Sechster Vortrag

Schicksal und freier Wille – Gottesbegriff – Kulturwende der Gegenwart

Inhaltsverzeichnis

Wir haben das Hellsehen als vielleicht wichtigste, zum mindesten noch am meisten irrtumsfreie Eingangspforte ins Übersinnliche kennen gelernt, wenn es damit auch keineswegs ohne Einschränkung bereits als ein Erleben der geistigen Welten gelten kann. Wenn man auch die Anfänge oder die schwankenden Grenzen solcher Wahrnehmungen nicht überschätzen soll, so tritt uns aus den zahlreich erwiesenen Fällen einer tatsächlichen Prophetie vor allem die Weltanschauungsfrage entgegen: Was ist Schicksal und was ist freier Wille? Diese schwierige und auf den ersten Blick kaum entwirrbare Frage wird sich wesentlich klarer gestalten, wenn wir uns erst einmal mit den Begriffen von Schicksal und Willensfreiheit etwas näher beschäftigen.

Unter dem Begriff des Schicksals wird nun im üblichen Sinne sehr viel mehr zusammengefaßt, als eigentlich darunter, streng genommen, zu verstehen ist. Man nennt, wenn man überhaupt ein Schicksal gelten läßt, fast alles, was einem Menschen im äußersten Sinne begegnet, sein Schicksal. Das ist aber bei näherer Überlegung kaum zutreffend. Eine große, vielleicht die überwiegende Anzahl solcher Lebensdaten sind keine Schicksale, sondern Anlässe zu Schicksalen – Anlässe, aus denen eine stets verschieden gefärbte Innerlichkeit, eine stets anders getönte Willensrichtung im geistigen Sinne erst ein Schicksal zu formen imstande ist. Wenn zum Beispiel zwei Menschen ins Gefängnis gesperrt werden, ein in der heutigen Zeit ja sehr häufiger Vorgang aus rein politischen Gründen, ist es kein gleiches Schicksal, das sie betroffen, sondern ein gleicher Anlaß, der zwei ganz verschiedene Schicksale auslösen kann. Der eine Gefangene, der sich selbst geistig wenig zu bieten vermag, der vielleicht abhängig ist von allen möglichen, nun schmerzlich entbehrten Gewohnheiten, wird unter Umständen seelisch und körperlich schwer leiden, wird die Haft mit einer dauernden Schädigung beenden – der andere wird vielleicht in der Einsamkeit alle äußere Widerwärtigkeit überwinden und in innerster Kontemplation ein Werk schaffen, das ohne Anlaß kaum entstanden wäre, er wird die Zelle verlassen mit einer Bereicherung seines Lebens. Auch wenn man über den äußeren Anlaß hinausgeht, kann man nicht immer von einem gleichen Schicksal sprechen: eine unglückliche Liebe oder Ehe, eine zerstörte Freundschaft sind, obwohl durchaus Ereignisse innerer Art, noch keineswegs stets gleiche Schicksale, sondern nur gleiche Anlässe zu ganz verschiedenen Schicksalen, je nach Art der fraglichen Personen und der Wertung, die sie den Erlebnissen zu geben vermögen. Wägbare und unwägbare innere und äußere Nebenumstände färben den Anlaß erst zu einem Schicksal, und dem eigenen Willen des Menschen, seiner geistigen und seelischen Kraft ist hier weitester Spielraum und dehnbarste Möglichkeit gelassen.

Damit scheidet ein großer Teil der vorausbestimmten und vorausgesagten Daten im Sinne einer Willensunfreiheit eigentlich aus oder wird zum mindesten sehr wesentlich in seiner Bedeutung eingeschränkt. Von einem Anlaß, der zugleich, dem Willen und der persönlichen Einstellung nicht unterliegend, Schicksal und in zwei Fällen auch gleiches Schicksal sein würde, könnte man zum Beispiel nur sprechen, wenn es sich um den Tod und die Art des Todes handelt, wie das in dem von Flammarion angezogenen Bericht über den vorhergesagten tödlichen Schlangenbiß zutrifft. Hellsichtig wahrgenommen aber werden als Bilder eben doch meist die äußeren Anlässe des Lebens, die, einer bestimmten Kausalität entspringend, in der bestimmten Weise an einen herantreten. Was aus ihnen geformt wird, also das eigentliche Schicksal des Menschen, ist ihm selbst, seinem Willen und seinen Fähigkeiten unterworfen, wenigstens gradweise und in einer überwiegenden Zahl der Fälle. Prophetie ist also keineswegs gleichbedeutend mit völliger Willensunfreiheit der Menschen, wenn man den Begriff des Schicksals auf sein eigentliches Maß begrenzt. Ebenso zu begrenzen ist aber, wenn man eine Gegenüberstellung von Schicksal und Wille anstrebt, anderseits auch der Begriff der Willensfreiheit, der Freiheit überhaupt. Man macht sich von Freiheit, meist beeinflußt durch politische Vorurteile, keine ganz zutreffende Vorstellung. Frei ist man nur von etwas, von dem man innerlich völlig unabhängig ist. Man kann frei sein vom Alkoholgenuß, vom Fleischgenuß, von irgendwelchen Leidenschaften feinerer oder gröberer Art. In allem anderen ist man nicht frei, wenn man auch äußerlich scheinbar sehr frei zu sein glaubt oder dafür angesehen wird. Inwieweit man im Willen frei ist, ist aber überhaupt kaum zu beantworten, aus dem einfachen Grunde, weil wir wohl meist sehr genau und klar uns selbst oder anderen den Grund unserer jeweiligen Gefühle angeben können, fast niemals aber genau zu begründen vermögen, warum wir in dem Augenblick gerade dies oder das tun wollen. Nur wenn es sich um Befriedigung irgendwelcher Bedürfnisse handelt, können wir den Grund des Willens finden, aber das ist kaum ein Wille im höheren Sinne, mehr ein mechanisiertes Wollen, das mit dem Willen, den wir dem Schicksalsbegriff entgegensetzen, wenig zu tun hat. Es ist nicht freier Wille, mit dem wir eigentlich im gegebenen Falle eine Entscheidung treffen, ein Schicksal aus einem oder mehreren wählbaren Anlässen formen. Freilich gibt es auch einen solchen Willen, einen Eigenwillen, der sich gerade bei der Wahl verschiedener vom Leben gebotener Wege geltend macht, aber kaum jemals wird man genau angeben können, woher eigentlich dieser Wille stammte, jedenfalls nicht annähernd mit der gleichen Deutlichkeit, mit der wir ein Gefühl, eine Empfindung anzugeben und zu begründen vermögen. Im Gegenteil, man wird sehr oft die Beobachtung machen, daß eine Willensäußerung sich im Gegensatz zu der sonst gewohnten Gefühls- oder Geschmacksrichtung des Betreffenden befindet. Dieser Wille, der meist aus den verschiedenen Anlässen einen herauswählt und nun zum Schicksal formt oder die Schicksalsformung im Verein mit anderen Momenten vorbereitet, ist also in der Regel ein aus dem Bewußtsein heraus kaum zu begründender. Er redet und zwingt aus dem Bereich des Unterbewußtseins heraus und ist damit selbst ein Stück Schicksal, keine Freiheit in sich.

Bei solcher Eingrenzung der beiden Begriffe von Schicksal und Willensfreiheit bleibt nun immerhin bestehen, daß eine große und wohl überwiegende Zahl der Anlässe vorausgeschaut werden kann und mit ihnen gleichfalls die Entscheidungen, die der Betroffene im gegebenen Augenblick aus einem in seinem Bewußtsein nicht freien Willen treffen wird. Wenn also auch bei der bezeichneten Einschränkung durchaus erst der höhere geistige Wille des Menschen, sein eigentliches Ich, das Schicksal in Form eines Gesamtresultates formt, so verbleibt doch unbedingt die vorausschaubare an ihn herantretende Tatsache, zu der er sich zu stellen hat, es verbleibt auch vielfach die aus einem unbewußten Willen heraus getroffene Wahl – und diese Momente sind gegebene Daten, die sich als Richtlinien eines Lebens feststellen lassen, mit denen sich der Einzelne auf diese oder jene Weise abzufinden hat. In diesem Sinne gibt es ein Schicksal, gegen das auch der freieste Wille nichts vermag. Wir werden nun aber auch sehr oft, besonders bei weniger ausgesprochenen, weniger starken Persönlichkeiten den Fall finden, daß im Schicksal diese Sinnes vielleicht zwei, drei oder noch mehr Möglichkeiten gleichzeitig eintreten und einem mehr oder weniger bewußten Willen wählbar werden. So kann man im allgemeinen unter den hellsichtig vorausgeschauten Bildern eines menschlichen Lebens unterscheiden: bei richtiger Einstellung und Warnung ganz vermeidbare Ereignisse, die aber an einen herantreten, ferner Ereignisse, die in gleicher Weise, wenn auch nicht ganz vermeidbar, so doch biegbar sind nach ihrer guten oder schlechten Seite, und schließlich solche Ereignisse, die unvermeidbar, unbiegbar sind und die wirklich ein unentrinnbares Schicksal oder zum mindesten ein unentrinnbarer Anlaß zu einem zu formenden Schicksal sind. Ich wies ja schon darauf hin, daß ein Hellseher meist nicht alle Bilder eines Lebens oder einer Persönlichkeit überschaut, sondern nur einen, wenn auch vielleicht wesentlichen Teil. Immerhin aber ist es ja wahrscheinlich und vielfach wohl auch zutreffend, daß das eine richtig erschaute Bild durch ein nicht erschautes eine ganz andere Färbung oder Möglichkeit erhält. So sind nach den mir bekannt gewordenen Erfahrungen die meisten hellsichtig erschauten Ereignisse in irgendeiner Weise biegbar, wenn auch in einem begrenzten Rahmen, die geringere Zahl der Fälle ist vermeidbar oder unentrinnbar. Mit einem solchen Begriff des Schicksals ist der Begriff der Willensfreiheit, richtig verstanden, sehr wohl vereinbar – gleichzeitig aber ist deutlich in allem Geschehen eine vorausbestimmte Richtung zu sehen, eine Kette von Anlässen, die bei den einzelnen Menschenleben so unendlich verschieden ist, daß man sich gerade wohl besonders angesichts der ungeheuren Kämpfe unserer Gegenwart, im Hinblick auf so viele soziale Ungerechtigkeiten und Mißstände fragen muß, wie all dies scheinbare Chaos mit dem Begriff einer Gerechtigkeit im höheren, ethischen Sinn zu vereinbaren ist. Man sieht täglich Menschen von hoher ethischer und geistiger Artung in schwersten inneren und äußeren Lebensumständen schaffen, während sehr wertlose und hohle Existenzen meist ein genußfrohes und unbekümmertes Dasein führen. Bekannt sind ja auch die meist sehr tragischen Biographien der geistigen Führernaturen, der künstlerisch schaffenden oder wissenschaftlich Forschenden, Biographien, die jeder gerne in Bequemlichkeit liest, aber sicherlich nur ungern leben würde.

Nun ist in dieser entscheidenden Frage tatsächlich keine Gerechtigkeitsmöglichkeit aufzustellen, als nur in der Weise, daß man das einzelne menschliche Leben in seiner irdischen Zeitspanne nicht allein zur Untersuchung heranzieht, sondern daß man eine Konstanz des Lebens oder, richtiger gesagt, soundsovieler Leben in einer fortlaufenden Kette annimmt, mit anderen Worten, daß man sich auf den Standpunkt der sogenannten Wiederverkörperung oder Reinkarnation stellt. Man versteht darunter die Auffassung, daß das menschliche Ich nicht nur in einem irdischen Leben sich auslebt oder entwickelt, sondern daß es, in den verschiedensten Zeitepochen, mehrmals geboren und mehrmals gestorben ist, also in einer ganzen Zahl von Wiederholungen aus der geistigen Welt durch eine irdische Geburt in die physische hinabgestiegen und aus der physischen Welt in die geistige durch den Tod zurückgeboren wurde. Es ergeben sich also für ein menschliches Leben in seiner dauernden Existenz eine Anzahl von physischen Leben oder Inkarnationen und eine Anzahl von übersinnlichen Leben, von Leben in den geistigen Welten, wobei das Gesamtleben im Geistigen das Gesamtleben im Physischen zeitlich bei weitem übersteigt.

Es ist nun keineswegs unbedingt notwendig, sich diese hellsichtig erforschte Wahrnehmung als nur auf diesem Wege begreiflich vorzustellen. Vielmehr ist es logisch ganz unmöglich, bisher jedenfalls noch niemand gelungen, auf andere Weise eine göttliche Gerechtigkeit in bezug auf die Verschiedenartigkeit menschlicher Existenzen verständlich zu machen. Auch Lessing, der bekanntlich ganz rationalistisch dachte und alles Übersinnliche, wenn auch nicht ausschloß, so doch jedenfalls im Bereich seines Denkens als Beweismittel nicht anerkannte, hat es deutlich ausgesprochen, daß die Lehre der Wiederverkörperung die einzige faßbare und logisch haltbare Möglichkeit für eine Gerechtigkeit im höheren, göttlichen Sinne sein könne. Goethe und viele andere Dichter und Denker haben sich dieser Lehre zugeneigt, auch wenn sie ihnen hellsichtig nicht immer nahegebracht oder erwiesen erschien.

Aus dieser Wiederverkörperungslehre nun ergibt sich ganz von selbst das, was man in dem von uns begrenzten Sinne Schicksal oder, um den üblichen Ausdruck der indischen Esoterik zu brauchen, Karma nennt. Unter Karma versteht man alle die äußeren Anlässe, all das, was unbewußt aus der Willensregion aufstiegt, alles, was die Kette des Lebens bildet, aus der dann die mehr oder weniger innerlich gereinigte und damit befreite menschliche Persönlichkeit ein Schicksal zu schmieden hat. Karma ist der Begriff des Schicksals, wie er einer hellsichtigen Wahrnehmung im voraus in Bildern erscheint und wie wir ihn bei Untersuchung der Begriffe von Schicksal und Willensfreiheit als das umgrenzt haben, was als gegebenes Schicksal im vermeidbaren, biegbaren oder unbiegbar-unvermeidbaren Sinne vorliegt.

Bei Annahme einer Wiederverkörperungslehre ist es ja auch leicht verständlich, wie solch ein Karma in jedem einzelnen Falle entsteht und entstehen muß. Steigt eine menschliche Persönlichkeit, sein geistiges Ich, zum ersten Male in die Materie herab, so ergeben sich aus dieser Entwicklung Fehler und Vergehungen, wie bei jeder Reibung zweier Verschiedenheiten, und diese Fehler auszulöschen, gutzumachen ist die gegebene Ursächlichkeit im nächsten Leben, aus der sich dann im Zusammenhang mit erstrebten und erreichten Zielen ein neues Karma bildet, das, wiederum ausgelebt, aufs neue Licht und Schatten einem neuen Dasein vorbereitet. So besteht das gesamte Leben aus lauter einzelnen in jedem Einzelleben im Lauf der Evolution begangenen guten oder unguten Handlungen, deren jede sich weiterspinnt, um sich auszuwirken, bis eine Vollkommenheit erreicht ist. Unter diesem Gesetze treffen sich die Menschen, verketten sie ihre jeweiligen Schicksale, ihre Lebensjahre oder Aufgaben miteinander, unter diesem Gesetz noch vorhandener Reibungsflächen sind alle dauernden Verhältnisse, wie Liebe, Ehe und Freundschaft, zu werten. Sie alle unterliegen keineswegs den Gesetzen der Sympathie oder Antipathie, irgendeiner Gleichheit der Seelen oder der geistigen und ethischen Einstellung. Diesen Gesetzen unterworfen ist lediglich die geistige Welt, in der das Gleiche sich zum Gleichen findet und sich ihm feinstofflich verbindet wie Faust und Helena. Im Irdischen herrscht die Täuschung, der von der Leidenschaft, den Begierden geflochtene Schleier der Maja, der Illusion, der die jeweils zur Auslöschung, zur Überwindung einer karmischen Verkettung Verbundenen in einer oft nur vermeintlichen Sympathie zueinander zieht – ein Gesichtspunkt, unter dem die so häufige Haßliebe der Geschlechter, die sexuell gefärbte, oft in Antipathie übergehende Sympathie erklärbar wird. Je weniger gerade dies der Maja am meisten verfallene Moment vorherrscht, um so geringer die Reibungsfläche der karmisch noch Verketteten, daher geringer in Freundschaft, in elterlichem und kindlichem Verhältnis, als in dem, was eine grobstoffliche Welt unter dem Erotischen versteht und was so weit entfernt vom Eros im eigentlichen, frühgriechischen Sinne damaliger Eingeweihter war. Freilich können sich auch in unsexuellen karmischen Verkettungen sehr schroffe Gegensätze auswirken, aber ihre Auswirkung ist meist deutlicher und bewußter, weniger der Täuschung, der Illusion unterworfen.

Natürlich kann hier der Begriff des Karmas nur in großen Zügen angedeutet werden, jeder Fall wird ein Einzelfall sein, und wenn es an sich schon gefährlich und irrtumreich ist, Systeme aufzustellen und zu generalisieren, auf diesen in tiefsten Geheimnissen des Daseins verankerten Fragen ist es weniger als sonst angebracht. So muß man sich unter dem Gesetz des Karmas keinesfalls ein starres, unbeugsam blindes Gesetz denken, sondern eine in unendlicher Vielfältigkeit des irdischen und übersinnlichen Lebens sich zeigende Gesetzmäßigkeit. Gewiß schafft Karma einen Ausgleich, aber keinen im verstandesgemäß-rechnerischen Sinne, und wenn die Fassung dieses karmischen Gesetzes zum Beispiel im Alten Testament mit den Worten »Auge um Auge, Zahn um Zahn« ausgesprochen wird, so ist darunter ein lebensvoller Grundsatz, kein totes und mechanisches Schema zu verstehen. Wie im gewöhnlichen wirtschaftlichen Leben der Reichere eine Schuld leichter zurückzahlen kann als der Arme oder ganz Mittellose, so wird auch der moralisch und geistig inzwischen reicher Gewordene ein Karma aus einem früheren Leben leichter und unmerklicher löschen können als derjenige, der im Dasein in den geistigen Welten oder einer späteren irdischen Inkarnation weniger an sich gearbeitet, sich weniger zu einer höheren Stufe entwickelt hat. Nehmen wir an, ich schulde jemand eine Summe im geistig-seelischen Sinne genommen, so macht es einen großen Unterschied, ob ich inzwischen moralisch und geistig ein Millionär oder ein Bettler geworden bin. Hierhin liegt keine Ungerechtigkeit, denn die Schwierigkeit, die überwunden, die Mühe, die angewandt werden mußte, ist nicht umgangen, sie ist vollzogen worden vielleicht zu anderen Gelegenheiten, im Dienste einer Allgemeinheit, eines starken ethischen und geistigen Willens. Nicht Äußerlichkeiten, sondern lediglich Arbeit an sich selbst vermögen in diesem Sinne jemand reich oder arm zu machen, so daß er schwer oder unschwer etwas abtragen kann, was ihn karmisch einem anderen verpflichtet. Unbeugsam ist das Gesetz allerdings insofern, als es sich um die gleiche Person handeln muß, mit der einen ein begangener Fehler verbindet, unbeugsam auch insofern, als ein Abtragen der Schuld erfolgen muß. Aber es läßt völlig offen, wie schwer oder leicht man sich durch sonstige Entwicklung und verdienstvolle Handlungen diese Schuldtilgung gestaltet hat. Auch hier ist also dem Ich und seinem höheren Willen weitester Spielraum gelassen. Auch nicht um Schuld und Sühne im niederen Verstandessinne handelt es sich, sondern um höhere Einsicht eigener Verfehlung und damit eines an einem selbst haftenden und aus Erkenntnis der Evolution heraus zu beseitigenden Mangels.

So wird das jeweilige Schicksal des Einzelnen gleichsam von seinem höheren Willen selbst gewählt, selbst vorgezeichnet in der Erkenntnis seiner Entwicklung, soweit es sich nicht um wenig hochstehende Geister handelt, denen ein solches Karma aus den Resultaten ihrer früheren Leben von Wesenheiten bestimmt wird, auf die ich hier nicht weiter einzugehen brauche, da es sich ja für uns nur um eine Erklärung des Grundsatzes der Wiederverkörperung und des Karmas handelt, nicht um seine einzelnen Spielarten. Aus diesen Gesichtspunkten heraus ist es auch verständlich, daß manches Vorgezeichnete biegbar oder gar vermeidlich wird, wenn man im Laufe noch dieses Lebens sich gewisse Kräfte und Vorzüge angeeignet hat, die eine Auslösung früheren Karmas leichter ermöglichen, als zuerst vorauszusehen war – verständlich wird aber auch, warum manches unvermeidlich selbst bei hoher geistiger Einstellung in diesem Leben ist, warum es unentrinnbares Geschick wird und ausgelebt werden muß. Jedes Leben, jede Inkarnation ist eben gesponnen aus altem und neu gewirktem Karma.

Nun ist ein sehr häufiger und begreiflicher Einwand die Frage, warum man nicht bewußt empfindet, sich klar darüber ist, aus welchem Grunde einen dies oder jenes trifft, warum man nichts stets weiß, wodurch man selbst seine Ursächlichkeit geschaffen hat. Würde das so sein, so würde man tatsächlich nicht mehr dasselbe, zum Beispiel bei einem Unrecht empfinden, das einem zugefügt wird, was der andere, dem man es selbst einmal zugefügt, empfunden hat. Man würde nicht das Gefühl des zu Unrecht Gekränkten oder Geschädigten haben, man würde also nicht das Gleiche durchmachen, wozu man den anderen einmal in einem früheren Leben genötigt hat. Es muß durchaus, um diesen Grundsatz des Karmas aufrecht zu halten, die Verschleierung der Erkenntnis hinzutreten, die Täuschung der Maja, wie sie im irdischen Leben vorliegt. Nur dann kann man ganz das Gleiche empfinden, was einmal der von uns Geschädigte empfand, wenn man nicht weiß oder doch nicht genau weiß, warum es einen trifft. So waltet im einzelnen Menschen ein höherer Wille über dem niederen Willen, der hier im Schleier der Grobstofflichkeit sich auswirkt. Dieser höhere Wille ist Träger des unsterblichen Ichs, und darum läßt sich auch aus dem hier verschleierten niederen Willen eher ein Schicksal erkennen, als ein Bewußtsein begründen. Aus diesem karmischen Gesetz heraus aber kann man es sich auch erklären, warum dem einen gewisse Gefahren, Versuchungen und Krankheiten Schädigungen sein können und der andere durch sie hindurchgeht, als wäre keine Berührungsfläche mehr vorhanden. Irgend ein Ereignis, außer den genau vorausbestimmten, kann eben nur dann stattfinden, gleichsam einhaken, wenn es die karmische Beschaffenheit des Betreffenden noch erlaubt. Darin liegt das Geheimnis der Lanze des Gral, daß sie nur den treffen und verwunden kann, der noch verwundbar ist. Parsifal fängt die von Klingsor, dem Vertreter des schwarzmagischen Prinzips geschleuderte Lanze auf und richtet sie als Waffe gegen den Angreifer. Er ist immun, karmafrei und unverwundbar.

Oft ist auch eingewandt worden, daß man dann ja niemand zu helfen brauche, wenn sein Karma ihm sowieso bestimmt sei.

Auch das ist nicht zutreffend. Ohne Hilfe, ohne Liebe im geistigen Sinne gäbe es überhaupt keine Entwicklungsmöglichkeit, auch hierin spielen sich Vorgänge ab, die karmisch Ausgleiche sind oder einmal für spätere Leben solche vorbereiten.

In dies persönliche Karma hinein spielen nun freilich auch noch andere Momente, spielen die Schicksale der Rassen-, Völker- und Familienseelen in ihrer bereits einmal geschilderten Gruppenhaftigkeit. Ganz entziehen kann sich dieser Einwirkung niemand, am freiesten wird die stärkste Persönlichkeit von ihnen sein, am unfreiesten in ihnen die schwächste, woraus sich erklären läßt, daß gerade in der Gegenwart oft in sehr alten Familien schwache, ja vielfach ethisch oder intellektuell minderwertige Persönlichkeiten sich inkarnieren. Jene Gruppenseelen der Rassen, Völker und Familien haben nicht mehr ganz die gleiche Bedeutung wie in früherer Zeit, wo die Menschheitsentwicklung, gruppenhaft geleitet, auf solche Gliederungen abgewiesen war. Immer mehr arbeitet sich aus diesem Gruppenhaften das Ich, das persönliche Eigenleben heraus, wie wir es entwickelt sahen in den alten Mysterien. Freilich wird man auch heute die Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volke, einer Familie keineswegs als unbedeutend ansehen dürfen. Diese Bedeutung ist auch heute noch eine sehr große, aber eine sekundäre vor der primären des Ichs. Wäre das nicht so, könnte man Genies züchten, was bekanntlich nicht möglich ist – im Gegenteil haben alle solche Beobachtungen der Inzucht in alten Familien oder besonderen Rassen Decadence erwiesen.

Trotzdem sind die heute wieder sehr in Aufnahme gekommene Rassenforschung und die daran geknüpften eugenetischen Forderungen von erster Bedeutung. Es ist sicherlich sehr wichtig, daß man endlich aufhört, kranke Kinder von geschlechtlich verseuchten Eltern zeugen zu lassen, daß man Alkoholiker, Menschen mit verbrecherischen Neigungen von der Fortpflanzung ausschließen will usw. Nicht aber die sich inkarnierenden Geister werden damit anders geschaffen, sondern – eine Frage von größter Tragweite – die irdische Wohnmöglichkeit der an sich nicht erst durch die Zeugung geschaffenen menschlichen Individualitäten wird damit günstig oder ungünstig beeinflußt. Nicht durch eine gute und ausreichende Werkstatt wird ein Handwerker oder Techniker das, was er ist, wohl aber wird damit seine leichtere und größere Schaffensmöglichkeit entschieden. Auch die Artung der Instrumente, die ein Geist braucht, um sich zu betätigen, kann durch Fragen der Rassenhygiene und Familienkunde entschieden werden, nicht aber haben diese Rasse oder jene Familie einen Geist gezeugt, wozu sie keinesfalls imstande waren, schon darum, weil ihnen der in ihrem Rahmen erstandene Geist meist bei weitem überlegen war. Goethe, zum Beispiel, brauchte für sein Schaffen und dessen Artung durchaus das feine Nervensystem, das nur eine Reihe von Generationen hervorbringt, Hebbel konnte in der rein monumentalen Art seiner dichterischen Auswirkung gerade darauf verzichten. Weder Goethe noch Hebbel aber sind irgendwie Resultate ihrer Familien und deren vergangener Generationen. Beide stehen einander näher als ihren Familien oder ihrem Volke, ihrer Rasse. Über die ganze Geschichte der Menschheit hinweg reichen sich die geistigen Bahnbrecher irgendwie die Hände, einerlei welcher Rasse, welchen Volkes und welchen Geschlechts sie waren, sie weisen einen Weg, den die Menschheit langsam und mühsam wandert über die Gruppenhaftigkeit der Rasse und Völker und Familien, die ja alle doch mit jeder Inkarnation wechseln, zu einem durchgeistigten Menschentum, das über diesen Dingen steht, sie überwunden hat, nachdem sie im Rahmen solch schützender Gruppenhaftigkeit ausgereift sind wie das Kind im Schoß der Mutter. Begreiflich, daß gerade das Leben solcher Menschen tragischer als das anderer ist, daß sie eine größere Fremdheit und Einsamkeit in der irdischen Lebensepoche empfinden müssen, daß die zudem, vom eigenen Karma abgesehen, eine Art von Aufgabenkarma auf sich nehmen müssen, um die jeweils nötigen, ihnen innewohnenden Impulse in der Art in die Menschheit hineinzubringen, daß der Zeitcharakter bei allem Ewigkeitswert gewahrt bleibt, um die Ewigkeitswerte ihrer Zeit verständlich zu machen. Auch das ist nur möglich, wie alles Schaffen, aus dem lebendigen Erleben heraus, aus der Reibung mit dem jeweils durch die bestimmte Kulturepoche gegebenen Grobstofflichen. Hierin und in der Fremdheit dem Grobstofflichen gegenüber liegt die großer Tragik im Leben der Schaffenden und Geistigen.

Wenn wir das Gesetz des Karma in dieser Weise betrachten, werden wir auch verstehen lernen, warum so oft Wahlverwandtschaft einem näher steht als Verwandtschaft im irdischen Sinne der Blutsgemeinschaft. In der Wahlverwandtschaft begegnen sich wirkliche, nicht vom Schleier der Maja aus karmischen Gründen nur scheinbar geschaffene Sympathien. Wie häufig begegnen einem Menschen, die man schon lange Jahre zu kennen vermeint, wenn man auch nur wenige Worte mit ihnen gesprochen, und wie fern kann man sich oft mit Personen stehen, die einem in naher Blutsverwandtschaft verbunden sind. Dies Erkennen alter Gemeinschaften aus früheren Leben sollte sehr viel mehr beachtet werden, es wirft ein geistiges Licht auf sonst nur allzu leicht materiell gewertete Geschehnisse.

Anderseits soll man sich hüten, nun über seine eigenen früheren Leben oder über die verschiedenen Inkarnationen anderer nachzugrübeln und nachzuforschen. Meist führen solche gewaltsam herbeigesehnten Erkenntnisse nur zu Selbsttäuschungen, die, oft nichts weiter als lächerlich, doch unter Umständen auch zu falschen Schlüssen und folgenschweren Irrtümern führen können. Es ist sicher reichlich albern, wenn sich Anhänger der Reinkarnationslehre, wie das oft geschieht, allerlei berühmte Namen vom frühesten Altertum an für ihre früheren Erdenleben gewaltsam und sehr willkürlich, einer geistfernen Eitelkeit folgend, heraussuchen. Manchmal aber geben Erlebnisse von in okkulter Hinsicht gar nicht informierten Menschen nicht uninteressante Anhaltspunkte für ihr früheres Leben, seine Zeit oder Örtlichkeit. Manches kann man lernen aus besonderen Sympathien, die jemand für eine Zeitepoche, einen Kunststil hat, manches schließen aus Erinnerungen, die jemand beim Erblicken einer Landschaft, einer neuartigen Gegend als vertraut in sich wachwerden fühlt, ohne es sich erklären zu können. Nicht immer weist das auf dort gehabte frühere Erdenleben hin, sicher aber auf Zusammenhänge ähnlicher Art. Nicht grübeln soll man über diese Fragen und zwecklose Kombinationen erfinden, sondern sich dem Gefühl der Wahrscheinlichkeit dieser Lösung nicht einseitig verschließen, sich vorerst einmal rein theoretisch sagen, was sich Lessing sagte, daß die Wiederverkörperungslehre die einzige Möglichkeit einer Gerechtigkeit im höheren Sinne zuläßt. Nur wenn man das menschliche Dasein über weitere Spannen hinaus zu ergreifen und zu begreifen vermag, kann man einen Ausgleich, eine Harmonie, eine Evolution des Geschehens erblicken. Nicht unerwähnt will ich noch lassen, daß die vergangenen Leben auch in die Träume dazwischen hineinspielen und daß Kinder noch oft eine Erinnerung an solche frühere Existenzen bewahrt haben, nur daß man ihre dahin gerichteten Äußerungen meist nicht beachtet oder verlacht.