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Gewidmet ist dieses Buch unserer Tochter Lisa Marie, die mir mit ihrem kindlichen Witz und Humor und ihrer fröhlichen Lebenszugewandtheit trotz ihres eingeschränkten Lebens im Rollstuhl bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Jahr 2000 viel Kraft für das neue Jahrhundert gegeben hat.

 

Ulrich Weinberg

Network
Thinking

Was kommt nach
dem Brockhaus-Denken?

»Die kleinen Däumlinge suchen und finden das Wissen in ihren Maschinen. Meist unzugänglich, war das Wissen meist nur in Bruchstücken, Ausschnitten, Segmenten zu haben. Seite für Seite wiesen gelehrte Klassifikationen jeder Disziplin ihren Teil zu, ihr Fachgebiet wie ihre Räumlichkeiten, ihre Laboratorien, Bibliothekstrakte, Geldmittel, ihre Sprachrohre und Körperschaften. Das Wissen wurde unter Sekten aufgeteilt. Und das Wirkliche zerbarst in tausend Stücke.«

Michel Serres: Erfindet euch neu!

Tarik an alle

Ich bin sieben und gerade in die zweite Klasse gekommen. Ich lerne Lesen, Schreiben und Rechnen, das macht richtig Spaß. Weil ich noch nicht alles selber schreiben kann, hat mein Papa mir geholfen, das hier aufzuschreiben.

Mein Papa hat schon eine Glatze, ich glaube, er ist schon über fünfzig. Er macht manchmal ziemlich lustige Sachen. Zum Beispiel mit seinem iPhone, das er immer mit sich rumträgt. Ich durfte auch, schon als ich noch ganz klein war, ab und zu darauf spielen. Da fand ich es lustig, auf der Glasplatte rumzuwischen und zu sehen, was dann passierte. Manchmal durfte ich mir abends im Bett darauf eine Gutenachtgeschichte ansehen. Die mit dem Bauernhof mochte ich am liebsten. Man konnte im Kuhstall das Licht ausschalten und dann zuschauen, wie die Kühe schlafen gehen. Das fand ich lustig, aber jetzt bin ich ja schon viel größer, jetzt finde ich so was langweilig.

Heute mag ich viel lieber Autorennen spielen. Ich find Autos nämlich supertoll. Die Autos, die ich da fahren lasse, sehen richtig echt aus. Wenn ich das iPhone wie ein Lenkrad bewege, kann ich sie steuern. Und es kracht richtig und rüttelt, wenn ich irgendwo gegendonnere. Das macht Spaß. Mein Papa sagt, dass er, als er so alt war wie ich, Seifenkisten aus alten Kartons gebaut hat und damit Wettrennen mit seinen Freunden in ihren Seifenkisten gefahren ist.

Aber mein Vater sagt auch manchmal komische Sachen. Als ich ihn gefragt habe, wann ich endlich mal ein echtes Auto selber fahren darf, da hat er gesagt, dass das noch zehn Jahre dauern wird und dass er aber gar nicht weiß, ob man dann überhaupt noch ein Auto selbst steuern kann. Weil die dann alle vielleicht von selbst fahren – das fänd ich ja richtig doof.

Als ich fünf Jahre alt war, hat mein Vater sich ein neues iPhone gekauft, ein bisschen größer als das alte. Das alte habe ich dann bekommen. Das fand meine Mama gar nicht gut. Meine Mama liebt nämlich Bücher über alles, und sie sagt, dass Kinder mit Büchern aufwachsen sollen, nicht mit solchen Glasplatten. Bücher finde ich auch gut, wir haben ganz, ganz viele zu Hause, die passen gar nicht mehr alle in die Regale. Aber ehrlich, die Glasplatte finde ich spannender. Ich darf aber nur am Wochenende damit spielen, wenn Papa dabei ist oder Mama. Papa hat auch ein iPad. Darauf schauen wir uns samstagmorgens im Bett immer Filme an, über Bären oder Polizisten, Flugzeuge oder Vulkane. Und dann darf ich noch ein Autospiel spielen. Am liebsten spiele ich eins mit einem echten kleinen roten Spielauto, das setze ich auf die Glasplatte, und dann kann ich durch Straßen steuern und Abenteuer erleben und Radkappen sammeln. Wenn ich genügend Radkappen gesammelt habe, kann ich mir dafür etwas für mein Auto kaufen, Raketenwerfer oder farbigen Auspuffqualm.

Abends, wenn ich im Bett liege und meine Schatzsammlung auf dem Nachttisch ansehe, dann überlege ich mir manchmal, womit die Kinder wohl spielen werden, wenn ich so alt bin wie mein Papa jetzt. Ob die auch noch Autorennen auf Glasplatten spielen? Vielleicht haben die dann ja alle schon diese Autos, die selbst fahren, und dürfen damit alleine unterwegs sein.

Tarik, 7 Jahre

Der Anfang vom Ende

Die ersten Zeilen dieses Buchs entstanden im Sommer 2012 auf einem Dreistundenflug von Peking nach Tokio. Sozusagen auf meinem Schoß. Noch waren es flüchtige Gedanken, nur zum Teil schon fertige Sätze, die ich in mein iPad eingab, die kleine elektronische Glastafel, deren Tastatur nicht mehr zu spüren, sondern nur noch zu sehen ist.

Die Struktur des Buches, den roten Faden und auch wichtige Textpassagen entwickelte ich dann zwei Tage später auf meinem Rückflug nach Europa, ebenfalls auf dem iPad. Meine Gedanken zum »Ende des Brockhaus-Denkens« haben mich wach gehalten. Über acht Stunden beschäftigten mich die Fragen und Überlegungen dazu, ohne Pause, dafür mit umso größerer Freude und Konzentration. Mit dem Begriff »Brockhaus-Denken« hatte ich erstmals das, was mir jeden Tag in Hochschule, Unternehmen, Behörden und Organisationen begegnet, auf den Punkt gebracht. Erstmals habe ich begrifflich gefasst und, um es besser kommunizieren zu können, anhand einer Zeichnung veranschaulicht, was sich gerade in unserem Denken und Handeln grundlegend zu verändern beginnt.

Wir alle spüren, dass etwas zu Ende geht, etwas Bedeutendes, das uns sehr vertraut ist und das uns über einen großen Zeitraum hinweg den Rahmen, die Struktur gegeben hat, innerhalb derer wir uns gedanklich bewegt und nach der wir unser Handeln ausgerichtet haben. Doch allmählich wird aus dieser Struktur und ihrer ordnenden, systematisierenden Funktion ein sperriges Etwas, ein Hindernis, das den Fluss unserer Kommunikation und unseres Handelns eher aufhält als wirkungsvoll unterstützt. Ganz offensichtlich funktioniert dieses Bedeutende also nicht mehr und geht auf ein absehbares Ende zu. Was danach kommen wird, davon haben wir eine Ahnung, eine Vorstellung, die aber noch nicht beschrieben ist. Wir spüren, dass sich ein Wandel ereignet, in dem etwas Großes, das wir Menschen entwickelt haben, sich verabschiedet oder auch verabschiedet wird, um abgelöst zu werden von etwas anderem Großen, das aber noch auszuformen ist.

Das Gefühl, dass etwas zu Ende geht, und die irritierende Tatsache, dass wir nicht genau sagen können, was danach kommen, wie dieses neue »Etwas« aussehen wird, treibt nicht wenige dazu an, etwas zu unternehmen aus dem vagen Verdacht heraus, dass das Leben von gestern und heute sich wohl nicht einfach auf morgen übertragen lassen wird. Denn was uns bis heute stark und erfolgreich gemacht hat, kann morgen schon klein und unbedeutend sein. Noch gelten zum Beispiel deutsche Autos als das Nonplusultra der Automobiltechnik. Nicht auszuschließen ist aber, dass ein selbstfahrendes Auto, entwickelt von einem der großen Technologieunternehmen wie Apple oder Google, in nicht allzu ferner Zukunft erfolgreicher sein wird als alles bisher Dagewesene. Allein die Intensität, mit der die klassischen Automobilhersteller die Pläne der IT-Unternehmen verfolgen, zeigt, wie nah der Wandel ist. Der entscheidende Wesenszug dieses Wandels lässt sich an einer Fähigkeit festmachen, die ihn tragen und voranbringen wird: an dem Denken in Netzwerken, an dem, was ich hier als Network Thinking bezeichne.

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Es werden eben nicht mehr die Schubladen und Kategorien sein, in und nach denen wir denken, in Zukunft wird unser Denken und Handeln sich in weit aufgespannten Netzen bewegen. Steht der Brockhaus für lineares Denken, für ein sortierendes Ordnen von A bis Z, wird es morgen nicht mehr darum gehen, Wissen und Information möglichst exakt zu klassifizieren, zu gliedern und zu katalogisieren. Wir werden unser Denken vielmehr aus der festen Verortung heraus in dauernde Bewegung versetzen. Und welcher Ort eignet sich besser als das Flugzeug, sich dieses Wandels bewusst zu werden? Das Denken selbst ist also dabei, sich zu ändern.

Wer in Zeiten der Digitalisierung immer noch in Hierarchien, Fachgebieten und lexikalischen Kategorien denkt, wird den Anschluss bald verpasst haben. Daher widme ich dieses Buch dem Network Thinking, das das Brockhaus-Denken wohl endgültig ablösen wird. Überall auf der Welt beginnen Menschen bereits, in Netzstrukturen zu denken. Beispiele, von denen zu berichten ist, gibt es reichlich: der deutsche Autohersteller, ein Pharmariese, ein Softwareentwickler, die Diakonie oder eine Schule in Berlin. Sie alle und viele andere mehr sind dabei, ihr Kerngeschäft und ihre Arbeitsorganisation komplett zu verändern, aus Überzeugung, vor allem aber auch aus ökonomischer Vernunft. Denn von entscheidender Bedeutung ist: Das Network Thinking, von dem hier die Rede sein wird, ist keine hübsche Zierde, kein neues PR-Geraune für ausgelaugte Unternehmen – ganz und gar nicht. Network Thinking ist das neue Denken, das wir brauchen, um unsere Welt von morgen zu begreifen und zu steuern.

01 / Staubige Zeiten
Wie das Ende der Brockhaus-Ära unser Bücherregal verändert

Wann haben Sie zum letzten Mal einen Band Ihres Lexikons gegriffen, ihn aus dem Bücherregal geholt, um etwas darin nachzuschlagen? Sie wissen schon, was ich meine: die lange Reihe gleichfarbiger Bücher, die ihren festen, angestammten Platz in so vielen Regalen hat. Machen Sie doch einmal einen kleinen Selbstversuch: Gehen Sie zum Regal, stellen Sie sich vor Ihr Lexikon, schließen Sie die Augen und tasten Sie mit einer Hand den Kopfschnitt, die Oberseite der Bücher, ab – vorausgesetzt, Sie können sie problemlos erreichen. Fühlen Sie den Staub? Ja? Wahrscheinlich haben die meisten von Ihnen gerade eine mehr oder weniger dicke Staubschicht abgewischt. Seien Sie nicht zu streng mit sich selbst, weil Sie nicht ordentlich sauber gemacht haben. Bücher zu entstauben gehört eben nicht zu den favorisierten Alltagsbeschäftigungen. Greifen Sie lieber einen der Bände aus der Reihe A bis Z und schauen nach, in welchem Jahr diese Ausgabe gedruckt wurde. Wie alt ist dieser Band?

Versuchen Sie nun, sich wirklich einmal zu erinnern, wann Sie zum letzten Mal Ihr Lexikon benutzt haben. Ich selbst bin erschrocken bei diesem kleinen Test. Die Bände meiner Brockhaus-Taschenbuchausgabe stammen aus dem Jahr 1984, die Staubschicht darauf war enorm und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, vor wie vielen Jahren ich zum letzten Mal das Lexikon gebraucht hatte. Dabei habe ich es seit meiner Kindheit außerordentlich geliebt, in Nachschlagewerken zu stöbern, mich von einem Band zum nächsten verweisen zu lassen und dabei immer wieder Neues zu entdecken. Das zweibändige Lexikon meiner Eltern habe ich auf diese Weise noch von A bis Z durchgearbeitet. Und während meines Studiums habe ich nahezu täglich in meiner nun über 30 Jahre alten Brockhaus-Ausgabe geblättert und auch andere Nachschlagewerke genutzt. Begriffe wie »Globalisierung«, »Digitalisierung« und »Internet« suche ich natürlich in meiner Ausgabe vergebens, und unter dem Stichwort »Computer« finde ich die lapidare Erklärung: »Rechenanlage oder Datenverarbeitungs-(DV-)Anlage, bestehend aus Ein- und Ausgabegerät(en) und Zentraleinheit«.

Welchen Wert haben diese 20 Bände mit ihren 130 000 Stichwörtern, 6000 Abbildungen und 120 Farbtafeln also noch im Zeitalter von Google und Wikipedia? In Zeiten, in denen ich mit einem Fingerstreich über eine kleine Glasplatte auf Milliarden von Webseiten zugreifen, im Sekundentakt aktualisierte Informationen im Moment abrufen und mit Hilfe derselben Glasscheibe einen erfahrenen Menschen anrufen kann, um mich bei ihm zu vergewissern und letzte Zweifel und Fragen zu beseitigen? Aber: Kann ich mich auf die Informationen hinter dieser kleinen Glasscheibe genauso verlassen, wie ich mich damals auf die Informationen in meinem Brockhaus verlassen konnte?

»Wikipedia ist keine Bedrohung«

Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Radiointerview, das mit dem damaligen Brockhaus-Geschäftsführer wenige Jahre nach dem Start von Wikipedia 2001 zur Entwicklung von Enzyklopädien geführt wurde. Er war sich ganz sicher, dass Wikipedia niemals an sein ebenso bewährtes wie verlässliches Produkt heranreichen werde. Sei dort doch amateurhaft zusammengetragenes Wissen versammelt, das in Qualität und Seriosität mit den von Brockhaus redigierten Informationen niemals konkurrieren könne. Kurz, er meinte abschließend sagen zu können: Wikipedia ist keine Bedrohung für Qualitätsprodukte wie Brockhaus. Was die Menschen immer schon suchten und weiterhin suchen würden, sei »Qualität«, und für die garantiere seine Redaktion, sein großes Team von Experten und das über zwei Jahrhunderte hindurch zusammengetragene Fachwissen.

Wissen als ewig währende unveränderliche Größe? Nur sieben Jahre nach dem Start von Wikipedia wird Wissen nicht mehr in Metern gemessen und nicht mehr nach Beständigkeit qualifiziert.

Nur wenige Jahre später sah die Welt schon ganz anders aus. Brockhaus und auch andere Verlage hatten massive Umsatzeinbrüche zu verzeichnen, vielen drohte die Insolvenz. »Die Zeit, in der man sich eine hervorragende Enzyklopädie von anderthalb Metern Umfang ins Regal stellt, um sich dort herauszusuchen, was man wissen will, scheint vorbei zu sein«, sagte der Verlagssprecher des Brockhaus, Klaus Holoch, im Jahr 2008. Das Ende war eingeläutet. Nur sieben Jahre nach dem Start von Wikipedia wurde Wissen nicht mehr in Metern gemessen.

Die Encyclopædia Britannica, das englischsprachige Pendant zum Brockhaus-Lexikon, stellte bereits im März 2012 die Druckausgabe ihres 32-bändigen Werkes komplett ein. Das gesammelte Wissen der Encyclopædia Britannica ist seitdem nur noch online verfügbar. Ein Jahr nachdem die Briten keine Meterware mehr liefern wollten, im Juni 2013, kündigte der Bertelsmann-Konzern, der den Brockhaus-Verlag übernommen hatte, das Ende der gedruckten Ausgabe für das Jahr 2014 an. 206 Jahre, nachdem Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) mit dem Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten den Standard für deutschsprachige Nachschlagewerke gesetzt hatte, ist die Zeit der mit der 21. Auflage auf 30 Bände angewachsenen und 70 Kilogramm schweren Enzyklopädie vorbei.

Ein Blick in meinen eigenen Arbeitsalltag zeigt: Ich brauche diese Lexikonbände nicht mehr. Nicht nur, dass sie an Aktualität eingebüßt haben, sie haben auch erheblich an Attraktivität verloren. Jeder kann zu jeder Zeit und von jedem Ort aus im Internet recherchieren, in Echtzeit Informationen zu jedem Thema und in jeder Sprache bekommen und sich auf ein Netzwerk von interessierten Menschen verlassen, die freiwillig und ohne Honorar diese Informationen ständig aktuell halten. Sicher, es gibt die Momente, in denen ich mir die Zeiten zurückwünsche, die überschaubare Zahl von 20 Bänden im Regal zu wissen mit dem Gefühl, dass ich dort alles Wesentliche des menschlichen Wissens zusammengetragen finde. Aber diese Momente sind selten und gehören zu dem Set an Nostalgie, das mich bisher auch davon abgehalten hat, den Brockhaus-Platz im Regal für anderes frei zu machen.

Auf meine kurze Rundfrage bei meinem Einführungsvortrag 2013 vor Studierenden der HPI School of Design Thinking, wann sie zum letzten Mal ein Lexikon in der Hand gehabt hätten, erntete ich nur noch fragende Blicke. So etwas habe man schon längst nicht mehr zu Hause, bekam ich unisono zuhören.

Ich werde meinen Brockhaus vorerst nicht wegwerfen, allein schon aus dem Grund, weil er mich ab und zu erinnert an das Denkmodell, das wir nun langsam, aber sicher verlassen werden.

Das Brockhaus-Denken

Was ist das aber, das Brockhaus-Denkmodell? Es ist eine aus meiner Sicht wundervolle Metapher für die Art und Weise, in der wir seit Jahrhunderten erfolgreich versuchen, unsere Wirklichkeit zu verstehen, zu organisieren, zu strukturieren, zu vermitteln. Wir sortieren, wir unterteilen, wir trennen – zum besseren Verständnis – in kleinere Sektionen, wir strukturieren, bauen Raster, Schubladen und verstauen dort die Wirklichkeit.

Machen Sie einfach noch einen kleinen Selbstversuch, gehen Sie noch einmal zum Bücherregal und stellen Sie sich vor Ihr Lexikon. Und nun versuchen Sie, sich Aufbau und Struktur des Unternehmens oder der Organisation, in dem/der Sie zurzeit arbeiten, vor Augen zu führen. Stellen Sie sich das Logo Ihres Unternehmens über dem Lexikon schwebend vor – erkennen Sie die darunter zusammengefassten verschiedenen Abteilungen und Organisationseinheiten, aneinandergereiht wie die Bände eines Nachschlagewerkes? Oder denken Sie an die Schule, die Sie besucht haben, und stellen Sie sich den Namen Ihrer Schule, in der Sie vermutlich wie ich zwölf oder dreizehn Jahre Ihres Lebens verbracht haben, über dem Lexikon schwebend vor.

Tadellos reihen sich die verschiedenen Klassenstufen nebeneinander. Stellen Sie sich Ihren Stundenplan vor – das Dutzend im 45-Minuten-Takt abgespulter Unterrichtsfächer können Sie sicherlich in diese so vertraute Struktur einbauen. Das gesamte Schulgefüge passt wunderbar in diese Reihung, die Sie gerade vor sich sehen. Und nun zu Ihrer Hochschule, in der Sie vielleicht weitere vier, fünf Jahre Ihres Lebens verbracht haben oder gerade verbringen. Sehen Sie die verschiedenen Fachbereiche, von dem Sie einen für sich gewählt haben, vor sich? Lassen Sie in Gedanken den Namen Ihrer Hochschule über den Büchern in großen Lettern erscheinen, und schon können Sie die Architekten, die Betriebswirte, die Chemiker, Designer, Ethnologen, die Juristen, Mediziner, Verfahrenstechniker bis hin zu den Zoologen fein säuberlich getrennt erkennen.

Wir haben sie subtil verfeinert – die Kunst des Trennens, des Auseinandersortierens. Noch die letzten Winkel unseres Wissens und unserer Einrichtungen haben wir dadurch geadelt. Und heute? Heute wird diese Fertigkeit zum Hindernis.

Stellen Sie sich nun einen Ihrer letzten Gänge zu einer Behörde vor, nehmen wir als Beispiel das Bürgeramt, in dem Sie Ihren neuen Personalausweis beantragt haben. Schreiben Sie in Gedanken »Bürgeramt« über Ihr Lexikon, und schon sehen Sie an die 20 unterschiedliche Abteilungen, betraut mit Aufgaben rund um die Interessen der Bürger. Und Sie erinnern sich vielleicht, wie schwer es war, die für Sie zuständige Stelle zu finden. Vielleicht erinnern Sie sich aber auch an einen freundlichen Herrn, der Ihnen mit einem geschickten Hinweis geholfen hat, die richtige Amtsstube zu finden.

Und nun noch ein kleiner Sprung. Schreiben Sie in Gedanken »Bundesregierung« in dicken Lettern auf schwarz-rot-goldener Flagge über ihr Lexikon. Schon tauchen die verschiedenen Ministerien als klar abgetrennte Ressorts, ihrerseits wieder unterteilt in Abteilungen und Unterabteilungen, vor Ihrem inneren Auge auf.

Der Abschied von einem Denkmodell

Wenn Sie jetzt so langsam nicht mehr wissen, was Sie wie denken sollen, dann gehen Sie am besten erst einmal in Ihre Küche und kochen sich dort in aller Ruhe einen Kaffee, besser noch einen Tee, und kehren dann ganz entspannt wieder an Ihren Platz vor dem Bücherregal zurück. Genießen Sie den Duft des Tees. Nehmen Sie noch einen Schluck, spüren Sie die Wärme des Getränks und vertiefen Sie sich wieder in die Buchrücken Ihres Lexikons. Nur anschauen. Dann, nach einer Weile, sollten Sie einen Band in die Hand nehmen. Blättern Sie darin, schnuppern Sie an den Seiten – Vorsicht, nicht den Staub einatmen.

Dies kann ein bedeutsamer Moment in Ihrem Leben werden, der Ihnen in Erinnerung bleiben wird. Machen Sie sich mit mir zusammen auf den Weg, bewusst das uns vertraute Denkmodell zu verabschieden, ein Modell, das wir Brockhaus-Denken nennen können. Es ist dieses Denken, das sich auf ein Ende zubewegt und das wir über kurz oder lang ersetzen werden durch ein vollkommen neues Denken, von dem wir bisher nur eine diffuse Ahnung haben.

Denn das, was Sie da vor sich sehen, diese von A bis Z aufgereihten Bücher, hat seinen Sinn verloren in einer global vernetzten, sich immer schneller verändernden Welt. Das Denken, das sich hier in Buchform manifestiert, ist einer digital vernetzten Welt nicht mehr gewachsen. Das Unwohlsein, das wir in dieser vernetzten Welt spüren, rührt daher, dass wir uns mit Hilfe von alten, viel zu starren Denkmodellen darin bewegen.

Längst müssen wir nicht mehr auf die nächste Druckausgabe unseres Lexikons warten, um an konkrete neue Informationen zu kommen, die zudem kurz nach Erscheinen des Bandes schon wieder veraltet sein könnten. Schon seit Jahren stützen und verlassen wir uns auf die aus aller Welt über die Informationsnetze zusammengetragenen Nachrichten und auf Google und Wikipedia, um aktuell informiert zu sein. Warum aber sollte die immer dichtere und schnellere Vernetzung nur unser Informationsverhalten verändern? Nahezu alle Lebens- und Arbeitsprozesse sind in den Industrienationen mittlerweile mit digitaler Informationstechnik vernetzt, und das wirkt sich nicht nur auf den Fluss von Informationen aus, sondern verändert in rasanter Geschwindigkeit unsere Unternehmen, Organisationen, Bildungseinrichtungen und politischen Institutionen.

Nehmen Sie noch einen Schluck Tee zu sich und dann einen der Lexikonbände in die Hand, setzen Sie sich in einen bequemen Sessel und kosten Sie den Moment in aller Ruhe aus. Atmen Sie tief durch und freuen Sie sich. Freuen Sie sich mit mir darüber, dass Sie Zeuge sein dürfen eines großen Wandlungsprozesses, der erneut die Geschichte der Menschheit fundamental ändern wird. Erleben Sie bewusst den Übergang vom Brockhaus-Denken zum vernetzten Denken – zum Network Thinking.

Es ist wie bei Gutenberg, nur anders

Noch einmal tief durchatmen und noch einen Schluck Tee vielleicht, denn eine Nachricht kann ich Ihnen leider nicht ersparen: Dieser Wandlungsprozess ist irreversibel. Unwiderruflich werden wir das alte Denkmodell verlassen, so wie der Brockhaus unser Bücherregal früher oder später für immer verlassen wird. Das Verschwinden des Brockhaus ist vielleicht das beste Zeichen dafür, dass die digitale Revolution eine mindestens so schwerwiegende gesellschaftliche Bedeutung hat wie die Einführung des Buchdrucks seit Gutenberg.

Wie aber sieht nun dieses neue, vernetzte Denken aus? Den Übergang von Brockhaus zu Wikipedia und Google haben wir in den letzten Jahren schon erlebt und mitvollzogen, doch wie manifestiert sich dieses neue, vernetzte Denken in Unternehmen, in der Gesellschaft, in Politik und Familie? Wie sollen wir überhaupt vernetzt denken können, wenn unser gesamtes Bildungssystem nach wie vor im Brockhaus-Denken verhaftet bleibt? In den folgenden Kapiteln will ich Sie mitnehmen auf eine Reise durch Chefetagen, Lehrerzimmer, Forschungslabore, Ministerien und Krankenhäuser, Wohlfahrtsverbände und Hochschulen, um Beispiele für das neue Denken und eine neue Praxis anzuschauen und um darüber nachzudenken, wie wir selbst nicht nur Beobachtende, sondern aktive Mitspieler in diesem Wandlungsprozess sein können.

Der Wandel in unserem Denken wird irreversibel sein.

An diesem Punkt musste ich das Schreiben vorläufig unterbrechen, um meinen Rucksack zu packen und mich auf den Weg zu machen in die Mitte von Berlin. Dort war ich zu einem Gespräch verabredet mit einem Vorstandsvorsitzenden, dem CEO von Audi. Meinen autovernarrten Sohn hatte ich schon vor Tagen darauf vorbereitet, dass ich diesen Sonntag nicht wie üblich mit ihm zu Hause verbringen könnte, und ihn gebeten, einmal sein Traumauto aus Lego zu bauen, das ich zu dieser Verabredung dann mitnehmen wollte. Das Ergebnis übergab er mir als Geschenk für den »Bestimmer von Audi«, wie er so schön sagte. Es war die vierte Version, wie er mir erklärte, die ersten drei schienen ihm etwas zu verrückt geraten. Dieses Legomodell steckte ich nun in meinen Rucksack und machte mich auf den Weg.

Legobausteine gehören nicht nur zum bevorzugten Spielzeug meines Sohnes, sie ziehen sich wie ein roter Faden auch durch mein Leben. Aus den Steinen eines Baukastens kann man das vorgegebene Modell eines Schiffs oder einer Polizeistation bauen – man kann sich aber auch die Freiheit nehmen, etwas völlig anderes daraus zu konstruieren. Die Steine sind simpel, passgenau zusammenzusetzen zu jeder nur vorstellbaren Form. Legosteine begleiteten mich durch meine Kindheit hindurch und ganz stark wieder in den letzten Jahren in der School of Design Thinking. Die Spielsteine eignen sich hervorragend dafür, in kurzer Zeit komplexe Sachverhalte plastisch darzustellen und eindrücklich zu vermitteln. Ganz nebenbei aktivieren die Klötzchen den kreativ-intuitiven Teil unseres Denkapparates und lösen damit neue Denkprozesse aus. »Denken mit den Händen« nennen wir am Hasso-Plattner-Institut diesen Prozess.

Lego hilft unserer Vorstellungskraft auf die Sprünge: Mit den Händen lässt sich weiter denken.

Auch die beiden Google-Gründer, Sergey Brin und Larry Page, haben einst die ersten Modelle ihrer Server-Farm mit Lego gebaut. Lego hat sich mittlerweile generell zu einem wichtigen Element des Prototypings für Manager entwickelt. Kjeld Kirk Kristiansen, der Enkel des Lego-Firmengründers, kam schon 1996 auf die Idee, die Legosteine nicht nur als Spiel für Kinder zu konzipieren. Ebenso geeignet schienen sie ihm für die strategische Planung. Also entstand 2002 Lego Serious Play, das bis heute zum Einsatz kommt als strategisches Planungstool bei Managementtrainings.

Die sich einem Ende zuneigende Brockhaus-Ära hinterlässt uns ein Denken und damit verbundenes Handeln, das einer komplexer werdenden Welt nicht mehr gerecht wird. Komplexität entzieht sich dem linearen Modus des theoretischen und praktischen Zugriffs auf die Welt. Vernetzung, Enthierarchisierung, Entwickeln und Konzipieren im Team, Öffnen und Teilen von Wissen, kurz: der radikale Wandlungsprozess unserer kulturellen Praxis ist nicht mehr nur optional. In ihm liegt die Herausforderung und Aufgabe für die nahe Zukunft.