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Beate Guldenschuh

Wege aus der Essstörung
56 Frauen berichten

Beate Guldenschuh

Wege aus der Essstörung

56 Frauen berichten

StudienVerlag

Innsbruck-Wien-München-Bozen

 

 

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

VORWORT

Aus verschiedensten Gründen nehmen Ernährungsprobleme zu. Die Betreuung von Personen mit Anorexia nervosa und Bulimia nervosa ist auch an der Klinik Innsbruck ein hochaktuelles Thema; zunehmend müssen sich auch niedergelassene Ärzte mit diesem Krankheitsbild auseinandersetzen. Offenbar existieren jedoch noch wenige umfassende wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Themenkreis.

Die Autorin hat 56 Personen befragt und ihre Aussagen analysiert. Die Qualität und Relevanz für die Praxis dieser wissenschaftlichen Untersuchung, die im Rahmen einer Diplomarbeit durchgeführt wurde, wird von medizinischen Experten unter anderem auch als sehr nützlich für die Betroffenen, nämlich Erkrankte und deren Angehörige, betont.

Zur Unterstützung der professionellen Arbeit mit Personen, die an Essstörungen leiden, aber auch im Sinne der Aufklärung der Betroffenen, war es der TILAK daher ein Anliegen, diese Publikation zu fördern.

Dipl. Vw. Dr. Herbert Weissenböck

Univ. Doz. Roland Staudinger

TILAK-Vorstand

Inhaltsverzeichnis

1    Einleitung

2    Magersucht und Ess-Brechsucht

2.1    Verbreitung von Magersucht und Bulimie in Österreich

2.2    Gemeinsamkeiten und Unterschiede

2.3    Diagnose

2.3.1    Diagnostische Merkmale für Anorexia nervosa/Magersucht

2.3.2    Diagnostische Merkmale für Bulimia nervosa/Bulimie

3    Beschreibung der Untersuchung

3.1    Die Untersuchungsteilnehmerinnen

3.1.1    Die Spontanremissionsgruppe

3.1.2    Die Therapiegruppe

3.2    Ablauf und Ziele der Untersuchung

4    Ergebnisse der Untersuchung

4.1    Wie erklären sich ehemals Betroffene den Genesungsprozess?

4.2    Glauben ehemals Betroffene an eine vollständige Heilung?

4.3    Worin sehen ehemals Betroffene aus heutiger Sicht „Reste“ der Essstörung?

4.4    Wie stehen ehemals Betroffene zu Rückfällen und zu Symptomverschiebungen?

4.5    Was würden ehemals Betroffene akut Betroffenen raten?

4.6    Was haben ehemals Betroffene aus der Erfahrung mit der Essstörung gelernt?

4.7    Aus welchen Gründen haben die Betroffenen in der Spontanremissionsgruppe keine Therapie in Anspruch genommen?

5    Abschileßende Bemerkungen

6    Literaturliste

 

Übersichtsverzeichnis

Anhang I

Anhang II

1 Einleitung

In der heutigen Zeit stellen Mangelernährung und Erreichbarkeit von Nahrungsmitteln in Industrienationen keine Probleme mehr dar. Dennoch kommt es zu einer Zunahme von Essstörungen. Das gestörte Verhältnis zu Lebensmitteln zeigt sich in zwei Verhaltensweisen. Einerseits wird der Konsum von Lebensmitteln nicht mehr als überlebensnotwendig gesehen und deshalb schrittweise reduziert. Dies kann so weit führen, dass das Überleben nicht mehr gesichert ist und der Mensch an Unterernährung stirbt. Andererseits dienen Nahrungsmittel nicht mehr in erster Linie der Bekämpfung von Hunger, einem der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse, sondern werden zur Lösung von Problemen missbraucht. So werden beispielsweise durch Lebensmittel Gefühle der Einsamkeit und fehlende menschliche Nähe „hinuntergeschluckt“, oder man versucht sich damit von seinem als unerträglich empfundenen Leben zu distanzieren.

Das Hineingleiten in die Essstörung bleibt in vielen Fällen vom Betroffenen und auch vom Umfeld unbemerkt. Zu Beginn einer Magersucht stehen oft Aussagen wie: „Ich möchte ein bisschen abnehmen.“ „Zuviel essen ist ungesund.“ „Ich möchte mich nur noch gesund ernähren.“ Bei der Ess-Brechsucht gehören Essanfalle und das anschließende Erbrechen zum Krankheitsbild. Dies wird vor dem Umfeld verheimlicht, und die Betroffenen glauben, durch diese Verhaltensweise eine Problemlösung gefunden zu haben. Eine Lösung, bei der sie auf nichts mehr verzichten müssen und doch nicht zunehmen.

Wege aus einer Essstörung hingegen gestalten sich für Betroffene meist recht mühsam, und Rückfälle sind kaum auszuschließen. Der Kampf gegen die Krankheit ist recht kräfteraubend, und es bedarf eines starken Willens. Grundvoraussetzung dazu ist das Eingeständnis, an einer Krankheit zu leiden, die man überwinden möchte. Gesteht man sich hingegen die Krankheit nicht ein, fällt es schwer, einen erfolgreichen Weg aus dieser zu finden.

Genau um diesen Kampf gegen die Essstörung geht es in diesem Buch. 56 ehemals Betroffene berichten über ihre Erfahrungen zu diesem Thema. Sie sind „Experten“, denn sie haben die Erkrankung mit ihren Höhen und Tiefen am eigenen Leib erfahren. Dazu nehmen sie zu den folgenden Fragen Stellung:

1.   Wie erklären sich ehemals Betroffene den Genesungsprozess?

2.   Glauben ehemals Betroffene an eine vollständige Heilung?

3.   Worin sehen ehemals Betroffene aus heutiger Sicht „Reste“ der Essstörung?

4.   Wie stehen ehemals Betroffene zu Rückfällen und zu Symptomverschiebungen?

5.   Was würden ehemals Betroffene akut Betroffenen raten?

6.   Was haben ehemals Betroffene aus der Erfahrung mit der Essstörung gelernt?

7.   Aus welchen Gründen haben die Betroffenen in der Spontanremissionsgruppe (Personen, die ohne professionelle Hilfe gesund wurden) keine Therapie in Anspruch genommen?

2 Magersucht und Ess-Brechsucht

In diesem Kapitel werden die beiden Essstörungsarten vorgestellt und beschrieben. Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Krankheitsbilder wird speziell eingegangen und deren Verbreitung in Österreich dargestellt.

In der Fachsprache wird die Magersucht als Anorexia nervosa und das Verhalten demzufolge als anorektisch bezeichnet. Das Fremdwort für die Ess-Brechsucht ist eher geläufig und lautet Bulimie bzw. Bulimia nervosa. Die entsprechenden Verhaltensweisen werden bulimisch genannt.

2.1 Verbreitung von Magersucht und Bulimie in Österreich

Um die geschätzte Häufigkeit von Essstörungen in Österreich darzustellen, wird die Untersuchung von Rathner und Rainer (1997) zusammengefasst wiedergegeben:

Die Häufigkeits- und Neuerkrankungsraten in vergleichbaren Ländern wurden herangezogen, um auf entsprechende Zahlen in Österreich schließen zu können. Dabei wurden die Einwohnerverhältnisse in Österreich auf Grund der Volkszählung von 1991 berücksichtigt. Diese Vorgangsweise wird durch die Autoren dadurch gerechtfertigt, daß in der westlichen Welt eine Angleichung der Lebensstile zu beobachten ist und sie eine Möglichkeit bietet, Schätzwerte für Österreich zu ermitteln, die bisher fehlten.

Folgende Zahlen ergeben sich nur für die Häufigkeit der Magersucht, der Nicht näher bezeichneten Essstörung und der Bulimie1 an einem Stichtag im Jahr 1991: Ca. 2500 Frauen und Mädchen leiden an einer Magersucht (1 % der Risikoaltersgruppe der 15- bis 20jährigen) und ca. 4400 – 5400 Frauen und Mädchen sind an einer Nicht näher bezeichneten Essstörung erkrankt (1,78 – 2,18 % dieser Risikoaltersgruppe). Für die Bulimie liegt die Risikoaltersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren. Da der Anteil der Betroffenen hier bei 1 % liegt, kann von über 6500 erkrankten Frauen ausgegangen werden.2

Die geschätzte Gesamtzahl von Personen mit Essstörungen ist jedoch höher als die Summe dieser einzelnen Schätzungen, denn es erkranken auch Frauen an einer Essstörung, deren Alter außerhalb der angegebenen Risikoaltersgruppe liegt. Es gibt z.B. auch 22jährige magersüchtige oder 33jährige bulimische Frauen, die hier nicht berücksichtigt wurden.

Da Männer ca. zehnmal seltener von Essstörungen betroffen sind als Frauen und der Anteil der behandelten Männer bei ca. 5 % liegt, wurden sie bei der obigen Schätzung der Häufigkeit ausgenommen.3

2.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Bei Essstörungen wird die tatsächliche Funktion des Essens immer weiter in den Hintergrund gedrängt. Im Vordergrund steht die Kraft, die durch das Essen oder Nichtessen mobilisiert werden kann. Bei der Magersucht besteht diese „Kraft“ in der Verweigerung der Nahrung. Diese Verweigerung stellt den untergewichtigen Menschen über seine willensschwachen Mitmenschen, die es nicht schaffen, als „Geistwesen“ ohne fleischliche Bedürfnisse zu leben. Magersüchtige fühlen sich so als etwas Besonderes, abgehoben und unabhängig vom Rest der Welt. Im bulimischen Verhalten hingegen erhält der Kranke über das Essen die Möglichkeit, immer wiederkehrende Probleme und unangenehme Gefühle „hinunterzuschlucken“. Nahrung gibt Kraft und Halt, Trost und Wärme.

Bei beiden Krankheitsbildern wird der Körper zum Austragungsort von psychischen Problemen. Bei der Magersucht kommt es zur Flucht in den vorpubertären Zustand, weil dies eine Möglichkeit bietet, sich der Verantwortung des Erwachsenseins zu entziehen. Die Fressattacken in der Bulimie stellen hingegen eine sogenannte „Auszeit“ dar, denn vordergründige Probleme können so für eine gewisse Zeit aus den Gedanken verbannt werden. Stattdessen nehmen das Essen und Ungeschehenmachen des Kontrollverlustes alle Aufmerksamkeit des Denkens in Anspruch. Bulimische Frauen bewundern oft die Kontrolle der Magersüchtigen und sehen sich zum Teil als „falsche“ Magersüchtige, die es nicht schaffen, dem Essen zu widerstehen.

Dem Körpergewicht und der Figur werden bei der Magersucht und der Bulimie eine besondere Bedeutung zugeschrieben, denn gerade das körperliche Erscheinungsbild ist durch gesellschaftliche Erwartungen geprägt. Bei beiden Krankheitsbildern ist die Angst vor einer Gewichtszunahme während der Erkrankung allgegenwärtig. Bei magersüchtigen Menschen liegt das Wunschgewicht im untergewichtigen Bereich und wird meist immer weiter nach unten korrigiert. Dies kann dadurch erklärt werden, dass magersüchtige Frauen ein gestörtes Körperbild haben. Wenn sie sich beschreiben müssen, finden sie sich immer zu dick, auch wenn alle anderen das Gegenteil behaupten. Bei der Bulimie liegt das Wunschgewicht im Normalbereich oder geringfügig darunter.

Ich habe versucht, die gestörte Selbstwahrnehmung bei magersüchtigen Menschen nachzuvollziehen, und kam zu folgender Überlegung: Jeder Mensch kennt Phasen, in denen er mit seinem körperlichen Erscheinungsbild nicht zufrieden ist. Nehmen wir als Beispiel eine große Nase oder unreine Hautstellen im Gesicht. Wenn wir uns im Spiegel betrachten, sticht uns dieser „Makel“ vor allem dann ins Auge, wenn wir uns nicht so gut fühlen und mit verschiedenen Problemen beschäftigt sind. Wir sehen nur noch die Nase oder die Unreinheiten, reduzieren uns in gewissem Sinne auf diesen Makel und ignorieren unsere schönen Seiten. Menschen, denen wir tagtäglich begegnen, würden diese persönlich empfundenen „Schwachstellen“ gar nicht auffallen. Nur können wir das in der jeweiligen Situation kaum glauben. Genauso kann man sich das bei einer magersüchtigen Person vorstellen. Ihr Makel sind die „Rundungen“, und beim Betrachten im Spiegel wird sie immer solche Rundungen finden, egal wie wenig sie wiegt. Diese Rundungen werden verzerrt, sprich überdimensional wahrgenommen, sodass sich die Person immer als dick sieht. In den Gesprächen wurde dieser Gedankengang von ehemals magersüchtigen Frauen bestätigt.

Eine fehlende Krankheitseinsicht ist bei beiden Erkrankungen vor allem zu Beginn zu finden.

Bei der Magersucht kann die Verleugnung der Erkrankung durch die verzerrte Körperwahrnehmung erklärt werden. Da sich magersüchtige Menschen als dick wahrnehmen, rechtfertigen sie teilweise so ihr krankhaftes Verhalten.

Bulimische Verhaltensweisen werden zuerst oft als die Lösung der Probleme gesehen, denn die dickmachende Wirkung der Nahrung wird einfach durch entsprechendes Verhalten wie beispielsweise das Erbrechen ausgeglichen. Es bricht aber bald die ernüchternde Tatsache herein, dass die Fressanfälle nicht der eigenen Kontrolle gehorchen.

Die Magersucht und die Bulimie weisen unterschiedliche Altersgipfel bei der Ersterkrankung auf. So liegt dieser bei der Magersucht ca. im Alter von 14 Jahren und bei der Bulimie ca. um das 19. Lebensjahr.4

Die Magersucht ist bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen am häufigsten, Männer sowie Kinder vor der Pubertät und ältere Frauen sind wesentlich seltener betroffen. Die Alters- und Geschlechtsverteilung der Bulimie ist ähnlich.5

Im Krankheitsverlauf kann es zu schweren körperlichen Komplikationen kommen, die sich beispielsweise in Elektrolyt- und Kreislaufstörungen, Schwäche und lebensbedrohlicher Abmagerung, Entzündungen und Blutungen im Verdauungstrakt, Verstopfungen, Schwellungen (durch Ansammlung von wässriger Flüssigkeit im Gewebe), Nierenschäden usw. äußern können. Außerdem sind psychische Auffälligkeiten wie Depressionen, starke Gefühlsschwankungen, Schuld- und Schamgefühle, die Abwehr sexueller Bedürfnisse und ein zunehmender sozialer Rückzug zu beobachten. Betroffene sind häufig überangepasst, leistungsorientiert, verhalten sich sozial erwünscht und konfliktvermeidend. In den Familien ist oft mangelnde Flexibilität und Konfliktfähigkeit zu beobachten.6

2.3 Diagnose

Im deutschen Sprachraum werden derzeit die Diagnosemerkmale des DSM-IV verwendet. Das DSM-IV7 ist ein Handbuch, in dem alle psychischen Erkrankungen beschrieben werden und die Merkmale aufgelistet sind, die bei einer Diagnosestellung beachtet werden müssen. In diesem Handbuch werden auch die beiden Krankheitsbilder Magersucht und Bulimie bei den Essstörungen beschrieben. Ich habe diese Merkmale allgemein verständlich umformuliert und teilweise mit Beispielen versehen:

2.3.1 Diagnostische Merkmale für Anorexia nervosa/Magersucht

Folgende Merkmale (A) bis (D) beschreiben zunächst die Magersucht. In der Folge wird auf die beiden unterschiedlichen Formen der Magersucht (Restriktiver und Binge-Eating/Purging-Typus) eingegangen.

(A) Untergewicht

Das erste Merkmal kennzeichnet sich dadurch aus, dass sich die Person weigert, das Mindestnormalgewicht für das entsprechende Alter und die entsprechende Körpergröße zu halten. Dies geschieht entweder durch eine Gewichtsabnahme von mindestens 15 % oder durch ein Ausbleiben der erwarteten Gewichtszunahme während der Wachstumsphase in der Pubertät.

Um festzustellen, inwieweit das Verhältnis der Größe zum Gewicht im Normalbereich liegt, kann der Body-Mass-Index (BMI) für Personen ab dem 16. Lebensjahr als Richtlinie herangezogen werden. Dabei wird das Körpergewicht (kg) durch die Körpergröße (m) zum Quadrat dividiert. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen:

Eine Frau wiegt bei einer Körpergröße von 1,68 m 59 kg. Werden diese Werte in die Formel eingesetzt, ergibt sich folgende Rechnung: 594÷1,682=20,90. Ihr BMI beträgt also 20,90 und liegt im Normalbereich. Im Allgemeinen gilt folgende Regel für Frauen:

Bei Werten von 17,5 und darunter spricht man von Magersucht. Werte, die darüber liegen, aber geringer als 19 sind, kennzeichnen den untergewichtigen Bereich. Werte von 19 – 24 entsprechen dem Normalbereich, Werte darüber dem Übergewicht.

Bei Männern liegt das Normalgewicht bei einem BMI zwischen 20 und 25, das Übergewicht beginnt ab 25.

Von starkem Übergewicht (Adipositas) spricht man bei Männern und Frauen ab einem BMI von 30. Das beginnt bei einer Größe von 1,68 m bei einem Gewicht ab 86 kg.

Die oben erwähnten Werte, die durch den BMI errechnet werden, dienen als Richtlinie für den Untersucher. Es sollte aber auch zusätzlich der individuelle Körperbau und die Gewichtsentwicklung der Person miteinbezogen werden.

Für Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren werden statt dem BMI Wachstumstabellen herangezogen, die eine Hilfe bei der Beurteilung des Körpergewichtes ermöglichen. Eine weitere Orientierungsmöglichkeit stellt das sogenannte Referenz-Körpergewicht8 dar. Für jede Körpergröße ist jener Gewichtsbereich angegeben, in dem 80 % aller Kinder und Jugendlichen liegen und der als Toleranzbereich bezeichnet wird. Im Anhang I befindet sich diese Referenz-Körpergewichtstabelle.

(B) Die Angst zuzunehmen

Es bestehen ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, obwohl die Person (stark) untergewichtig ist.

(C) Gestörte Eigenwahrnehmung

Die Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts ist gestört, denn die Person findet sich dick, obwohl der Körper ausgemergelt ist und die Waage ein sehr geringes Gewicht anzeigt. Es besteht ein übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung. Beispielsweise wird ein weiteres Sinken des Gewichts als Zeichen von außergewöhnlicher Selbstdisziplin bewertet, und bei einer Gewichtszunahme fühlt sich die Person als Versager. Der Schweregrad des Gewichtsverlusts bzw. das gegenwärtige geringe Körpergewicht wird verleugnet, also nicht wahrgenommen.

(D) Keine Menstruation

Bei Frauen, die bereits menstruiert haben, kommt es zu einem Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen. Bei Mädchen, die ihre erste Periode noch nicht bekommen haben, bleibt die Menstruation auf Grund der Krankheit überhaupt aus.

Das Ausbleiben der Menstruation wird auch dann angenommen, wenn bei einer Frau die Periode nur nach Verabreichung von Hormonen, z. B. Östrogen, eintritt. Dasselbe gilt für die Einnahme der Anti-Baby-Pille zur Empfängnisverhütung.

Wie oben erwähnt, gibt es zwei Formen der Magersucht. Sie werden Restriktiver und Binge-Eating/Purging-Typus genannt und können folgendermaßen beschrieben werden:

RESTRIKTIVER TYPUS: Während der Magersucht hat die Person keine regelmäßigen Fressanfälle und/oder zeigt kein Purging-Verhalten. Unter Purging-Verhalten versteht man selbst ausgelöstes Erbrechen, den Missbrauch von Abführmitteln, harntreibenden Medikamenten (Entwässerungstabletten) oder Darmeinläufen. Beim Restriktiven Typus stehen also Fasten, Diäten oder übermäßige körperliche Betätigung im Vordergrund.

BINGE-EATING/PURGING-TYPUS: Während der Magersucht hat die Person regelmäßig Fressanfälle und/oder zeigt ein Purging-Verhalten. Diese Form der Magersucht weist auch Elemente einer Bulimie auf.

2.3.2 Diagnostische Merkmale für Bulimia nervosa/Bulimie

Folgende Merkmale (A) bis (E) beschreiben die Bulimie. Anschließend gehe ich auf die beiden Formen der Bulimie (Purging- und Nicht-Purging-Typus) näher ein.

(A) Fressattacken

Es kommt wiederholt zu Fressattacken. Diese sind gekennzeichnet durch folgende zwei Merkmale:

1.   Die Person verzehrt in einem bestimmten Zeitraum (z.B. innerhalb eines Zeitraums von zwei Stunden) eine Nahrungsmenge, die erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter den gleichen Bedingungen essen würden.

2.   Während der Fressattacken hat die Person das Gefühl, die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren. Sie kann beispielsweise weder mit dem Essen aufhören noch die Art und Menge der Nahrung bestimmen.

(B) Kompensation der Fressattacken

Die Person wendet wiederholt unangemessene Maßnahmen an, die einer Gewichtszunahme entgegen wirken sollen: selbst ausgelöstes Erbrechen; den Missbrauch von Abführmitteln, harntreibende Medikamente (Entwässerungstabletten), Darmeinläufe oder anderr Arzneimittel; Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung.

(c) Dauer und Intensität der Fressattacken und des Kompensationsverhaltens

Die Fressattacken und die Maßnahmen, eine Gewichtszunahme zu vermeiden, kommen mindestens drei Monate lang durchschnittlich mindestens zweimal pro Woche vor.

(D) Stellenwert von Figur und Gewicht

Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.

(E) Keine Magersucht

Die Merkmale (A) bis (D) dürfen nicht ausschließlich im Verlauf einer Magersucht auftreten. Falls doch, handelt es sich wahrscheinlich um eine Magersucht des Binge-Eating/Purging-Typus und nicht um eine Bulimie.

Wie bereits erwähnt, werden zwei verschiedene Arten bei der Bulimie unterschieden. Sie tragen die Bezeichnung Purging- und Nicht-Purging-Typus und können wie folgt unterschieden werden:

PURGING-TYPUS: Die Person wendet während der Erkrankung regelmäßig Methoden wie selbst ausgelöstes Erbrechen oder den Missbrauch von Abführmitteln, harntreibenden Medikamenten (Entwässerungstabletten) oder Darmeinläufen an.

NICHT-PURGING-TYPUS: Die Person zeigt während der Erkrankung andere unangemessene Reaktionen, die einer Gewichtszunahme entgegensteuem. Dazu gehört beispielsweise das Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung. Sie zeigt also kein Purging-Verhalten. Diese Form der Bulimie zeigt auch Elemente einer Magersucht.

Neben den beiden Hauptkategorien von Essstörungen (Magersucht und Bulimie) mit den oben beschriebenen Unterteilungen gibt es noch eine weitere Kategorie, die als NICHT NÄHER BEZEICHNETE ESSSTÖRUNG bezeichnet wird.

Zu dieser Kategorie gehören Störungen im Essverhalten, die jedoch nicht alle Merkmale einer Magersucht oder Bulimie aufweisen. Beispiele sind:

1.   Bei einer Person sind sämtliche Merkmale der Magersucht erfüllt, ssie hat aber dennoch regelmäßig ihre Periode.

2.   Es sind sämtliche Merkmale der Magersucht erfüllt, nur liegt das Körpergewicht der Person trotz erheblichen Gewichtsverlustes noch im Normalbereich.

3.   Sämtliche Kriterien der Bulimie sind erfüllt, jedoch sind die Fressattacken und das Kompensationsverhalten weniger häufig als durchschnittlich zweimal pro Woche und für eine kürzere Dauer als drei Monate.

4.   Eine normalgewichtige Person wendet die typischen Kompensationsmechanismen der Bulimie auch nach dem Verzehr kleiner Nahrungsmengen an (z.B. selbst ausgelöstes Erbrechen nach dem Verzehr von zwei Keksen).

5.   Es kommt zu wiederholtem Kauen und anschließendem Ausspucken großer Nahrungsmengen, ohne dass sie hinuntergeschluckt werden.

6.   Es treten bei einer Person wiederholt Fressattacken auf, aber die Person zeigt kein Kompensationsverhalten, wie es für eine Bulimie typisch wäre. Diese Störung wird dann Binge-Eating-Störung genannt.

Wie obige Beschreibungen der Magersucht und der Bulimie zeigen, ist es nicht immer einfach, eine eindeutige Diagnose zu stellen, gerade wenn eine Person für beide Essstörungsarten typische Verhaltenweisen zeigt. Typisch für eine Magersucht ist der Restriktive Typus, typisch für eine Bulimie der Purging-Typus. Die beiden anderen Typen (Magersucht Binge-Eating/Purging-Typus und Bulimie Nicht-Purging-Typus) weisen auch Merkmale der jeweils anderen Essstörungsart auf.

Gegen eine scharfe Trennung des magersüchtigen und bulimischen Krankheitsbildes sprechen auch die Daten aus meiner Untersuchung. 21 von den 56 Untersuchungsteilnehmerinnen haben während ihrer Erkrankung unterschiedliche Essstörungsphasen erlebt. Dies deutet auch darauf hin, dass die Krankheitsbilder nicht so unabhängig voneinander betrachtet werden sollten.

Die obige Darstellung der beiden Essstörungen mit ihren diagnostischen Merkmalen kann für gefährdete oder betroffene Frauen als Orientierung gesehen werden, darf aber auf keinen Fall eine fachliche Diagnosestellung ersetzen. Als Anlaufstellen sind hier die psychosomatischen Abteilungen der Kliniken oder Krankenhäuser, Psychotherapeuten, Klinische Psychologen und Beratungsstellen für Essstörungen usw. zu nennen. Natürlich kann auch der Hausarzt Informationen über entsprechende Einrichtungen geben. Am Ende des Buches werden im Anhang II die Anlaufstellen in Österreich nach Bundesländern geordnet angeführt.

Anmerkungen

1 Im Kapitel 2.3 sind die Merkmale der Magersucht, der Nicht näher bezeichneten Essstörung und der Bulimie beschrieben.

2 Diese Prozentangaben nehmen Rathner und Rainer (1997) aus folgenden Arbeiten: Patton, Johnson-Sabine, Wood, Mann and Wakeling (1990), Fairburn und Beglin (1990), Rathner (1989) und Rathner und Messner (1993).

3 Rathner und Rainer (1997) beziehen sich dabei auf die Arbeiten von Fairbum und Beglin (1990), Bushnell, Wells, Hornblow, Oakley-Browne und Joyce (1990) und Garfinkel, Lin, Goering, Spegg, Goldbloom Kennedy et al. (1995).

4 Seidel und Steinhausen (1990)

5 International Classification of Diseases (ICD-10), herausgegeben von Dilling, Mombour und Schmid (1993)

6 Lauer und Ehrig (1994)

7 Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen, 4. Version, Handbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation (1996),

8 Schobert (1993)

3 Beschreibung der Untersuchung

3.1 Die Untersuchungsteilnehmerinnen

An der Studie nahmen 56 Frauen teil, die in der Vergangenheit an einer Essstörung nach den Kriterien des DSM-IV erkrankt waren. Da Männer zehnmal seltener an einer Essstörung erkranken als Frauen, wurden sie für diese Untersuchung nicht berücksichtigt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren die Frauen gesund oder befanden sich auf dem Weg der Besserung. Je nach erlebtem Heilungsverlauf wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe wird als Spontanremissionsgruppe und die andere als Therapiegruppe bezeichnet.

3.1.1 Die Spontanremissionsgruppe

Zur Spontanremissionsgruppe gehören 33 Frauen, die ohne professionelle Hilfe, also ohne Psychotherapie und/oder einen Klinikaufenthalt mit psychotherapeutischer Begleitung gesund wurden oder deren Zustand sich bedeutend verbesserte.

Im Zeitraum vom Juni 1998 bis Oktober 1998 gab ich in der Tiroler Tageszeitung, im Innsbrucker Stadtblatt und in den Vorarlberger Nachrichten ein Zeitungsinserat mit folgendem Wortlaut auf:

„Im Rahmen meiner Diplomarbeit suche ich Frauen und Mädchen, die an einer Essstörung gelitten haben und ohne eine Therapie gesund wurden. Bitte melde dich unter XXXXXX.“

Zur selben Zeit brachte ich an den Anschlagtafeln der Universität in Innsbruck und der Uniklinik einen Aushang mit demselben Wortlaut an.

Auf Grund des Zeitungsinserates meldeten sich 10 Frauen und auf Grund des Aushanges 14. Über die Klinische Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychosoziale Psychiatrie erreichte ich drei und über die Klinische Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie und Pädiatrische Psychosomatik in Innsbruck zwei Teilnehmerinnen. Weitere vier Frauen wurden von bereits teilnehmende Personen zur Teilnahme an der Untersuchung bewegt.

Zu Beginn der Erkrankung waren diese Frauen im Durchschnitt 16,1 Jahre alt, und die Erkrankungsdauer lag durchschnittlich bei 5,7 Jahren. Bei der Erkrankungsdauer ist die gesamte Essstörungszeit gemeint, in der auch verschiedene Phasen zu unterscheiden sind. Die letzte Diagnose vor dem Genesungsprozess war bei 36 % eine Magersucht und bei 64 % eine Bulimie, jeweils nach den Kriterien des DSM-IV.

3.1.2 Die Therapiegruppe

Die 23 Frauen der Therapiegruppe hingegen haben eine professionelle Hilfe in Anspruch genommen, um ihre Essstörung zu überwinden bzw. um ihren Gesundheitszustand zu verbessern.

Diese Gruppe wurde auch teilweise über einen Zeitungsaufruf angesprochen, der dem für die Spontanremissionsgruppe sehr ähnlich war. Fünf Frauen meldeten sich auf das Zeitungsinserat in der Tiroler Tageszeitung, im Innsbrucker Stadtblatt und in den Vorarlberger Nachrichten.

Die meisten Untersuchungsteilnehmerinnen, nämlich 15, wurden über Anlaufstellen für Essstörungen in Innsbruck erreicht. Sieben davon über die Klinische Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychosoziale Psychiatrie, sechs über die Klinische Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie und Pädiatrische Psychosomatik und zwei über die Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie. Drei Frauen wurden über bereits teilnehmende Personen für die Teilnahme motiviert.

Diese Frauen waren zu Beginn der Erkrankung im Durchschnitt 15,1 Jahre alt, und die Erkrankungsdauer lag bei durchschnittlich 6,9 Jahren. Auch hier ist bei der Erkrankungsdauer die gesamte Essstörungszeit gemeint, die aus unterschiedlichen Phasen bestehen kann. Bei 61 % war die letzte Diagnose vor dem Genesungsprozess eine Magersucht und bei 39 % eine Bulimie, jeweils nach den Kriterien des DSM-IV.