image

HANS LENZ, geboren 1938 in Berlin, war Wirtschaftsingenieur. Er verfügt über breit gefächerte technische Spezialkenntnisse und arbeitete lange Jahre nebenberuflich als Hochschuldozent in der Erwachsenen-Weiterbildung. In der Reihe marixwissen ist von ihm die Kleine Geschichte der Zeit erschienen.

Zum Buch

»Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. (. . .). Dieses Geheimnis ist die Zeit.« Michael Ende, Momo

Das Werk verbindet einen umfassenden Überblick über die vielfältigen natur- wie geisteswissenschaftlichen Aspekte moderner Zeitforschung mit einer tiefgründigen Darstellung von Zeitbegriffen und Zeitrechnungssystemen zahlreicher Völker aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte.

Eingehend werden die Prozesse behandelt, die auf unterschiedlichen Kulturstufen zur Herausbildung differenzierter Zeitbegriffe und im Ergebnis dessen zu einer Vielfalt von Kalendern führten. Eine bedeutende Rolle dabei spielen magisch-rituell bzw. religiös motivierte Feste.

Auch den physikalischen Zeitbegriffen sowie dem Zusammenhang von Zeitmessung und Astronomie spürt der Autor nach. Ausführlich werden die den gewöhnlichen Kalenderbegriff erweiternden Zeitskalen der Erdgeschichte und der Biologie beschrieben.

Hans Lenz

Universalgeschichte der Zeit

Hans Lenz

Universalgeschichte
der Zeit

Image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2013
Lektorat: PD Dr. Marco Frenschkowski, Hofheim/Taunus
Covergestaltung: Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: © Bettmann/CORBIS und akg-images GmbH,
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

www.marixverlag.de

Inhalt

Vorwort

1     Das Phänomen Zeit

1.1  Menschen, Raum und Zeit

1.2  Zeitbegriffe der Philosophen

Endliches und Unendliches, Zeit und Ewigkeit

Vergangenheit, Zukunft und das Jetzt

Kontinuität oder Zeit-Teilchen?

Nichtmaterialistische Auffassungen von Zeit

1.3  Zeit in der Geschichte der Naturwissenschaften

1.4  Zeitforschung heute

2     Zeitskalen der Natur

2.1  Zeit und Mathematik

2.2  Zeit in der Physik

Die Entstehung von Welt und Zeit

Relativitäts- und Quantentheorie

Zeitpfeile

Zeit und die Zukunft des Universums

2.3  Astronomie und Zeitmessung

Jahreszeiten, Sternbilder und Tierkreis

Die Länge der Tage

Der Mond und seine Periodizitäten

Jahre und andere Zyklen im Sonnensystem

2.4  Zeit in der Erdgeschichte

Geologische Zeit-Schichten

Radiologische Uhren

2.5  Biologische Zeitlichkeit

Biologische Uhren

Chronobiologie und Chronomedizin

Sinnesorgane als Zeitmesser

Zeit im Leben der Pflanzen

3     Die Zeit des Menschen

3.1  Menschwerdung und Zeitbegriff

Kulturperioden der Menschheit

Zeitbewusstsein und Zeiterleben

Gedächtnis und Zeitpfeil

3.2  Zeit und Sprache

Vom ›hier und jetzt‹ zum ›vorher und nachher‹

Begriffe abstrakter Zeit

Zeitformen der Sprache

3.3  Das individuelle Zeitempfinden

Zeitgefühl und Sprache

Zeiterfahrung aus wissenschaftlicher Sicht

Zeit in der Kunst

Gesellschaftlich bestimmtes Zeitempfinden

3.4  Zeit und Gesellschaft

Zeit der Dämonen, Geister, Götter

Der Glaube an den Einfluss der Gestirne

Zeit in Religionen und Mythen

Geschichtliche Zeit

Zeit und Ökonomie

4     Die Kalender

4.1  Alte Kulturen im Vorderen Orient

Schreibkunst und älteste Kalender

Zeitrechnung in Mesopotamien

Ägypten

Der Iran und die Zoroastrier

Die Zeitrechnung der Juden

4.2  Das vorchristliche Europa

Die kretisch-minoische Kultur

Griechenland

Von Italern und Latinern zum Römischen Reich

Zivilisation zwischen Balkan und Skandinavien

4.3  Christentum und Kalender

Die Christen, der Sonntag und das Osterfest

Byzanz und die Ostkirchen

Die Woche in Europa

Das Zählen der Jahre

4.4  Die Welt des Islam

4.5  Europa im Mittelalter

Die Ordnung des Jahres

Die Kalenderreform von 1582

4.6  Kalender der Neuzeit

Der gregorianische Kalender und die Welt

Andere Reformideen

Scaligers Universalära und die Computerzeit

Der Jahrhundert-Begriff

Von Tontafeln zum Notebook

4.7  Zeit und Kalender in anderen Kulturen

Subkontinent Indien

China und Japan

Hinterindien

Indonesien

Kalender bei Naturvölkern

Mittel- und Südamerika

5     Höhepunkte im Lauf der Zeiten

5.1  Momente zwischen Erinnern und Hoffnung

Feste und Erinnerung

Die Gegenwart des Festes

Feste und Wünsche

5.2  Die Feiertage der Christen

Tag der Sonne – Tag des Herrn

Fastenzeit und Ostern

Himmelfahrt und Pfingsten

Die Festzeit um Weihnachten

Frauentage und Heiligenfeste

Das christliche Kirchenjahr

5.3  Bürgerliche Feier- und Gedenktage

5.4  Persönliche Festanlässe

6     Gemessene Zeit

6.1  Tage und Nächte

6.2  Die Zeiten des Tages

Stunden-Begriffe der Alten, der Klöster und der Städte

Tages- und Uhrzeiten in der Sprache

Andere Arten den Tag zu teilen

6.3  Zeitmessung im Altertum

Sonnenuhren

Andere alte Zeitweiser

6.4  Mechanische Uhren

Von der Mühle zum Zeiger- und Läutewerk

Uhren für Städte und Uhren für Bürger

Alltagsuhr und Präzisions-Zeitmesser

6.5  Wege zur Weltzeit

Zeit und elektrische Nachrichtentechnik

Zeiteinheit Sekunde und die Atomzeit

6.6  Zeitmessung heute

7     Einige Aspekte der Soziozeitlichkeit

7.1  Zeit als Form sozialer Organisation

7.2  Individuelles Erleben gesellschaftlicher Zeit

7.3  Zeit nach dem Ende der Industriegesellschaft

8     Gegenwart und Zukunft der Zeit

8.1  Medienzeit

8.2  Zeitkompakter Globus und Multitemporalität

8.3  Von Zukunft und Ende der Zeit

Anhang:

Literaturverzeichnis (Auswahl)

Personenregister

Vorwort zur ersten Auflage

Das Wissen der Menschheit wächst rasant. Nie hat es so zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen gegeben wie heute. Aber die Arbeiten der Spezialisten beziehen sich auf immer enger begrenzte Gebiete und ihre Veröffentlichungen werden immer schwerer verständlich für Außenstehende.

Das vorliegende Buch will einerseits dem Leser eine Übersicht über die vielfältigen Facetten des Phänomens »Zeit« bieten. Im Vordergrund stehen dabei der Blick auf das Ganze und das Aufdecken von Zusammenhängen. Andererseits sollen zahlreiche Einzelheiten möglichst ausführlich geschildert werden. Die damit gestellte Aufgabe gleicht der Quadratur des Kreises, man kann sich ihrer Lösung nur annähern. Es ist praktisch unmöglich, die Details eines so weit ausholenden Themas ausführlich zu behandeln, zu belegen und kritisch zu würdigen.

Darüber hinaus gilt es, eine Balance zu finden zwischen wissenschaftlicher Exaktheit und der Verständlichkeit der Ausführungen für ein breites Publikum. Auch die Komplexität des Werkes selbst erfordert eine manchmal stark vereinfachende Darstellung, die der eine oder andere Fachwissenschaftler als zu pauschal empfinden, als unzulässig ansehen mag.

Zu vielen der im Buch behandelten Fragen gibt es ein weites Spektrum der Meinungen. Etliche werden von Experten kontrovers diskutiert. Manche Darlegungen reflektieren die Ansichten von Außenseitern, einige sind spekulativer Natur und wissenschaftlich bisher nicht anerkannt. Oft sind aber gerade diese Sichtweisen besonders interessant.

Weiter ist zu bedenken, dass sich ein großer Teil der Überlegungen auf eine ferne Vergangenheit bezieht. Verlässliche Nachrichten darüber sind uns nicht überliefert. Aber selbst dann, wenn zahlreiche Fakten vorliegen, bleiben unsere Vorstellungen davon nur Vermutungen.

Einen »roten Faden« durch das Buch bildet die von der modernen interdisziplinären Forschung angenommene Hierarchie verschiedener Zeitlichkeiten, die sich seit dem Urknall entwickelt und in der gegenwärtigen Soziozeitlichkeit gipfelt. Eingebettet in die Zeitskalen der Natur ist die Zeit des Menschen, sein individuelles Zeitempfinden und seine gesellschaftlich determinierten Zeitbegriffe. Diese finden ihren Niederschlag in der Sprache, im Messen von Zeit und in den Zeitrechnungssystemen.

Neben dem eigentlichen Thema ist es ein Anliegen des Buches, die Vielfalt der Kulturen und deren Umgang mit der Zeit sichtbar zu machen, die entweder längst versunken sind oder in der Gegenwart zunehmend schnell von der Bildfläche verschwinden.

Mein Dank gilt dem Marix-Verlag für die mir bereitwillig gebotene Chance einer Veröffentlichung sowie dem Lektor, Herrn PD Dr. Marco Frenschkowski, für seine wertvollen Hinweise zu religions- und sprachwissenschaftlichen Fragen. Nicht vergessen seien die Freundinnen und Freunde, deren wohlmeinende Ratschläge mich durch die Jahre der Arbeit am Werk begleitet haben.

Hans Lenz

Vorwort zur zweiten, neu bearbeiteten Auflage

Sieben Jahre nach Erscheinen des Werks ist festzustellen, dass sich das Interesse der Leser am Thema keineswegs erschöpft hat. Zwischenzeitlich erzielte beträchtliche Fortschritte in Wissenschaft und Technik machen es notwendig, eine Reihe damals getroffener Aussagen zu aktualisieren. Außerdem waren einige Druckfehler zu berichtigen und wichtige Ergänzungen vorzunehmen.

Potsdam, im November 2012

Hans Lenz

1 Das Phänomen Zeit

1.1 Menschen, Raum und Zeit

Als sich vor Jahrmillionen auf der Erde denkende Wesen entwickelten, begannen sie damit, ihre Umgebung zu erkunden. Hunger, Kälte und manchmal auch spielerische Neugier werden sie getrieben haben. Schon Tiere unterscheiden das ›Hier‹ vom ›Dort‹. Auch jene frühen Wesen auf der breiten Schwelle zwischen Tier und Mensch betraten und ›begriffen‹ zunächst den Raum in ihrer unmittelbaren Umgebung, und zwar in ganz wörtlichem Sinn. Mit fortschreitender Erkenntnis erlangten sie eine Vorstellung von Zeit. Vergangenheit und Zukunft trennten sich vom ›Jetzt‹. Nach und nach gewann der Mensch ein Bewusstsein seiner eigenen Existenz, entdeckte das ›Ich‹, und zur Erkenntnis des Selbst gesellte sich die Erkenntnis des eigenen zukünftigen Todes. In einer unverständlichen, bedrohlichen Welt erfuhr er die Angst. Diese Urangst der hilflosen Kreatur eroberte die Zukunft, denn dort war das Unbekannte.

Am Anfang aller Begriffe von Zeit standen wohl der Tag und die Nacht. Augenscheinlich bestimmten sie den Rhythmus des Lebens von Pflanzen, Tieren und Menschen. Bald bemerkte man auch den Wechsel und die Wiederkehr der Mondgestalten. Sie waren ebenso rätselhaft wie Wolken und Wind, Blitz und Feuer, und hinter alldem schienen sich lebende Wesen zu verbergen. Sollte die Jagd Erfolg haben und das Feld ertragreich sein, so musste man diese Dämonen und Götter besänftigen und freundlich stimmen. Magische Handlungen und Kulte sollten dabei helfen, und aus ihnen wurde Religion. Doch allmählich bemerkte man, dass manche Erscheinungen regelmäßig eintraten, ob nun dem Gott geopfert wurde oder nicht. Die wissenschaftliche Beobachtung hatte begonnen.

Zu praktischen Zwecken machten sich die Menschen daran, die Eigenschaften des Raumes zu untersuchen. Daraus entstand im vierten Jahrtausend v.Chr. in Babylon und Ägypten die Geometrie. In Zusammenhang mit dem aufkommenden Ackerbau begann man, Zeiteinheiten zu zählen. Regelmäßigkeiten und Gesetze wurden als Erstes von der Astronomie entdeckt. Als sich die Wissenschaft weiter entwickelte, fand man immer mehr Gesetze in der Natur, konnte die eine oder andere Entwicklung vorhersehen, bis schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Ansicht entstand, überhaupt alles laufe nach unveränderlichen Gesetzen ab. Dieses Weltbild des wissenschaftlichen Determinismus verbreitete sich im westlichen Denken. Nur was man darüber hinaus nicht verstand, wurde weiterhin mit dem Wirken Gottes erklärt: Er habe diese Gesetze bestimmt und über den Anfang von Zeit und Raum entschieden. Heute ist bekannt, dass sich keineswegs alles genau erkennen, geschweige denn vorhersagen lässt. Erkennbarkeit ist physikalisch begrenzt. Auch Zeit und Raum sind bündig definiert: als nicht voneinander zu trennende Eigenschaften des Universums. Jegliche Materie, ob als Teilchen oder als Welle auftretend, kann nur in Raum und Zeit existieren. Aber subjektiv erscheint uns Zeit höchst vielfältig. Und jede Kultur hat ihre eigene Auffassung von Zeit hervorgebracht, geht auf spezifische Weise mit Zeit um.

Vertraut und selbstverständlich erscheint uns das Wort ›Zeit‹. Und doch haftet dem Begriff etwas Rätselhaftes an, und immer wieder wird die Frage diskutiert, was denn Zeit eigentlich sei. 1984 hat der Kultursoziologe Norbert Elias (1897-1990) Zeit als eine große menschliche Syntheseleistung erklärt, »mit deren Hilfe Positionen im Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des Gesellschaftsgeschehens und des individuellen Lebenslaufs in Beziehung gebracht werden können«. Meist wird Zeit als natürliche Ordnungsstruktur zur Reihung von Vorgängen angesehen, manche Autoren bezeichnen Zeit als willkürlich. Wie auch immer, Zeitrechnung schafft Zusammenhang, bringt Ordnung und unterwirft Menschen dieser Ordnung.

Einigkeit besteht darin, Zeit sei die allgemeinste Form, in der sich alles Geschehen aneinander reiht. Offen bleibt, wie denn alles begonnen habe und ob es ewig so weitergehe. Die Frage nach dem Anfang von Zeit und Raum scheint den Wissenschaftlern durch die Urknalltheorie vorläufig beantwortet. Fragen nach ihrem Ende werden sie vielleicht beantworten können, wenn ihnen die Beschreibung des Universums durch eine vollständige, einheitliche Theorie gelungen ist. Dann aber wird die Frage bleiben, warum es uns und das Universum gibt. Der Physiker Stephen Hawking meint: »Wenn wir die Antwort auf diese Frage fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen.«

Solche scheinbare ›Rückbesinnung auf Gott‹ fällt bei renommierten Physikern besonders auf. Freilich bleibt offen, welche Bedeutung einem derartigen Gottesbegriff unterlegt wird. Dazu äußerte der englische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1872-1970), dass Gott, falls er existiere, eine Differentialgleichung sei. Albert Einstein sprach 1954 von seinem »begeisterten Staunen über die Harmonie der Naturgesetze, die eine Intelligenz von einer derartigen Überlegenheit erweist, dass im Vergleich dazu alles systematische Denken und Handeln von Menschen eine höchst unbedeutende Reflexion ist«. Der Soziologe Neil Postman hat 1999 vermutet, mit Einsteins bekannter Äußerung: »Gott würfelt nicht mit dem Universum«, könnte jene ›überlegene Intelligenz‹ gemeint sein. Der amerikanische Physiker Frank J. Tipler schließlich verglich Gott mit einer intergalaktischen Maschine, auf der alle Lebewesen wie Computerprogramme im Zeittakt laufen.

1.2 Zeitbegriffe der Philosophen

Bedeutsame Ausführungen über Zeit finden wir erstmals bei den Philosophen der griechischen Antike. Heraklit von Ephesos (um 540-480 v.Chr.) betrachtete die Welt als Summe der Ereignisse; das Primäre sei die Veränderung. Zusammengefasst begründet sein bekannter Satz: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen«, diese Anschauung. Dagegen meinten Parmenides und seine Schüler Zenon und Melissos in Elea um 500 v.Chr., die ›wahre Welt‹ ruhe unbeweglich und zeitlos. Sie bestritten die Möglichkeit von Werden und Vergehen. Aus ihrer Behauptung, Veränderung sei nichts als Illusion, erwuchs eine lange Tradition idealistischer Deutung der Zeit. Platon in Athen (427-347 v.Chr.) bezog seine gesamte Philosophie auf ›Ideen‹, ewige Urbilder, die nur dem Verstand, nicht der Wahrnehmung zugänglich seien. Gänzlich von ihnen abgetrennt sei die ›diesseitige‹ Welt der vergänglichen Dinge. In Auseinandersetzung mit Heraklit und den Eleaten erklärte er, der Demiurg (›Handwerker‹ im Sinne von ›Erbauer der Welt‹) habe den Himmel als ein bewegliches Abbild des Ewigen geschaffen. Des Himmels Unvergänglichkeit und seine Zyklen seien ›Zeit an sich‹ und Maßstab der vergänglichen Dinge.

Platons Schüler Aristoteles (384-322 v.Chr.) setzte dieser Schöpfungsidee entgegen, dass das Universum weder Anfang noch Ende in der Zeit habe. Er verwies auf die Vielzahl unterschiedlicher Bewegungen am Himmel und leitete daraus einen relativen Zeitbegriff ab: Zeit stehe mit allen Prozessen in der Welt im Zusammenhang. Er erklärte Zeit als den ordnenden Aspekt, der das ›vorher‹ vom ›nachher‹ unterscheide, und definierte sie als ›Zahl der Bewegung‹. Aristoteles gilt neben Platon als einer der Größten der abendländischen Geistesgeschichte. Eng mit Zeitbegriffen verbunden ist seine ›Theorie der vier Bewegungen‹. Sie umfasst Entstehen – Vergehen, Zunehmen – Schwinden, qualitative Veränderung und Ortsveränderung und mündet in den theologischen Begriff des ›unbewegten Bewegenden‹. Schließlich behauptete Aristoteles, Zeit existiere zwar auf objektiver Grundlage, doch nicht ohne die Seele, denn ›nur diese könne zählen‹.

Die Atomisten hatten die Welt als Zusammensetzung kleinster Teilchen erklärt; kein Ding könne aus dem Nichts entstehen oder geschaffen werden. Ihr bedeutendster Vertreter Demokrit (um 460 bis 370 v.Chr.) sah allein die Zeit als ewig während an. Im ersten Jahrhundert v.Chr. schloss der Römer Lukrez an Demokrit an und erläuterte die Sterblichkeit der Seele; Götter hätten keinen Einfluss auf Menschen. Im Gegensatz dazu betonte das Christentum die Rolle der Gottheit. Seine Moralphilosophie verdrängte die Naturphilosophie. Zwischen 200 und 1200 beschäftigten sich die meisten Denker Europas überwiegend mit theologischen Fragen.

Einer der bedeutenden christlichen Philosophen war Aurelius Augustinus (345-430), Bischof von Hippo in Nordafrika. Er lehrte die Prädestination, die göttliche Vorherbestimmung des Menschen. In seinem Hauptwerk De civitate Dei erklärte er die Bildung eines Gottesstaates als Ziel allen Daseins. Geschichte sei ein einmaliger, auf dieses Ziel gerichteter Prozess. Dieser lineare Zeitbegriff beeinflusste das Denken Europas nachhaltig. Augustinus hatte seinen Begriff von der Schöpfung verdeutlicht: Die Welt sei mit, nicht in der Zeit geschaffen. Acht Jahrhunderte später unterschied Thomas von Aquin (um 1224 bis 1274) die anfängliche Schöpfung an einem Anfangspunkt von Welt und Zeit von der ständigen göttlichen Einflussnahme. Thomas gestattete der Philosophie, als ›Magd der Theologie‹ zu wirken – an jenen Stellen, wo ›gewisse religiöse Wahrheiten für die Vernunft erkennbar‹ seien, und vornehmlich zum Zwecke des Gottesbeweises.

In der Renaissance emanzipierte sich die Philosophie von der Theologie. Mit Nikolaus Kopernikus (1473-1543) setzte die Befreiung der Naturwissenschaft von den Fesseln der Scholastik ein. Sein heliozentrisches Weltbild wurde von Galileo Galilei (1564-1642) empirisch bestätigt. Galilei gilt als Vater der klassischen Physik und begründete die mechanistische Naturphilosophie. Alles Geschehen sei nichts anderes als die Verbindung und Trennung von Atomen. Er postulierte einen stetigen und gleichmäßigen Ablauf der Zeit.

Der englische Physiker Isaac Newton (1643-1727) verallgemeinerte die Zeit- und Raumvorstellungen der klassischen Mechanik. Die ›absolute, wahre und mathematische Zeit‹, im allgemeinen ›Dauer‹ genannt, stelle zusammen mit dem Raum den Schauplatz aller Naturprozesse dar. Ihr wesentliches Merkmal sei ihre Gleichförmigkeit und Nichtumkehrbarkeit. Dieser absoluten Zeit sprach Newton indessen jegliche Beziehung auf irgendetwas Äußeres ab und stellte ihr einen relativen Zeitbegriff gegenüber, die ›sichtbare und gewöhnliche Zeit‹. Er definiert sie als »ein wahrnehmbares und äußeres Maß der Dauer mittels Bewegung, sei es nun genau oder ungleichmäßig, dessen man sich gewöhnlich anstelle der wahren Zeit bedient, so etwa die Stunde, der Tag, der Monat, das Jahr«.

Gegen diese Trennung der Zeit von der sich bewegenden Materie wandte sich neben dem englischen Materialisten John Toland (1670-1722) vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Der deutsche Universalgelehrte favorisierte eine relationale Zeitauffassung. Er erklärte Zeit als Ordnungsbeziehung zwischen nebeneinander existierenden oder aufeinander folgenden Erscheinungen. Real sei nur die zeitliche Ordnung der Ereignisse zueinander. Aber letztlich leugnete Leibniz die objektive Existenz der Zeit überhaupt und behauptete, sie sei nur subjektive Wahrnehmung.

Diese idealistische Auffassung fand bei Immanuel Kant (1724-1804) ihre volle Ausprägung. Der deutsche Philosoph erklärte über Leibniz hinausgehend, Zeit sei weder real noch eine Relation, sie sei lediglich die Form der Anschauung, in der Menschen das Fließen des Lebens betrachten. Nach seinen Vorstellungen von Erkenntnis umgreift bewusstes begriffliches Erfassen die Zeit; Zeit umschließt den Raum, und der Raum umgibt die ›äußeren Erscheinungen‹. Hatten Menschen bisher sich und die Dinge als in der Zeit empfunden, so sollte nun die Zeit im Menschen sein. Um einen Begriff überhaupt erfassen zu können, müssten ihm fertige ›Anschauungsgegenstände‹ unterlegt sein, und diese müssten eine zeitliche Ausdehnung besitzen. Deshalb, folgerte Kant richtig, können verschiedene Zeitbegriffe nur Teile ein und derselben Zeit sein.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), nächst Kant einflussreichster Denker des deutschen Idealismus, formte die dialektische Methode aus, die von einer Entwicklung in Gegensätzen ausgeht. Im Widerspruch zu Kant propagierte er die Identität von Denken und Wirklichkeit. Hegel versuchte damit, die Trennung der Zeit und des Raumes von der Materie zu überwinden, blieb aber dabei einer idealistischen Auffassung verhaftet. Dagegen betonte der als Religionskritiker bekannt gewordene Ludwig Feuerbach (1804-1872), dass Zeit und Raum objektive Existenzformen der Materie darstellen.

Kant hatte seine ›Anschauungsformen‹ Raum und Zeit zum Bereich des von vornherein (a priori) Bewussten gezählt, das er vom Bewusstsein nach der Erfahrung (a posteriori) unterschied. Diametral zu dieser Auffassung anerkannte später der radikale Empiriokritizismus ausschließlich die ›reine Erfahrung‹ und behauptete, die objektive Realität bestehe aus Empfindungen. Sein bekanntester Vertreter Ernst Mach (1838-1916) kritisierte den absoluten Zeitbegriff der Naturwissenschaft, weil er nicht empirisch zu erfassen sei. Alle Zeitmessung sei immer nur relatives Vergleichen.

Vor allem Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870-1924) trat diesen subjektiv-idealistischen Anschauungen entgegen. In seinem theoretischen Hauptwerk Materialismus und Empiriokritizismus von 1908 unternahm er den Versuch, zentrale philosophische Begriffe wie jenen der Zeit marxistisch zu interpretieren. Er bemerkte: »Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Zeit und Raum widerlegt die objektive Realität dieser beiden ebenso wenig, wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Kenntnisse von der Bewegung der Materie die objektive Realität der Außenwelt widerlegt.«

Karl Marx (1818-1883) hatte gemeinsam mit Friedrich Engels (1820-1895) seine materialistische Geschichtsauffassung entwickelt. ›Marxismus‹ wurde zum Sammelbegriff einer philosophischen Richtung, die sich in Anlehnung daran mit dem historischen und dialektischen Materialismus beschäftigt. Vom Marxismus werden Begriffe wie Religion, Moral oder Politik auf die Natur, auf physikalische oder ökonomische Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt und als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse erklärt. Diese Ideen gewannen Weltbedeutung, als sie zwischen 1917 und 1991 Staatsdoktrin kommunistisch regierter Länder waren.

Der dialektische Materialismus beschreibt Raum und Zeit als Existenzformen der Materie. Darin drückt der Begriff ›Materie‹ die »allgemeinste ›Eigenschaft‹ aller Dinge aus, nämlich außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein zu existieren« (Lenin). Raum und Zeit existieren außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein, also sind sie objektiv und materiell. Bereits Engels hatte dargelegt, Materie könne nur durch ihre Bewegung in Raum und Zeit existieren, und Ruhe sei stets relativ. Das bedeutet auch, dass es keine absolute Zeit im Sinne eines bloßen Ablaufs gibt. Immerzu geschieht etwas, nämlich irgendeine Bewegung von Materie. Diese Feststellung wurde 1905 durch Einsteins Spezielle Relativitätstheorie erhärtet – es gibt keine absolute Bewegung, nur relative Bewegungen sind beobachtbar.

Dass außer Raum und Zeit auch Masse zu den grundlegenden Dimensionen der Welt gehört, wurde schon im 17. Jahrhundert von René Descartes (latinisiert: Cartesius; 1596-1650) erkannt, der ein geschlossenes mechanistisches Weltsystem zu errichten suchte. Im Jahre 1822 entwickelte Jean Baptiste Fourier (1768-1830) das Verfahren, physikalische Größen wie Geschwindigkeit, Beschleunigung usw. durch ihre fundamentalen Dimensionen der Masse, Zeit und Länge darzustellen. In diesen Arbeiten fußt die Einsicht, Zeit und Raum als voneinander untrennbare Eigenschaften des Universums zu verstehen. Über Zeit oder Raum außerhalb des Universums zu reden ist sinnlos, und ohne beide kann man nicht über Ereignisse im Universum sprechen.

Endliches und Unendliches, Zeit und Ewigkeit

Mit Hilfe der Kategorien des Endlichen und des Unendlichen haben die Philosophen beschrieben, was sie als Grenzen von Raum und Zeit ansehen. Als Erster bestimmte Platon den Begriff: Das Unendliche sei unaufhörliche Vorwärtsbewegung. Die Vorstellung eines unendlich ausgedehnten Weltalls geht auf Demokrit zurück. Aristoteles ließ Unendlichkeit nur für die Zeit gelten. Die Scholastik des Mittelalters gestand ausschließlich Gott ein Recht auf Unendlichkeit zu. Christliche Schöpfungslehre setzt die Endlichkeit der Welt in Raum und Zeit voraus. Mit den Ideen der Renaissance kehrte der Niederländer Benedictus Spinoza (1632-1677) zu den Anschauungen der Antike zurück und bezog Unendlichkeit auf Raum und Zeit. Im 18. Jahrhundert interpretierten die französischen Materialisten die räumlich-zeitliche Unendlichkeit der Welt zwar materialistisch, doch als ewige Wiederholung gleichartiger Objekte.

Dann erklärte Kant strikt idealistisch den räumlich-zeitlichen Prozess als zwar unendlich, aber nicht real, nur als Tätigkeit des Verstandes möglich. Schließlich arbeitete Hegel die dialektische Einheit des Endlichen und Unendlichen heraus. Eugen Dühring (1833-1921) glaubte, die Endlichkeit von Zeit und Raum aus einem utopischen ›Gesetz der bestimmten Anzahl‹ ableiten zu können. Engels formulierte in seiner Kritik Dührings: »Ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn wie ein Sein außerhalb des Raumes.«

Der dialektische Materialismus beschreibt die Welt ohne räumliche Grenzen und zeitlich ohne Anfang oder Ende. Sein Materiebegriff ist unendlich in Raum und Zeit. Diese Unendlichkeit ist verknüpft mit dem unendlich vielfältigen Prozess der Entwicklung vom Niederen zum Höheren. Dabei wird das Unendliche als Negation des Endlichen gedeutet, als ein Hinausgehen über seine Grenzen. Jedes materielle Objekt ist Ergebnis einer solchen Entwicklung und enthält folglich eine Einheit von Endlichem und Unendlichem. Vereinfacht kann man sich vorstellen, Unendlichkeit sei aus vielen Endlichkeiten zusammengesetzt. Das scheint widersprüchlich, doch gerade dieser dialektische Widerspruch ist es, der die Unendlichkeit des in Raum und Zeit ablaufenden Prozesses bewirkt.

Unendlichkeit in der Zeit hängt mit Ewigkeit zusammen. In unserem Kulturkreis stellte Platon erstmals Ewigkeit und Zeit einander gegenüber. Im Dialog Timaios erklärt er Ewigkeit als jene Sphäre des Seins, von der nur gesagt werden könne, ›dass etwas ist‹. Zeit dagegen sei die Sphäre alles dessen, was war, ist und sein wird. Zeit (chronos) sei die Summe von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Solche Definition von Zeit durch ihre Bestandteile ist typisch für unseren abendländischen Kulturkreis, sie entwickelte sich aus den uralten Kategorien des Tempussystems der indogermanischen Sprachen.

Wir empfinden Zeit als grenzenlos, weil ihre überschaubaren Abschnitte immer wiederkehren. Ewigkeit dagegen verträgt sich nicht mit unserem Zeitempfinden. Wäre die Schöpfung der Welt in der ewigen Zeit des Christengottes geschehen, so hätte sie auch ewig gedauert. Augustinus löste im vierten Jahrhundert das Dilemma, indem er vorschlug, dass Gott mit der Welt auch die Zeit erschaffen habe. Sie existiere nur innerhalb der Geschichte, vor der Schöpfung und nach der Erlösung sei Ewigkeit. Daran knüpfte noch der Mystiker Meister Eckhart (um 1260-1328) unmittelbar an: Zeit wird, wie alles, in und mit Gott. Das Denken Europas wurde nachhaltig durch diese Auffassungen geprägt.

Inzwischen hat es sich aus solcher Einengung gelöst. Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann (geb. 1938) versteht Ewigkeit in einem erweiterten Sinn. Er erklärt sie als Negation der Zeit, und zwar nicht als Abstraktum, sondern als Negation ihrer dominierenden Merkmale. In unserem Kulturkreis wird Zeit als gerichteter Fluss verstanden, hier ist Ewigkeit als Stillstand denkbar, als das in sich ruhende Bewegungslose. Wo man sich dagegen Zeit – wie in Indien – als Bindung an einen Zyklus dauernder Wiederkehr vorstellt, bedeutet Ewigkeit, daraus erlöst zu sein, in eine Zeitlosigkeit überzugehen, in der es kein Vergehen gibt. Im alten Ägypten schließlich, wo Zeit als zugemessene Spanne und einmalige Gelegenheit begriffen wurde, erschien Ewigkeit als unendliche Wiederholbarkeit. Die Freiburger Philosophin Regine Kather (geb. 1955) erklärt zusammenfassend Ewigkeit als raum- und zeitlose Gleichzeitigkeit, in der kein Werden und Vergehen stattfindet. Doch eben deshalb sei sie, dem Gegensatz von Ruhe und Bewegung enthoben, reine Dynamik und unerschöpfliche Fülle, Leben im höchsten Sinne.

Vergangenheit, Zukunft und das Jetzt

Ähnlich wie die Unendlichkeit mit dem Endlichen ist die Dauer mit dem Augenblick verbunden. Ein Mensch erlebt subjektiv den Ablauf der Zeit. Ob er nun passiv den vorbeiziehenden ›Fluss der Zeit‹ betrachtet oder selbst aktiv ›durchs Leben schreitet‹, ändert nichts am unaufhaltsamen Lauf der Zeit, denn sie existiert unabhängig von seinem Bewusstsein. Diesen Ablauf der Zeit teilt der Mensch in Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit kann er prinzipiell kennen. In ihr beging er seine Taten und Missetaten, erlebte er seine Erfolge und Misserfolge, Täuschungen und Enttäuschungen. Deshalb werden große Teile der Vergangenheit (auch im kollektiven Gedächtnis der Völker) gerne vergessen. Die Zukunft dagegen ist dem Menschen weitgehend unbekannt, nur in wenigen Bereichen kann er sie voraussehen oder erahnen. Sie enthält sein Schicksal, die Folgen seines Tuns, deshalb fürchtet er sie oder gibt sich der Hoffnung hin. Im geistigen Spannungsfeld zwischen diesen beiden Zuständen erlebt der Mensch das ›Jetzt‹, die ›Gegenwart‹, den ›Augenblick‹.

Die Schule der Stoa (um 300 v.Chr.) sah die gesamte Natur von einem göttlichen Vernunftsprinzip durchdrungen. Die Stoiker verstanden Zeit als Idee, als Abmessung der Bewegung der Welt. Diese Idee begreife das Vergangene und Zukünftige, aber nicht die Gegenwart. Anders Augustinus, er leugnete die reale Existenz von Vergangenheit und Zukunft. Zeit existiere nur in der seelischen Gegenwart – in der Gegenwart von Gegenwärtigem als Augenschein, in der Gegenwart von Vergangenem als Erinnerung, in der Gegenwart von Künftigem als Erwartung. Betrachtet man den Ablauf der Zeit aus dem Blickwinkel des Physikers, so gibt es nur Vergangenheit oder Zukunft; das ›Jetzt‹ hat eine Dauer von (beinahe) Null, ist nur ein mathematischer Trennpunkt. In einer ununterbrochenen Folge solcher ›Punkte ohne Dauer‹ aber erlebt der Mensch sein Leben.

Zeitpunkte markieren die Ereignisse – im menschlichen Leben, in der Geschichte, in der Physik. Schon das Alte Testament belegt ein Zeitverständnis, das lineare Zeit aus einer Folge von Zeitpunkten und -abschnitten zusammensetzte. In der Antike beachteten griechische Philosophen den Unterschied zwischen chronos, der gleichförmig dahinfließenden Zeit, und kairos, dem entscheidenden Zeitpunkt, der bestimmt, ob eine Entscheidung sinnvoll ist. Ursprünglich hatten sie mit Kairos den rechten Ort, dann eine günstige Gelegenheit für erfolgreiches Tun bezeichnet. Das christlich geprägte Neue Testament beschreibt Chronos als begrenzten Zeitraum und trennt ihn vom aion, der grenzenlosen Zeit der Ewigkeit. Den Kairos erklärt es zur ›Heilszeit‹, in welcher Gott entscheidend handle. Im 20. Jahrhundert in der Existenzphilosophie Heideggers gilt Kairos schließlich als jener günstige Augenblick, der eine einschneidende Entscheidung vom Individuum fordert.

Vergangenes ist vom Zukünftigen durch das ›Jetzt‹ getrennt. Reale Erscheinungen gehören normalerweise der Vergangenheit an. Je nachdem, wie viel Zeit seit ihrer Wahrnehmung vergangen ist, ordnen wir sie nach ›früher‹ und ›später‹, ›vorher‹ und ›nachher‹. Diese Begriffspaare drücken den relativen zeitlichen Zusammenhang der Erscheinungen aus. Aber alle Erscheinungen haben Ursachen, sind kausal bedingt. Der Kausalzusammenhang ist in Natur und Gesellschaft objektiv vorhanden. Idealistische Anschauungen bestreiten das. So behauptete der Schotte David Hume (1711-1776), bedeutender Vertreter des Empirismus, zeitlich aufeinander folgende Erscheinungen würden nur aus Gewohnheit als kausal verbunden angesehen. In der Tat hat man zeitlichen und kausalen Zusammenhang oft verwechselt. Ein Beispiel bietet die Entdeckung des Sonnenjahres durch die Ägypter. Immer wenn der Stern Sothis (Sirius) als letzter aufgehender Stern in der Morgendämmerung kurz vor der Sonne am Horizont erschien, nahte am Unterlauf des Nils das Hochwasser. Man nahm den zeitlichen Zusammenhang als Ursache und schloss, dass die Gottheit Sothis die Überschwemmung veranlasse.

Kontinuität oder Zeit-Teilchen?

Ob die Zeit kontinuierlich fließe oder ob sie vielleicht aus kleinsten Bausteinen bestehe, ist eine andere Frage, die die Philosophen beschäftigt. Eine reine Kontinuität von Raum und Zeit stellte sich Aristoteles vor. Hingegen nahmen Demokrit und Epikur (342-271 v.Chr.) eine diskrete, diskontinuierliche Natur von Masse, Raum und Zeit an. Auch Augustinus um das Jahr 400 dachte sich die Zeit bestehend aus unendlich vielen Zeitatomen. Für rund ein Jahrtausend spielte die Lehre vom Zeitatom eine große Rolle. Dann erhoben die Scholastiker des Mittelalters die reine Kontinuität der Welt zu einem ihrer Dogmen. Leibniz versuchte, sie mathematisch darzustellen. In seiner Evolutionslehre kam er zu dem Ergebnis, die Natur mache keine Sprünge. Daneben allerdings steht seine Lehre von den Monaden als kleinsten denkbaren Einheiten, Kraftpunkten in allen Dingen, mit der er das seit Descartes diskutierte Problem der Trennung von Leib und Seele lösen wollte. Auch John Locke (1632-1704), englischer Philosoph und einflussreicher Vertreter der Aufklärung, vertritt die Idee der reinen Kontinuität von Raum und Zeit.

Andererseits wurde die Auffassung, auch Raum und Zeit bestünden aus kleinsten unteilbaren Teilchen, seien also diskreter Natur, von Galilei, von dem als Ketzer verbrannten Giordano Bruno (1548-1600) sowie vom Engländer Francis Bacon (1561-1626) und dem Schotten David Hume (1711-1776) verbreitet. Auch Köselitz in Leipzig ging von der Teilchennatur der Zeit aus. 1746 veröffentlichte er seine Ansicht, wenn etwas existiere, so erfordere es zwei Momente der Zeit zu seinem Dasein. Wenn etwas in nur einem Moment existiere, so würde folgen, dass es sei (weil es darin anfinge) und zugleich nicht sei (weil es darin aufhörte). ›Moment‹ meint bei Köselitz ein diskretes Teilchen von Zeit. Der lateinische Begriff momentum gehört (wie mobil und engl. movie) zu movere (›bewegen‹). Die Händler Roms bezeichneten mit ihm jene bewegende Kraft, die dem Balken der Waage ihren Ausschlag gibt. Im Sinne ›ausschlaggebender Umstand‹ wurde er im 17. Jahrhundert aus dem Latein entlehnt und wird als ›das Moment‹ gebraucht. Daneben ging das Wort auch auf den ›ausschlaggebenden Augenblick‹ über. Diese Bedeutung gelangte als mhd. momente zu uns, und ›der Moment‹ meint umgangssprachlich eine kurze Zeitspanne.

Kant kritisierte die Ansichten von der Teilchennatur und vertrat die seine von der reinen Kontinuität von Raum und Zeit. Erst der Dialektiker Hegel kam zu dem Schluss, dass nur die Einheit dieser Auffassungen der Wahrheit entspricht. Schließlich erklärte der dialektische Materialismus die Bewegung als das Wesen von Zeit und Raum. Bewegung ist die Einheit von (unendlicher) Kontinuität und (punktueller) Diskontinuität der Zeit und des Raumes (Lenin). Diese These wurde durch Ergebnisse der Naturwissenschaft bestätigt. Beispielsweise ist der Dualismus von Teilchen und Welle Ausdruck dieser dialektischen Einheit.

Zeit ist mit der Geschichte des Daseins verbunden. Kant erklärte Zeit als »das Worin des Nacheinander der Dinge«. Zeit dürfe nur diese eine Dimension des Nacheinander haben, um den Zusammenhang des Lebens, der geschichtlichen Abläufe zu wahren. Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet, 1694-1778), der bedeutendste Vertreter der europäischen Aufklärung, betrachtete den Gang der Geschichte, den Lauf der Zeit unter dem Aspekt des Fortschritts, der kulturellen Entwicklung. Hegel setzte dann die Zeit dem ›sie bewegenden Geist‹ gleich. Zeit sei die Bewegung des existierenden Begriffs. Von der Französischen Revolution 1789 beeinflusst, erläuterte er, wie die Gesellschaft Geschichte hervorbringe und dabei ihre spezifischen Zeitformen entwickle. Diese ›Zeit der Geschichte‹ ist nach Hegel nicht historisch als Kontinuität vorstellbar, sie ist vielmehr dreifach: Die Gegenwart enthält in sich die Vergangenheit und ist (weil eine künftige Gegenwart auch sie aufnehmen wird) selbst schon Vorwegnahme der Zukunft. Das erinnert formal an Augustinus, drückt aber die sich entwickelnde Dialektik aus. Die marxistische Geschichtsbetrachtung, der historische Materialismus, unterteilte dann historische Zeitabläufe in große Abschnitte der gesellschaftlichen Entwicklung, die ökonomischen Gesellschaftsformationen.

Nichtmaterialistische Auffassungen von Zeit

Es gibt andere Aspekte, unter denen Zeit philosophisch betrachtet werden kann. Der Begriff Metaphysik (griech. ›hinter der Natur‹) wurde von der Antike bis ins 20. Jahrhundert benutzt. Seit Aristoteles galt Metaphysik als ›erste Philosophie‹, d. h. als ›Wissenschaft der Wissenschaften‹ Ab dem 18. Jahrhundert wurden Teilbereiche wie Psychologie, Theologie und Kosmologie zunehmend von den modernen Wissenschaften abgelöst. Metaphysik ist Sammelbegriff für verschiedenste philosophische Lehren, die von sich behaupten, das Über-Sinnliche, die verborgenen Gründe und Zusammenhänge des Seins, zu behandeln. Sie bezeichnen Erscheinungen, die über die unseren Sinnen möglichen Erfahrungen hinausgehen, als metaphysisch. Daneben benennt der Begriff heute allgemein solche Denkweisen, die der Dialektik entgegengesetzt sind und die Erscheinungen als isoliert und unveränderlich betrachten.

Die menschliche Erfahrung, seine sinnliche Anschauung vom Lauf der Zeit umschließt Leben und Sterben; die ältesten Mythen spiegeln diese ursprüngliche realistische Auffassung. Metaphysische Anschauungen trennten die ›gelebte Zeit‹ von der ›Ewigkeit‹. Die Dinge der ›äußeren‹ Welt seien in der gelebten Zeit und deshalb vergänglich. Vergänglichkeit verband sich mit dem Begriff des Schicksals: von einer höheren Macht gezogene unabänderliche Grenzen.

Andererseits wurde behauptet, wegen ihrer Vergänglichkeit sei diese ›äußere Welt‹ nicht wirklich. Nur in der Ewigkeit existiere das Wirkliche, das Bleibende. Mit dieser Begründung wurde nun Ewigkeit positiv gewertet und zur Idealform der Zeit erklärt. Dort sei man unabhängig von den Zwängen des Schicksals, frei vom Werden und Vergehen. Das betrachtete Aristoteles als höchste Stufe menschlicher Verwirklichung. Aber diese Idealvorstellung blieb vom Leben und selbst von den Mythen getrennt. Auch die Götter der Griechen waren der Zeit, dem Schicksal unterworfen.

Kant wies in seiner Kritik der reinen Vernunft nach, dass menschliche Erkenntnis die Grenzen der Erfahrung nicht überschreiten kann, und wollte damit die spekulative dogmatische Metaphysik zerstören. Hegel schließlich ersetzte sie durch objektive Logik. Aber noch Bergson und Heidegger denken in metaphysisch gegensätzlichen Begriffen. Dass die metaphysische Denkweise noch heute wirksam ist, hat erkenntnistheoretische Ursachen. Es ist eine Eigenart der menschlichen Erkenntnis, einen Gegenstand nicht auf einen Schlag als Ganzes vollständig erfassen zu können. Stets nähert man sich schrittweise diesem Ziel. Dabei werden Abläufe zerstückelt, gehen Zusammenhänge verloren, einzelne Momente werden verabsolutiert und der dialektische Charakter des Gegenstands nicht erfasst. Damit ist der ›Tatbestand‹ des Metaphysischen gegeben. Außerdem spielen soziale Ursachen eine bedeutende Rolle.

Nichtmaterialistische Auffassungen über das Wesen von Zeit und Raum sind heute durch die Naturwissenschaften widerlegt. Doch idealistische Lehren leben weiter. Die Philosophie besonders im 20. Jahrhundert hat gerne jeder Tätigkeit und jedem Zustand einen bestimmten Modus von Zeit zugeschrieben. Edmund Husserl (1859-1938) unterschied zwischen ›subjektiv-immanenter‹ (dem Individuum innewohnender) und ›objektiv-transzendenter‹ (die Grenzen der sinnlich erkennbaren Welt überschreitender) Zeit. Sein ehemaliger Assistent Martin Heidegger (1889-1976) in Freiburg trennte ›ursprüngliche‹ von ›vulgärer‹ Zeit. Andere sprechen vom ›Stillstand der Geschichtszeit‹ oder erkennen ›Augenblicke der beschleunigten Zeit‹. Man definierte die ›intensive Zeit‹ (des Kunsterlebnisses) und die ›gegenständliche Zeit‹ (der Langeweile). Zeit sei abhängig von der Intuition, dem inneren Schöpferdrang des Subjekts.

Daneben wurde Zeit aber auch in mystischer Weise substanzialisiert. Noch im 20. Jahrhundert vertrat der Philosoph Ellis MacTaggart (1866-1925) die Auffassung von einer nicht realen Zeit, ebenso der österreichisch-amerikanische Mathematiker Kurt Gödel (1906-1968), der als bedeutender Logiker gilt. Ähnlich suchte 1949 Gert von Natzmer die vierdimensionale raum-zeitliche Einheit der Welt zu erklären. Der ›Fluss der Zeit‹ sei nicht real vorhanden. Tatsächlich würde unser Bewusstsein eine Aufeinanderfolge von Wirklichkeiten, die ›immer schon da waren‹, nacheinander ›abtasten‹, und daraus entstehe der Anschein eines steten Flusses aller Dinge. Alle derartigen Überlegungen sind subjektiv. Sie beziehen sich darauf, dass Zeit von Menschen ›benutzt‹ wird. Gegenstand der Betrachtung sind die Zwecke, zu denen Zeit verwendet wird, und wie intensiv man sie dabei ›ausnutzt‹. Das setzt voraus, die Zeit zu messen. Darin drückt sich ein gewisser Pragmatismus aus, der schon seit der Antike mit Zeitbegriffen (Kairos) verbunden scheint.

Husserl hatte eine individuelle Erlebniszeit definiert, die von der objektiv messbaren völlig getrennt sei. Im ›Jetzt‹ erlebe man absolute Subjektivität. Darauf basiert seine Philosophie der Bewusstseinsanalyse, die er Phänomenologie nannte. Das Wort wird hier im Sinne einer geistig-intuitiven Wesensschau benutzt, die an die Stelle rationaler Erkenntnis tritt. Davon ausgehend versuchte Heidegger, nicht den Raum, sondern die Sprache als ›Ort des Seins‹ und Zeit als ›Grenze des Verstehens‹ zu interpretieren. Seine Gedanken knüpfen zugleich an das metaphysische Denken Augustinus’ und Kierkegaards an. Der Däne Sören Kierkegaard (1813-1855) hatte die ›Existenzphilosophie‹ auf einer Synthese von Ewigkeit und Zeit, Endlichem (Tod) und Unendlichkeit (Freiheit) begründet.

Mit Sein und Zeit leitete Heidegger 1927 eine neue Phase dieser Anschauungen ein. Das umfangreiche, dennoch Fragment gebliebene Werk zeigt, dass sich gerade das Ewige und Un-Zeitliche überhaupt nur als ein Modus der Zeit denken lässt. Von diesem neuen Oberbegriff ›Zeit‹ trennt er das, wie er es nennt, ›vulgäre‹ Zeitverständnis, die Vorstellung einer Aufeinanderfolge von ›Jetzt-Punkten‹. In Anlehnung an Heidegger sah auch der Theologe Georg Picht (1913-1982) in der Zeit ein philosophisches Grundproblem. Er erklärte, der Unterschied der grundlegenden Modalitäten des Seins (Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit) basiere auf der Differenz der Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), und schloss daraus, dass mit der phänomenologischen Zeit notwendigerweise eine transzendentale, d.h. die Grenzen der Erfahrung überschreitende Zeit verbunden sei.

Unterdessen hatte Henri Bergson (1859-1941) in den Pariser Salons der Jahrhundertwende die Bezeichnung élan vital für seine Auffassung vom Sein geprägt. Leben als schöpferische Aktivität verlaufe in ›schöpferischer Zeit‹ (temps inventeur). Erlebniszeit (temps vécu) sei die wirkliche, ständig im menschlichen Bewusstsein strömende Zeit, objektive Zeit (temps longueur, temps mécanique) dagegen wäre auf den Raum bezogen und ein reines Verstandesprodukt. Messbare Zeit ist für Bergson eine von allen Inhalten ablösbare Form und damit nicht die ›eigentliche‹ Zeit.

(Das Sein und das NichtsKritik der dialektischen Vernunft