Cover
Damaris Kofmehl - Die Höhle - Roman nach einer wahren Geschichte - SCM

Ich widme dieses Buch meinem über alles geliebten Mann

Demetri Betts, der mich ermutigt hat,

diese Geschichte zu schreiben.

Wenn neben dir auch Tausende sterben,

wenn um dich herum Zehntausende fallen,

kann dir doch nichts geschehen.

Psalm 91,7

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

1 Der Fund

2 Die Suche

3 Der Besuch

4 Der Krieg

5 Das Pogrom

6 Der Feind in der Stadt

7 Das Getto

8 Die Aktzia

9 Die Lebenden und die Toten

10 Die Höhle

11 Die Dunkelheit

12 Der Tunnel

13 Der Durchbruch

14 In Gefahr

15 Die Flucht

16 Der Müller

17 Der Engel

18 Die Zuflucht

19 Die Kette

20 Die Kornmühle

21 Die Dorfbewohner

22 Die Vorräte

23 Das Wunder

24 Das Licht

25 Der Psalm

26 Die Befreiung

27 Die Begegnung

Chronik der Stadt Bobrka während des Zweiten Weltkrieges
(1. September 1939 bis 8. Mai 1945)

Stammbäume der Familien Burker und Heizel

Über die Autorin

Damaris Kofmehl ist gebürtige Schweizerin und schrieb bisher 35 Bücher, darunter 19 Thriller, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Ihre Buchrecherchen führten sie unter anderem nach Brasilien, Pakistan, Guatemala, Chile und in die USA. Mit ihrem Mann lebt sie in Deutschland.

Autor

Vorwort

Ich habe schon viele dramatische Geschichten zu Papier gebracht, Geschichten von Flugzeugentführern, Terroristen, Mördern, Drogendealern und Ganganführern. Aber ein Thema gab es, an das ich mich bisher nie herangewagt habe: den Zweiten Weltkrieg. Ich fand es einfach zu schrecklich, was dort geschehen ist.

Ich bewundere Menschen wie Corrie ten Boom, die unter Lebensgefahr Juden bei sich versteckte. Als ich achtzehn war, wurde der Film über ihr Leben in unserer Gemeinde gezeigt. Ich kann mich immer noch an einzelne Szenen erinnern und auch daran, dass ich bei einer dieser Szenen in Ohnmacht fiel. Dass ich mich also an eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg wage, ist mehr als außergewöhnlich. Ich hätte es wohl auch nie getan, wäre ich nicht über eine Geschichte gestolpert, die mich einfach nicht mehr losließ. Sie hat mich gepackt. Vielleicht, weil sie anders ist als jede Geschichte, die ich schon über Juden aus dem Zweiten Weltkrieg gehört habe. Sie handelt von Loyalität, Tapferkeit, Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie ist ein Dokument des Triumphes über das Böse, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Ort des Geschehens ist die heutige Westukraine. Hier lebten zu Beginn des Krieges neunhunderttausend Juden. Nur fünfzigtausend überlebten die Vernichtungsmaschinerie der Nazis. Zu diesen wenigen zählt eine jüdische Großfamilie, die sich rettete, indem sie sich knapp eineinhalb Jahre lang in einer Höhle, dreißig Meter unter der Erde, versteckte. Nach ihrer Überlieferung ist dieses Buch inspiriert. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes habe ich nicht nur die Namen der Personen, sondern auch den Ort des Geschehens, manche Erlebnisse der Familie und einige andere Begebenheiten verändert; der vorliegende Roman ist also fiktiv und die von mir im Buch beschriebenen Personen sind erfunden. Ich habe die Geschichte in die damals ostpolnische Stadt Bobrka verlegt und die dramatischen Schicksale der Juden aus jener Stadt gemäß Augenzeugenberichten und historischen Fakten miteinbezogen. Darüber hinaus habe ich die Anzahl der Menschen, die in die Höhle gingen, sowie die Anzahl der Tage, die sie dort lebten, verändert. Ich habe mir erlaubt, einen der Überlebenden aus der Höhle herauszugreifen und ihn nach meiner Vorstellung die Ereignisse jener dunklen Zeit neu erleben zu lassen. Ich habe ihn Joscha Burker getauft. Dies ist seine Geschichte.

1  Der Fund

August 2015, 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges,
in der Nähe von Bobrka, Westukraine

Wie eine Spinne am Faden hing Natalie in ihrem Sitzgurt über dem dunklen Abgrund. Der Hohlraum, in den sich die junge Höhlenforscherin abseilte, hatte die Form einer überdimensionalen Kuppel. Die Karbidlampe an Natalies Helm beleuchtete die rostroten, mit orangefarbenen und gelben Streifen durchsetzten Höhlenwände. Frei in der Luft schwebend, kam sich die Amerikanerin vor, als würde sie in einen gewaltigen Tempel hinabgleiten. Eine Ehrfurcht erfüllte sie wie beim Betreten einer Kirche. Es war andächtig still. Die Luft war feucht und kühl.

Bis vor drei Jahren hatte niemand von dieser Grotte gewusst. Ein Holzfäller hatte sie rein zufällig in einem Waldstück entdeckt, als er einen Baum gefällt und die umgekippte Wurzel den schmalen Einstiegsschacht freigegeben hatte. Seitdem erkundeten und vermaßen Höhlenforscher die Höhle. Sie hatten sie wegen ihrer vielen labyrinthartigen Gänge »Irrgartenhöhle« getauft.

Natalie hatte einen Bericht darüber in einer Zeitschrift gelesen und kurzerhand beschlossen, in den Semesterferien von den USA in die Ukraine zu reisen, um sich die Höhle selbst anzusehen. Ihr Freund Chris begleitete sie. Auch er war ein leidenschaftlicher Höhlenforscher. Die beiden hatten sich an der Universität in Chicago kennengelernt. Chris studierte Fotografie und arbeitete nebenher als freiberuflicher Fotograf für verschiedene Zeitschriften. Natalie absolvierte ein Architekturstudium und liebte es, verspielte Wohnräume zu entwerfen.

Nachdem sich Natalie ungefähr zwanzig Meter abgeseilt hatte, erreichte sie den Boden und sank mit ihren Bergschuhen in knöcheltiefen Schlamm. »Ich bin unten!«, rief sie nach oben. Ihre Stimme hallte an den Wänden wider. Sie klinkte ihren Sitzgurt aus und sah sich um. Der Raum, in dem sie sich befand, hatte die Größe eines Flugzeughangars.

»Wahnsinn«, murmelte Natalie und stieß einen Jauchzer aus. »Wow!« Sie stützte die Hände in die Seiten ihres Schlazes, eines roten Höhlenoveralls. »Großartig!«

Höhlen hatten schon immer eine Faszination auf die Studentin ausgeübt. Es waren verborgene Welten voller Zauber und Geheimnisse, Welten, die die meisten Menschen nie zu Gesicht bekamen. Sie ruhten in der Tiefe, wild und unberührt, in ewiger Dunkelheit und Stille. Kein Laut und kein Sonnenstrahl drangen je hinab. Es war, als bliebe die Zeit stehen. Die Welt mit all ihrer Hektik und all ihren Problemen verschwand. Alles wurde von der Finsternis verschluckt. Für Natalie war es jedes Mal ein unbeschreibliches Gefühl, in diese Unterwelten abzutauchen. Ob Tropfstein-, Stein-, Eis- oder Gipshöhle, jede Höhle war einzigartig. Jede hatte ihren eigenen Charakter, ihre eigenen Felsformationen, ihre eigene unbeschreibliche Schönheit. Da gab es mächtige Stalaktiten und Stalagmiten, türkisfarbene unterirdische Seen, reißende Flüsse, bizarre Sintergebilde, gigantische Eiszapfen oder ganze Eisflächen, auf denen man Schlittschuh hätte laufen können. In manchen Höhlen konnte man prähistorische Höhlengemälde bewundern oder gewaltige Kristalle, groß wie Tempelsäulen. Einige Höhlen bohrten sich über tausend Meter in die Tiefe, andere breiteten sich wie ein Wurzelgeflecht waagerecht durch die Erde. Die Irrgartenhöhle gehörte zur letzteren Sorte. Sie reichte ungefähr dreißig Meter unter die Erdoberfläche und hatte sich von dort in einem weitverzweigten Gangsystem horizontal durch das Karstgestein gefressen. Es herrschte hier Sommer wie Winter eine konstante Temperatur von zehn Grad.

Nachdem Chris neben Natalie am Fuße der Kuppel gelandet war, ließ der ukrainische Höhlenforscher Andrej die schwere Ausrüstung in die Höhle hinabgleiten und kam dann nach. Andrej war groß und kräftig, ein erfahrener Höhlenforscher mit ungepflegtem Bart und kantigem Gesicht. Alle drei schulterten die wasserdichten PVC-Transportsäcke mit den Seilen, den Essensvorräten für drei Tage, dem Erste-Hilfe-Kasten und Chris’ fotografischer Ausrüstung.

Der ukrainische Forscher schritt auf ein Loch in der Felswand zu. Dort befand sich der Durchbruch zum unterirdischen Irrgarten, den sie in den nächsten zweiundsiebzig Stunden erkunden wollten. »Als wir zum ersten Mal hier hinabstiegen, dachten wir, wir wären in einer Sackgasse gelandet, bis wir diesen Eingang freilegten«, sagte Andrej. »Es war ursprünglich nur ein schmaler Riss. Aber beim Hineinleuchten sahen wir, dass sich dahinter ein breiter Gang verbirgt. Also haben wir den Felsen mit einer Sprengladung durchbrochen, um herauszufinden, was sich dahinter verbirgt. Der Aufwand hat sich gelohnt. Wir sind bereits sechzig Kilometer weit vorgedrungen und entdecken ständig neue Gänge.«

»Hast du eine Vermutung, wie groß die Höhle ist?«

»Bisher noch nicht. Aber es wäre durchaus denkbar, dass sie die ›Optimistische Höhle‹ ausstechen könnte.«

»Echt?«, fragte Chris.

Die etwas weiter südlich gelegene »Optimistische Höhle« galt mit zweihundertsechsunddreißig Kilometer Länge als die längste Gipshöhle der Welt.

»Schon verrückt. Die Irrgartenhöhle lag die ganze Zeit direkt unter unseren Füßen«, meinte Andrej und tätschelte die Höhlenwand liebevoll. »Ein verschollenes Reich, Jahrtausende alt und bis vor drei Jahren von keinem menschlichen Wesen je berührt.«

»Eine jungfräuliche Höhle«, murmelte Natalie fasziniert.

»Ja«, sagte Andrej. »Und ich war einer der Ersten, der hineinging. Ich bin mir sicher, so muss sich Neil Armstrong gefühlt haben, als er als erster Mensch den Mond betrat. Wollen wir?«

Natalie und Chris nickten abenteuerlustig. Andrej übernahm die Spitze, Natalie die Mitte und Chris den Schluss. Die ersten zehn Meter kamen sie gut voran. Der Gang war groß genug, dass sie fast aufrecht gehen konnten. Danach verengte er sich wie ein Flaschenhals. Sie mussten sich auf allen vieren vorwärtsbewegen, schließlich sogar kriechen. Die schweren Materialsäcke vor sich herschiebend, robbten sie durch den lehmigen, unebenen Gang. Es war ziemlich anstrengend, aber Natalie liebte körperliche Herausforderungen. Sie war sehr sportlich, groß, schlank, hatte schulterlanges braunes Haar, eine spitze Nase und war genauso ehrgeizig und stur wie ihr Vater, der ein eigenes Architekturbüro besaß.

Natalie dachte an ihre Kommilitoninnen, die jetzt wohl in ihren Bikinis irgendwo an einem Palmenstrand lagen, Cocktails schlürften und sich einen Sonnenbrand holten. Sie hätte um nichts in der Welt mit ihnen getauscht. War das hier nicht um ein Tausendfaches aufregender?

Um fünfzehn Uhr waren sie zu der Höhlenexpedition aufgebrochen, vier Stunden und nur vierhundert Meter später erreichten sie das Basislager. Sie waren abgekämpft und nass geschwitzt. Bei diesen niedrigen Temperaturen wäre eine Unterkühlung ein ernsthaftes Problem gewesen, sobald der Schweiß verdunstete und der Körper sich abkühlte. Doch ihre spezielle Höhlenkleidung schützte sie.

Das Lager befand sich in einem Hohlraum, der die Form eines Diamanten hatte. Hier pflegten die Höhlenforscher zu campieren, bevor sie tiefer in die Höhle eindrangen. Es gab ein Dutzend solcher Biwaks, verteilt über die ganze Höhle, und je mehr Durchgänge entdeckt wurden, desto mehr Lager wurden errichtet. Wenn Forscher über viele Wochen lang unterwegs waren, gab es Hilfsteams, die sich bei den verschiedenen Biwaks aufhielten. Sie sorgten dafür, dass die Essens- und Wasservorräte ständig aufgefüllt wurden und der Kontakt zur Außenwelt nicht abbrach. Für eine dreitägige Expedition war dieser ganze Aufwand nicht nötig. Andrej, Natalie und Chris würden beim Basislager übernachten, am zweiten Tag die nahe Umgebung erkunden, eine weitere Nacht im Lager verbringen und am dritten Tag an die Erdoberfläche zurückkehren.

Sie stellten ihre PVC-Säcke in eine Ecke und ließen sich erschöpft auf die aus Stein und Lehm geformten Sitzbänke nieder. Es gab sogar Regale für Vorräte und Geschirr sowie einen einigermaßen ebenen Tisch.

Beim Abendessen, das aus einem über dem Kerosinkocher erhitzten Chilieintopf bestand, erklärte Andrej den beiden jungen Höhlenforschern den Plan für den kommenden Tag. Er zeichnete mit dem Finger eine grobe Karte in den roten Lehmboden. »Hier ist das Einstiegsloch.« Dann bohrte er seinen Zeigefinger in den weichen Boden. »Hier ist unser Basislager. Das hier ist der Teil, den wir bereits vermessen und kartografiert haben.« Nun zog er einen flachen Kreis durch den Lehm, beginnend beim Basislager. »Ab hier« – er zeichnete eine Linie und einen Pfeil, der vom Lager wegführte – »ist alles noch gänzlich unerforscht. Wenn ihr wollt, können wir morgen in diese Richtung gehen. Wie weit wir kommen und was wir vorfinden, weiß ich natürlich nicht. Aber falls ihr Lust habt …«

»Natürlich haben wir Lust!«, rief Natalie sofort und stupste ihren Freund an. »Haben wir doch, oder?«

»Solange wir den Weg zurückfinden«, meinte Chris mit vollem Mund.

»Keine Sorge«, antwortete Andrej. »Ich stecke alle paar Meter eine gelbe Markierungsfahne mit Pfeil zum Basislager in den Boden. Wir werden uns schon nicht verirren.«

»Dann bin ich dabei«, sagte Chris schmatzend und schöpfte sich einen zweiten Teller Eintopf.

Am nächsten Morgen weckte Andrej Natalie und Chris beizeiten auf. Natalie warf gähnend einen Blick auf das Leuchtzifferblatt ihrer Armbanduhr. Sechs Uhr in der Früh. Hätten die Zeiger zehn Uhr morgens oder abends angezeigt, sie hätte es ebenfalls geglaubt. In dieser ewigen Finsternis gab es keinen Anhaltspunkt, ob es Tag oder Nacht war. Man verlor nicht nur jegliches Zeitgefühl, sondern auch ein Stück weit den Bezug zur Realität. Es schien keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr zu geben, nur das Hier und Jetzt. Alles lief in Zeitlupe ab, als verstreiche die Zeit völlig anders als oben auf der Erde. Manchmal stellte sich Natalie vor, wie sie nach einer Höhlenexpedition beim Betreten der Erdoberfläche im Mittelalter oder fünfhundert Jahre in der Zukunft landete. Und das Komische war: Es hätte sie nicht einmal überrascht, wenn es tatsächlich passiert wäre.

Natalie schälte sich aus ihrem Schlafsack und rekelte sich. Chris, der neben ihr lag, rieb sich verschlafen die Augen. Andrej kochte bereits Kaffee, und der Duft sorgte dafür, dass die beiden schnell aufstanden.

Nach dem Frühstück begaben sie sich auf den Weg ins Unbekannte. Die Irrgartenhöhle machte ihrem Namen alle Ehre. Ohne die Markierungsfähnchen hätten sie sich bald hoffnungslos verirrt. Jeder Gang sah gleich aus. Nach ein paar Abzweigungen war sich Natalie bereits nicht mehr sicher, woher sie gekommen waren, obwohl sie eigentlich einen hervorragenden Orientierungssinn hatte.

Nach einer Stunde Robben, Kriechen, Schieben, Bücken, Klettern und Schwitzen verkündete Andrej plötzlich: »Es ist so weit. Bis hierhin bin ich schon mal gekommen, weiter nicht. Das bedeutet: Ab jetzt ist jeder unserer Schritte der erste Schritt, den je ein Mensch hier unten gemacht hat.«

Natalie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Neil Armstrong lässt grüßen«, keuchte sie. »Da bin ich ja mal gespannt, wie weit wir kommen.«

»Lassen wir uns überraschen«, meinte Andrej. »Ich hoffe, dass es keine Sackgasse ist.«

Sie verschnauften ein paar Minuten und tranken Wasser aus ihren Feldflaschen. Dann überschritten sie die unsichtbare Linie in das schwarze Loch, in das vor ihnen noch nie jemand vorgedrungen war. Ganz langsam arbeiteten sie sich weiter durch die Höhle, mal nach links, mal nach rechts, mal zurück, mal durch Gänge, die wie lang gezogene Weinkeller aussahen, dann durch flache, augenförmige Spalten, dann wieder durch kaminartige Korridore, in denen sie beinahe stecken blieben. Nach einer anstrengenden Kletterpartie wurden sie mit einem beeindruckenden Naturschauspiel belohnt: Sie gelangten in einen Raum, dessen niedriges Gewölbe mit einem riesigen Teppich aus Gipskristallen überzogen war. Die durchsichtigen, braun schimmernden Kristalle standen in allen Richtungen vom Felsen ab. In der Mitte hingen sie einem Kronleuchter gleich von der Decke. Im warmen Licht der Karbidlampen funkelten sie märchenhaft wie ein königlicher Festsaal aus Tausendundeiner Nacht.

Natalie war hin und weg von dem Anblick. Der Gedanke, dass sie die Allerersten waren, die diese verborgene Kristalldecke zu Gesicht bekamen, erfüllte sie mit Demut und Stolz gleichermaßen. »Wunderschön«, flüsterte sie und berührte mit den Fingern ein paar Kristalle. Sie waren klein und spitz wie Zähne; ein Meer aus Tausenden von ineinander verschachtelten, glitzernden Edelsteinen. Natalie konnte sich daran nicht sattsehen, und Chris zückte seine Kamera. Nachdem er die majestätische Höhlendecke aus allen erdenklichen Perspektiven fotografiert hatte, gingen sie weiter.

Gegen zwölf Uhr erreichten sie einen großen Saal mit einer rauen, gezackten Höhlendecke und machten Rast. Andrej erklärte, sie hätten eine Stunde Zeit, um sich auszuruhen. Dann müssten sie umkehren. Natalie wäre gerne noch tiefer in die Höhle vorgedrungen, aber Andrej hielt das für unklug. Sie hatten fünf Stunden bis hierher gebraucht und würden auch wieder fünf Stunden für den Rückweg zum Basislager benötigen. Das war Anstrengung genug für einen Tag. Also machten sie es sich auf verschiedenen Felsbrocken bequem und aßen und tranken, um Kräfte für den Rückweg zu sammeln.

Während Natalie an einem Energieriegel kaute, schlenderte sie durch den Saal und bewunderte die rauen Felsen, ihre Musterung und Struktur. Die Decke war zerklüftet und sah aus, als würden Tausende von messerscharfen Sägeblättern daran haften. Natalie war immer wieder aufs Neue fasziniert, welche wilden Gesteinsformationen sie in der Tiefe der Erde vorfand. Die Natur erschien ihr wie ein Bildhauer. Da konnte ihrer Meinung nach nicht mal Michelangelo mithalten. Zufrieden ließ sie die Entdeckungen des Morgens Revue passieren: eine jungfräuliche Höhle, ein naturgeschaffener Kristallteppich mit Kronleuchter und jetzt diese wuchtige Decke, die kein Innenarchitekt der Welt eindrücklicher hätte gestalten können.

Sie steckte sich das letzte Stück ihres Energieriegels in den Mund, wobei ihr die Plastikhülle aus den Fingern rutschte. Als sie sich bückte, um das Papier aufzuheben, entdeckte sie etwas Merkwürdiges. Direkt vor ihren Füßen lag ein handgroßer, lehmiger, undefinierbarer Gegenstand. Es war kein Stein, auch kein Erdklumpen. Neugierig hob Natalie das seltsame Ding auf und befreite es vom Schlamm. Und dann traf sie beinahe der Schlag: In ihrer Hand lag … ein Schuh!

»Ach du dickes Ei«, entfuhr es Natalie. Einen Schuh in einer jungfräulichen Höhle zu finden, war schon paradox genug. Aber was die Sache noch viel verrückter machte, war die Art des Schuhs: Es war nicht etwa ein Turnschuh, Stiefel oder Kletterschuh, es war ein altmodischer Damenschuh! Mit Absatz! Natalie traute ihren Augen nicht. »Das gibt’s doch überhaupt nicht. Leute, kommt mal her! Das müsst ihr euch ansehen!«

Andrej und Chris kamen zu ihr herüber, und Natalie präsentierte ihnen ihren sensationellen Fund. Der Damenschuh war aus Leder, stark abgenutzt und durch die hohe Luftfeuchtigkeit schwarz und fleckig. Es war definitiv kein neumodisches Modell, eher eines, das die ältere Generation tragen würde, mit einem breiten, drei Zentimeter hohen Absatz. Die drei Forscher betrachteten den Schuh ungläubig.

»Wie kommt denn der hierher?«

»Gute Frage, Chris«, sagte Andrej. »Darf ich mal?«

Natalie reichte ihm den dreckverschmierten Schuh.

»Ausgeschlossen«, sagte Andrej leise und drehte ihn in den Händen. »Das kann nicht sein.«

»Meint ihr, ein Tier hat ihn hergeschleppt?«, fragte Natalie. »Ein Fuchs vielleicht?«

»Hier unten gibt es keine Füchse«, antwortete Andrej. »In dieser Tiefe hausen nicht mal mehr Fledermäuse, höchstens kleine Insekten und Höhlenspinnen. Und die haben den Schuh garantiert nicht hergebracht.«

»Von selbst ist er ja wohl kaum herspaziert«, meinte Natalie. »Jemand war eindeutig schon vor uns hier. Ihr müsst wohl das Entdeckungsdatum der Höhle weit in die Vergangenheit zurückkorrigieren. Sehr weit, wenn ich mir den Schuh so ansehe.«

»Mein Großvater war anscheinend doch nicht so verrückt, wie ich dachte«, murmelte Andrej kopfschüttelnd. »Er behauptete immer, es gebe eine Höhle in der Gegend.«

»Einen zweiten Einstieg also«, bemerkte Chris.

»So was in der Art«, antwortete Andrej. »Aber niemand hat die Höhle je gefunden, also hielt ich sie für ein Hirngespinst meines Großvaters. Dabei ist sie wahrscheinlich nur von einem Erdrutsch zugeschüttet worden und blieb deswegen so lange unentdeckt.«

Chris dachte kurz nach. »Ja, aber selbst wenn dem so ist, wer bitte schön kraxelt mit solchem Schuhwerk in einer Höhle herum? Das ergibt doch nicht den geringsten Sinn.«

»Tut es nicht, da hast du recht. Es sei denn …« Der Höhlenforscher starrte entgeistert den Schuh an, als wäre ihm soeben etwas eingefallen.

»Es sei denn was?«, fragte Natalie neugierig.

Andrej runzelte die Stirn, wog den Schuh in der Hand und schüttelte den Kopf. »Ach was. Alles nur Gerüchte.«

»Gerüchte? Worüber?«

»Vergesst es«, sagte der Ukrainer ausweichend. »Ich habe nur laut gedacht.« Er drückte Natalie den Damenschuh in die Hand und begab sich zurück zum Essplatz. »Wir sollten langsam aufbrechen, es ist ein weiter Weg zurück ins Basislager.«

Natalie und Chris warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

»Was für Gerüchte?«, fragte Chris. »Was weißt du über den Schuh?«

»Gar nichts«, sagte Andrej, während er seine Wasserflasche in den Rucksack stopfte. »Vermutlich ist eh nichts dran. Ich kenne jedenfalls keinen, der es bestätigen könnte.«

»Der was bestätigen könnte?«

»Na, das mit den Juden.«

»Den Juden?« Natalie und Chris verstanden nur Bahnhof. »Was für Juden?«

»Die sich während des Zweiten Weltkrieges hier unten vor den Nazis versteckt haben sollen.«

Die beiden Amerikaner sahen den Höhlenforscher verblüfft an.

»Du meinst, der Schuh könnte einer Jüdin aus dem Zweiten Weltkrieg gehört haben?«, fragte Natalie.

»Wie gesagt, alles nur Gerüchte. Nichts Handfestes.«

»Aber du denkst, es könnte stimmen?«

»Na ja, ein antiker Damenschuh in diesen Tiefen …« Andrej zog die Kordel an seinem Rucksack zu. »Denkbar wäre es schon irgendwie. Ihr müsst wissen, es lebten hier sehr viele Juden zur Zeit des Krieges. In Bobrka gab es sogar ein Getto. Von hier aus wurden die Juden ins KZ nach Belzec abtransportiert. War ziemlich schlimm in der Gegend.«

»Das habe ich nicht gewusst«, sagte Natalie betroffen und betrachtete den Damenschuh in ihrer Hand auf einmal mit ganz anderen Augen. Eben noch ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand, war er plötzlich zu einem Relikt aus einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit geworden. »Denkst du, sie hat den Krieg überlebt? Die Frau, die diesen Schuh getragen hat?«

»Sehr unwahrscheinlich«, sagte Andrej. »Es haben nur ganz wenige überlebt.«

»Du hast gesagt, es hätten mehrere Juden hier unten gelebt. Wie viele denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht mal, ob die Geschichte überhaupt wahr ist. Mit so was habe ich mich nie beschäftigt, um ehrlich zu sein. Ich bin kein Touristenführer, sondern Höhlenforscher.« Er schulterte seinen Rucksack und gab den Amerikanern mit einer Kopfbewegung zu verstehen, sich ihm anzuschließen. »Können wir dann?«

Natalie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich würde mich gerne noch etwas umsehen. Vielleicht finden wir noch mehr Gegenstände. Was meinst du, Chris?«

»Bin dabei. Wie viel Zeit kannst du uns geben, Andrej?«

»Eigentlich keine. Es sind fünf Stunden zurück ins Basislager«, meinte Andrej.

Natalie setzte ihren unschuldigsten Blick auf. »Ach bitte, nur ein halbes Stündchen. So eine Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen.«

Der Höhlenforscher zog den Mund schief, dachte kurz nach und stellte den Rucksack wieder auf den lehmigen Boden zurück. »Na schön. Eine halbe Stunde können wir noch dranhängen.«

»Danke«, sagte Natalie glücklich und wandte sich ihrem Freund zu. »Du solltest den Schuh fotografieren und einen Bericht darüber veröffentlichen. Die Leute werden nicht fassen, was wir hier unten gefunden haben!«

Chris rieb sich die Hände. »Dann mal an die Arbeit!«

Während Chris seine fotografische Ausrüstung auspackte, platzierte Natalie den Schuh auf dem lehmigen Boden genau dort, wo sie ihn gefunden hatte. Sie setzte ihn so vorsichtig ab, als wäre er aus zerbrechlichem Porzellan. Die Tragweite dieses Fundes war ihr durchaus bewusst und erfüllte sie mit tiefstem Respekt. Jede Höhle hat ihre Geschichte. Aber auf eine solche zu stoßen, hätte sie nie zu träumen gewagt.

Ihr Freund lichtete den Damenschuh von allen Seiten ab, während Andrej sich noch einmal neben die Rucksäcke setzte und Natalie sich auf die Suche nach weiteren Gegenständen machte. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie fündig wurde: Vor ihr auf dem Boden, halb verschluckt vom Lehm, war etwas Silberglänzendes zu sehen. Natalie grub es aus. »Ein Silberlöffel! Ich habe einen Silberlöffel gefunden!«, rief sie. Ihre Augen glänzten wie beim Auspacken eines Weihnachtsgeschenks. Sie brachte den Löffel zu Chris, damit er ihn fotografieren konnte. Dann suchte sie weiter. Jeden Zentimeter Boden nahm sie unter die Lupe. Mit Erfolg. Zwei Meter neben dem Silberlöffel fand sie einen Emailleteller und gleich daneben einen rostigen Becher. Allem Anschein nach hatte dieser Ort nicht nur als vorübergehender Unterschlupf gedient. Warum sonst hätte die Frau Geschirr mitgenommen? Natalie suchte weiter. Etwas weiter vorne fand sie einige Knöpfe, zerbrochene Keramikgefäße und dann sogar einen Kinderschuh.

»Unglaublich«, staunte Natalie, als sie den kleinen Schuh aufhob. Der Schuhgröße nach zu schätzen, mochte das Kind, das ihn getragen hatte, nicht älter als sieben oder acht Jahre gewesen sein. Die Jüdin war also nicht allein gewesen. Sie hatte sich zusammen mit ihrem Kind hier unten versteckt! Natalie stellte sich eine verängstigte Mutter vor, im Dunkeln am Boden kauernd, ihr weinendes Kind im Arm haltend. Es fröstelte Natalie bei der Vorstellung. Sie hatte genug Filme über den Zweiten Weltkrieg gesehen, um zu wissen, was damals mit den Juden geschehen war. Doch keiner dieser Filme war so realistisch gewesen wie die Gebrauchsgegenstände, die sie nun vor sich hatte. Dies waren keine Requisiten. Es waren echte Gegenstände, die echten Menschen gehört hatten, die wirklich hier unten gelebt – oder besser gesagt gehaust – hatten! Unter Todesangst! »Das ist so was von krass«, murmelte Natalie zu sich selbst, während sie mit dem Kinderschuh zu ihrem Freund hinüberging, der ganz in seine fotografische Arbeit vertieft war.

Andrej hatte sich entschlossen, doch nicht mehr untätig herumzusitzen, und war in einem Seitengang verschwunden, aus dem er plötzlich rief: »Leute, das müsst ihr euch ansehen!«

Chris und Natalie folgten seiner Stimme. Durch einen schmalen Korridor gelangten sie in einen weiteren größeren Raum.

Andrej kniete vor einem Sockel, auf dem zwei große runde Steine wie Käselaibe aufeinanderlagen. »Seht euch das an«, sagte der Ukrainer, und seine bisherige Gleichgültigkeit war einer aufrichtigen Faszination gewichen. »Wisst ihr, was das ist?«

Natalie betrachtete die Steine genauer. Der obere war etwas kleiner als der untere und hatte ein großes Loch in der Mitte und ein etwas kleineres Loch an der Seite. Die Unterseite des oberen und die Oberseite des unteren Steines waren beide ganz flach und rau. Im unteren Stein befand sich eine tiefe Kerbe.

»Ach du meine Güte«, meinte Chris verblüfft. »Ist es das, wofür ich es halte?«

Andrej nickte. »Eine Kornmühle. Seht ihr das Loch in der Mitte? Hier kam das Korn rein. Und dieses kleine Loch war wohl für einen Holzhebel, um den Stein zu drehen. Und hier in dieser Kerbe kam das gemahlene Mehl heraus.«

»Wow«, sagte Natalie. Sie kannte solche Steinmühlen nur aus Museen oder mittelalterlichen Filmen. »Die haben hier unten Getreide gemahlen?«

»Es hat ganz den Anschein«, sagte Andrej. »Ich frag mich bloß, wie sie die Steine hergebracht haben. Die müssen über fünfzig oder sechzig Kilogramm wiegen.«

Chris packte den oberen Stein mit beiden Armen und versuchte, ihn hochzustemmen. Ohne Erfolg. Der Mühlstein bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. »Junge, ist der schwer!«

Der Höhlenforscher beugte sich vor und probierte ebenfalls sein Glück. Aber auch er war erfolglos. »Den muss ein Kraftprotz hergeschleppt haben.«

Natalie dachte an den Frauen- und den Kinderschuh. Ihre Mutter-Kind-Theorie musste um mindestens einen sehr kräftigen Mann erweitert werden. Vielleicht war es ja eine ganze Familie, die hier Zuflucht gefunden hatte. »Was denkt ihr, wie lange die hier gelebt haben?« Natalies persönlicher Höhlenrekord betrug zwei Wochen. Danach war sie ziemlich froh gewesen, wieder an die Erdoberfläche zu kommen und Sonne zu tanken. Sie erinnerte sich, dass der längste registrierte Aufenthalt eines Menschen unter der Erde der eines Franzosen namens Michel Siffre war. Er verbrachte sagenhafte zweihundertfünf Tage in einer Höhle. Die Monotonie und Einsamkeit hätten ihn beinahe um den Verstand gebracht, berichtete er danach.

»Man muss schon ziemlich verzweifelt sein, um sich hier niederzulassen«, meinte Chris.

»Und das ohne professionelle Ausrüstung«, sagte Andrej. »Ohne Seile, ohne Schlaze, ohne Stirnlampen und ohne jegliche Höhlenerfahrung. Das ist Wahnsinn.«

»Seht mal hier!«, rief Natalie, die sich ein paar Schritte entfernt hatte. »Ich glaube, das war ihre Kochstelle. Alles ist voller Ruß. Seht doch!«

Sie hatte recht. Da war ein flacher, etwas erhöhter Felsen, und die gesamte Höhlendecke darüber war schwarz. Die drei Höhlenforscher stolperten von einer erstaunlichen Entdeckung zur nächsten.

Selbst Andrej kam nicht umhin einzugestehen, dass es sich gelohnt hatte, zu bleiben. Die halbe Stunde, die er den Amerikanern gewährt hatte, war längst abgelaufen, aber von Umkehren war keine Rede mehr. Das hier war viel zu aufregend, um sich an einen Zeitplan zu halten. Das hier war ein Stück Geschichte, und sie waren die Allerersten, die es zu Gesicht bekamen!

Die drei stießen tiefer in die Höhle vor und fanden noch mehr Gegenstände, Knöpfe, Schalen, verschiedene Schuhe und ein fünfzehn Zentimeter langes und zwei Zentimeter breites Eisenteil, dessen Funktion ihnen nicht ganz klar war. Sie trugen alles zusammen, und Chris fotografierte jedes einzelne Stück.

Als Natalie den großen Raum bei der Kochstelle durchschritt und das warme Licht ihrer Karbidlampe eine bestimmte Stelle an der Decke streifte, verschlug es ihr den Atem. Ihr Blick fiel auf dicke schwarze Striche. Es war nicht die Faserung des Steines. Es waren Buchstaben! Und Zahlen! Jemand hatte tatsächlich mit Kohle Namen und eine Jahreszahl an die Decke geschrieben! Festgehalten für die Ewigkeit, und nicht etwa in kyrillischer Schrift, wie sie hierzulande verwendet wurde, sondern in lateinischer Schrift:

Burker. Heizel. 1943.

Natalie bekam eine Gänsehaut. Da war er, der endgültige Beweis, dass sich hier während des Krieges Juden versteckt hatten. Und sie hatten nicht nur Alltagsgegenstände in der Höhle zurückgelassen, sondern sogar ihre Familiennamen! Was für eine sagenhafte Entdeckung, die sie hier in der Tiefe der Erde gemacht hatten. Und was für eine unglaubliche Tragik, die dahintersteckte. »Chris!«, rief Natalie. »Chris! Komm mal her! Und bring die Kamera mit!«

Augenblicke später war Chris da.

»Sieh nur«, sagte Natalie und deutete an die Decke.

Chris klappte der Mund auf. »O Mann!«, hauchte er ehrfürchtig. »Das ist … das ist …«

»Unglaublich, nicht?«

»Ja.« Er fuhr mit den Fingern über die niedrige Decke. »Die haben hier ihre Namen eingraviert. 1943. Die waren tatsächlich während des Krieges hier.«

»Ja. Die zwei Familien Burker und Heizel müssen hier gelebt haben.«

»Krass.«

Für einen Moment standen die beiden nur da und starrten an die Höhlendecke.

Dann hob Chris die Kamera. »Stell dich mal hier hin, Natalie.« Er guckte durch das Suchfenster und wedelte mit der Hand. »Etwas weiter nach rechts und etwas näher zum Felsen. Stopp. Bleib da stehen. Und jetzt drehst du den Kopf und schaust dir die Decke an. Ja, genau so.« Er knipste mehrere Bilder.

»Chris? Natalie? Wir sollten langsam aufbrechen!«, hallte Andrejs Stimme durch die Höhle.

»Wir kommen!«, rief Chris zurück. Er hängte sich den Fotoapparat um und kletterte als Erster zurück.

Natalie suchte nochmals den Boden nach Gegenständen ab, nur um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Da fiel ihr unter einem Felsvorsprung etwas Glitzerndes ins Auge. Sie ging darauf zu.

»Kommst du, Natalie?«

»Gleich«, sagte sie und kniete sich hin, um das Glitzern näher zu untersuchen. Es sah aus wie ein winziges Klümpchen Gold. Als sie mit den Fingern daran kratzte, stellte sie fest, dass die Oberfläche ganz glatt war und golden glänzte.

»Hast du was gefunden?«, fragte Chris und reckte den Hals.

»Vielleicht«, sagte Natalie. »Warte kurz.« Sie bohrte ihre Finger in den festgestampften Lehm und grub den Gegenstand frei. Es war eine goldene Halskette mit einem Anhänger in Herzform. Irgendetwas stand darauf, aber es war wegen des Lehms unleserlich. Natalie streckte Chris die Kette entgegen. »Schau mal. Ich glaube, die ist aus echtem Gold.« Sie versuchte, den Anhänger vom Lehm zu befreien, spuckte mehrmals drauf und rieb ihn an ihrem Schlaz einigermaßen sauber. Das Symbol, das zum Vorschein kam, waren Ziffern aus dem hebräischen Alphabet. Es hatte Ähnlichkeit mit einem verschnörkelten N und einem Y.

»Sieht aus wie zwei hebräische Buchstaben. Sind das vielleicht Initialen?« Natalie hielt kurz inne und dachte nach. »Meinst du, wir könnten herausfinden, wem die Kette gehört hat?«

»Sie liegt immerhin seit über siebzig Jahren hier«, antwortete Chris. »Wem auch immer die Kette gehört hat, ist sowieso längst tot.«

»Das ist nicht gesagt.«

»Aber sehr wahrscheinlich. Du hast doch gehört, was Andrej über die Juden aus dieser Gegend gesagt hat. Dass praktisch keiner überlebt hat.«

»Ich weiß, was er gesagt hat. Aber was, wenn die Burkers und Heizels überlebt haben? Zumindest ein paar von ihnen? Oder auch nur einer? Vielleicht sogar die Trägerin oder der Träger dieser Kette?« Eine Idee formte sich in Natalies Kopf, die sie nicht mehr losließ. »Stell dir bloß vor, sie wären noch am Leben! Oder wir würden anhand ihres Familiennamens oder dieser Kette ihre Nachkommen ausfindig machen. Sie vielleicht sogar treffen. Und aus erster Hand erfahren, wie es für sie gewesen ist, hier unten zu leben. Wäre das nicht absolut fantastisch?«

»Das wäre großartig, Natalie, keine Frage. Aber ich denke …«

»Ich denke, wir sollten sie suchen!«, sagte Natalie entschlossen, den Blick auf die Goldkette in ihrer Hand gerichtet. »Ich denke, die Höhle hat uns ihr Geheimnis anvertraut, damit wir ans Licht bringen, was so viele Jahre im Dunkeln verborgen war. Ich will herausfinden, wer diese jüdischen Höhlenfamilien gewesen sind, Chris. Ich will wissen, was sich vor zweiundsiebzig Jahren hier abgespielt hat!«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Keine Ahnung. Wir befragen die Leute in der Gegend, suchen übers Internet, stöbern in Archiven. Es gibt unzählige Möglichkeiten. Was meinst du? Hilfst du mir dabei?«

Chris sah seine Freundin an. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr ernst war. An Ehrgeiz und Durchhaltevermögen hatte es ihr noch nie gefehlt. Und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie sowieso niemand mehr davon abbringen.

»Leute, wir müssen jetzt wirklich los!«, ertönte Andrejs Stimme erneut. »Wo bleibt ihr denn so lange?«

»Sind schon unterwegs!«, rief Chris zurück, und an seine Freundin gewandt, sagte er: »Also gut, Natalie. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es eine Sackgasse ist.«

»Ich liebe dich, Chris!«, sagte Natalie und gab ihm einen Kuss. Sie spielte mit der Kette in ihrer Hand und warf einen letzten Blick an die Höhlendecke und die Inschrift, die mit Kohle darauf gekritzelt war:

Burker. Heizel. 1943.

»Ich werde euch finden«, murmelte Natalie und umschloss die goldene Halskette mit der linken Faust. Dann drehte sie sich um und eilte ihrem Freund hinterher.

2  Die Suche

Sie traten den Rückweg an. Alle Gebrauchsgegenstände, die sie gefunden hatten, ließen sie da. Es fühlte sich nicht richtig an, etwas davon mitzunehmen. Außerdem hatte Chris ja alles penibel fotografisch festgehalten. Das Einzige, was Natalie einsteckte, war die Goldkette. Sie hatte den Eindruck, als wäre die Kette ein wichtiges Teil in dem Puzzle, das sie sich vorgenommen hatte zusammenzusetzen.

Am Abend kamen Andrej, Natalie und Chris erschöpft und verschwitzt im Basislager an. Während sie eine warme Suppe mit Brot aßen, gab es nur ein Gesprächsthema: die jüdischen Höhlenbewohner. Natalie konnte es kaum erwarten, mit der Suche nach ihnen zu beginnen.

Früh am nächsten Morgen kraxelten Natalie, Chris und der Höhlenforscher zum Ausgang zurück. Gerade mal drei Tage waren sie in der Höhle gewesen. Doch als Natalie aus der ewigen Dunkelheit herauskroch und ihren Körper durch das enge Einstiegsloch an die Erdoberfläche wuchtete, blendete sie das Sonnenlicht so stark, dass sie für einen Moment glaubte, erblinden zu müssen. Nach ein paar Minuten gewöhnten sich ihre Augen wieder an das Licht und sie hörte auf zu blinzeln. Wahnsinn, dachte sie, während sie auf das winzige Loch blickte, durch das sie in die Höhle gelangt war. Wer hätte gedacht, dass sie auf einen solch unglaublichen Fund dort unten in der Finsternis stoßen würden. Wer hätte gedacht, dass sie und ihr Freund die Ersten sein würden, die eine Geschichte zutage förderten, von der bislang kein Mensch wusste, dass sie überhaupt existierte. Und hätten sie auch nur ein Mal eine andere Abzweigung in dem verzwickten Tunnelsystem genommen, wäre das Geheimnis dieser Juden unentdeckt und vielleicht für immer verloren geblieben. Aber die Höhle hatte es ihnen offenbart, sie hatte sich ihnen anvertraut, so als wüsste sie, dass dieser kostbare Schatz bei ihnen in guten Händen war.

Die drei gingen zu Andrejs Geländewagen, den er an der nächstgelegenen Landstraße geparkt hatte. Dort zogen sie die roten, lehmverschmierten Höhlenschlaze, die Helme und dreckverklumpten Bergschuhe aus, wickelten die Seile auf und verstauten alles in den gelben PVC-Transportsäcken hinten auf der Ladefläche. Dann wuschen sie sich mit Wasser aus einer Plastikflasche die Hände und den gröbsten Dreck aus dem Gesicht, wechselten die Kleidung und setzten sich ins Auto. Natalie und Chris baten Andrej, sie in das etwa fünf Kilometer entfernte Bobrka zurückzubringen. Dort hatten sich die beiden für die Zeit ihres Aufenthaltes ein Zimmer in einer Pension genommen.

Auf der Fahrt redeten sie über nichts anderes als die Juden, die Höhle und das, was sie gefunden hatten. Plötzlich knallte es laut. Der Pick-up schlenkerte und ratterte auf der steinigen Landstraße. Staub wirbelte auf.

»So ein Mist aber auch«, brummte Andrej und brachte das Auto am rechten Straßenrand zum Stehen, unmittelbar neben einem verlotterten Haus, das einsam in der Pampa stand.

Sie stiegen alle aus, um den Schaden zu begutachten. Der vordere linke Reifen war geplatzt.

»Na toll«, sagte Andrej, und an Chris gewandt fragte er: »Kannst du mir mal helfen?«

Chris nickte, und die beiden Männer gingen hinter das Auto, holten das Ersatzrad und das Werkzeug von der Ladefläche und machten sich an die Arbeit.

Natalie vertrat sich die Beine und begutachtete dabei das Haus, neben dem sie angehalten hatten. Die Farbe blätterte bereits ab, es fehlten ein paar Fensterläden, und der Gartenzaun um das ungepflegte Grundstück herum war ziemlich verrottet. Im Hintergrund hörte sie, wie ihr Freund und Andrej mit dem Ersatzrad beschäftigt waren, als sich auf einmal die Haustür öffnete und ein altes, zittriges Männlein herauskam. Der Alte ging an einem Stock und war bestimmt weit über neunzig Jahre alt, wie Natalie seinem schütteren grauen Haar und seinem schrumpeligen Gesicht nach schätzte. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen wie bei einer Bulldogge. Natalie sah ihm dabei zu, wie er zum rostigen Briefkasten an der Straße wackelte, ihn öffnete, wieder schloss und ohne Post zurücktrottete. Dabei schielte er die ganze Zeit neugierig zu ihnen herüber, bis er schließlich stehen blieb und Natalie auf Ukrainisch ansprach. Natürlich verstand sie kein Wort, zuckte die Achseln und entschuldigte sich mit einem der wenigen Sätze, die sie kannte: »Ne ukrayins’ke, ya amerykanets – ich bin keine Ukrainerin, ich bin Amerikanerin.«

»Ah, amerykanets«, sagte der Greis, kam ein paar Schritte näher und deutete mit seinem Spazierstock die Straße hinauf in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Waren Sie in der Höhle?«, fragte er nun in gebrochenem Englisch.

»Ja, waren wir«, antwortete Natalie.

Der alte Mann wedelte mit der freien Hand in der Luft herum. »Alles Spinner«, sagte er. »Auf einmal kommen sie von überall her und wollen die Höhle sehen. Auf einmal. Dabei ist die Höhle schon vor über siebzig Jahren entdeckt worden. Ich hab’s immer gesagt. Aber es interessiert ja keinen, was der alte Dovzhenko zu sagen hat.«

Natalie spitzte die Ohren. »Warum denken Sie, dass die Höhle vor über siebzig Jahren entdeckt worden ist?«

Die kleinen Augen des Greises wurden ganz groß. »Weil ich sie gesehen habe, Kindchen! Habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen!«

»Die Höhle?«

Der Alte machte eine flüchtige Handbewegung, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Nicht die Höhle«, sagte er und sah Natalie eindringlich an. »Die Juden!«

Natalie war es, als jagte ein Blitz durch ihren Körper. Entgeistert starrte sie den Greis an. »Sie haben die Juden gesehen? Wann?«

»Nach Kriegsende«, sagte der Ukrainer und deutete erneut die Straße hinauf. »Kamen aus dieser Richtung. Waren von Kopf bis Fuß voller Lehm. Die Leute sagten, ich sei verrückt. Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Habe immer gewusst, dass es eine Höhle geben muss. Hab’s immer gewusst.«

Natalies Herz hüpfte vor Begeisterung. Es stimmte also: In der Höhle hatten sich tatsächlich Juden versteckt! Und einige hatten überlebt und waren hier vorbeigekommen. »Wie viele waren es?«

Die Augen des Alten fixierten Natalie. »Mehr als ein Dutzend.«

»Mehr als ein Dutzend?!« Natalie klappte der Mund auf. Das waren mehr als zwölf Menschen! Zwölf Juden, die den Holocaust dank dieser Höhle überlebt hatten! Konnte das wirklich sein?

»Sind hier entlanggekommen«, meinte der Mann. »Wusste sofort, dass es Juden sind. Hab’s später rumerzählt, hat jedoch keinen interessiert. Also habe ich aufgehört, davon zu reden. Aber ich habe sie gesehen, so wahr ich hier stehe. Mehr als ein Dutzend Juden. Sind hier die Straße runtergekommen. Voller gelber Erde. Ich schwör’s beim Grab meiner Mutter.«

Natalie stand noch immer mit offenem Mund da.

Der Alte schmatzte, als kaute er auf etwas herum, wiederholte erneut, dass die Juden lehmverschmiert hier vorbeigekommen seien, und ging dann in Richtung Haus.

»Wissen Sie sonst noch etwas über diese Juden?«, fragte ihn Natalie. »Vielleicht, wo sie danach hingegangen sind? Ob ihre Nachkommen noch in der Gegend leben?«

Der Ukrainer schien ihre Frage nicht gehört zu haben. »Hab’s gewusst, hab’s immer gewusst, dass es eine Höhle gab«, murmelte er vor sich hin und wackelte dazu mit dem Kopf. »Aber wen interessiert’s. Ich hätt mir das nur eingebildet, sagen sie. Dumme Schwätzer. Gar nichts wissen die, einfach gar nichts …« Damit verschwand er im Innern des Hauses und zog die Tür hinter sich zu.

Noch lange nachdem er weg war, blickte Natalie auf die Haustür und dachte über die unglaublichen Neuigkeiten nach, die der Mann ihr eröffnet hatte. Die Geschichte nahm langsam mehr Gestalt an. Und sie wurde immer erstaunlicher.

Auf der anderen Seite des Autos hantierten Chris und Andrej indessen noch immer an dem Rad herum. Sie hatten von der Begegnung mit dem alten Ukrainer gar nichts mitgekriegt.

»So, fertig!«, rief Chris endlich und tauchte hinter der Kühlerhaube auf, während Andrej das platte Rad zur Ladefläche rollte.

Natalie drehte sich zu ihnen um und sagte: »Ihr werdet nicht glauben, was ich herausgefunden habe.« Eifrig erzählte sie von dem alten Mann und den mehr als zwölf Juden, die offenbar in der Höhle gelebt haben mussten. »Wenn der Alte sie gesehen hat, dann haben andere sie bestimmt auch gesehen. Ich meine, eine derart ungewöhnliche Geschichte muss sich doch herumgesprochen haben. Vielleicht finden wir ja noch mehr Hinweise, vielleicht hat sie sogar jemand gekannt! Was denkst du, Andrej? Wen könnten wir dazu befragen?«

Der Höhlenforscher hievte das Rad auf die Ladefläche. »Fragt, wen ihr wollt. Es wird euch keiner Auskunft geben, selbst wenn sie es könnten.«

»Wieso denn nicht? Der alte Mann hat ja auch mit mir geredet.«

»Weil er vermutlich ein eigensinniger, närrischer Greis ist, der nicht mehr klar denken kann.«

»Du glaubst ihm nicht?«

»Ich glaube, ihr jagt einem Gespenst nach und verschwendet bloß eure Zeit. Nichts für ungut. Ihr könnt ganz Bobrka ausquetschen, wenn ihr wollt, und werdet trotzdem nichts erfahren.«

»Wieso nicht?«

Andrej verschloss die Klappe der Ladefläche, ging zur Beifahrertür und setzte sich ans Steuer. Natalie und Chris kletterten neben ihn auf den doppelten Beifahrersitz. Andrej startete den Motor und fuhr los.

»Wieso denkst du, dass keiner mit uns reden würde?«, fragte Natalie. »Weil wir Ausländer sind?«

»Das hat nichts mit euch zu tun«, antwortete Andrej. »Die Einheimischen sind in der Regel nicht gut auf das Thema Juden und Krieg zu sprechen. Ihr müsst wissen, die Juden wurden nicht nur von den Nazis gehasst, sondern auch von ihren eigenen Nachbarn. Früher lebten Ukrainer, Polen, Juden und Russen friedlich nebeneinander. Dann kam der Krieg und alles änderte sich. Schreckliche Dinge sind hierzulande passiert, über die keiner spricht. Also seid nicht überrascht, wenn ihr auf eisernes Schweigen stoßt.«

Eine Viertelstunde später hielt Andrej vor der Pension in Bobrka, in der Natalie und Chris ein Zimmer gemietet hatten. Es war kein Luxushotel, sondern nur eine billige Absteige. Etwas Besseres hatten Natalie und Chris im Internet nicht finden können. In Bobrka gab es kaum Touristen. Es war ein ziemlich kleines, heruntergekommenes Dorf mit renovierungsbedürftigen Häusern, kaputten Straßen, Ruinen alter Gebäude und einigen wenigen Lebensmittelgeschäften, die schrumpeliges Obst und Backwaren verkauften. Früher, so hieß es, sei Bobrka eine sehr geschäftige Stadt gewesen, voller Farben, Leben und Kultur. Doch davon war nichts mehr übrig.

Andrej verabschiedete sich von den beiden Amerikanern und wünschte ihnen für ihren restlichen Aufenthalt und die Rückreise in die USA alles Gute.

Natalie und Chris gingen auf ihr Zimmer und wollten erst einmal duschen, um all den Dreck von ihrer dreitägigen Höhlentour von sich abzuschrubben. Natalie beschlagnahmte die Dusche als Erste. Sie hatte richtige Erdklumpen im Haar und hartnäckigen Lehm unter ihren Fingernägeln, außerdem ein paar Schürfwunden an den Händen von den rauen Felsen. Aber daran war sie von ihren Höhlentouren gewöhnt. Nachdem sie fertig geduscht, frische Kleider angezogen hatte und sich wieder einigermaßen als Mensch fühlte, überließ sie Chris das Bad. Ganz in Gedanken versunken setzte sie sich im Schneidersitz auf ihr Bett und bestaunte zum wohl hundertsten Mal die Goldkette mit dem Herzamulett. Was ist deine Geschichte?, dachte sie bei sich. Wem hast du gehört?

Draußen dämmerte es bereits. Chris sang unter der Dusche aus voller Kehle, was er Natalies Ansicht nach besser unterlassen hätte. Als ihr Freund sauber geduscht aus dem Bad kam, beschlossen die beiden, im Restaurant der Pension etwas zu essen. Es war ihr letzter Abend in Bobrka. Am nächsten Tag ging ihr Flug von Lemberg über Kiew und Paris zurück nach Chicago.

Im Restaurant war nicht viel los. Nur ein schlaksiger junger Mann, der eine runde Brille und ein hochgekrempeltes Hemd trug, saß allein an einem Tisch, trank einen Kaffee und hackte geschäftig auf seinem Laptop herum. Natalie und Chris nahmen an einem der vielen freien Tische Platz und studierten die Speisekarte.

»Ich würde die Pelmeni nehmen«, sagte plötzlich der Mann am anderen Tisch in fast akzentfreiem Englisch. »Teigtaschen mit Fleischfüllung. Sehr beliebt und sehr lecker.«

»Danke«, sagte Chris und nickte dem jungen Mann freundlich zu.

»Gern geschehen«, antwortete dieser und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

Eine sympathische, pausbäckige Frau kam angewatschelt. Natalie vermutete, dass sie die Besitzerin der Pension war, denn sie war es auch gewesen, die ihnen bei ihrer Ankunft den Zimmerschlüssel überreicht hatte.