schreiben als Stilaneignung, als Spiel und als Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung.

2.1. Kreatives Schreiben als literarischer Stil

Am Anfang der Schreibbewegung standen die unruhigen Deutschlehrer und Deutschdidaktiker, die aus den Fesseln der bloßen Literaturrezeption und Literaturkritik heraus wollten. So propagierte Ingeborg Meckling in „Kreativitätsübungen im Literaturunterricht der Oberstufe“ (München 1972) kreatives Schreiben als Imitation von literarischen Schreibmustern. Sie empfahl z. B. dadaistische Texte zu imitieren, anti-dadaistische Texte zu schreiben und dadaistische Textcollagen zu produzieren (vgl. I. Meckling, a. a. O., 8. Übung Dada). Hans Gatti stellte in seinem Buch „Schüler machen Gedichte“ (Freiburg 1979) das analoge Gestalten in den Mittelpunkt. Das analoge Gestalten beginnt mit der Begegnung eines Dichtertextes. „Nach dessen Behandlung versuchen nun die Schüler einen thematisch und meist auch formal ähnlichen Text zu schreiben“ (H. Gatti, a. a. O., S. 66). Ein großer Vorteil, meint Gatti, liegt darin, „daß das Muster für die selbst zu verfassenden Gedichte schon bekannt ist, also ein vorher erarbeitetes Schema nur noch nachgeahmt zu werden braucht“ (H. Gatti, a. a. O., S. 67). Was richtiger literarischer Stil ist, das bestimmt für Gerd Ueding die antike Rhetorik Quintilians. „Oberste Regel für die sprachliche Fassung eines Themas sind in der rhetorischen Stillehre enthalten“ (G. Ueding: Rhetorik des Schreibens. Königstein 1985, S. 61). Ein System des Schreibens nach stilistischen Regeln hat Günter Waldmann mit seinem Buch „Produktiver Umgang mit Lyrik“ (Baltmannsweiler 1988) vorgelegt, das Versform, Klangform, Wortform, Bildform, Satzform und Strophenform in praktischer Hinsicht vorstellt und die Aneignung dieses lyrischen Stils als Erweiterung der Alltagssprache um die literarische Sprache versteht und diesen Vorgang „produktive literarische Differenzerfahrung“ (G. Waldmann, a. a. O., S. 232) nennt. Einen sehr viel breiteren Ansatz des kreativen Schreibens nach vorgegebenen Mustern vertritt W. Gössmann in seinem Buch „Theorie und Praxis das Schreibens“ (Düsseldorf 1987). Er löst sich vom lyrischen Schreiben ab und erschließt folgende Bereiche des Schreibens: 1. Spontanes literarisches Schreiben, 2. Erzählendes Schreiben, 3. Konzipierendes Schreiben, 4. Journalistisches Schreiben. 5. Wissenschaftliches Schreiben, 6. Literarisches Übersetzen. In allen diesen Bereichen will er zeigen, „daß Schreiben die Anspannung des Denkvermögens verlangt sowie die Ausbildung der sprachlichen Sensibilität“ (W.Gössmann, a. a. O., S. 14).

2.2. Kreatives Schreiben als Spiel

Im Gegenzug zur Gefahr, kreatives Schreiben in starrer Imitation und bloßer Regelbefolgung zu ersticken, hat eine zweite Gruppe von Wissenschaftlern den Spielcharakter des kreativen Schreibens untersucht. Zum Vorsprecher der Praxis „Arkadischer Schreibspiele“ machte sich besonders Gundel Mattenklott. Sie erforschte die Schreibspiele der Poeten, z. B. das Schreiben nach Spielkarten, nach dem Tarot, mit Hilfe des I-Ging usw. Kreatives Schreiben ist für Mattenklott „das Spielen mit Worten, Buchstaben, Sätzen, Texten … ein praktisches Experimentieren … Es gehört zu den wichtigsten Disziplinen, denn in der Möglichkeit des Sprechens, des Sich-Verständigens, der Übersetzung und der Vermittlung von Texten liegt unsere Zukunft beschlossen“ (G. Mattenklott: Spielregeln in der Literatur. Diskussion Deutsch, 1985, 16. Jg., H. 84, S. 435). Die „Arkadischen Schreibspiele“ etablieren eine neue Form literarischer Geselligkeit, die durch folgende Momente charakterisiert wird: Spiel, Spaß, Lust und Heiterkeit. Sie heben die Konkurrenz unter den Menschen auf. Sie sind Spiele ohne Sieger. Sie befriedigen den Wunsch nach Stillstand der Zeit, nach Fest und Aufbruch aus dem Alltag. Sie machen die Teilnehmer zum Subjekt. Sie erweitern die Sprachfähigkeit und die Sprachinspiration. Sie vermitteln den Schreibgenuss und die Erkenntnismöglichkeit der Dichter (vgl. G. Mattenklott: Literarische Geselligkeit, Stuttgart 1979, S. 181 f.). Dieses Votum für das Schreibspiel unterstützt auch Gerhard Goebel mit folgenden Argumenten: „Dann aber ist auch zu bedenken, daß die Arkadischen Spiele, nun gerade die, bei denen (auf den ersten oder gar zweiten Blick) Absurdes oder selbst Abgeschmacktes herauskommt, einen unvergleichlichen Vorzug haben: Sie geben der Spielfähigkeit selbst, in der nicht nur nach Freud das Wesen der dichterischen Produktivität besteht, eine Chance, sich aus sozialisationsbedingter Verschüttung ein Stück zu befreien; sie fordern die Fantasie und die Sprache heraus, die Zwänge einer vorgegebenen, quasi verordneten Wirklichkeit und Vernünftigkeit abzuschütteln und mögliche Welten zu ersinnen, in denen das Abgeschmackte und Absurde logisch, sinnvoll und sogar schön ist. Und sie geben dem Spieler, der sich sonst nur als mehr oder weniger andächtig oder unverdrossener Kunstverbraucher kennt, die Möglichkeit, sich wenigstens vorstellungsweise auf den Standpunkt des Produzenten und damit in eine Welt zu versetzen, in welcher die arbeitsteilige Scheidung der Menschen in Kunstproduzenten und Kunstkonsumenten und solche, die in ihrer Stellung im Produktionsprozeß ganz und gar von der ästhetischen Erhöhung des Lebens ausgeschlossen sind, aufgehoben wäre; wo das Zoon politikon ein Zoon poetikon wäre und umgekehrt“ (G. Goebel: Schreibspiele oder die Vergesellschaftung der Schrift. In: Lendemais, 3 (1978), Bd. 12, S. 108). Die Arbeit mit Schreibspielen ist heute in Schreibwerkstätten so verbreitet, dass G. Schalk und B. Rolfes in ihrem Buch „Schreiben befreit“ (Bonn 1986) auf 100 Seiten eine breite Palette von Schreibspielen und Übungen vorstellen konnten, die sie aus der Praxis gewonnen hatten.

2.3. Kreatives Schreiben als Selbsterkenntnis und Selbsttherapie

Vielen Teilnehmern an Schreibwerkstätten war aufgefallen, dass beim Schreiben sich therapieähnliche Prozesse vollziehen. Als einer der ersten artikulierte dieses Phänomen Paul Schuster 1977: „Im Prozess des Schreibens wird eine Fülle von Erinnerungen heraufbeschworen, von atmosphärischen, dinglichen, physiognomischen Details, an die man viele Jahre nicht gedacht hat – und das oft in einer Genauigkeit, die Staunen auslöst. Manchmal kommt es zu Kettenreaktionen, so dass man schreibend unversehens in ganz andere Bereiche gerät als das Thema sie absteckt“ (P. Schuster, Selberschreiben – von den Schwierigkeiten des Lernens und Verlernens. H. Beck, H. Boenke (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrer. Reinbeck 1977, S. 206). Auch 1979 bestätigt Schuster, „dass einem beim Schreiben (allerdings nur beim Schreiben in eigener Angelegenheit, zumal dann, wenn man über sehr weit Zurückliegendes schreibt) eine Menge von Dingen einfallen, an die man seit Jahren nicht gedacht hat und vielleicht auch nie wieder gedacht hätte ohne dies Spiel. Schreiben kann also Vergessenes wieder in Erinnerung rufen, Wiederbegegnung mit sich selbst bewirken, dadurch aber tatsächlich Selbsterkenntnis fördern“ (P. Schuster: Sinnlichkeit und Talent. Zu einer Grundbedingung des Schreibens. In: Literaturmagazin, 11, 1979, S. 164).