Claus Fischer und Micheline Schwarze

Qigong in Psychotherapie
und Selbstmanagement

Klett-Cotta

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Klett-Cotta

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Klett-Cotta Design

Titelbild: Hokusai: »Der Berg Fuji vom Ufer des Tama-Flusses aus«, ca. 1831

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89060-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10387-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20017-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort (Luise Reddemann)

1. Einführung

2. Einblicke in die Praxis

Unsere Anwendungsbereiche: Prävention, Psychotherapie und Selbstmanagement

2.1 Qigong-Kurse – Prävention und Stressbewältigung

2.2 Qigong-Seminare

2.3 Qigong in Psychotherapie und Beratung

2.4 Qigong im klinischen Setting

2.5 Qigong in Persönlichkeitsentwicklung und Selbstmanagement

3. Theoretische Grundlagen

3.1 Ich bin – Überlegungen zur Ich-Identität und zum Selbst

3.2 Spiegelneurone und ihre Bedeutung im Qigong

3.3 Das »Bauchhirn«

3.4 Stressreaktion und Stressbewältigung

3.5 Körperhaltung und Emotion

3.6 Schlussfolgerungen für Psychotherapie, Traumatherapie und Selbstmanagement

4. Hintergründe und Prinzipien des Qigong

4.1 Geschichte des Qigong

4.2 Begriffe und Prinzipien

4.3 Qigong

4.4 Yangsheng

4.5 Qigong Yangsheng

4.6 Yin und Yang

4.7 Zentrierung – Mitte und Dantian

4.8 Die sechs Grundprinzipien des Qigong Yangsheng

4.9 Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)

4.10 Das Spiel der fünf Tiere – ein therapeutischer Ausblick

5. Qigong – ein Dialog mit der Lebenskraft

5.1 Die innere Haltung – Achtsamkeit

5.2 Körperwahrnehmung und Selbstregulation

5.3 Bilder – Imaginationen als Ressourcen

6. Stabilität entwickeln – Lebenskraft stärken

6.1 Stehen wie eine Kiefer – zur Symbolik des Baumes

6.2 Erdung (Grounding) – das stabile Fundament

6.3 Stressbewältigung und Selbstberuhigung

6.4 Grenzen und Containment

6.5 Ressourcenorientierung

7. Das eigene Potenzial entfalten – Lebendigkeit wecken

7.1 Selbstausdruck und Selbstbehauptung

7.2 Leichtigkeit und Lebensfreude

7.3 Neue Möglichkeiten des Handelns entdecken

7.4 Kreativität und Neuorientierung

8. Mit dem Wesentlichen in Kontakt kommen

8.1 Seinserfahrungen im Qigong

8.2 Sitzen in Stille

8.3 Youfagong – Latentes zum Ausdruck kommen lassen

9. Schlussbetrachtung und Ausblick

10. Übungen zum Kennenlernen

10.1 Die drei Vorbereitungsübungen

10.2 Fünf ausgewählte Übungen aus den 15 Ausdrucksformen des Taiji-Qigong

10.3 Abschlussübungen – »Einbringen der Ernte«

11. Qigong im Fokus von Forschung und Evaluation in Deutschland

12. Danksagungen

Literatur

Bildnachweis

Vorwort

Luise Reddemann

Vor 20 Jahren, im Sommer 1988, kam Dr. Josephine Zöller als Gast in die Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin in Bielefeld, die ich zu jener Zeit leitete. Josephine war für mich ein Phänomen: 75 Jahre alt, beweglich wie ein Baby. So sei sie vor 15 Jahren nicht dran gewesen, erzählte sie. Damals, mit 60 Jahre also, habe sie ihre Praxis als Allgemeinärztin geschlossen, weil sie dauernd Rückenprobleme gehabt habe. Neugierig und aufgeschlossen wie sie war, studierte sie dann in Berlin Sinologie, um anschließend mit einem Stipendium nach China zu gehen. Dort lernte sie Qigong kennen und seither hatte sie täglich geübt, das hatte sie beweglich gemacht. Inzwischen war es ihr ein Anliegen, Qigong in Deutschland zu lehren und das uralte Wissen weiterzugeben. Wir hatten das Glück, dass sie für etwa ein Jahr in der Klinik mitarbeitete. Das Qigong kam bei unseren Patientinnen und Patienten sehr gut an, so dass es fester Bestandteil unseres Behandlungsangebots blieb, auch nachdem Josephine uns wieder verließ.

Claus Fischer führt bis heute diese Arbeit fort. Er verfügt über ein breites körpertherapeutisches Wissen und ist zudem ein kompetenter Psychotherapeut.

Durch die Zusammenarbeit mit Micheline Schwarze, die viel Erfahrung mit Qigong in der Körperpsychotherapie und im Selbstcoaching hat, wird das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und es gelingt eine interessante Verbindung zwischen östlichem Wissen und den Erkenntnissen der westlichen Psychotherapie und Wissenschaft.

Es ist das Anliegen dieses Buches, Qigong auf ein solides, theoretisch nachvollziehbares Fundament zu stellen und auch immer wieder einen Praxisbezug herzustellen. So werden einfache Qigong- und Wahrnehmungsübungen zum Ausprobieren beschrieben.

Fernöstliche Konzepte über Gesundheit und Krankheit hatten im Gegensatz zur westlichen Heilkunde eine ganzheitliche Sicht des Menschen immer bewahren können, so dass es nicht verwunderlich ist, dass sich heute viele von fernöstlichen Methoden angesprochen fühlen. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass die Sichtweisen der anderen Kultur so wenig verstanden werden, dass ihre westlichen Anhänger ins Sektierertum abgleiten. Claus Fischer und Micheline Schwarze gelingt es in diesem Buch, den Boden westlicher Empirie nicht zu verlassen und doch auch einen Geschmack der anderen Sicht zu vermitteln.

In den letzten Jahren ist es immer deutlicher geworden, dass eine Psychotherapie ohne Einbeziehung des Körpers für viele PatientInnen nicht gewinnbringend sein kann. Die neuere neurobiologische Forschung bestätigt das, was viele TherapeutInnen schon lange wussten.

In der Psychotherapie gab es seit ihren Anfängen ein Bemühen, Körper und Seele gleichermaßen wahrzunehmen und ihr Zusammenwirken zu fördern. So fand Qigong auch in verschiedenen stationären Kontexten seinen Ort, während es sich gleichzeitig in der Gesundheitsprävention und im Selbstmanagement seinen Platz erobern konnte.

Der Ansatz von Fischer und Schwarze in diesem Buch wird dem Wunsch vieler PatientInnen gerecht, dass die als wertvoll geschätzte Arbeit mit dem Qigong nach der Klinik weitergehen solle. Im Buch sind alle Bereiche abgedeckt. Qigong als Möglichkeit intensiver Selbstbegegnung und als Selbstmanagement, im Coaching und als therapeutische Intervention. Dass die Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit fließend sind, versteht sich hier tatsächlich wie von selbst.

Dieses Buch ist sowohl für diejenigen geeignet, die sich einen ersten Überblick über Qigong verschaffen möchten wie für erfahrene PsychotherapeutInnen und Qigong-Lehrende. Jede und jeder wird dieses Buch mit Gewinn lesen können, vorausgesetzt, sie oder er bringt ein Interesse an ganzheitlichen Sichtweisen mit und eine Lust, über den Körper sich selbst zu begegnen.

L. Reddemann, im Dezember 2007

1. Einführung

»Wenn ich stehe wie eine Kiefer, ändert sich auch meine innere Haltung, ich spüre mich klarer und stehe mehr zu mir«,

»Wenn ich die ›Wolkenhände‹ bewege, habe ich das Gefühl, dass es auch mal leicht gehen darf im Leben.«

Qigong-Praktizierende äußern sich häufig zu den vielfältigen seelischen Wirkungen des Übens. Sie bemerken, dass sie mehr Selbstgefühl und Selbstsicherheit entwickeln, überzeugender auftreten können, entspannter und freier werden sowie gelassener mit sich und anderen umgehen können.

Da wir in den Bereichen von Psychotherapie, Körperpsychotherapie, Beratung und Selbstmanagement tätig sind, interessieren uns in diesem Buch besonders die Fragen:

Diesen Fragen wollen wir uns von verschiedenen Seiten her nähern. Dabei geht es um Themen wie

Anhand von Beispielen aus der Praxis* erläutern wir unter anderem, wie Zentrierung und Erdung beruhigend und stabilisierend auf der seelischen Ebene wirken, warum Menschen nach dem Üben mehr Kontakt zu sich selbst haben und ihre Probleme aus einem anderen Blickwinkel sehen. In den Beispielen aus der Praxis wird deutlich, dass eine Übung wie Schiebe den Berg zu mehr Klarheit und Zielgerichtetheit führen oder Das Spiel des Tigers Angstgefühle verringern kann.

In diesen bewährten chinesischen Übungsformen werden Achtsamkeit und geistige Zentrierung, Bewegung, Haltung, Atem und Imagination auf wirkungsvolle Weise verbunden. Es wird von einer Einheit körperlicher und seelisch-geistiger Vorgänge ausgegangen – das eine wirkt mit dem anderen zusammen. Vorstellungen, Bilder, Gefühle wirken auf körperliche Prozesse, wie auch umgekehrt Bewegungen und Haltungen auf Denken und Fühlen wirken. Damit erscheint Qigong vor dem Hintergrund neurobiologischer Forschung hochaktuell und trotz der mehr als 2000-jährigen Geschichte wie eine »moderne« Körpertherapie.

Neuere wissenschaftliche Studien belegen das ganzheitliche Zusammenwirken körperlicher, emotionaler und kognitiver Prozesse. Im Zuge dieser Entwicklung werden der Körper und seine Reaktionen in der Psychotherapie zunehmend beachtet und die Arbeit mit dem Körper wertgeschätzt.

Die in unserer westlichen Kultur vorherrschende Überbetonung der Kognition und des rationalen Denkens wird von Hirnforschern infrage gestellt. Die neurobiologische Forschung stellt mit den neuesten Ergebnissen sogar die Hypothese auf, dass der Mensch mehr durch unbewusste körperliche Prozesse bestimmt wird als durch bewusste Entscheidungen (Schore, 2007; Singer, 2004).

Rein kognitive oder psychodynamische Therapieansätze klammern häufig etwas Entscheidendes aus, wenn sie ausschließlich auf die Vermittlung von Erkenntnissen und Deutungen abzielen und das körperliche Geschehen außer Acht lassen. Nicht selten werden Körperimpulse oder Körperempfindungen sogar als »Störung« des intellektuellen Therapiegespräches gesehen und damit die Chance einer Integration vertan. In einer aktuellen traumatherapeutischen Fachveröffentlichung findet sich in dem umfangreichen Stichwortregister nicht ein Wort zu den Bereichen Bewegung, Körperwahrnehmung, Körpertherapie – lediglich der Begriff »Körperkontrolle« taucht auf.

Andere plädieren klar für eine Einbeziehung des Körpers.

So schreibt Luise Reddemann (2007): »… (ich) möchte … meiner Erwartung Ausdruck verleihen, dass innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre vermutlich Psychotherapie ohne eine wie auch immer geartete Einbeziehung des Körpers obsolet sein dürfte.«

»Ich denke, also bin ich« ist als »Descartes’ Irrtum« bekannt geworden. Damasio, einer der renommiertesten Hirnforscher, plädiert eher für ein »Ich fühle, also bin ich« und betont, wie sehr Menschen durch ihre körperlichen Empfindungen gesteuert werden. Der Neurobiologe Hüther (2005) wählt als Titel seiner Veröffentlichung »Mein Körper – das bin doch ich!« und betont die Notwendigkeit, Patienten in einer Psychotherapie, wieder für ihre körperlichen Empfindungen zu sensibilisieren, diese Körperwahrnehmungen zu differenzieren und das Erlebte in Worte zu fassen.

Van der Kolk (2006, 2007) benennt u. a. Qigong als eine Methode, die Achtsamkeit fördern kann und die Möglichkeit biete, emotionale und physiologische Zustände zu regulieren. Weiterhin betont er den Wert von positiven Neuerfahrungen auf der Körperebene und ermutigt zu einem aktiven Einüben dieser korrigierenden Erfahrungen. Das aktive Aufsuchen positiver Erlebnisbereiche stärkt die entsprechenden neuronalen Verknüpfungen und fördert ihre innere Repräsentanz (Grawe, K., 2004). Grawe hat sich unseres Wissens nicht für die direkte Einbeziehung des Körpers in der Psychotherapie ausgesprochen, betonte aber das aktive Handeln als Prinzip für Veränderung. Dies impliziert Bewegungen und körperliches Erleben.

Für die Bereiche Körperwahrnehmung, Geschicklichkeit und Freude an der Bewegung gilt das Motto: aktivieren, was man behalten möchte. Der bekannte Leitsatz der Neurobiologen bringt es auf den Punkt: »use it or lose it«. Vereinfacht, jedoch treffend, ist auch die Aussage: Um im Körper zu Hause zu sein, reicht nicht ein gelegentlicher Besuch.

Durch regelmäßige Wiederholungen von Bewegungen, Haltungen und Vorstellungen fördert Qigong eine Verinnerlichung positiver Erfahrungen und wird daher oft als ein »heilsames Ritual« betrachtet. So können nachhaltig eine differenzierte Körper- und Selbstwahrnehmung gefördert werden und neue Verhaltensmöglichkeiten bewusst werden.

Qigong kommt mittlerweile in dem weiten Bereich von Prävention, Rehabilitation, Psychotherapie oder Persönlichkeitsentwicklung zur Anwendung und dient hier der allgemeinen Stabilisierung, Ressourcenstärkung, dem Entspannungstraining sowie der Stressbewältigung. Im Bereich von Therapie und Selbstmanagement können auch Aspekte wie Klärung, Selbsterkenntnis oder Selbstbehauptung dazukommen.

In jedem Fall geht es darum, einen Gesundungs- oder Entwicklungsprozess auf körperlicher, emotionaler, geistiger oder auch spiritueller Ebene zu fördern.

Wir wollen das Thema in ganzheitlicher Weise vermitteln, etwas für »Hand und Fuß«, »Kopf und Bauch« schreiben – und deswegen verschiedene Anregungen und kleinere Übungsanleitungen in den Text integrieren. Sensomotorische Wahrnehmungen kann sich das Gehirn besser merken als abstrakte Schilderungen, daher bieten wir Wahrnehmungs- oder Achtsamkeitsübungen an, um durch eigene Erfahrungen die beschriebenen Thematiken anzureichern und während des Lesens einen Geschmack von Qigong zu vermitteln.

Am Ende des Buches stellen wir Ihnen einige Qigong-Übungen als kleine Übungsreihe vor, die Sie erlernen und aus denen Sie sich ein Alltagsprogramm zusammenstellen können. Selbstverständlich können diese Übungsanleitungen weder das Üben unter kompetenter Anleitung noch eine Ausbildung oder eine therapeutische Behandlung ersetzen.

Sie werden beim Lesen feststellen, dass wir versuchen, Brücken zu bauen – Verknüpfungen herzustellen zwischen Theorie und Praxis, östlichen und westlichen Körpertherapien, Psychotherapie und Selbstmanagement.

Bindeglied aller Bereiche ist die Frage: Was hilft dem Menschen, gesund zu werden, seine eigene Balance zu finden und mehr Lebenszufriedenheit zu entwickeln?

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse neurobiologischer und psychotherapeutischer Forschung sind die Themen Körper, Bewegung, Imagination, Integration und Heilung in den letzten Jahren vermehrt in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt. Die bereits seit Jahrzehnten verbreiteten Körperpsychotherapie-Verfahren finden zunehmend Anerkennung. Die Psychotherapie entdeckt den Körper. Auf Kongressen und in der aktuellen Literatur wird die Körperlichkeit als Ressource in der Psychotherapie thematisiert.

Auch aus einem anderen Blickwinkel können wir uns annähern. Östliche Verfahren wie Yoga, Qigong oder Meditationspraktiken treten mit dem Thema Achtsamkeit mehr und mehr in das öffentliche Interesse und sind Gegenstand von Forschungsprojekten.

Wir sehen derzeit einen interessanten lebendigen Prozess des Austausches zwischen den unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkten, der Medizin, der Psychotherapie und traditionellen Herangehensweisen wie dem Qigong.

Wir möchten mit diesem Buch in Psychotherapie oder in Beratung/ Coaching tätige Menschen erreichen, Qigong-Praktizierende und -Unterrichtende sowie Betroffene von Stress oder seelischen Belastungen.

Viele PsychotherapeutInnen interessieren sich für erfahrungsorientierte Methoden und die Einbeziehung des Körpers in ihre Arbeit. Dieses Buch kann helfen, mehr Achtsamkeit für körperliche Prozesse zu entwickeln und in der Therapie ganzheitliche Empfindungen und Impulse als Ressource wertzuschätzen. In den Wahrnehmungen, Bewegungen oder feinen Signalen des Körpers zeigen sich oft Lösungswege aus Erstarrung, Empfindungslosigkeit oder Übererregtheit.

Es kann hilfreich sein, Klienten Qigong – ein übendes körperorientiertes Verfahren – als Ergänzung zu einer verbalen Psychotherapie zu empfehlen. So können sie mehr Zugang zu ihrer Körperwahrnehmung finden und ein verbessertes Selbstgefühl aufbauen, was wiederum der Psychotherapie zugute kommt.

Die Ausbildung zum Qigong-Lehrer umfasst mittlerweile etwa 500 Stunden und kann durchaus als fundiert gelten. Leider werden oft nicht genügend Kenntnisse über die psychischen Wirkungsmöglichkeiten vermittelt. Die in diesem Buch dargestellten theoretischen Grundkenntnisse u. a. zur Stressforschung sowie Praxisbeispiele aus den Bereichen von Psychotherapie, Selbsterfahrung und Selbstmanagement können für Unterrichtende eine Anregung bedeuten.

Betroffene von Stress und Erkrankung können hiervon genauso profitieren wie professionelle Helfer. Auch diese fühlen sich durch ihre verantwortungsvolle Arbeit oftmals belastet und »vergessen« durch zunehmende »Kopfarbeit« und gestraffte Arbeitsabläufe mitunter ihren Körper. Häufig vorkommende Berichte von Burnout, Schlafstörungen, Mitgefühlserschöpfung oder Symptome sekundärer Traumatisierung zeigen, wie notwendig Selbstfürsorge und Psychohygiene im therapeutischen Arbeitsbereich ist (Diegelmann, 2007; Hudnall Stamm, 2002).

Qigong kann helfen, körperlich und geistig zu regenerieren. Für Klienten und Patienten ist die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, durch eigenes aktives Tun auf die Befindlichkeit einwirken zu können und sich von Hilflosigkeit und Ohnmacht zu lösen, ein zentraler Aspekt.

Qigong setzt an dem gesunden Potenzial an, das in jedem Menschen vorhanden ist. Diese Seite gilt es zu stärken und mehr zur Entfaltung zu bringen. Qigong ist damit ressourcenorientiert und resilienzfördernd.

In China wird Qigong seit mehr als 2000 Jahren zur Stärkung der Gesundheit und Behandlung von Erkrankungen eingesetzt.

Eine hilfreiche Idee für die westliche Medizin ist, sich von der vorherrschenden Polarisierung gesund – krank zu lösen und im Sinne Antonovskys (1993) eher an ein dynamisches Verhältnis von »mehr oder weniger gesund« zu denken. Die Resilienzforschung (Rampe, 2005) belegt, dass eine aktive und hoffnungsvolle, lösungsorientierte Haltung hilfreich ist, um die gesunde Seite zu stärken und Schwierigkeiten zu bewältigen.

Qigong-Übungen haben zum Ziel, ein vitales Körpergefühl zu fördern – mit klarem Geist körperlich gut verwurzelt und zentriert zu sein. Solange der Körper lebt, ist der Mensch in seinem Körper »zu Hause«, und es lohnt sich, liebevoll und fürsorglich mit ihm umzugehen. In dieser Richtung möchten wir die Leserinnen und Leser des Buches anregen.

Die Verbindung von Qigong und (Körper-)Psychotherapie interessierte uns schon eine Weile, als wir uns im Frühsommer 2006 entschieden, hierzu etwas zu veröffentlichen. Das Thema liegt uns am Herzen, da wir in unseren Arbeitsfeldern seit einigen Jahren positive Erfahrungen mit Qigong als einem psychisch wirksamen Verfahren gemacht haben.

Micheline Schwarze arbeitet seit 1988 in eigener Praxis als Körperpsychotherapeutin sowie als Trainerin im Bereich Persönlichkeitsentwicklung und hat Qigong in diese Arbeitsbereiche integriert. Sie ist Atemtherapeutin (Middendorf ) und zertifizierte Hakomi-Therapeutin sowie Qigong-Dozentin bei der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng, Bonn.

Claus Fischer ist seit 1990 als Psychotherapeut in der Bielefelder Klinik für Psychotherapie beschäftigt und bietet Qigong im klinischen Setting für Patientinnen u. a. mit Traumafolgestörungen an. Er ist körperpsychotherapeutisch (Biosynthese – Boadella) ausgebildet, arbeitet mit EMDR und tiefenpsychologisch fundiert. Er ist ebenfalls Qigong-Dozent bei der Medizinischen Gesellschaft.

Als Autorenteam zu schreiben bietet die Chance, das Thema mehr zu durchdringen und aufgrund der sich ergänzenden Arbeitsbereiche breit gefächert und mit vielfältigen Praxisbeispielen aufbereiten zu können.

Manches wird als Synthese unser beider Erfahrungen erkennbar werden, manches aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachtet nebeneinander stehen bleiben. Wir wollen mit diesem Buch »aus der Werkstatt« Anregungen geben und Hypothesen formulieren sowie zum Ausprobieren und weiterem Erforschen Mut machen.

Wir wählen abwechselnd die weibliche und männliche Form der Anrede, gemeint sind immer gleichfalls Frauen wie Männer. Meistens überwiegen die Frauen in Qigong-Übungsgruppen, aber es gibt auch zunehmend Männer, die sich für Qigong begeistern.

Bild

Als weiblich-männliches Autorenteam versuchen wir in diesem Buch männlichen und weiblichen Körperwahrnehmungen und Betrachtungsweisen gerecht zu werden. Im Sinne der chinesischen Sichtweise einer Ausgewogenheit von Yin und Yang wünschen wir den Leserinnen und Lesern ein anregendes Lesen und Üben.

Es kann durchaus vorteilhaft sein, wenn Sie sich von Ihrem »Ziran«, von Ihrem inneren natürlichen Impuls, leiten lassen, mit welchen Kapitel Sie beginnen wollen, was am interessantesten erscheint oder auf später verschoben werden kann.

Viel Spaß und Inspiration!

* Hinweis: Alle Praxisbeispiele beruhen auf wahren Begebenheiten, wurden jedoch zum Schutz der Persönlichkeit verfremdet oder aus verschiedenen Beispielen zusammengesetzt. Ähnlichkeiten, die dennoch bestehen könnten, sind rein zufällig und auch dadurch bedingt, dass Menschen ähnliche Themen haben.

2. Einblicke in die Praxis

Unsere Anwendungsbereiche: Prävention, Psychotherapie und Selbstmanagement

Wir wollen Ihnen zunächst eine konkrete Vorstellung von den verschiedenen Bereichen vermitteln, in denen wir mit Qigong arbeiten. Die dort gesammelten Erfahrungen und daraus folgenden Reflexionen sind die Grundlage dieses Buches. Beispiele aus der Praxis sind uns wichtig, um deutlich zu machen, auf welche Weise Qigong psychisch wirksam ist, wie wir es in der Psychotherapie und im Selbstmanagement anwenden und was der jeweils spezifische Ansatz ist.

Sie werden sehen, dass die Übergänge zwischen den verschiedenen Praxisbereichen fließend sind. Wesentliche Wirkungen des Qigong wie Stabilisierung, eine Verbesserung des Selbstgefühls oder die Entfaltung der Vitalität, spielen in der Psychotherapie, in Präventionskursen sowie in der Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle.

Die Tätigkeitsfelder von uns Autoren decken sich in manchen Bereichen. Beide leiten wir seit vielen Jahren fortlaufende Kurse, z. B. für Krankenkassen oder Bildungswerke, Ausbildungsseminare der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng sowie Fortbildungen zu speziellen Themenbereichen (z. B. Qigong und Psychotherapie).

Bei der Schilderung folgender Arbeitsbereiche, in denen nur einer von uns tätig ist, wechseln wir im Text von der Wir-Form zur Ich-Form:

Micheline Schwarze integriert Qigong in ihre körperpsychotherapeutische Arbeit (Hakomi) im Einzel- und Gruppensetting. Als Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung setzt sie Qigong-Elemente in Seminaren zu verschiedenen Themenbereichen ein.

Claus Fischer leitet in einer traumatherapeutischen Klinik eine Qigong-Gruppe und integriert Elemente daraus auch in die Einzelpsychotherapie.

2.1 Qigong-Kurse – Prävention und Stressbewältigung

Qigong-Kurse gibt es in jeder größeren Stadt, bei Bildungseinrichtungen, Krankenkassen oder privat organisiert. Bei diesen Kursen besteht kein psychotherapeutischer Auftrag. Die Teilnehmer kommen mit Anliegen, die sich auf körperliche und auf seelische Aspekte beziehen.

Sie möchten Stress abbauen, gelassener werden, körperliche Spannungen lösen und etwas für die Gesundheit tun. In Kursankündigungen häufig verwendete Formulierungen wie »Gelassenheit«, »Entspannung« oder »die Lebenskraft (Qi) stärken«, wecken gerade bei Menschen, die unter Stressbelastung leiden, erschöpft sind oder sich nach mehr Lebendigkeit sehnen, Interesse.

Praxisbeispiel: Umgang mit körperlicher und seelischer Belastung:

In welcher Weise regelmäßiges Qigong-Üben bei vielen Teilnehmern auf körperlicher und seelischer Ebene wirkt, soll in einem Beispiel skizziert werden.

Eine 35jährige Informatikerin kam in einen fortlaufenden Kurs. Sie litt unter Nacken- und Schulterspannungen, Migräne sowie Schlafstörungen. Ein lang andauernder Konflikt mit einem Kollegen und die hohe Arbeitsintensität belasteten sie seelisch und körperlich. Ihre innere Haltung war, sich selbst zu viel »auf die Schultern zu laden« und für andere die Verantwortung mit zu übernehmen.

Ihre Physiotherapeutin hatte ihr empfohlen, Qigong zu lernen, um die Stressbelastung besser zu bewältigen und selbstständig etwas für ihre Entspannung tun zu können. Zu Beginn des Kurses waren ihr die Langsamkeit der Bewegungen fremd und sie merkte daran, wie sehr sie den Zeitdruck ihres Berufslebens schon verinnerlicht hatte.

Ihr Bemühen, beim Üben alles richtig zu machen, um schnell zu Erfolgen zu kommen, passte ebenfalls zu ihrem Muster. Sie erkannte, wie sehr sie sich selbst unter Druck setzte.

Beim Qigong entdeckte sie Möglichkeiten, auf ein langsameres Tempo umzuschalten und angemessen mit sich und ihrem Körper umzugehen. Sie begann die Entschleunigung und Ruhe in den Bewegungen zu genießen – ihr Perfektionsdenken und Leistungsanspruch ließen nach.

Positive Wirkungen der Kursabende waren, dass sie gelassener auf ihre Probleme schaute und ihr Schlaf ruhiger und tiefer wurde.

Nach sieben bis acht Wochen begann sie auch im Berufsalltag achtsamer mit ihrem Körper umzugehen. Sie fing an, kleine Pausen einzulegen und lockerte mit unauffälligen, spiraligen Bewegungen aus dem »Spiel des Bären« ihre Schultern. Es gelang ihr, körperliche und emotionale Spannungen auf diese Weise zu lösen, bevor sie schmerzhaft wurden. »Wie ein Knoten, der sich nicht fester zieht, sondern wieder lockert« schilderte sie es. Die Bewegungen erlebte sie als wohltuend und beruhigend. Die Gestalt des Bären symbolisierte für sie Gelassenheit und Gemütlichkeit, Aspekte, die sie sich für ihr Leben mehr wünschte.

Gegen Ende des Kurses fing sie an, regelmäßig zu Hause zu üben. Allein der Entschluss, morgens eine halbe Stunde für sich selbst zu reservieren, war ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstfürsorglichkeit. Sie sagte, sie »manage« sich selbst und ihre Energie besser, wenn sie morgens Qigong übe. Ihre Verspannungen im Nackenbereich sah sie als einen »Indikator« an, der ihr zeigte, ob sie gut bei sich war. Wenn sie morgens Qigong geübt habe und ihre kleinen »Bären-Pausen« einlege, lasse sie sich meistens weniger stressen, sagte sie.

Die körperlichen Spannungen nahmen allmählich ab und die Migräneanfälle wurden weniger. Im Umgang mit dem schwierigen Kollegen konnte sie sich besser abgrenzen und nahm im übertragenen Sinne nicht mehr so viel auf ihre Schultern.

Über die Bewegungen und die veränderte innere Haltung gelang es dieser Frau selbstfürsorglicher zu werden, gelassener der beruflichen Belastung standzuhalten und einer Somatisierung entgegenzusteuern.

Diese Schilderung macht deutlich, was im nachfolgenden theoretischen Kapitel vom wissenschaftlichen Standpunkt genauer betrachtet werden soll – das Zusammenwirken körperlicher und psychischer Prozesse.

Motivation der TeilnehmerInnen

In diesen Kursen, die u. a. von Krankenkassen im Rahmen der Prävention angeboten werden, stehen Stressbewältigung und Entspannungsförderung im Vordergrund. In einer oftmals bunt gemischten Gruppe werden Ruhe- und Bewegungsübungen vermittelt, es geht darum, das Körpergefühl zu verbessern und mehr Achtsamkeit zu entwickeln für die eigenen Bedürfnisse und für Belastungsgrenzen auf körperlicher und seelischer Ebene.

Die Motivation der Teilnehmerinnen reicht von dem Wunsch nach Entspannung oder Kräftigung bis hin zu dem Bedürfnis, mehr psychische Stabilität zu entwickeln. Häufig spielt auch das soziale Miteinander beim Üben eine Rolle. Dabei ist es für einige Menschen angenehm, dass man beim Üben intensiv etwas miteinander tut, ohne viel reden zu müssen. Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Beschwerden suchen nach Möglichkeiten, ihre Heilkräfte zu stärken, und kommen in diese Kurse. Hier geht es um Ressourcenstärkung, Vertrauen und Zuversicht, in guten Kontakt mit sich selbst zu kommen und auf Stresssituationen gelassener zu reagieren. Auch die Beschäftigung mit Sinnfragen oder die Suche nach einer Neuorientierung führt Menschen zum Qigong.

Für viele wird die wöchentliche Übungsstunde zu einer Art Ritual der Psychohygiene oder der Selbstfürsorglichkeit. Besonders wohltuend wird das »In die Ruhe eintreten« erlebt, gerade bei starker beruflicher oder familiärer Belastung. Teilnehmer erleben es als wesentlich, hier eine »Eigenzeit« zu haben, das heißt, Zeit, in der sie sich selbst ernst nehmen und wertschätzen. Oft haben die Gruppe und der feste Termin eine motivierende Wirkung, sich z. B. trotz Müdigkeit aufzuraffen, weil man aus Erfahrung weiß, dass es guttut. So berichten Teilnehmerinnen häufig, ihre anfängliche Müdigkeit oder Missstimmung sei während der Stunde verschwunden, sie fühlten sich danach lebendiger und unternehmungslustiger. Oft seien sie auch liebevoller zu sich selbst und offener für den Kontakt mit anderen.

Einige der Kursteilnehmer bauen einzelne Übungselemente, wie eine gute Erdung, das »innere Lächeln«, Achtsamkeit für den Atem oder Selbstmassagen, in den Alltag ein. Für andere wird Qigong zur regelmäßigen Praxis, die sie – ähnlich einer Meditationspraxis – auch zu Hause ausführen.

In manchen Kursen mischen sich erfahrene und unerfahrene Übende, das kann eine Herausforderung für die Unterrichtenden darstellen. Häufig unterstützt jedoch die Intensität der geistigen Sammlung und die Ruhe der »Fortgeschrittenen« die Anfänger. Die »Neuen« wiederum bringen die Frische des Anfangs mit, sie stellen interessante Fragen, die man sich später nicht mehr zu fragen traut. Sie erinnern uns immer wieder daran, mit »Anfängergeist« zu unterrichten. Dieser Ausdruck von Shunruyi Suzuki, einem bekannten Zen-Lehrer, beschreibt die Qualität der wachen, entspannten und von Vorurteilen unbelasteten Gegenwärtigkeit.

2.2 Qigong-Seminare

Wir leiten auch mehrtägige Qigong-Seminare in unterschiedlichen Zusammenhängen:

Die Intensität des Übens ist hier anders als in fortlaufenden Kursen. Wenn täglich vier bis sechs Stunden Qigong praktiziert wird, vertiefen sich natürlich auch die Wirkungen, sei es Entspannung, Kraftzuwachs oder Lebendigkeit. Für Teilnehmer mit geringer körperlicher Kondition können die langsamen, eigentlich kräfteschonenden, aber ungewohnten Bewegungen oder Haltungen sogar anstrengend werden. Die vermehrte Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung kann auch mehr mit inneren Themen in Kontakt bringen, seien es Spannungen, Blockierungen, Ängste, Sehnsüchte oder Aspekte der Person, die sonst selten ausgedrückt werden, z. B. Wut, Lebendigkeit, Spielerisches, Wildes, Weichheit.

Der Selbsterfahrungsanteil nimmt in längeren Kursen zu. Traditionell betrachtet man beim Qigong die geistigen und emotionalen Themen als Chance der »Selbstkultivierung«. In China werden diese Themen eher innerlich bewältigt und nicht in die Gruppe eingebracht. Je nach Gruppenzusammensetzung, Setting und Vertrautheit untereinander können Reflexion und der Austausch darüber intensiver werden, wenn ein Bedürfnis danach besteht. Wir sehen in diesen Seminaren den Fokus bei der Vermittlung von Qigong und den dazugehörigen Prinzipien. So kann es z. B. in einem Ausbildungszusammenhang ausschließlich um das Erlernen einer äußeren Form gehen. Wir arbeiten jedoch häufig so, dass eine innere psychotherapeutische Haltung das Ganze im Hintergrund begleitet. In diesen Seminaren werden psychische Prozesse nicht durch Interventionen forciert, sondern wir folgen eher dem Prozess, der sich entwickelt. Wichtig ist, die Dynamik in der Gruppe zu beachten und eventuell zu regulieren, sodass ein Klima der respektvollen Offenheit und Akzeptanz entstehen kann.

Die Momente, in denen Teilnehmerinnen in Kontakt mit inneren Themen kommen, sind oft kostbar. Hier gibt es die Chance für Veränderung, ohne dass eine Konfliktorientierung im Vordergrund steht. Es kann etwas in Bewegung kommen, ohne dass man es psychotherapeutisch nennen muss. Manche Menschen, die solche Kurse besuchen, sind durchaus seelisch belastet. Sie zögern eventuell, aus Sorge vor Stigmatisierung in eine psychotherapeutische Behandlung zu gehen, und wählen erst einmal eine Methode wie das Qigong, um sich zu stabilisieren oder zu beruhigen. Oft haben KursteilnehmerInnen davon gehört, dass Qigong ganzheitlich regulierend auf Körper, Geist und Seele wirkt, und erhoffen sich auf diesem Weg Entlastung, Linderung oder Heilung.

Psychische Wachstums- und Gesundungsprozesse geschehen beim Qigong oft eher beiläufig. In einem mehrtägigen Seminar ist durch den großzügigeren Zeitrahmen auch eine spezielle Unterstützung und therapeutische Arbeit an einem Thema möglich, wie in dem folgenden Beispiel gezeigt wird.

Praxisbeispiel: Aufrichtung und Selbstwertgefühl

An einem Wochenendseminar nahm ein junger Mann teil. Er war von schmaler Statur, körperlich etwas zusammengezogen, im Blickkontakt eher schüchtern.

Er berichtete beim Erlernen einer sehr aufgerichteten Haltung »Der weiße Kranich zeigt seine Schwingen« Folgendes:

»Obwohl ich die Haltung eigentlich schön finde, macht sie mich irgendwie traurig.« Er vermutete, das habe mit der aufgerichteten, entfalteten, »majestätischen« Haltung zu tun. Die Ermunterung, die Übung einige Male auszuführen und achtsam wahrzunehmen, wann und wodurch das Gefühl genau ausgelöst wurde, brachten ihn in Kontakt mit einem zugrunde liegenden Lebensthema und einer tiefen Sehnsucht. Er war berührt und den Tränen nahe.

Die Aufrichtung und das »Sich-Zeigen« erkannte er als etwas, das ihm sonst in seinem Leben – aufgrund seines biografischen Hintergrundes – wenig erlaubt gewesen sei. Sein Selbstwertgefühl hatte darunter gelitten, er erlebte sich als »nicht in Ordnung« und »unansehnlich«. Wenn er sich wie ein stolzer Kranich zeigte, war das eher mit Scham verbunden. Es war wichtig, diese Gefühle ernst zu nehmen und zu akzeptieren. Diese Erfahrung wurde der Ausgangspunkt für fein dosierte Änderungen seiner gewohnten inneren und äußeren Haltung. Ihm wurde angeboten, mit dem »Sich-Zeigen« mehr zu spielen: Sich zwischenzeitlich wieder klein zu machen und zurückzuziehen, anschließend so weit herauszukommen, wie es gerade angemessen für ihn war.

Hier trat die richtige Ausführung der Übung in den Hintergrund zugunsten der Suche nach einer authentischen Bewegung. Die Akzeptanz seiner individuellen Art und die Möglichkeit, kleine Anpassungen vorzunehmen, vertieften die Erfahrungen und lösten neben der Trauer Freude aus. Er äußerte die Sehnsucht, sich zeigen zu können, in seinem Maß und ganz auf seine eigene Weise. Da es sich um eine vertraute Gruppe handelte, gaben ihm die anderen Raum und Anerkennung. Sie waren wohlwollende Zeugen, als er es wagte, für einen Moment in Erscheinung zu treten als ein »weißer Kranich, der seine Schwingen zeigt«.

Bild

Sich aufrichten und entfalten (Übung: »Der Kranich zeigt seine Schwingen«)

Über die Brücke der Übungsform konnte das Thema intensiv gefühlt und verstanden werden. Die Auflösung lag in einer nahezu gleichen äußeren Haltung, jedoch mit einer veränderten inneren Haltung und einem guten Selbstgefühl.

Er nahm sich vor, den Kranich häufiger zu praktizieren, um das positive Gefühl körperlich immer wieder zu erinnern und mehr in sich zu verankern.

Diese Verbindung von emotionalem Erleben und achtsamer Selbstwahrnehmung macht eine Qigong-Übung zu einer einprägsamen Erfahrungsübung. Gottwald (2006) betont, dass Lernprozesse durch ganzheitliche Erfahrungen gefördert werden, besonders wenn möglichst viele Sinne, Emotion und Bewegung beteiligt sind.

2.3 Qigong in Psychotherapie und Beratung

Qigong kann auch im Rahmen von Einzeltherapie und Beratung als unterstützende Körperarbeit in vielfältiger Weise angewendet werden. Es stellt eine Möglichkeit dar, Selbstberuhigung zu üben, die eigene Kraft zu spüren und neue Ausdrucksweisen für sich zu entdecken. Da ich (M. S.) hauptsächlich körperpsychotherapeutisch arbeite, kommen vor allem Klienten in meine Praxis, die besonders an körper- und erfahrungsorientiertem Vorgehen interessiert sind.

In einigen Fällen gibt es Verbindungen zwischen meiner Praxistätigkeit und dem Qigong. Eine Verbindung besteht darin, dass ich Qigong-Seminare leite und Menschen aus diesem Umfeld in Einzeltherapie oder zur Beratung kommen.

Qigong und Körperpsychotherapie – Hakomi:

Um meinen Hintergrund und die Arbeitsweise in der Einzeltherapie deutlich zu machen, soll hier kurz die von mir angewendete Methode umrissen werden.

Die erfahrungsorientierte Körperpsychotherapie Hakomi ist eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapieform, die in den 70er-Jahren von Ron Kurtz in Amerika entwickelt wurde.

Sie weist von ihren Grundprinzipien her gewisse Ähnlichkeiten mit dem Qigong auf. Es gibt eine Definition von unserem Qigong-Lehrer Jiao Guorui: »Qigong ist ein Dialog mit der Lebenskraft – ein Lauschen, was sie einem sagen will.« Dies erinnert an das achtsame Nach-innen-Lauschen und Wahrnehmen in der Körperpsychotherapie.

Die Hakomi-Methode bezieht ebenfalls Aspekte des Buddhismus und Daoismus mit ein. Das drückt sich in einer annehmenden Haltung und dem Ansatz aus, die Fähigkeit des Menschen zur Selbstregulation und Selbstheilung »dem Prozess folgend« zu unterstützen. Vertrauend auf das innere Wissen eines jeden Menschen, wie sich sein Wesen und seine Potenziale entfalten können, wird im Hakomi der individuelle Entwicklungsprozess gefördert. Alle inneren Anteile, förderliche und hemmende Anschauungen, kreative Kräfte und Blockaden werden dabei respektvoll angenommen.

Das Besondere an dieser Methode ist die achtsame Erkundung des gegenwärtigen Erlebens. Dies ermöglicht ein unmittelbares, aus der Erfahrung heraus entstehendes Verständnis dafür, wie und warum früh gebildete und im Körper verankerte Anschauungen noch heute Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. »Körperpsychotherapeuten gehen davon aus, dass der Leib der eigentliche Ort ist, an dem Erleben stattfindet, der Gefühle und Stimmungen wahrnehmbar macht, der Wohlsein und Unwohlsein unterscheidet … Durch das körperliche Erleben erhalten die in der Therapie auftretenden Einsichten und Erkenntnisse eine Qualität von Unmittelbarkeit, Stimmigkeit und subjektiver Wahrheit.« (Weiss, 2006, S. 425)

Dazu wird mit Worten, Berührungen und Bewegungen experimentiert und auf die Resonanz geachtet, die sie im Inneren auslösen. Über das Körpererleben entsteht so ein Zugang zu Grundüberzeugungen, die im Unbewussten verankert sind. Wahrgenommen, gespürt und verstanden, können alte Muster und unbewusste automatische Reaktionen an Macht verlieren, neue Möglichkeiten des Erlebens und Handelns werden fühl- und denkbar. Dazu noch einmal Halko Weiss: »Die somatische Komponente dient dabei sowohl der Aufdeckung als auch dazu, eindrückliche und nachhaltige Erfahrungen zu kreieren, die den limitierenden ursprünglichen Erfahrungen widersprechen.« (Ebd. S. 429)

Diese neuen korrigierenden Erfahrungen können die Grundlage schaffen für Heilung, inneres Wachstum und die Entfaltung von Potenzialen.

Qigong – »hakomisch« nutzen

Eine Qigong-Bewegung »hakomisch« zu nutzen könnte bedeuten, sie noch mehr zu verlangsamen, eventuell zu wiederholen und vor allem sie zu untersuchen. Dabei können Fragen gestellt werden wie:

Hier steht also nicht so sehr das Erlernen einer harmonischen Form im Vordergrund – wie innerhalb eines Kurses. Das Ausführen der Bewegung, das Bild, die Eigenschaften dienen im therapeutischen Zusammenhang als Mittel der Selbsterforschung und Selbsterkenntnis. Dabei geht es darum herauszufinden, was für Erfahrungen und daraus gebildete Anschauungen und innere Einstellungen auf einer tieferen Ebene zum Thema »stark sein«, »mächtig sein« oder »stabil stehen« im Menschen vorhanden sind.

Manchmal kann im Qigong-Üben eine fehlende Erfahrung, eine sogenannte »missing experience« (Kurtz, 1990), nachgeholt bzw. eine neue korrigierende Erfahrung gemacht werden. Es kann geschehen, dass Bewegungen bei einem Menschen Erlebensqualitäten hervorrufen, die bis jetzt in seinem Leben wenig vorhanden, schwierig erreichbar oder nichterlaubt waren. Dazu kann zum Beispiel gehören, sich »machtvoll wie ein Tiger« oder »sorglos wie ein Kranich« zu fühlen oder einen festen Boden unter den Füßen zu spüren und Ruhe in sich durch den Kontakt zur eigenen Mitte zu finden. Ein sicherer Rahmen, die unterstützende Zeugenschaft und Begleitung der Therapeutin sind für solche Erfahrungen besonders wichtig.

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Neue Bewegungsmöglichkeiten erproben – z. B. mit Bärenkräften spielen

Die jahrtausendealten Haltungen, Bewegungsformen und Vorstellungsbilder des Qigong erweisen sich als wirkungsvolle Erfahrungszugänge und Symbole für wesentliche Aspekte des menschlichen Lebens. Den Kontakt zur Mitte zu halten, wenn man sich der Welt öffnet, oder eine Stabilität zu entwickeln, die auch flexibles Handeln ermöglicht, sind dafür Beispiele.

Gerade das Thema, mit polaren Kräften im Leben angemessen umzugehen, kann in diesen Übungen praktisch erfahren werden.

In spielerischer Weise können neue Bewegungs- und Erlebensmöglichkeiten – eventuell auch mit einem Gegenüber – erprobt werden und so den Prozess in der Therapie anreichern.

Praxisbeispiel: Selbstkontakt und Kraft

Eine 45-jährige Klientin, die seit einer Ehekrise unter Depressionen und Angststörungen litt, spürte beim Erzählen einer bedrohlichen Situation, in der sie sich kraftlos gefühlt hatte, wie sich Unruhe im Körper ausbreitete und besonders in den Händen spürbar war. Gefragt, was diese Unruhe »erzähle«, antwortete sie: »Sie will Bewegung, irgendwie gibt es da einen Impuls in mir.« Auf eine Anregung hin drückte sie den inneren Impuls mit einer äußeren Bewegung aus. Sie bemerkte, dass diese einer ihr bekannten Qigong-Haltung sehr ähnelte, nämlich: »mit beiden Fäusten die Kraft vermehren«.

Diese Haltung hatte sie im Kurs als eher ungewohnt erlebt und nur technisch ausprobiert. Als sie in der Therapiestunde von innen heraus diese Fausthaltung einnahm und dann in Achtsamkeit erforschte, bemerkte sie Gefühle der Wut und Entschiedenheit.

Ich bot ihr an, den nach vorne gerichteten Fäusten einen Gegendruck zu geben in dem ihr angemessenen Maße. Dabei konnte sie die Wirkung auf ihr Inneres genauer erkunden. Sie schloss die Augen und drückte in unterschiedlicher Stärke gegen meine Hände. Ihre Atmung wurde dabei freier, und die Unruhe nahm ab. Sie schilderte, dass die Gefühle der Entschiedenheit stärker würden und ihr das Spielen mit den Fäusten zunehmend Freude mache. Der Prozess vertiefte die Erfahrung, ihre eigene Kraft durch den spürbaren Druck und Kontakt mehr wahrzunehmen.

Ein weiterer Aspekt war, dass sie ihre eigenen Impulse leichter zulassen konnte, weil der Gegendruck ihr auch eine Art Sicherheit gab, dass ihre Kraft nicht ungebremst und eventuell »zu machtvoll« nach außen brechen könnte. In ihr gab es Befürchtungen, die in diese Richtung gingen.

Nach einigem Experimentieren fand sie Worte dafür, was ihre Fäuste »sagen« wollten: »Ich darf da sein – mit meiner Kraft!« Als sie das in Verbindung mit der Bewegung aussprach, wurde plötzlich etwas ruhig in ihr, und sie war sehr berührt. Später beschrieb sie diesen Moment als positiven Wendepunkt in ihrer Therapie.

Die Haltung »mit beiden Fäusten die Kraft vermehren« war der Klientin bereits vertraut, sozusagen Teil ihres Bewegungsrepertoires. Sie tauchte in dieser Situation spontan als Ausdruck ihres inneren Erlebens auf und konnte körpertherapeutisch bearbeitet werden. Dies ebnete der Klientin den Weg, aus den Gefühlen der Unruhe und Kraftlosigkeit zurück in ihre Kraft zu kommen und damit in das Empfinden, sich bewegen, ausdehnen und wehren zu können.

Später nutzte die Klientin diese Übung als einen Anker für die Erfahrung, die sie in der Therapiestunde gemacht hatte, nämlich in Kontakt mit ihrer eigenen Kraft, mit ihren eigenen Ressourcen zu sein und mit der inneren Erlaubnis, »ich darf da sein«.

Ressourcenstärkung und Selbsthilfe

Viele meiner Klienten und Kursteilnehmer nutzen Qigong als eine wirkungsvolle Möglichkeit, sich selbst zu stabilisieren und zu beruhigen sowie ihre »Lebensenergie« zu stärken.

So wenden gerade Betroffene von Stressbelastung und Angststörungen diese Methode zur Selbstberuhigung an. Dies kann ein heilsames Ritual darstellen und die Selbstwirksamkeit bewusst machen. Einige üben zum Beispiel in belastenden Alltagssituationen Qigong innerlich, also in der Vorstellung. Sie stellen sich etwa eine Bewegung wie das fließende Heben und Senken der Arme in der Übung (Kap. 10) »Reguliere den Atem, beruhige den Geist« vor und rufen dadurch die beim Üben empfundene Ruhe wieder in sich wach. Die Erinnerung an eine ganzheitliche Erfahrung einer Qigong-Übung macht diese Art der Selbsthilfe für manche Menschen sehr wirkungsvoll. Bei verschiedenen Herausforderungen wie diffusen Ängsten oder beginnenden Panikreaktionen, in Prüfungssituationen, bei Atemnot in der U-Bahn oder im Fahrstuhl, bei Beklemmungsgefühlen oder bei Schlafstörungen haben Klienten gute Erfahrungen damit gemacht, verschiedene Qigong-Übungen in der Vorstellung auszuführen und diese mit persönlich besonders wohltuenden Imaginationen und Worten zu verbinden.

Praxisbeispiel: Angstbewältigung – Flugangst

Hier möchte ich ein Beispiel aufführen, wie eine Klientin Qigong als kreative Bewältigungshilfe für ihre Angstgefühle entdeckte.