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Aren’t we interested in what is (barely) possible,
rather than what is probable?

Albert O. Hirschman

 

 

MARTIN KORNBERGER

MANAGEMENT RELOADED:

PLAN B

 

 

Für Oskar und Frieda

 

 

Einleitung

01 Managementinnovation?

Gedankenexperiment (I)

Stellen Sie sich vor, ein Manager von 1975 würde in ein Büro einer Konzernzentrale im Jahr 2015 gebeamt. Direkt hinein in den schweren Lederstuhl hinter dem Schreibtisch. Wie viel Zeit würde der Manager (mit ziemlicher Sicherheit wäre es heute wie damals ein Er und keine Sie) benötigen, um sich in seinem neuen Büro zurechtzufinden? Wie lange könnte er den Zeitsprung verbergen, bis ihn seine Kollegen als antiquiert, rückständig, heillos überfordert einschätzen würden? Mein Verdacht: Seine Zeitreise bliebe unentdeckt. Binnen einer halben Stunde hätte er sich mit den wesentlichen Abläufen in seinem Büro vertraut gemacht; und weder im Small Talk noch in den Sitzungen würde seinen Kollegen die 40 Jahre breite, aber eben nicht sehr tiefe Wissenslücke auffallen.

Ganz im Gegenteil: Abgesehen von ein paar infotechnologischen Beschleunigungsapparaten würde sich unser zeitreisender Manager wohlfühlen in seiner neuen Organisationshaut. Zentralisieren oder dezentralisieren, bottom-up oder top-down – mit Hilfe dieser ehernen Koordinaten des manageriellen Vorstellungsvermögens würde er sich prächtig zurechtfinden in den repräsentativen Büros und den opulenten Besprechungszimmern. Zugleich wüsste er die Küche und den Korridor als Seminarräume für das Unsagbare und Unerhörte zu decodieren, und auch sein Alltag im Büro hätte sich nicht wesentlich geändert. Seine To-do-Liste erwiese sie sich als Klassiker: Auch noch nach 40 Jahren füllen unverändert Besprechungen mit Mitarbeitern, Kunden und Beratern die Tage; Berichte, Analysen und Memos wollen gelesen, Entscheidungen getroffen werden (was meist jedoch in umgekehrter Reihenfolge geschieht); und die abendlichen Stunden dienen der Netzwerkpflege, gelegentlich auch der Arbeit. Lange Abende im Büro legitimieren und, etwas später, kaschieren das schleichende Eingeständnis, dass man so weit Organisationsmensch geworden ist, dass sich das soziale Leben außerhalb des Büros eigentlich nicht wirklich lohnt.

Was ergibt sich aus unserem Experiment? Management ist die vielleicht wichtigste kulturtechnologische Erfindung des 20. Jahrhunderts. In seiner über hundertjährigen Geschichte hat es die Welt, unsere Werte, ja uns selbst verändert. Selbst aber ist Management nahezu unverändert geblieben: der Manager als Motor der Veränderung, den es braucht, um die Organisation, das schwerfällige Drumherum, nach vorne zu bewegen. Der Manager, der Ziele definiert, Strategien entwickelt und deren Implementierung überwacht. Die bestehende organisationsinterne Hierarchie mitsamt dem damit verbundenen Autoritätsgefälle wird durch das Versprechen auf Effizienzsteigerung legitimiert. Dort, in der Organisation, wird Wert produziert, den der Konsument draußen verbraucht, aufbraucht, zerstört. Darin nun liegt das Problem: Management, das zur rastlosen Veränderung, ja permanenten Revolutionen aufruft, das keinen Stillstand akzeptieren will – jenes Management erweist sich selbst als veränderungsresistent. Das Management, das für Innovation, Dynamik und Veränderung steht, soll selbst davon ausgenommen sein. Der Manager also als konservative, konservierende Kraft? Als Antipode von Innovation und Veränderung? Möglicherweise liegt darin das eigentliche Problem unserer von Management gesteuerten, von Wirtschaft getriebenen, von Organisation durchstrukturierten Gesellschaft – dass wir mit den Mitteln und Methoden des frühen 20. Jahrhunderts die Probleme des 21. Jahrhunderts angehen.

Plan B

Das Paradox liegt auf der Hand: Stellen Sie sich vor, Sie kaufen sich alle paar Jahre einen neuen Computer, müssen aber immer weiter die alte Software verwenden. Kann das gut gehen? Gehen tut es vielleicht schon, sicher aber nicht gut. Management stellt uns vor ein analoges Problem: Es ist eine Kulturtechnik, ein Sammelsurium von Ideen, Modellen und Praktiken, die Handlungsanleitungen oder, um im Bilde zu bleiben, Verhaltenscodes zur Verfügung stellen. Zum Beispiel: Wenn Ziele klar definiert werden können, die Wege dorthin allerdings Kreativität und Improvisation verlangen, dann management by objectives; wenn Wettbewerb schnell- und daher eigene Vorteile nur kurzlebig sind, dann organische Strukturen mit maximaler Flexibilität. Wenn in einer Wissensgesellschaft der Mitarbeiter die wichtigste Ressource darstellt, dann wird die Organisationskultur zum strategischen Faktor. Und so weiter.

Das Problem ist nun, dass die Codes, die wir zur Verfügung haben, sich kaum verändert haben – die Welt allerdings schon: Sehen wir denn nicht allenthalben, wie die Produktion von Wissen, Innovation und Ideen in Netzwerken floriert, die ihrerseits Organisation mit ihrer Hierarchie und ihren Grenzen ignorieren? Beobachten wir nicht, wie das Internet und eine Unzahl von Kognitionsapparaten um uns herum neue Formen sozialer Vernetzung erlauben, die es vorher nur innerhalb einer Hierarchie geben konnte? Und impliziert technischer Fortschritt nicht auch, dass in einer mit Computern, Laptops und Smartphones hochgerüsteten und vernetzten Wissensgesellschaft die Produktionsmittel dezentral verteilt sind? Ist nicht jeder, der einen Laptop besitzt, ein zumindest kleiner Kapitalist? Lehrt uns nicht eine Vielzahl von Experimenten, von Linux bis Wikipedia, dass an der Schnittstelle von Wissen und Technologie auch ein neuer Konsument entsteht – ein Konsument, der nicht Verbraucher ist, der nicht den passiven Konsum-König spielen will, sondern der selbst produktiv wird? Ein Konsument, der versteht, dass Wissen im Gebrauch an Wert gewinnt und dass damit der Konsum von Wissen nichts anderes darstellt als die subtilste Form seiner Produktion? Und dass damit das Problem der Knappheit nicht länger das Fundamentalproblem darstellt, das uns die Bürden der Hierarchie zumutbar erscheinen lässt?

Die herrschenden Managementcodes lassen sich nicht mit einem einfachen System-Update überholen. Denn das, was in den Regalen der Flughafenbuchhandlungen als Managementinnovation feilgeboten wird, ist nichts als Makulatur, bietet lediglich Berichtigung im Falschen – ganz so, als würde man ein paar bugs aus einer längst überholten Programmiersprache austreiben und einige neue gadgets hinzufügen. Das nicht ganz unbescheidene Ziel von Plan B ist es, wenn nicht einen neuen Code zu entwerfen, so doch wenigstens ein paar Zeilen in einem neuen Code zu schreiben, der uns die Dinge anders – und wer weiß, womöglich andere Dinge – begreifen lässt. Was auf dem Spiel steht, ist kurz gesagt die Innovation von Management und Organisation. Es geht um den Versuch, jene Kreativität und Fantasie, die normalerweise in die Entwicklung neuer Produkte geht, quasi gegen ihren Herrn, die Organisation, zu wenden.

Plan B erzählt die Geschichte von der Subversion der Organisation durch die Eigenart des Wissens, die Geschichte von der Sabotage der Hierarchie durch Technologie. Das ist der kritische Aspekt des Unternehmens. Plan B ist aber auch Spurensuche. Die Suche nach neuen Formen von Organisation, nach neuen Techniken des Managens, die sich an den Rändern der Ökonomie, in den zahlreich werdenden Rissen an ihrer Oberfläche formieren. Wohlgemerkt: Es geht nicht um eine Welt jenseits von Organisation. Nichts scheint naiver, als Open Source dem Weber’schen eisernen Käfig gegenüberzustellen und auf der einen Seite Freiheit zu vermuten, während man auf der anderen Zwang mittels hierarchischer Bürokratie setzt. Selbst offene Netzwerke wollen organisiert sein, brauchen ein Minimum an Struktur, an Rhythmus, an Routine. Sie müssen zumindest temporär stabile Plattformen anbieten, auf denen kreative Konsumenten, pensionierte Wissenschaftler, Hobbyisten, selbst ernannte Experten, Pro-Ams und all jene anderen Amateure (wörtlich: die, die lieben, was sie tun) ihre Ideen entwickeln und ihre Geschäfte abwickeln können. Und bewegen sich nicht die aufregendsten Unternehmungen, all jene Facebooks, Ubers und Alibabas, schlafwandelnd in genau diese Richtung? Indem sie nämlich immer mehr zu Plattformen werden, die selbst nichts produzieren, sondern vielmehr eine Infrastruktur zur Verfügung stellen, auf der Dritte arbeiten, spielen und leben. So gesehen müsste die Rolle des heutigen Managers wohl eher der des Diplomaten ähneln, der mehr oder minder autonome Akteure, social movements und manchmal sogar ganze Gesellschaften über indirekte Steuerung und soft power von der Richtigkeit und Wichtigkeit seiner Ziele zu überzeugen sucht. Nehmen wir in diesen Veränderungen nicht erste, vielleicht schwache, aber doch unzweideutige Zeichen wahr, die auf fundamental neue Formen der Organisation von wirtschaftlichen Prozessen hindeuten? In denen selbst die scheinbar klarsten Begriffe wie Produktion, Konsum, Ressource, Knappheit neue Bedeutungen annehmen?

Metaphorisch ausgedrückt ist es weniger der Geist oder Ungeist des Kapitalismus, der mich umtreibt. Nein, ich bin Spinozist und glaube, dass es der Körper ist, der den Geist quasi als Anhängsel mitproduziert. Der Körper des Kapitalismus aber, das ist die Organisation, das ist das Büro der Bürokratie, und mittendrin ist der Manager. Von dort kommt die Veränderung. Diese Annahme läuft ganz und gar gegen den Zeitgeist. Die meisten Stimmen, die sich Gehör verschaffen, suchen Alternativen zum System, zum Kapitalismus, wollen zurück auf ein menschliches Maß. Sprechen sich für eine Ökonomie aus, die Gut und Böse auseinanderhält, prangern das Wachstum des Kapitals an und beklagen die Reduktion von Löhnen und Einkommen. Occupy dies, demonstriere gegen das. Es mangelt nicht an Propheten, die mit Antworten auf die großen Systemfragen nur so um sich werfen. Wovon diese Diskussionen um eine Alternative zum System allerdings ablenken, ist die Suche nach Alternativen im System. Die individuelle, alltägliche Erfahrung des Systems spielt sich in der Organisation ab, wo die Praktiken des Managements die herrschende (Un-)Ordnung der Dinge tagein, tagaus reproduzieren. Wie, wenn Veränderung aus den Niederungen des Alltags entstünde, quasi von unten? Selbst als kritischer Geist und Skeptiker kommt man nicht umhin, an etwas zu glauben: nämlich dass sich mit den Mitteln neuer Managementpraktiken und Organisationsformen der Ungeist des Kapitalismus austreiben lässt.

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Wenn wir mit Kompass und Nadel unsere genaue Position bestimmen wollen, müssen wir von einem festen Punkt am Himmel, einem Fixstern ausgehen. Wenn wir also wissen wollen, wo wir stehen, woran wir sind, müssen wir ins All schauen – und eben nicht auf das Fleckchen Erde vor uns. Plan B berichtet von der Suche nach jener Illusion, von der aus sich unsere Organisationsgesellschaft diagnostizieren und, wer weiß, vielleicht auch therapieren lässt.

 

 

Kassasturz

 

02 Vom Geist und Körper des Kapitalismus

Die Insel Juan Fernandez

Wir leben in einem wahrlich metaphysischen Zeitalter: In Büchern und Blogs, im Feuilleton und in Fernsehstudios wird über Geist und Ungeist des Kapitalismus debattiert. Kann Kapitalismus Gutes schaffen? Die etwas subtilere Formulierung der Frage lautet: Ist der Kapitalismus eine Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft? Oder aber haben wir es schlichtweg mit einem moralinfreien Gespenst zu tun? Solch theologische Spitzfindigkeiten lassen mich kalt. Geist hin, Ungeist her, all das Räsonieren lenkt vom eigentlichen Problem lediglich ab. Von Anfang an hat sich der Kapitalismus in einem Widerspruch verfangen, in dem wir uns heute noch gefangen finden: Es ist der Widerspruch zwischen seiner Ideologie als Gesellschaftsentwurf und seiner gelebten und erlebten Realität als Hierarchie, die Effizienz in der Produktion, gesteigerten Output und damit Wohlstand verspricht. Kapitalismus verspricht Freiheit, doch bringt er diese mit den Mitteln der Hierarchie. Die unsichtbare Hand des Marktes verheißt eine gerechte Gesellschaft, doch um sie zu realisieren, brauchen wir die sichtbare Hand des Managers. Das ergibt nun eine wahrlich schizophrene Welt, geprägt von einem Geist, der seinen Körper verneint, und einem Körper, der seinem Geist zuwiderläuft.

Darin liegt der Sündenfall des Systems, der fundamentale Widerspruch, den man schon bei Adam Smith angelegt findet. Dieser beschreibt eine kommerzielle Gesellschaft, in welcher der Tausch von Gütern am Markt ein gesellschaftliches Gleichgewicht herstellt. Die gesamte Philosophie vor Smith versuchte, der menschlichen Natur Zügel anzulegen, um Gier, Habsucht, Machtgelüste und all die anderen allzu menschlichen Leidenschaften im Zaum zu halten. In Smiths System – und darin liegt seine große Errungenschaft – muss die Natur des Menschen nicht unterdrückt werden, um gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten. Im Gegenteil: Sie darf nicht unterdrückt werden, denn Ordnung entsteht aus der Natur des Menschen – nicht trotz, sondern wegen seiner Mangelhaftigkeit. Eben gerade weil wir unsere Einzelinteressen verfolgen und weil wir auf unseren privaten Nutzen aus sind, schaffen wir über kurz oder lang ein funktionierendes Ganzes. Das ist das große Versprechen des Kapitalismus, dass er nämlich unsere privaten Laster in öffentliche Tugenden zu verwandeln weiß. Im Unterschied dazu verlangten alle vorangehenden Kulturtechnologien wie etwa das Christentum vom Menschen, sich zu zügeln und zu mäßigen, der Natur Einhalt zu gebieten, um das Leben erträglich zu machen. Nichts hätte dem Christentum ferner gelegen, als in der Natur nach dem Ideal der Kultur zu suchen. Der Kapitalismus tut nun genau das: Um das Leben einträglich zu gestalten, mobilisiert er die Natur, entfacht unsere Interessen, entfesselt unsere Leidenschaften. Man braucht keinen überirdischen Gott, keinen Gesellschaftsvertrag und keinen Leviathan, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen; man muss lediglich der Natur ihren Lauf lassen, und gesellschaftliche Harmonie stellt sich ein.

Seit Smith müssen Ökonomen Orte (er-)finden, an denen sich diese Wahrheit – dass die ungezügelte Natur die Retterin des von seiner Kultur verdorbenen Menschen sei – zeigen kann. Es müssen möglichst reine Orte sein, nicht kontaminiert von Kultur und anderen Interventionen, die zwar stets das Gute wollen, doch meist nur dem Schlechten Vorschub leisten. Damit etabliert sich die Insel als Lieblingsort ökonomischer Gedankenexperimente und Vernünfteleien. Dort lassen sich die Naturkräfte im unverdorbenen Urzustand studieren, und von ihnen lässt sich ableiten, was Ordnung schafft. Die einsame Insel ist ein gesellschaftliches Laboratorium, in dem sich kontrollierte Experimente anstellen lassen. Eines der ersten und wohl faszinierendsten Inselexperimente beschrieb Joseph Townsend in seinem Buch A Dissertation on the Poor Laws, welches er 1786, zehn Jahre nach Smiths Wealth of Nations, veröffentlichte. Die Schrift stellt eine außergewöhnlich heftige Absage an alle Versuche dar, den Armen zu helfen. Wer ihnen unter die Arme greife, tue nichts anderes, als ihr Elend unnötig zu verlängern. Einzig jene Kräfte, die der Autor in seiner Parabel von den Ziegen und Hunden auf der Insel Juan Fernandez beschreibt, würden eine stabile soziale Ordnung ergeben. Aber hören wir dem Autor zu, was er von der mythischen Insel zu berichten weiß.

Dort sei ein Ziegenpaar ausgesetzt worden, das sich wegen des reichlich vorhandenen Futters und der nicht vorhandenen natürlichen Feinde rasch vermehrte, bis ihre Zahl den Punkt überschritt, an dem die Tiere schneller fraßen, als das Gras nachwachsen konnte. Schwache und kranke Ziegen starben hungers, woraufhin sich für die jungen und gesunden Ziegen wieder genügend Futter fand, so dass sie sich erneut vermehren konnten. Aber die Insel zeichnete sich nicht nur durch selbstregulierende, sondern auch durch selbstheilende Kräfte aus. Ihre Ordnung basierte auf einem Mechanismus, der sogar Irrungen menschlichen Handelns auszutarieren vermochte.

Es wurden, wie Townsend berichtet, wilde Hunde auf der Insel ausgesetzt, welche die Ziegen rasch dezimierten und sich selbst dadurch vermehren konnten. Nur jene Ziegen überlebten, die schnell und gewandt im Klettern waren, so dass sie den Hunden entkamen. An diesem Punkt wendete sich das Blatt: Waren erst alle ungelenken Ziegen verzehrt, litten die Hunde Hunger und starben, woraufhin sich die Ziegen erneut vermehren konnten, und so weiter. Was von außen gesehen traurig anmutet, ist in Wirklichkeit ein Segen, oder wie es Townsend formuliert: »What might have been considered as misfortunes, proved a source of comfort; and, to them at least, partial evil was universal good.«

Was nun lehrt uns dieses archetypische Inselexperiment? Auf der Insel Juan Fernandez wird Natur zur Kultur, zum Modell, nach dem sich das Menschliche richten solle. Die Natur wird zum eigentlichen Lehrmeister der Menschheit – eine radikale Abweichung von der politischen Philosophie des Abendlandes, in der es doch immer um das Zügeln der Natur im Menschen ging. Keine Leidenschaften, keine Begierden, keine Instinkte müssen unterdrückt werden, um soziales Zusammenleben zu ermöglichen – vielmehr sind es diese Kräfte, die Ordnung allererst erzeugen. Private Laster, so Mandevilles Formulierung dieser Idee, verwandeln sich unter der Hand in öffentlichen Wohlstand. Die Fluktuation, der der Ziegen- und Hundebestand unterliegt, ist in Wirklichkeit Ausdruck einer Balance, einer raffinierten Stabilität, die wir aus unserer Akteursperspektive meist nicht wahrzunehmen imstande sind. Mehr noch, die Natur ist lernfähig: Sie integrierte die Hunde, die auf der Insel ausgesetzt wurden, in ihre Ordnung. Man kann also der Natur vertrauen. Selbst Handlungen des Menschen, die ihr schaden, kann sie dank ihrer Selbstheilungskräfte wieder ausgleichen. Die harmonische Balance stellt sich allerdings erst auf einer gewissen kognitiven Flughöhe ein; für eine alte, schwache Ziege, die von wilden Hunden zerfleischt wird, erscheint das System wenig balanciert. Aber ein externer Beobachter versteht, dass der Ziege nur ein partial evil widerfuhr, dem ein universal good gegenübersteht. Was der einzelne Akteur als blinde ungerechte Naturgewalt empfindet, folgt genau betrachtet – und das heißt aus der Sicht dessen, der über der Insel steht und sie studiert – einem wohldurchdachten Plan. Dieser Plan folgt Gesetzmäßigkeiten, die als natürliche gegeben und eben nicht von Menschen gemacht sind. Es ist das Privileg des Wirtschaftswissenschaftlers, diese Gesetze zu entdecken und sie zum Zollstock, wenn nötig zum Rohrstock menschlichen Handelns zu machen.

Management als Kulturtechnik

Dass diese Beschreibung in vielerlei Hinsicht problematisch ist, liegt auf der Hand. Die Insel Juan Fernandez ist selbst ein Produkt menschlicher Vorstellungskraft, die eine Natur projiziert, die sich so nirgends findet. Und erst nachdem diese Projektion naturalisiert wurde, kann sie dem Menschen als Naturzustand erscheinen, aus dem sich dann Rückschlüsse über das menschliche Zusammenleben gewinnen lassen. Man könnte das Inselnarrativ auch als rhetorische Legitimationsstrategie verstehen, die die ungeheure globale Macht (oder zumindest den Machtanspruch) einer Zunft rechtfertigt. Was mich jedoch mehr interessiert als diese (berechtigte) Kritik, ist der eklatante Widerspruch zwischen dem System als natürlicher Ordnung und Management als ausgewiesener Kulturtechnik. Es handelt sich um eine enorme Kluft, die sich da öffnet zwischen dem Geist und dem Körper des Kapitalismus. Denn um der unsichtbaren Hand des Marktes unsere Geschicke anzuvertrauen, braucht es Güter, die getauscht werden können. Produktivität ist die Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft. Darum malt Smith gleich zu Beginn seines Werkes das Bild der berühmt-berüchtigten Stecknadelfabrik gleichsam als Kulisse für seine Philosophie. Warum um alles in der Welt (das müssen sich schon Smiths Zeitgenossen gefragt haben) beginnt ein Philosoph sein Meisterwerk mit der detaillierten Beschreibung von etwas so Unphilosophischem wie einer Stecknadelfabrik? Antwort: Die arbeitsteilig organisierte, hierarchisch gegliederte Unternehmung ist der Motor der Produktivität und Effizienz. Ohne Arbeitsteilung kann der Einzelne keinen Überfluss erwirtschaften, der es ihm erlaubt, am Markt teilzunehmen. Und hier schleicht sich der Widerspruch ein, der uns bis heute umtreibt. Auf der einen Seite ist der Kapitalismus ein Gesellschaftsentwurf, der auf der Ordnung des freien Marktes beruht. Auf der anderen Seite beruht der Kapitalismus auf Produktivität und Effizienz, die sich nur im Rahmen einer hierarchischen Struktur erzielen lässt. Smiths Vision einer freien Marktordnung führt schnurstracks in eine hierarchische Organisationsgesellschaft. Daraus resultiert das Paradox: Der Markt braucht die Hierarchie, die Hierarchie aber ist sein Gegenteil, der Anti-Markt schlechthin. Ich fand immer eine besondere Ironie in dem Umstand, dass Unternehmer, die doch gemeinhin als die Fürsprecher der unsichtbaren Hand des Marktes auftreten, in ihren eigenen Organisationen auf die sichtbare Hand des Managers vertrauen. Liegt darin nicht ein Widerspruch, der jedem Unternehmer die Schamesröte ins Gesicht treiben sollte? Dass nämlich der Unternehmer, der Patron des freien Marktes, selbst auf Hierarchie, zentrale Planung und Management setzt? Aller liberalen Rhetorik zum Trotz setzt sich die freie Marktwirtschaft in Wirklichkeit aus unzähligen kleinen Planwirtschaften zusammen. Hierarchie ist systemimmanentes Marktversagen, der Manager der oberste Verwalter dieses Marktversagens.

Der wahre Antipode des Marktes ist daher nicht, wie oft irrig angenommen, der Staat, sondern vielmehr die hierarchische Organisation und ihr Management. Die Hierarchie untergräbt den Staat und den Kapitalismus gleichermaßen. Der Soziologe Robert Michels hat vor 100 Jahren das eherne Gesetz der Oligarchie formuliert, das den Widerspruch auf den Punkt bringt: Demokratie braucht politische Parteien, denn nur durch parteiliche Organisation werden aus Einzelinteressen Kollektivinteressen; doch der Parteiapparat, der dadurch entsteht, ist eben hierarchischer Natur, widerstrebt also dem Ideal der Demokratie und höhlt es letztendlich aus. Dasselbe muss man vom Kapitalismus und der Hierarchie sagen. Ohne Hierarchie und ihre Arbeitsteilung und feste Struktur wäre der Kapitalismus nicht produktiv. Mit der Hierarchie allerdings entsteht im Herzen des Kapitalismus ein Element, das ihm zutiefst fremd ist. Schumpeter diagnostizierte den Widerspruch, den tiefen Riss im System, in dem wir leben, als er schrieb, dass dem kapitalistischen System eine Tendenz zur Selbstzerstörung innewohnt. Um zu existieren,

Man denke nur an den zentralen Begriff des Wertes, um den fundamentalen Widerspruch zu verdeutlichen. Längst haben Markt und Hierarchie jedwedes Einverständnis darüber verloren, was Wert überhaupt sei. Ein Paar Nike-Schuhe kosten 150 Euro; die Herstellungskosten belaufen sich auf weniger als ein Zehntel des Verkaufspreises. Was ist der Wert der Schuhe? Für den Manager ist Wert gleichbedeutend mit Profit. Wenn er von value creation oder shareholder value spricht, dann steht das Wort »Wert« für die Differenz zwischen Verkaufspreis und Herstellungskosten. Für den Konsumenten ist der Wert der Schuhe ein nichtökonomischer, auf jeden Fall kein monetärer. Wer die Sneakers freitagabends für ein Date anzieht, tut das, um etwas über seine Persönlichkeit auszudrücken. Dieser Wert rollt freilich nicht vom Fließband, sondern ist das Resultat kultureller Identifizierung und sozialer Differenzierung. Nur weil das Gegenüber die Schuhe nicht als unpassend oder gar als Zeichen mangelnder Alternativen seitens des Trägers interpretiert, sondern sie eben als kulturelles Artefakt zu decodieren vermag, sind sie wertvoll.

Was uns hier interessiert, ist der Umstand, dass sich organisationsinternes Handeln und externe Bewertung unversöhnlich wie zwei Pole gegenüberstehen; keine Brücke, keine Rückkoppelung vermag eine Beziehung herzustellen. Moralisch ausgedrückt: Es fehlt jede Verhältnismäßigkeit zwischen Preis und Wert. Und damit entzieht man jeglicher Diskussion über Gerechtigkeit den Boden. Betriebswirtschaftlich gewendet: Der Preis liefert keine Information über die Richtigkeit von Managemententscheidungen oder die Effektivität der Organisation. Im Ernst: Was sollte Facebook mit seinen 10 000 Mitarbeitern von seinem Aktienpreis ableiten? Dass es tatsächlich innerhalb weniger Jahre so viel »Wert« geschaffen hat wie das BIP eines mittelgroßen Landes? Was sich aus dem Dilemma zwischen Wert und Preis ergibt, gilt für das Verhältnis zwischen Hierarchie und Markt im Allgemeinen: Sie basieren auf fundamental entgegengesetzten Logiken, die sich beständig gegenseitig aufreiben. Dieser tiefgreifende Widerspruch entlädt sich mit aller Gewalt und Regelmäßigkeit in Form von Wirtschaftskrisen.

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Im Prinzip sollte das Dilemma nicht sonderlich überraschen. Der Kapitalismus hat uns von vornherein gespalten, seinen eigenen Widerspruch in uns ausgelagert, indem er uns doppelt konstituierte: auf der einen Seite als Konsumenten, die durch ihre freie Entscheidung der eigentliche Souverän sind, und auf der anderen Seite als Produzenten, die sich in einer Hierarchie als Diener eines fremden Herrn verdingen. Wie der mittelalterliche König haben auch wir zwei Körper, zwei Identitäten: eine als Produzenten und eine als Konsumenten. Durch alle sozialen, politischen, wirtschaftlichen Krisen hindurch hören wir in immer gleichen Sprechchören: The economy is dead. Long live the economy!