Rote Kapelle, kommunistische Gruppen, Weiße Rose, Kreisauer Kreis, 20. Juli: Dieser Roman vereint sie miteinander, die Frauen und Männer, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Er erzählt von ihrem Sterben, vor allem aber von ihrem Leben. Dabei entrollt sich vor dem Leser ein gewaltiges Panorama.

Der »Werkstattbericht« und der Roman in fünf Teilen sind ebenfalls als eBook erhältlich.

Titelseite

ERSTES BUCH

ERSTER TEIL

1

Was folgt auf das Ende, was liegt vor dem Anfang? Das Korn ist eingebracht, die Felder sind leer. Der Nachmittag ist farbensatt, warm wie das Fell eines Hundes, der in der Sonne schläft. An Silberfäden segeln winzige Spinnen durch die Stille, sichtbar-unsichtbar, schwebend in den Aufwinden der Thermik. Der Garten liegt im Rausch von Goldmohn, Dahlien, Zinnien, Sonnenblumen, die den kommenden Winter nicht überstehen werden. Ist hier jemand? Hat jemand gerufen? Die Zeit kräuselt sich.

Die Zeit strudelt in Wirbeln, und die Geschichte entfaltet sich, sie rollt sich auf wie ein Farnblatt, verzweigt sich, sie teilt sich in Stränge, die sich umeinander winden und zu Spiralen, Wendeln, Spindeln verschlingen, bis der Anfang wieder mit dem Ende verschmilzt, das nichts ist als ein weiterer Anfang: ein warmer goldener Indian-Summer-Nachmittag 1917 in Milwaukee, der deutschesten Stadt Amerikas.

Amerika und Deutschland befinden sich miteinander im Krieg. Das deutschsprachige Pabst-Theater ist geschlossen. Die deutschsprachigen Zeitungen und Magazine, die in den Cafés auszuliegen pflegten, haben das Erscheinen eingestellt. Sauerkraut heißt neuerdings Freiheitskohl. Bismarckrolle heißt Schöne Amerikanerin. Das Goethe-Standbild steht noch im Stadtpark, aber die Germania ist vom Brumder Newspaper Building entfernt worden. Mildred Fish und ihre Freundin Grace Carlsruh sitzen auf einer Bank hinter dem Carlsruh-Haus im Garten.

Mildred hat keine deutschen Vorfahren, im Gegensatz zu Grace und vielen anderen an der West Side High School. Sie hat trotzdem am Deutschunterricht teilgenommen. Aber damit ist es vorbei. Die Schülerinnen der West Side High rollen Verbände, stopfen Strümpfe und errichten Fahnenstangen im Schulhof. Und Mildreds Gedicht ›Our Boys‹ über die kämpfende Truppe wird nächste Woche in der Schülerzeitung ›Comet‹ erscheinen:

Perhaps a nobler life is theirs in death.

How little of the debt we can repay –

Das hat Mildred geschrieben. Mildred schreibt sehr talentiert, das sagen alle. Für ihre Geschichte über wahre christliche Liebe in Kriegszeiten hat sie letztes Jahr sogar einen Preis gewonnen, eine Kodak-Kamera im Wert von acht Dollar, Mildred weiß genau, was christliche Liebe ist. Ihre Mutter ist eine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Sie hat Mildred beigebracht, dass das Böse in Wahrheit gar nicht existiert. Leid und Kummer, Schmerz und Verzweiflung, Krankheit und Tod sind nichts als Trugbilder. Wirklich ist allein die Liebe, die stark ist wie der Tod.

Mildred selbst ist keine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft. Aber sie glaubt an die Macht der Liebe. Sie glaubt an die Einheit von Gott, Natur und Mensch. Alles ist heilig. Alles ist vom Wesen des Göttlichen durchdrungen: Das glaubt Mildred ganz fest. Sie und Grace Carlsruh reden eine Menge über solche Themen. Im Moment reden sie aber über Miss Simmons, ihre Englischlehrerin.

»Sie ist ein Trampeltier«, sagt Grace zu Mildred. »Und sie ist humorlos. Sie hat Betty eine Strafarbeit aufgegeben, nur weil Betty im Unterricht gelacht hat.«

»Sie ist vor allem geistlos«, sagt Mildred. »Was sie über Dichtung sagt, ist niemals tief empfunden oder eigenwillig gedacht. Es ist immer nur ein ganz mechanisches Gerede.« Mildred überlegt. Dann weiß sie es.

»Es ist ein Dröhnen wie von einem Staubsauger. Und man selbst ist der abgewetzte Teppich, dem sie die letzten Fäden eigener Gedanken herauszieht.«

Mildred lächelt, weil Grace lacht. Sie sitzen im Schatten nebeneinander und trinken Limonade. Die Limonade hat ihnen Mrs. Carlsruhs irisches Mädchen gemacht. Die Carlsruhs haben ein Mädchen. Bei den Fishs wäre man froh, wenn man Limonade hätte. Man wäre froh, wenn man jeden Abend satt ins Bett gehen könnte, schuld an der Misere ist Mildreds Vater.

Der Vater ist ein Versager, der nur an seine Pferde und an den Whisky denkt. Die Mutter hat ihn längst aus dem Haus geworfen. Sie schultert die ganze Last allein. Sie verdient sehr wenig, mit ihrer Arbeit. Sie geht aber aufrecht. Sie ist schmal, überarbeitet und zäh, aber sie hält den Kopf hoch, auch wenn sie für fremde Leute putzt, um ihre vier Töchter durchzubringen.

Die Älteste, Harriette, ist inzwischen verheiratet. Mildred ist die Jüngste. Sie wird studieren. Sie wird schreiben, so wie die Journalistin und Literaturkritikerin Margaret Fuller aus dem Kreis der neuenglischen Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau. Ganz sicher bedeutet es doch etwas, dass Mildred Fish dieselben Initialen hat wie Margaret Fuller?

Margaret hat für Horace Greeleys ›New York Tribune‹ über Kunst, Kultur und Literatur geschrieben, und 1846 ist sie nach Europa gereist, als erste weibliche Auslandskorrespondentin einer amerikanischen Zeitung. Es war alles sehr abenteuerlich und romantisch. Denn in Italien hat Margaret sich in den jungen italienischen Revolutionär Marchese Giovanni Angelo d’Ossoli verliebt. Sie hat Seite an Seite mit ihm für die Republik gekämpft, und er hat eisern zu ihr gestanden, auch als sie schwanger wurde und seine Familie drohte, ihn zu enterben. Nachdem die italienische Revolution gescheitert war, war er sogar bereit, mit Margaret und dem Kind nach Amerika auszuwandern.

Im Mai 1850 traten sie die Reise an. Aber an Bord des Schiffs brachen die Pocken aus. Der Kapitän erlag der furchtbaren Krankheit, und als vor Fire Island ein Sturm aufkam, lief das führerlose Schiff auf Grund.

Margaret, der Marchese und ihr kleiner Sohn ertranken, in Sichtweite der amerikanischen Küste. Tagelang wanderte der Philosoph Henry David Thoreau am Strand zwischen den angespülten Trümmern umher, auf der Suche nach Margarets Manuskript über die italienische Revolution. Er fuhr sogar mit einem Boot an den Ort des Unglücks und versuchte, auf das Wrack zu gelangen. Vergebens. Margarets letztes Werk hat die See behalten, ebenso wie ihre sterblichen Überreste.

»Mir ist langweilig«, sagt Grace.

Sie stellt ihr leeres Limonadenglas auf den Boden neben die Bank im Carlsruh-Garten. Sie gähnt, sie streckt sich.

»Wollen wir Rollschuh fahren?«

»Gern«, sagt Mildred. »Ich habe meine Rollschuhe vorn am Tor liegen lassen.«

Die Mädchen gehen miteinander über den Rasen. Sie sind fünfzehn Jahre alt. Sie gehen Arm in Arm, sie lachen. Sie spielen ein Spiel, einem alten Kinderreim folgend,

Two little hands go clap, clap, clap,

Two little feet go tap, tap, tap.

Sie werden für immer zusammenbleiben, das haben sie einander versprochen. Sie werden niemals heiraten, sondern zusammen in einem kleinen Haus an einem grünen Flussufer leben, mit Katzen und Kanarienvögeln und englischen Rosen im Garten. Tagsüber werden sie dichten und singen. Und abends werden sie ihre Freunde empfangen: Dichter, Philosophen und Künstler, die wie Mildred und Grace nach dem Edlen, Echten, Einfachen streben, es wird sein wie am Hofe von König Artus. Mildred weiß nur noch nicht, ob sie Guinevere oder Galahad sein wird. Und gleich werden sie das Tor erreicht haben.

Sie werden auf die Straße hinaustreten. Sie werden ihre Rollschuhe anschnallen, und dann geht die Fahrt los. Dann geht es den Hügel hinunter, auf die Küste zu, schnell und schneller unter Rufen und Gelächter denen entgegen, die in der Ferne auf sie warten,

Two little legs kick high, high, high,

Two little arms wave bye, bye, bye.

Arvid Harnack ist in Berlin, zu Besuch bei Tante Amalie und Onkel Adolf. Adolf von Harnack ist 1914 für seine Verdienste vom Kaiser geadelt worden. Es war dasselbe Jahr, in dem Arvids Vater gestorben ist. Am 27. Februar ist Otto Harnack aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Erst nach mehr als drei Wochen hat man ihn gefunden, im Schilf am Flussufer strudelnd, der schwere Körper leicht im eisigen Schmelzwasser des Neckar. Während der Wochen des Wartens hat seine Frau Clara jeden Tag daran denken müssen, dass sie am Sonntag davor nicht mit ihm in die Mozartmatinee gegangen ist.

Sie war mit einem Modell verabredet, in ihrem schönen stillen Atelier, weitab der Kinder, der Familie, des alltäglichen Lärms, geborgen zwischen Farbtuben und Pinseln, im sauberen Geruch von Leinöl und Terpentin. Sie freute sich sehnsüchtig auf diesen Termin. Otto war natürlich voller Verständnis. Er war immer voller Verständnis, wenn jemand der Welt entfliehen wollte.

»Geh du nur malen«, hat er gesagt. »Geh du ruhig malen, wenn du es so gern möchtest.«

Dann ging er ins Konzert, allein. Und Clara hat ihn gehen lassen. Aber hätte sie ihn zurückhalten können? War ihr ein Mittel gegeben, um ihn zu retten, den Literaturprofessor und Goethe-Forscher Otto Harnack? Clara glaubt es nicht. Die tiefe, schauervolle Nacht hatte ihn überkommen. Das schäumende Meer hat ihn mit sich fortgerissen. Und natürlich ist er nicht absichtlich an jenes Ufer, an genau jene Stelle gegangen, an der er nicht mehr weiterkonnte. Aber einmal dort angelangt, sah er keine Möglichkeit mehr. Es gab kein Boot, keine Brücke, keinen Fährmann, mit dem er zu neuen, helleren Ufern hätte übersetzen können. Clara denkt, dass er am Ende vielleicht ganz heiter war. Er war vielleicht erleichtert, es hinter sich zu haben. Nun muss Clara Harnack ihre vier Kinder eben allein durch diesen Krieg hindurchretten.

Aber nicht ganz allein. Schließlich ist noch die Familie da. Onkel Adolf und Tante Amalie empfinden die familiäre Verantwortung. Sie bewohnen eine große Villa im Berliner Professorenviertel in Grunewald. Sie haben Platz: Ihre Kinder sind alle schon erwachsen und aus dem Haus. Onkel und Tante sind gern bereit, von Zeit zu Zeit die Sprösslinge ihrer Schwägerin zu sich zu nehmen, diesmal ist Arvid allerdings ohne seine Geschwister nach Berlin gefahren.

Es ist eine außerturnusmäßige Reise. Arvid soll sich von einer Verletzung erholen. Man hat ihm sechs Glassplitter aus dem Auge operiert. Die Sache war leider nicht zu vermeiden. Ein Straßenbengel hatte einen kleineren Jungen mit einem Stock bedroht. Arvid hat eingegriffen, und bei der Rangelei ist seine Brille kaputtgegangen, das Unangenehmste waren wie immer Aufregung und Sorge der Mutter. Dabei hat Arvid sich bemüht, ihr den schlimmsten Schrecken zu ersparen. Er hat sich sein Taschentuch vors Auge gedrückt und ist ganz allein ins Krankenhaus marschiert, wo der Arzt die Splitter ohne Betäubung entfernt hat. Arvid ist nicht einmal angebunden worden. Er hat versprochen stillzuhalten, und das hat er auch getan. Er hat sich einfach die ganze Zeit über vorgestellt, er wäre ein Soldat im Krieg. Er hat sich vorgestellt, er wäre in vorderster Linie an der Front verletzt worden und läge nun da und würde operiert, es ist ein Junisonntag 1916.

Der Krieg geht ins dritte Jahr. In den Gärten der großen Grunewaldvillen wachsen Kartoffeln und Kohl. Zwerghühner scharren zwischen den Frühbeeten. Hähne krähen den Amseln und Drosseln in ihre Lieder hinein. Im Schuppen der Delbrücks haust eine Milchziege. Im Schuppen der Harnacks hausen Kaninchen. Im Zaun dazwischen ist eine Pforte, die von einem Grundstück zum anderen führt, so dass man jederzeit zwischen dem Delbrück-Haus und dem Harnack-Haus hin- und hergehen kann: Amalie von Harnack und Lina Delbrück sind Schwestern, und ihre Männer sind über das unter Schwägern übliche Maß hinaus miteinander befreundet. Heute hat man sich um die sonntägliche Mittagstafel der von Harnacks versammelt.

Im Moment plaudert man über Max Reinhardts Inszenierung der ›Räuber‹ an der Volksbühne, die Arvids Vettern Ernst und Axel gestern Abend gesehen haben. Ernst und seine junge Frau Änne sind zurzeit auf Besuch in Berlin. Ernst hat neunzehn Monate im Felde gestanden, dann ist er zusammengebrochen. Inzwischen haben die Kopfschmerzen nachgelassen, auch das Zittern und die Weinkrämpfe. Fronttauglich ist er aber nicht. Er ist zur deutschen Zivilverwaltung in Polen abkommandiert, Arvid vermeidet es, ihn darauf anzusprechen. Es ist dem Vetter doch sicher peinlich. Arvid selbst ist ärgerlicherweise erst fünfzehn und damit noch zu jung für den Krieg. Seine Mutter ist zum Frauenfriedenskongress der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit nach Den Haag gereist. Arvid stimmt ihr gern zu, dass Frieden viel besser wäre als Krieg. Aber er hofft doch, dass er noch mit dabei sein und für Deutschland kämpfen kann, bevor der Frieden ausbricht, auch wenn er auf dem dummen Auge vielleicht nie wieder richtig sehen wird.

»Wollen wir nachher Schlagball spielen, Arvid?«

Justus Delbrück sitzt Arvid gegenüber. Die Harnack-Vettern und -Basen sind alle erwachsen. Aber Just ist genauso alt wie Arvid. Mit Just, Emmi und Max Delbrück lässt sich etwas anfangen.

»Wollen wir Schlagball spielen oder lieber Boccia?«

»Schlagball zuerst. Boccia wird später sowieso gespielt, wenn Onkel Adolf in den Garten kommt.«

Das Rhabarberkompott ist serviert. Die Löffel klappern. Die Fenster sind geöffnet. Draußen rauschen die Bäume. Das Gespräch an der Tafel plätschert munter dahin, teilt sich in mehrere Läufe auf, in Bächlein, die sich durch Wiesen schlängeln und über Steine springen, bevor sie wieder in ein gemeinsames Bett zusammenfinden. Dann rücken die Schwäger ihre Stühle zurück: Der Theologe und Religionswissenschaftler Professor Adolf von Harnack und der Historiker und Herausgeber der ›Preußischen Jahrbücher‹ Professor Hans Delbrück haben ihren Nachtisch aufgegessen.

»Was ich noch anmerken wollte«, sagt Adolf von Harnack.

»Wenn ich dir kurz meine Ansicht der Lage«, sagt Hans Delbrück.

Das ist das Zeichen. Die Damen erheben sich, die Kinder springen auf. Die Herren entzünden Zigarren, während um sie herum eilig das Schlachtfeld geräumt wird.

»Man wundert sich doch über Admiral von Tirpitz’ Forderung nach dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg«, sagt Hans Delbrück zu seinem Schwager. »Selbst wenn uns das den Sieg bringen würde, was ich nicht glaube, muss man sich fragen, was damit gewonnen wäre. Dauernder Friede wird doch nur möglich sein, wenn wir zeigen, dass Deutschland bereit ist, eine Macht unter anderen Mächten zu sein. Wenn wir jeden Anschein vermeiden, als befänden wir uns auf einem sozusagen napoleonischen Weg und strebten nach der Unterwerfung anderer Nationen.«

»Ich bin in diesem Punkt ausnahmsweise einmal ganz deiner Meinung«, sagt Adolf von Harnack. »Hast du meinen Artikel im ›Tag‹ gelesen? Ich bin darin Zedlitz entgegengetreten, der sich ebenfalls darüber ereifert, dass nicht alle zur Verfügung stehenden Machtmittel eingesetzt werden, um Deutschland zum Sieg zu verhelfen. Seiner Meinung nach gehen Entscheidungen auf der Grundlage humanitären Gedankenguts auf Kosten deutscher Interessen. Aber wie kann der äußerste Einsatz aller Kampfmittel jemals im Interesse Deutschlands liegen? Man muss doch wenigstens die diplomatischen und handelspolitischen Folgen abschätzen, wenn man schon sonst keine Maßstäbe mehr kennt. Ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit dem Reichskanzler. Ich habe ihm zu bedenken gegeben, dass auch politische Entscheidungen letztlich der sittlichen Betrachtung unterworfen sind, dem Spruch des Gewissens. Natürlich gelten in der Politik andere ethische Regeln als im Privatleben. Aber auch einer Regierung wird am Ende nur vertraut werden, wenn sie sich an die Regeln der politischen Ethik hält.«

»So ist es«, sagt Hans Delbrück. Er streift die Asche seiner Zigarre ab und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. »Letztlich muss man sich fragen, ob unsere heutigen Entscheidungen auch noch von Nachkommen gebilligt werden können, die unsere beschränkten und kurzlebigen Interessen nicht teilen. Aber solch weiten Blick wird man von Tirpitz wohl nicht erwarten können.«

Der Krieg ist blöde, aber er ist nötig. Das hat Harro Schulze längst kapiert. Der Großneffe des Großadmirals Alfred von Tirpitz, ältester Sohn des Korvettenkapitäns Erich Edgar Schulze und seiner Frau Marie-Luise, geborene Boysen, vermisst seinen Papa sehr. Aber für das Vaterland, die Volksgemeinschaft, den Sieg muss man Opfer bringen. Und die Engländer muss man verachten, das weiß Harro auch. Die Engländer kennen keine höheren Werte. Sie sind ein Volk von Händlern. Ihnen geht es nur um Geld und Gewinn und um Mehrung ihrer Macht. Sie haben keinerlei echte Moral: Sie versuchen nur mit allen möglichen tückischen Tricks zu verhindern, dass die Deutschen auch mal drankommen und Kolonien in Asien oder Afrika haben, und die Franzosen sind auch nicht besser, Harro ist am Sedantag 1909 geboren, dem Jahrestag des entscheidenden Siegs über die Franzosen in der Schlacht von 1870. Die Mutter hat Harro erklärt, dass dieses Geburtsdatum ein Grund ist, stolz zu sein. Harro schreibt seinem Papa an die Front.

Ich freue mich, wenn ihr die Engländer wegjagt. Wann ist wohl der Krieg zu Ende? Wir hätten Dich Weihnachten so gern hier gehabt.

Harro ist letztes Jahr in die Vorschulklasse des Realgymnasiums Schmargendorf aufgenommen worden. Er konnte schon vorher ein bisschen lesen und schreiben, aber inzwischen klappt es richtig gut. Harro schreibt,

Lieber Papa,

ich habe Dich immer noch lieb. Ist der Krieg nicht bald zu Ende? Das Bild und den Spruch von Friedrich dem Großen habe ich bekommen, auch den Aufruf des Kaisers an Heer und Flotte. Ich habe ihn gerne gelesen. Gestern war wieder ein großer Ball, wir haben alle getanzt und etwas vorgeführt und danach noch Grießspeise gegessen. Wir dichten hier sehr viel. Ich habe keine Zeit mehr, viele Grüße von Deinem Sohn Harro